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Sonnenfinsternis in New York: Die Obliegenheit
Sonnenfinsternis in New York: Die Obliegenheit
Sonnenfinsternis in New York: Die Obliegenheit
eBook767 Seiten10 Stunden

Sonnenfinsternis in New York: Die Obliegenheit

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Über dieses E-Book

Ich, Julissa Salvador, war noch nie auf irdische Reichtümer aus, sie bescheren kein wahres Glück. Mein Reichtum heißt Alejandro Salvador. Wir sind so tief miteinander verwurzelt, wie zwei Herzen es nur sein können. Unzertrennbar.
Kann es dennoch sein,
… dass man seine große Liebe aufs Spiel setzt, um sie zu retten?
… dass man im Begriff ist, etwas absolut Verrücktes anzustellen, um diese Liebe niemals zu verlieren?
… dass man sich über die Wünsche des anderen hinwegsetzt, um das Richtige für ihn zu tun?
Ja, es kann dennoch sein. Aber wenn man aufrichtig liebt, kann man seinem Gegenüber nicht wehtun, ohne sich selbst Schaden zuzufügen.

Der aktive Widerstand gegen die Verschwörer hat begonnen. Julissa und Alejandro Salvadors Jobs als Alpha-Wölfe der Gestaltwandler Deutschlands fordern endlose Geduld, selbstlosen Einsatz und bedingungslose Hingabe.
Doch die intensiven Bemühungen der beiden, alle brenzligen Situationen zu kontrollieren, bleiben vergeblich. Für jeden ausgemerzten Empörer sprießt ein Ersatz aus dem Boden und die kritische Lage auf der Erde spitzt sich zu. Zu allem Übel flattert ein Streitfaktor ins Haus: Julissa erhält Post von ihrer Urgroßmutter, der Adoptivmutter von ihrer Oma Anna.
Sie weiß mehr von dem Leben ihrer Urenkelin, als sie zuzugeben scheint. Alejandro droht weiterhin Gefahr. Soll man seiner großen Liebe das Herz brechen, um sie zu retten? Wird sie einem das jemals verzeihen können?
Julissa sitzt zwischen zwei Stühlen und Entscheidungen haben immer weitreichende Folgen, was auch ihr und Alejandros gemeinsamer bester Freund, Miguel Rodriguez, einsehen muss ...
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum12. Okt. 2021
ISBN9783347408500
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    Buchvorschau

    Sonnenfinsternis in New York - Prita A. Smith

    Verschwörerjagd

    Unter Ausnutzung der Windrichtung witterten wir, selbst in Menschengestalt, die Ausdünstungen der Verschwörer auf einer Entfernung von drei bis vier Kilometern bei unserem nächtlichen Erkundungsgang im Bayerischen Wald.

    Es war kein geplantes Aufeinandertreffen, sondern ein bloßer Zufall auf der ansonsten routinierten Streife. Es goss aus schwarzen tief hängenden Wolken wie aus Eimern und ein ungemütlicher böiger Wind wehte, der durch die durchnässten lumpigen Jeans und ausgewaschenen T-Shirts pfiff.

    Obwohl wir dieses in die Quere kommen dem Schicksal verdankten, war es genau das, worauf wir bei unserer Patrouille hofften. Überflüssige oder gar schicke Kleidungsstücke waren deshalb absolut fehl am Platz, außerdem gab uns das Wolfsblut, das durch unsere Adern pulsierte, keinen Grund zum Frieren.

    Samara, die Ehefrau meines Halbbruders Alex, und Marc, ein enger Freund von uns allen, kauerten barfuß hinter kniehohem Gestrüpp. Beiden wurde der ranghöchste, militärische Dienstgrad der Stüpp-Streitkraft zuerkannt: General.

    Von ihrem Versteck aus kundschafteten sie die Männer vor uns aus und warteten gleichzeitig die Anweisungen der Alpha-Fähe ab - meine. Im Gegensatz zu den anderen bedeutete mein Job Neuland für mich.

    Erst vor Kurzem forderten mein Ehemann, Alejandro Salvador, und ich, Julissa - Spitzname July -, Vollblüter nach dem Wolfsgesetz, die Posten der Leitwölfe ein, um das Volk der Gestaltwandler, genannt Stüpps, in Deutschland zu regieren und ihm zu dienen.

    Bis zu dem Tag, an dem ich realisierte, dass ich im Besitz der Bibel der Formwandler war, hatte ich keine Ahnung, zur Nation der Gestaltwechsler zu gehören. Das Buch der Bücher ließ mir meine verstorbene Oma Anna an meinem Hochzeitstag durch Opa zukommen.

    Die Offenbarung des Verstand sprengenden Geheimnisses erlas ich aus einem Brief meiner von Leittieren adoptierten Oma, der der Heiligen Schrift beilag. Und diesem verblüffenden Umstand verdankte ich, dass Führungsqualitäten in meinem Blut flossen, von denen ich achtzehn Jahre lang nichts ahnte.

    Mit der Bibel erhielten wir vom Schöpfer den Auftrag, die Verschwörer zu eliminieren, die es sich seit Jahrhunderten zur Lebensaufgabe machten, uns Gestaltwandler zu demütigen, zu jagen und bestialisch hinzurichten.

    In ihren Augen waren wir Missgeburten. Und in seinen Augen waren wir sein Heer des Widerstands, seine ausführende Hand, die die Apokalypse einleitet.

    Eine enorme Bürde wurde uns von Geburt an gegeben; der Anweisung von oben gerecht zu werden, war der Sinn unserer Existenz. Ungeübt in der Fehde gegen die Empörer gab ich folglich mein Bestes. Ich, die Alpha-Wölfin. Ein untrüglicher Instinkt leitete mich, aus meiner Tierhälfte hervorgeboren.

    Im Unterholz, hinter der entblätterten Krone einer monströsen, morschen, von Herbststürmen ausgerissenen und waagrecht auf dem schlammigen Erdboden liegenden Buche verborgen, suchte ich Augenkontakt mit Alejandro. Der Alpha-Rüde, mein Partner im Kampf gegen unsere Feinde und meine große Liebe.

    Bäuchlings am wurzeligen Ende des Stammes im triefenden, verrottenden Laub, schätzungsweise dreißig Meter von mir entfernt, spähte er in Richtung der feindlichen Macht.

    Trotz der Dunkelheit in dieser regnerischen, trüben Nacht nahm ich meine Familie und unsere erbitterten Widersacher ohne Probleme bis ins winzigste Detail wahr. Ein Stüpp zu sein schenkte mir viele Vorzüge sowohl auch unvorhergesehene Risiken.

    Alejandro schaute zu mir hinter, hielt mit mir Blickkontakt und gab ein Handzeichen. Im Anschluss robbte er geräuschlos im Schlamm, der ihn perfekt camouflierte, wie ein hungriges Raubtier, das einer Beute nachstellt, mit Hilfe der aufgestützten Ellbogen an die gesetzlosen Männer heran.

    Zwei Banden zogen vor unseren Augen in geringer Entfernung einen Waffen- und Drogendeal ab, um uns mit den ergatterten Gewehren zu töten und mit den Drogen leichtes Geld zu erbeuten, das ihr unmenschliches Unternehmen finanzierte.

    Drei Neuwagen parkten am Rand des Waldes auf einem von Pfützen und Erdlöchern bedeckten Feldweg, der für Waldarbeiter, Landwirte und Spaziergänger angelegt wurde. In der derzeitigen widrigen Wetterlage war er für einen Personenwagen nur mit allergrößter Vorsicht befahrbar.

    Etliche Meter über das schlammige Erdreich gekraucht wie ein ausgebildeter Soldat, erhob er sich unvermittelt in eine Stellung, die ich vom Schulsport kannte. Eine Position, in der man, halb in der Hocke, mit den Händen beidseitig am Boden, in Ausganglage verweilt und auf den Startschuss wartet - nur mit dem Unterschied, dass sein rechter Arm nach oben zeigte.

    Sein linkes Knie nur Zentimeter über der regennassen Walderde, warf er mir einen flinken, ernsten Blick zu. Nachdem er erkannte, dass er meine volle Aufmerksamkeit hatte, stürzte der gehobene Arm abwärts.

    Was dieses unmissverständliche, optische Zeichen bedeutete, wusste ich inzwischen nur zu gut. In Sekundenschnelle gab ich die Gebärde an die Generäle weiter. Augenblicklich schossen leichtfüßige Schatten aus ihren Verstecken hervor und hielten auf fünfzehn Verschwörer zu. Marc und Samara zogen es vor, sich sofort während riesiger Sätze zu verwandeln, die sie meterweit durch die Luft katapultierten.

    Ihre T-Shirts und Jeanshosen schwebten lautlos zu Boden und landeten als leere Hüllen auf dem durchnässten Waldboden. Der dumpfe Aufschlag von Schuhen hätte uns verraten, aus dem Grund trugen wir keine.

    Die schneeweiße Wölfin und der braunglänzende Wolf überholten Alejandro und mich in atemberaubender Geschwindigkeit und erfassten zwei Kerle, bevor sie unsere Gegenwart erahnten.

    Die scharfen Zähne der Wolfsgebisse schnappten zu und in Millisekunden ereilte sie der Tod. Unüberlegte Schüsse ohne festes Ziel fielen durch die schwarze Nacht; wir waren entdeckt.

    Konfuse, aufgebrachte Männerschreie erschallten und Panik brach unter ihnen aus, sie hatten sich in der Finsternis bei ihrem Vorhaben sicher gefühlt.

    Im Zickzack von einem breiten Baumstammrücken hinter den anderen, verkürzte ich den Abstand zwischen den schändlichen Zeitgenossen und mir. Das dicke Holz gewährte mir einen gewissen Schutz.

    Bislang nicht so geübt wie der Rest meines Familienkreises vermied ich es, das Unglück herauszufordern und von einer Gewehrkugel getroffen zu werden.

    Obwohl uns Leittieren ein ewiges Leben zuteil war - ein Geschenk des Schöpfers, um unser Volk im Widerstand und Kampf gegen den Abschaum der Erde anzuführen -, konnte eine Schussverletzung an der falschen Körperstelle dieses anhaltende Dasein abrupt beenden. In solchen Fällen waren wir empfindlich wie der Mensch, erloschen wir wie ein zweibeiniger Staubgeborener. Alejandro war mein Lebensinhalt und Samara und Marc zählten zur Familie, ihren Tod hätte ich nicht ertragen.

    Der Alpha-Rüde kletterte auf einen hohen, kantigen Felsen, nahm Anlauf und stieß sich vom Vorsprung aus kräftig ab. Als schösse er mit einem stilvollen Kopfsprung in einen Swimmingpool, vollzog er in einem kühnen Sprung majestätisch die Verwandlung zum schwarzen Wolf.

    Geräuschlos landete er von oben auf zwei ruchlose Typen, ehe seine Kleidung den nassen Waldboden berührte. Dieses Talent war uns in die Wiege gelegt, dennoch erfüllte sich mein Herz mit Stolz bei seinem Anblick.

    Die grotesken Gestalten sahen ihn in der pechschwarzen Nacht nicht kommen. Es knackten durchbissene Knochen, hektische Rufe und eilige Schritte im Unterholz folgten, die abschwollen, desto rascher sich die Männer von uns fortbewegten.

    Die Fliehenden versuchten, durch den östlichen Gebirgszug zu entkommen, die tschechische Grenze lag nicht mehr weit entfernt. Alejandro trabte auf vier Pfoten zurück auf den erhöhten Vorsprung des Felses und heulte mit erhobenem Haupt auf.

    Der Schall seiner Stimme breitete sich über die Grenzlinie aus und warnte unsere Nachbarn vor. Samara und Marc, verstrickt in einen Kampf um Leben und Tod, knurrten und bissen derweil wild um sich.

    Ich sondierte die Lage und richtete mein Augenmerk auf zwei Empörer in meiner Nähe, die zu den Draufgängern gehörten, die sich den Geflüchteten nicht anschlossen. Der eine hielt einen schmalen dunklen Aluminium-Aktenkoffer in der Hand, der andere nahm etwas mit seinem Gewehr ins Visier.

    Es war unmöglich, dass sie uns in der Finsternis sehen konnten. Oder etwa doch? Ich folgte der Richtung des Gewehrlaufs. Er zeigte auf … Alejandro? Dieser Unhold benutzte eine Waffe mit einem Nachtsichtgerät! Der Leitwolf, zwischenzeitlich nach einem weiteren Satz mit einem anderen miesen Verschwörer beschäftigt, bemerkte den auf ihn gerichteten Gewehrlauf nicht.

    Nur Sekunden blieben, um sein Leben zu retten, ansonsten wurden wir im Diesseits getrennt bis zu meinem Ableben - unter der Voraussetzung, dass es eines Tages eintrat.

    Von einer Heidenangst getrieben entdeckte ich einen gewaltigen Steinblock, flitzte hinter dem holzigen Schlupfwinkel hervor und wetzte darauf zu.

    Konzentriert fasste ich den Fiesling ins Auge, der Alejandro fokussierte. Ich stolperte über eine Holzkiste mit Langgewehren und in Plastiktüten eingepackte Drogen, verhinderte gerade so einen Sturz.

    Besessen von Panik, mit blindwütigem Hass, sprang ich mit weit ausgeholtem Schritt auf das Gestein auf und stieß mich mit voller Wucht ab. Mit einer seitlichen Drehung durch die Luft wirbelnd verwandelte ich mich in einen rotblonden Wolf und brach aus der durchtränkten Montur. Ein bösartiges Knurren entwich meiner Kehle und ein Vibrieren schlich über meine Lefzen.

    In rechter Seitenlage von oben kommend stürzte ich auf die beiden Männer und riss sie grob mit mir zu Boden. Peitschende Schüsse lösten sich aus dem Maschinengewehr und hallten durch den menschenleeren Wald, zum Glück wurde keiner von uns getroffen.

    Wieder auf vier Pfoten, biss ich demjenigen, der Alejandro nach dem Leben trachtete, gnadenlos die Gurgel durch. Sein Tod kam unvorhergesehen, er entlockte ihm in den letzten Sekunden seiner Existenz nicht einen winzigen Schrei. Mit aufgesperrten starren Augen strömte aus seinem Körper mit wilden Zuckungen der Rest seines sündhaften Daseins. Die Finger öffneten sich und die Schusswaffe landete in einer braunen Wasserpfütze.

    Gleichzeitig flog Undefinierbares zischend durch die Luft und schlug, zwei Wimpernschläge darauf, hart auf dem klatschnassen Waldboden auf, rotierte durch den Aufprall erneut aufwärts und das Klicken eines Schlosses ertönte.

    Geldscheine schneiten auf uns hernieder wie Schneeflocken. Durch den Geldschauer kurzzeitig abgelenkt, entging mir, wie sich der andere Verschwörer von dem Sturz erholte, aufraffte und nach der nassen Schnellfeuerwaffe griff, die der Tote Sekunden zuvor verlor.

    Ein hämisches Lachen vermischte sich mit dem Laut der niederprasselnden Regentropfen und der Gewehrlauf zielte nun auf mich. Eine Scheißangst trieb mir das Blut durch die Adern, dass es in meinem Tierschädel rauschte. Alejandro begriff den Ernst der Lage blitzschnell. Mit seitlich abgespreizten Ohren, ein unmissverständliches Verteidigungssignal, hastete er auf ihn zu.

    Mit einem Schnappen in die Luft gab er eine letzte Warnung, erzielte damit jedoch keine Wirkung. Der Mann ließ sich nicht beirren und drückte gnadenlos ab.

    Ich schloss die Wolfsaugen, als ich das Klicken vernahm. Nichts passierte. Wieder geöffnet kriegte ich mit, wie er fluchend das Gewehr zur Seite warf.

    Aus seiner Jacke zog er eine Faustfeuerwaffe und nahm mit parallel gestellten Füßen, den Rücken dem schwarzen Beutegreifer zugekehrt, einhändig die Platzierung des Abzugfingers auf dem Abzug vor, ohne mich aus dem Visier zu verlieren.

    Ich erstarrte.

    Einmal Glück zu haben, grenzte an ein Wunder, aber zweimal … Der Schuss löste sich jeden Moment. Alejandro, diesmal flinker als der Finger auf dem Abzug, unternahm einen letzten gewaltigen Sprung, biss dem Verschwörer in den Nacken, riss ihn mit geballter Kraft herum und endete seine verwerfliche Lebensreise. Mit einem Mal erloschen die Kampfgeräusche ringsum. Abgesehen von dem Sturzregen war es unvermittelt vollkommen still.

    Mit orangegelb leuchtenden schrägstehenden Augen sah er mich fragend an. Im vermodernden Laub des Unterholzes, von Blicken abgeschirmt, verwandelten wir uns für einen Augenblick in Menschengestalt zurück und tauschten uns aus, splitternackt, wie der Herr uns schuf.

    „Ist mit dir alles in Ordnung, Liebes?", flüsterte er mir besorgt durch den Bindfadenregen zu, der auf das bildschöne, sonnenverwöhnte, Schlamm verschmierte Gesicht prasselte und braune längliche Schmutzspuren hinterließ.

    „Es könnte nicht besser sein. Was ist mit dir?", entgegnete ich leise in der Hocke und verdeckte zeitgleich meinen bloßen Oberkörper mit beiden Armen. Klatschnasse Haarsträhnen klebten am Rücken und den Schultern.

    „Dank dir bin ich noch am Leben … Er beugte sich zu mir her und küsste meine Tropfen benetzten Lippen. „Das war jetzt das dritte Mal, dass du mich gerettet hast!, fügte er nach dem Kuss hinzu.

    „Keine große Sache. Ohne deine Aktion eben - ich stehe übrigens voll auf deine koordinierten Bewegungen - wäre ich nun ebenfalls ohne Herzschlag", bedankte ich mich und knutschte ihn.

    „Das war knapp, zu knapp. Ich dachte, ich hätte dich verloren."

    „Jemand war uns gnädig. Normalerweise funktioniert solch ein Maschinengewehr auch bei extremer Feuchtigkeit. Ich-liebe-dich hört sich für manche vermutlich kitschig an, aber ich kann es dir nicht oft genug sagen, Alejandro", flüsterte ich.

    „Es hört sich nur für diejenigen kitschig an, die niemals geliebt haben, antwortete er zügig. „Tust du mir einen Gefallen?

    „Der wäre?"

    „Sei weniger waghalsig."

    „Wenn es um deine Sicherheit geht, muss ich Risiken in Kauf nehmen. Er schnaubte. Missfallen blitzte in seinen bernsteinfarbenen Augen. „Okay, ich versuch´s.

    „Danke. Das wollte ich hören. Halte dich vorerst etwas im Hintergrund."

    „Ich bin das Alpha-Weibchen", entrüstete ich mich.

    „Niemand macht dir deinen Rang streitig! Und vor allen Dingen bist du meine Ehefrau, also sorge einfach dafür, dass das auch so bleibt, ja?"

    Im nächsten Moment verwandelte er sich und ich tat es ihm gleich. Forsch stürmte der schwarze Wolf den Türmenden hinterher. Ich hing ihm so dicht an den Hinterpfoten, dass der aufspritzende Schlamm in mein Gesicht klatschte wie bei einer Schlammgesichtsbehandlung.

    Samara und Marc bildeten das Schlusslicht unseres winzigen Rudels und es folgte eine wilde Hatz durch den verregneten, nächtlichen Wald. Zwischen blätterlosem Gebüsch jagten wir auf schlüpfrigem Unterboden an gespenstischen Bäumen vorbei, deren krakeligen leeren Äste und Zweige in den finsteren Himmel ragten.

    Wir spürten unter unseren Pfoten die vibrierenden Schwingungen flüchtender Fußtritte auf dem feuchten Erdboden. Endlich auf einem Trampelpfad, die obere Schicht morastig vom Niederschlag, setzten wir der entflohenen Gruppe mit einer Stundengeschwindigkeit von etwa fünfundfünfzig Kilometern nach, die wir, wenn es vonnöten war, problemlos bis zu einer Stunde einhalten konnten.

    Durch eine enge Schlucht führte der Pfad einen bewaldeten Berghügel hinauf. Inzwischen regnete es nur leicht. Ein Halbmond schob sich durch die dichte dunkle Wolkendecke und sein gelblicher Schein legte sich über die nasskalte Winterlandschaft und hellte die Umgebung auf.

    Wir standen kurz davor, unsere Rivalen einzuholen. Alejandro drosselte überraschend die Geschwindigkeit und blieb abrupt stehen. Seine nach vorne gerichteten Ohren lenkten die Aufmerksamkeit auf das, was vor uns geschah, und sein aufgebrachtes, tiefes Heulen ertönte, das kilometerweit reichte.

    Die Verschwörer verließen Deutschland und überschritten die Grenze in die Tschechei. Ich roch die Duftmarken der tschechischen Wölfe an den Territorialgrenzen, die dort angebracht wurden, um uns deutliche Zeichen zu setzen, dass ihr Gebiet anfing und unseres endete. Gefangen im Jagdrausch hatte ich der unsichtbaren Markierung keinerlei Beachtung geschenkt.

    Bereits in Sicherheit gewähnt, vernahmen wir das dämliche Lachen der Empörer aus der Ferne, mit dem sie ihren Spott über unseren teilweisen Misserfolg offenkundig preisgaben. Es war nun die Angelegenheit unserer tschechischen Brüder und Schwestern, die Aufgabe zu vervollständigen.

    Die Feinde drangen in ihren Herrschaftsbereich ein und außerhalb unseres Reviers zu jagen, hätte uns womöglich Ärger eingebracht. Obwohl es nichts mehr für uns zu tun gab, blieben wir lauschend auf der Hut. Alejandros Brustkorb war angespannt und die Vorderbeine zitterten leicht.

    Durch seinen ersten Mahnruf alarmiert, wartete das tschechische Rudel geduldig auf unser aller Rivalen. Nach wenigen Minuten verstummte das alberne Lachen der Verschwörer. Fletschen von Wolfszähnen hallte durch den schlafenden Wald und endete den Aufruhr. Der Angriff dauerte nur Sekunden, daraufhin kehrte Ruhe drüben im winterlichen Forst Tschechiens ein.

    Ein mehrstimmiges Johlen ertönte aus dem Böhmerwald zurück und wir antworteten. Es wurde niemand von ihnen verletzt und die Feinde ausgelöscht, unsere Arbeit war für heute getan.

    Mit einem guten Gefühl rieben Alejandro und ich zärtlich die Köpfe aneinander und leckten uns gegenseitig Regentropfen von der Nase. Marc und Samara gesellten sich zu uns und zum Zeichen des Respekts für uns ranghöheren Artgenossen senkten sie demütig ihre Häupter.

    Auf leisen Pfoten drehten wir in die Richtung um, aus der wir kamen, und suchten die Stelle des Vergehens auf. Jeder sammelte seine eigenen Klamotten ein und verzog sich im Unterholz. Nach der Verwandlung schlüpften wir in die dreckigen, klammen Sachen.

    Keine Spaten zur Hand scharrten wir mit den Handinnenflächen Erdreich auf mehrere Haufen. Nachdem die Löcher tief genug wirkten, übergaben wir der Erde die leblosen Leiber, die Rauschmittel und Knarren, als hätte es das Böse nie gegeben.

    Die Geldscheine klaubten wir zusammen, für eine anonyme Spende an hungernde Kinder in Äthiopien. Der unterbreitete Vorschlag wurde einstimmig beim letzten Stüpp-Treffen angenommen, falls schmutziges Geld in unsere Hände gelangen sollte.

    Auftrag ohne Ende

    „Gibst du mir mal die Zeitung, Paps?" Mit überkreuzten Füßen lehnte er gegen die Spüle und trank hin und wieder aus einer Tasse Kaffee. Es war Mitte Dezember, neun Tage vor Heiligabend. Alejandro und ich legten die Rückreise nach Deutschland so, dass wir unserer Pflicht im Land nachkommen und gleichzeitig mit der Familie Weihnachten feiern konnten.

    „Hier … Falte sie aber nach dem Lesen sorgfältig zusammen, Opa schmökert gern im Sportteil, wies er mich an. Ich nickte, nahm sie dankend und setzte mich zu meinem Ehemann an den Küchentisch. „Okay, Kinder, die Arbeit ruft. Vergesst nicht, Lukas um dreizehn Uhr vom Gymnasium abzuholen, ihr habt es ihm versprochen.

    „Wir verschwitzen es nicht, keine Sorge!", gab sein Schwiegersohn zurück, während er mit mir die Schlagzeilen kursorisch durchging und deshalb nicht aufsah. Ungeduldig hupte es draußen in der Hofeinfahrt und wir verbissen uns ein dämliches Grinsen.

    „Und lasst Opa ausschlafen. Delia geht in der Stadt einkaufen, nachdem sie mich in der Klinik abgesetzt hat, sie kommt also später heim."

    Ein wenig überlastet schaute ich vom Blätterwald auf. Ich hätte lieber in Ruhe die heutigen Berichte darin erfasst, was jedoch nicht ging, solange er uns mit Aufgaben und Informationen berieselte, die uns längst bekannt waren. „Wir stören ihn nicht. Außerdem sind wir erwachsen und kommen zurecht. Was ist mit Stan und Ollie?", forschte ich nach. Lukas´ Schäferhunde.

    „Die liegen bei ihm im Schlafzimmer - hoffentlich auf dem Fußboden und nicht wieder im Bett! Er bringt sie nachher, wenn er aufgewacht ist, für ihr Geschäft hinaus in den Garten, ihr müsst euch nicht um sie kümmern."

    „Okey-dokey! Wir sehen uns heute Abend. Sei unbesorgt, hier läuft alles nach Plan, auch ohne dich, Doktor Kontrollfreak", bemerkte ich spöttisch und ein schiefes Lächeln erhellte sein Gesicht. Gleichzeitig setzte er eine braune Strickmütze auf, zog sie über beide Ohren und schlüpfte in den dunklen Wintermantel, der vor ihm auf der Stuhllehne hing. Plötzlich, als hätte ich es geahnt, hielt er nochmals inne, was mich zu der Annahme verleitete, dass neue Befehle folgten.

    „Kinder, ich freue mich wirklich riesig, dass ihr Weihnachten hier mit uns verbringt, es bedeutet uns sehr viel."

    Ich lag falsch, sogar völlig daneben. Die Zeitung auf der Tischoberfläche abgelegt, schoss ich lächelnd aus dem Stuhl hoch, lief auf ihn zu und umarmte ihn. Ein zweites ungeduldiges Hupen von draußen beendete die innige Zweisamkeit im Nu. „Das Christfest ist ein Familienfest, darum feiert man es ja auch mit seinen Lieben. Nun eile zu ihr, ehe sie Opas Schlaf auf dem Gewissen hat", witzelte ich und küsste seine Wange.

    „Bin ich die letzte Zeit tatsächlich ein Kontrollfreak?"

    „Nur ein ganz kleiner. Mit einem Feixen sputete er hinaus in die Hofeinfahrt. Die Haustür sperrangelweit offen gelassen, zog ein eisiger Windzug hindurch und wehte bis in die Küche. „Oh Paps! Statt es mir neben Alejandro gemütlich zu machen, durchquerte ich seufzend Flur und Diele und schloss leise die Tür. Zurück in der kuschligen Kochstube setzte ich mich auf meinen angewärmten Stuhl. Zwischenzeitlich wanderte die Zeitung in Alejandros Hände. Mit auf die heutigen Tagesthemen gerichteten Blick fuhr ich ihm abwesend übers kurzgeschnittene lackschwarze Haar.

    Für eine Weile schwiegen wir, schlürften ab und zu heißen dampfenden Kaffee aus unseren Tassen und genossen die nicht oft vorkommende Stille im Haus. Je mehr ich las, desto aufgebrachter wurde ich. Mit jeder Zeile verflogen Genuss und Kaffeeduft und in mir brodelte es wie in einem Kochtopf. An dem Punkt angelangt, an dem der Ärger über die Menschheit nicht länger hinunterschluckbar war, flüsterte ich gereizt, dass Opa mich nicht hörte: „Schau dir das bloß an! Wir arbeiten ohne Ende und greifen ein, wo es nur geht, dennoch bessert sich nicht die Lage. Die Menschen untereinander tun sich schlimme Dinge an, tagtäglich liest man über Morde, Diebstähle und Einbrüche, selbst vor hilflosen Kindern und Tieren schrecken sie nicht zurück. Und anstatt dass die Anzahl der Verschwörer in Deutschland abnimmt, scheint für jeden Meuchelmörder, den wir aus dem Weg räumen, ein anderer aus dem Boden zu schießen wie Unkraut. Das Böse hat Hochkonjunktur, Zeitungen und Nachrichten sind proppenvoll mit Scheußlichkeiten! Die Zeiten sind düsterer denn je, wie sollen wir damit jemals fertig werden? Hat der Schöpfer zu viel Vertrauen in uns gesetzt? Es ist unmöglich, überall gleichzeitig zu sein und alle Geschehnisse zu verhindern! Manchmal fühle ich mich wie eine Versagerin."

    Entsetzt stieß ich Luft aus. Alejandro legte die bedruckten Seiten auf der Tischoberfläche ab und umfing mein Gesicht.

    „Liebes, er weiß, wir tun unser Bestes, mehr verlangt er nicht von uns. Das Böse lebt schon so lange auf der Welt, wir vermögen es nicht in wenigen Monaten zu zerstören, dessen ist auch er sich bewusst. Außerdem gibt es die Polizei. Die Menschen sind eigentlich für sich selbst verantwortlich."

    Ungemein tief seufzte ich auf. „Du hast völlig recht, trotzdem komme ich mir hilflos vor!, ereiferte ich mich und er kratzte sich an der Stirn. Es war ein sorgenbedingtes Kratzen. „Was ist?

    „Verträgst du eine weitere schlechte Nachricht?"

    „Muss das sein?"

    „Es muss. Sam hat sich gemeldet. Der Wolfskurier, den wir mit schriftlichen, in der Weltsprache übersetzten Beweisen nach Nord- und Südamerika aussandten, um die Kunde des abweichenden fünften Gebotes zu überbringen, kam nicht zurück."

    Sam. Die Kurzform von Samara. Wir schickten ihn zu dem Doppelkontinent, weil wir uns nicht im Klaren waren, wie viel die jetzigen amerikanischen Leittiere dort über die Heilige Schrift wussten, obwohl das Buch von Übersee in Oma Annas Obhut gegeben wurde. „Was bedeutet das?"

    „Ich weiß es nicht."

    „Ob er unterwegs verunglückt ist?"

    „Möglicherweise. Doch wieso meldet er sich dann nicht irgendwie?"

    „Was, wenn er tot ist?"

    „In dem Fall sollte zumindest sein Leichnam zu finden sein."

    „Vielleicht ist es zu früh, sich zu härmen. Gib ihm noch ein bisschen Zeit. Die Nachricht des Widerstands den amerikanischen Gestaltwandlern zu überbringen, ist weitaus schwieriger, Amerika besteht aus zwei großen Erdteilen." Er küsste mich zärtlich, was mich gedanklich kurz auf einen anderen Kurs brachte, denn ich begann ein Weihnachtslied zu summen.

    „Von der Seite habe ich es bisher nicht betrachtet. Siehst du! Was wäre ich ohne dich? Lass uns die negativen Gefühle beiseiteschieben und an Fröhlicheres denken! Zum Beispiel daran, dass Weihnachten vor der Tür steht. Was kaufen wir unseren Lieben dieses Jahr?"

    Fragend sah er mich an und mein Summen verstummte. „Die Antwort zu deiner Frage wurde uns größtenteils abgenommen. Opa, Paps und Delia verzichten auf Geschenke, stattdessen äußerten sie den Wunsch, das eingesparte Geld an die Spendenaktion für Äthiopien zu überweisen. Ich erzählte ihnen gestern, dass an deiner Uni momentan eine Aktion läuft, was natürlich nicht wahr ist, sie läuft bei uns Gestaltwandlern, aber was soll´s. Jedenfalls waren sie Feuer und Flamme von der Idee. Lukas wünscht sich die restlichen vier Computerspiele der Fantasygeschichte, das trug er mir neulich erst zu - genau genommen viermal, damit ich es wirklich behalte. Und Alex und Sam erhoffen sich eine Woche Urlaub, den sie ungestört in ihrem Zimmerchen zubringen wollen. Nachvollziehbar, wir haben Sam, seit wir das Alpha-Paar sind, keine freie Minute gegönnt. Sie haben sich beide eine kleine Auszeit verdient; die sieben Tage müssen als ihre Flitterwochen herhalten, obwohl sie noch nicht mal ihre Trauung gebührend gefeiert haben."

    „Okay, ist gebongt. Was ist mit den Rodriguez´?", fragte er nach.

    „Miguel und Maria sehen den Geschenkeaustausch als unwichtig an und für Anna - unser Patenkind, benannt nach meiner Oma - „entdeckte ich in der Stadt eine Puppe, gekleidet wie eine traditionelle Spanierin. Schicken wir sie durch die Post, ist sie pünktlich am Heiligabend bei ihr, fuhr ich fort und er nahm eine überlegende Miene ein.

    „Wir sollten ihren Eltern trotzdem eine Freude bereiten, immerhin passen sie jedes Mal prima auf unser Rudel auf, wenn wir in Deutschland sind. Sie haben sich eine Anerkennung verdient."

    „Meinetwegen, stimmte ich bei, guckte in meine Kaffeetasse und eine Pfütze darin, leerte ich sie. „Wann wollen wir den Einkauf erledigen?

    „Heute Morgen? Und danach holen wir Lukas von der Schule ab!"

    Ich küsste seine Nasenspitze. „Abgemacht! Bevor wir losziehen, schaffe ich ein wenig Ordnung, bat ich um zeitlichen Aufschub und erhob mich. Alejandro faltete die Zeitung sorgfältig zusammen, dass sie aussah wie unberührt, stapelte die Tassen und Teller in den Geschirrspüler, und ich räumte im Wohnzimmer auf. „Mit Teamwork geht das flugs! Ich springe jetzt nach oben und ziehe mir den Wintermantel über. Eigentlich sollten wir dir auch wieder eine Jacke kaufen. Die vom vorigen Jahr, die mit Sams Blut ruiniert wurde, nachdem Robert Weis sie anschoss, stand dir vorzüglich. Er verzog den Mund. Die Erinnerung an Alex´ toten Vater war keine freundliche.

    „Ist echt verrückt, was wir zwei schon alles erlebt haben, nicht wahr?, gab er zur Antwort. Ich lächelte ihn an. Stundenlang hätte ich mich in den bernsteinfarbenen Augen mit den langen schwarzen Wimpern verlieren können. „July? Es ist verrückt, nicht?, brachte er mich in die Gegenwart zurück.

    „Entschuldige! Ja, es ist total abgefahren, antwortete ich mit einem verklärten Blick, und um auf sein geschädigtes Weihnachtsgeschenk zurückzukommen, sprach ich es erneut an: „Was sagst du jetzt zu einer neuen Jacke? Er zuckte die Schulter.

    „Von mir aus."

    „Dir hatte die letzte gefallen …"

    „Natürlich. Dennoch ist es nur verschwendetes Geld, ich - wir - frieren bei diesen Temperaturen nicht. Aber wenn du dich dann besser fühlst."

    Ich lachte auf und hielt schnellstens die Hände vor den Mund, um es zu unterdrücken und Opa nicht zu wecken. „Wir wollen schließlich wie normale Menschen aussehen oder hab ich da was nicht mitgekriegt, alter Sparfuchs?" Eine Anspielung auf sein Alter, er ging auf die sechzig zu. Unfassbar, dabei sah er aus wie achtzehn.

    „Richtig."

    „Das heißt, dass wir in der Kälte Winterjacken anziehen, als könnten wir es ohne nicht aushalten, argumentierte ich. „Und überhaupt, es gibt nichts gegen einen adrett gekleideten Mann einzuwenden. Seine Augen leuchteten auf.

    „Du findest mich mit Jacke adrett?"

    „Aber ja!", spielte ich ihm Entrüstung vor, weil er an meinen Worten zweifelte. Er verführte mich zu einem Zungenkuss. Mit Mühe voneinander gelöst, sprang ich ins Dachgeschoss und zog den roten Wintermantel über, erstens aus purer Gewohnheit und zweitens, um unsere Tarnung aufrechtzuerhalten.

    Nach einer kurzen Fahrt durch regnerisches Wetter parkte er den in die Jahre gekommenen grauen VW-Golf in einem Parkhaus der Innenstadt von Bad Dürkheim und wir stiegen aus. Auf meiner hellblauen Jeans hinterließ das von den Schuhen aufspritzende Wasser auffällige Flecke - mehr Futter für die Waschmaschine.

    Von der Nässe zog ich den Nacken ein und den Kragen des dicken weißen Strickrollkragenpullovers, der unter dem Mantel hervorschaute, bis zum Kinn. Das rotblonde lange Haar drehte ich zu einer Spirale und steckte es zwischen Rücken und Mantelfutter, obwohl Alejandro es liebte, wenn ich es offen trug.

    Ihm schmeichelten eine dunkelblaue Jeanshose, ein schwarzer gerippter Pullover und meine gleichfarbige Kappe, die er diesmal richtig herum aufsetzte. Sie war immer noch sein Lieblingsstück. Unser Schuhwerk bestand aus Turnschuhe, keine Markenschuhe, sondern stinknormale, erschwingliche Sneakers.

    An seiner Hand überquerte ich die Hauptstraße. Seit meiner Verwandlung sparte ich mir Handschuhe und Strickmütze. Viele Jugendliche verzichteten auf Kopfbekleidung und Fäustlinge, um cool auszusehen; sie froren sich gerne Ohren und Finger ab. Unklug von ihnen, immerhin lauerte die nächste Erkältung schon um die Ecke. Bei uns bissen Viren und Bakterien auf Granit, einer der grandiosen Vorzüge im Leben eines Gestaltwandlers.

    Ich schaute mich um. Die Schaufenster waren weihnachtlich geschmückt wie im Vorjahr, nur die goldfarbenen Glocken und bunten Beleuchtungen über den Straßen fehlten. Aufbau, Abbau und Wartung kosteten, den Städten ging allmählich das Geld aus. Den Einwohnern erging es nicht anders. Bürger nahmen finanzielle Einbußen am Arbeitsplatz hin, um ihren Job zu behalten; nicht jeder, der studierte, bekam die gewünschte Arbeitsstelle. Und warum eigentlich wurden praktische Berufe dermaßen unterbezahlt? Für einen Single war es schon hart, mit einem Mindestlohn über die Runden zu kommen, Familien mit Kindern hatten es noch schwerer. Viele lebten vom Anfang des Monats die Tage zählend bis zum Ende, das Einkommen reichte von hinten bis vorne nicht. Und das Kindergeld, ursprünglich für den Nachwuchs gedacht, verzehrten Miete und Lebensunterhalt.

    Es fühlte sich an, als stürzte das ganze System in sich zusammen, und nur der mit dem dicksten Rettungsring rettete sein Leben, während alle anderen unweigerlich untergingen. Wieso fiel mir das vor einem Jahr nicht auf? Hatte ich meine Augen davor verschlossen, weil ich in einem wohlbehüteten Nest aufwuchs? Oder ging es erst bergab, seit wir die Posten als Alpha-Tiere übernahmen? Wurde es mir dadurch verdeutlicht? Ich stieg nicht dahinter.

    Wir suchten einen Spielzeugladen auf, wegen des bevorstehenden Festes mit Eltern und Kindern überflutet. Es entging mir nicht, dass sich die Mehrzahl der Erziehungsberechtigten nur billige Spielsachen für die Krümel leisten konnte.

    In der Abteilung für Kindervideospiele fündig geworden, brachte Alejandro die restlichen Videospiele, die Brüderchen noch fehlten, zur Kasse. Er machte keinen Hehl daraus, dass er vier Computerspiele auf einen Schlag zu übertrieben fand. Dass die ganze Familie finanziell beisteuerte, änderte seine Meinung nicht.

    Klar war es happig, vor allem, wenn ich sah, was bei anderen Wichten unterm Baum liegen würde. Andererseits war es Lukas´ erstes Weihnachten im Hause Sommer; eine harte Zeit lag hinter ihm, und ihn zu verwöhnen bereitete mir Freude.

    Während eine Verkäuferin die Spiele in blaugoldenes Papier mit Kindermotiven einpackte, suchte ich nach der Puppe für unser Patenkind. Mit fiebrigen Wangen stöberte ich durchs Puppenregal. Ich schwitzte, fuhr am Nacken entlang unter mein Haar, hob es aus dem Mantel und fächerte mit den offenen Mantelseiten, um abzukühlen.

    Erleichtert, dass sie bisher niemand ergatterte, hob ich sie zwischen asiatischen und afrikanischen Puppenkindern hervor. Ihren etwa vierzig Zentimeter großen Weichgummikörper hüllte ein bis zu den Fußknöcheln reichendes schwarzrotes Rüschenkleid ein. In ihrer schwarzen geflochtenen Haarpracht aus dicken Strickfäden steckte eine rote Seidenrose. Legte man sie in Schlafposition und stellte sie wieder auf, ertönte eine liebliche Stimme, die Mama sagte.

    Ich überzeugte mich, dass sie altersgerecht war, damit Anna keine Kleinteile verschluckte oder sich anderweitig verletzte. Das einzige Manko: die Rose - dank eines Klettverschlusses abnehmbar. Mit einem vorweihnachtlichen Gefühl im Bauch übergab ich die Puppe der Verkäuferin. Mit zwei geschickten Händen in eine rechteckige Schachtel gebettet umwickelte sie das Geschenk mit rosa Glanzpapier, auf dem dralle Engelchen mit bunten Präsenten umherflogen. Abkassiert und die Päckchen in Tüten verstaut, drängten wir an erhitzten Leibern vorbei Richtung Ausgang.

    „Was schicken wir ihren Eltern? Hast du eine Idee?", fragte ich und hängte mich bei ihm unter. Obwohl man in den Geschäften von allen Seiten mit Geschenkideen bombardiert wurde, sei es für einen kleinen oder großen Geldbeutel, fiel mir nichts Gescheites ein.

    „Wie wäre es mit einem Fotoalbum und einer Kamera? Das Feuer, das ihr Haus niederbrannte, zerstörte ihren Besitz. Anna lernt täglich Neues und auf die Weise verpassen wir nicht ihre Entwicklung, wenn in den Sechs-Wochen-Abständen für ein paar Tage eine Rückkehr nach Deutschland erforderlich ist. Genau genommen beschenken wir uns selbst damit", meinte er mit einem aufkommenden Grinsen und auf und ab hüpfenden Augenbrauen. Es sah lustig aus.

    „Ist das nicht zu sehr auf unseren eigenen Vorteil bedacht?" Ein fabelhafter Einfall … mit Hintergedanken.

    „Warum etwas verwerfen, mit dem man gleich zwei Parteien beglücken kann?"

    Kein weiteres Argument parat, verließen wir das Spielwarengeschäft und mischten uns unter die Städter. Der Regen ging inzwischen teilweise in Pappschnee über. Ein kühler, ungemütlicher Wind blies durch die menschenvollen Straßen und wehte mir die Haare ins Gesicht. Graublaue Tauben und graubraune Spatzen mit aufgeplustertem Gefieder, um die winzigen Körper vor Kälte zu schützen, hüpften auf den Gehwegen und pickten Brösel auf, die hungrigen Mäulern beim Vorübergehen herunterfielen.

    Auf einen Fotoladen gestoßen traten wir ein. Ich suchte ein Album aus und Alejandro übernahm das mit der Kamera. Nach längerer Überlegung entschied er sich für eine normale und eine Videokamera zum Aufnehmen. Alle drei Sachen in festliches Geschenkpapier eingepackt, besorgte der Verkäufer auf unsere Bitte hin freundlicherweise einen Karton und packte die Weihnachtsgeschenke sorgfältig ein, damit sie die Reise nach Galicien unbeschädigt überstanden.

    Bezahlt, zielten wir die Post in der Fußgängerzone an. Eine Weihnachtskarte ausgefüllt, Geld für Fleischstücke für unsere Wölfe beigelegt und das Paket zusammengeschnürt und beschriftet, gaben wir es auf.

    Zwischenzeitlich knurrten unsere Mägen. Erst elf Uhr vormittags, suchten wir ein Café auf. Hinter einer wandgroßen, an der Innenseite angelaufenen Fensterglasscheibe setzten wir uns an ein Zweiertischchen. Eine Bedienung notierte unsere Bestellung.

    Wir genossen die behagliche Wärme und die winterliche Atmosphäre, die sich außerhalb der Kaffeestube vor unseren Augen abspielte. Wie Federn schwebten riesige Flocken auf die Erde. Die in dicke Winterjacken eingemummelten Menschen beachteten ihre Schönheit nicht, hasteten von einer Straßenecke zur nächsten, um ein Schnäppchen für wenig Geld zu erhaschen.

    Alejandro erfasste meine Hand, zog sie an die Lippen, küsste sie zärtlich und schaute dabei nach draußen. Aus einem Lautsprecher hinter der Kuchenbar ertönten weihnachtliche Klänge.

    Männer und Frauen, manche mit Kindern, setzten hier drinnen für eine Weile ihre Hetzjagd nach Präsenten aus, bis sie sich wieder gestärkt ins Einkaufschaos stürzten. Die Bedienung brachte die Bestellung an den Tisch. Wie andere sich ins Einkaufschaos stürzten, stürzte ich mich mit Heißhunger auf die Torte und den Kaffee. „Lass es dir schmecken, Alejandro."

    „Du dir auch, Liebes."

    Ich gab ihm einen Schmatz auf die Wange und legte los. Buttercreme, mmh, was Feines! Während die sahnige Füllung in meinem Mund dahinschmolz, lauschte ich den Gesprächen, die um uns herum geführt wurden. Sie passten rein gar nicht zu der behaglichen Raumtemperatur und dem vorweihnachtlichen Flair.

    Wo blieb die Freundlichkeit? Wo die Geduld? Wo die Manieren? Links von uns moserte ein Teenager den Großvater an, der ihm mit seinen unterschiedlichen, altertümlichen Ansichten anscheinend auf den Geist ging.

    Zwei Tische weiter benahm sich eine Mutter genervt, weil ihr Kleinkind nicht stillsaß und quengelte. Sie schlug ihm auf die Fingerchen, stellte kurzerhand seinen Kuchen weg und das Quengeln stieg zu einem Heulen an, das einer Sirene alle Ehre machte.

    Ein junges Paar zu unserer Rechten wuchs offensichtlich mit den Zungen zusammen; die Hände bewegten sich dort, wo sie in einem Café nicht hingehörten, es verwechselte die Öffentlichkeit mit der privaten Wohnung.

    Wirklich, ich war bestimmt nicht prüde, auch ich busselte Alejandro in der Öffentlichkeit. Aber so? Busseln und das Organ in jemandes Rachen zu stecken, dass man annehmen musste, es schlängelte jeden Moment aus einem der beiden Ohren heraus, waren nicht dasselbe.

    Was stimmte mit den Menschen nicht? Niedertracht und Unhöflichkeit nahmen überhand. Angehörigen erwies man nicht länger Liebe und Respekt. Dass die Hemmschwelle gegenüber Tieren sank, kriegte ich mit. Doch gegenüber Kindern und Alten? Und wieso blieben über Nacht Erziehung und Moral auf der Strecke? Nicht nur in den lokalen Tagesblättern, sondern überall in Deutschland und Europa herrschten Ungerechtigkeit, Kriminalität, Unterdrückung, Gewalt und moralischer Verfall. Zwar gab es in der Stadt bislang keinen Mord und Blutvergießen, dennoch schien die Gegend nicht mehr sicher. All dies war nur ein kleiner Teil, der sich in meiner näheren Umgebung abhob. Wenn ich die Erdkugel als Ganzes betrachtete, sah ich Naturkatastrophen wie Erdbeben, Dürreperioden, Feuer und Überflutungen, die überhandnahmen und Seuchen mit sich brachten.

    Jeden Abend hörte ich in den Nachrichten Berichte über Kriege mit angrenzenden Völkern. Ebenso bekriegten sich Landsleute untereinander, wie sollten sie da mit Seelen aus Nachbarstaaten auskommen?

    Auf der einen Seite des Erdballs quälte Hunger die Menschheit, auf der anderen warf sie tonnenweise Lebensmittel weg, die sich noch zum Verzehr geeignet hätten.

    Anhänger von Religionen wurden verfolgt, ihre Frömmigkeit durch den Kakao gezogen, sogar vor Terroranschlägen schreckte man nicht zurück, im Gegenteil, sie nahmen überhand. Millionen von Menschen flüchteten aus Bürgerkrieg zerrütteten Ländern, flohen aus allen Ecken der Welt, in denen Grausamkeiten dominierten, um irgendwo ein menschwürdiges Plätzchen zu finden.

    Verführungen waren im Gange, die den eigenen Glauben in Frage stellten. Viele Leute verfielen in eine Gesetzlosigkeit und die Hartherzigkeit war erschreckend.

    Selbst die Jahreszeiten waren nicht mehr wiederzuerkennen, die Übergänge verschwammen. Als wir in der Stadt ankamen, hatte es geregnet, nun mischten sich Schneeflocken unter die Regentropfen. Schlackerwetter. Wie es wohl heute Abend oder morgen aussah? Unbeständiges Wetter wurde angekündigt. Vierzehn Tage Hochwinter, danach zwei Wochen Frühling. Wer nicht die zunehmende Entwicklung erkannte, die sich um einen vollzog, war entweder blind, taub oder gefühlskalt.

    Die Erkenntnis, dass alles den Bach herunterging und unsere Arbeit keinen Fortschritt zeigte, frustrierte. Es kam mir vor, als gingen wir einen Schritt vorwärts und drei zurück. Eigentlich hatte mich Alejandro ausgeführt, damit ich auf andere Gedanken kam, doch von diesem Irrsinn, der sich überall abspielte, konnte man nirgends Reißaus nehmen. Wir waren nur Gestaltwandler, die auf Geheiß von Gott Verschwörer beseitigten, keine Wundervollbringer.

    Schweigend aßen wir die Tortenstücke, tranken den Kaffee, zahlten und kauften in der darauffolgenden Stunde eine schwarze Winterjacke mit Kapuze für Männer. Anschließend fuhren wir zur Schule, wo Lukas sehnsüchtig auf uns wartete.

    Das Mittagessen vorüber setzte sich der weiße Niederschlag vorerst durch. Nachdem Brüderchen die Hausaufgaben erledigte, unternahmen wir mit ihm und den Hunden einen Spaziergang im Wald, um die Wetterlage auszunutzen, nach den Feiertagen war ja wieder Schmuddelwetter angesagt, in anderen Worten: Tauwetter folgte. Opa genehmigte sich unterdessen ein wohlverdientes Mittagsschläfchen auf der Couch, er verbrachte den Vormittag mit Kochen.

    Auf dem Grab von Alejandros Eltern legten wir einen immergrünen Tannenzweig mit einer roten Weihnachtssternblüte nieder. Lukas´ unbeschwertes Lachen drang von der Außenseite des Zaunes zu uns her, er beschäftigte Stan und Ollie mit Stöckchen werfen.

    Ein kurzes Gebet gesprochen, schlenderten wir durch die blätterlose, bepuderte Waldung zur Lichtung empor. „Fehlt dir das Rudel?", horchte Alejandro den Purzel aus, der in unserer Mitte lief, und strich ihm über die unkontrollierbare goldbraune Mähne.

    „Ein wenig. Die Schäferhunde helfen mir darüber hinweg. An manchen Nachmittagen spiele ich mit Schulfreunden oder Mama und Opa Fußball. Dem Wolfsschutzprojekt bin ich treu geblieben, angeblich wurde erst neulich ein Wolf gesichtet. Und Leon geht mit mir sonntags zum Tierheim - unter der Voraussetzung, dass ich kein drittes Tier adoptiere. Letzte Woche gingen wir sogar zu viert ins Kino. Aber bevor ich oder wir was unternehmen, heißt es mit schöner Regelmäßigkeit: Hast du die Hausaufgaben gemacht? Echt fies, was man da jeden Tag aufkriegt, meistens gehen zwei Stunden drauf. Viel Zeit, die Rotte zu vermissen, hab ich nicht."

    Der Knirps schnaufte von all dem Schulstress und wir lächelten nachempfindend. „Wir verstehen genau, von was du redest, wir sind ebenfalls total angespannt. Alejandro hat mit dem Studium angefangen und ich sitze im Galizisch Kurs und büffele tagein, tagaus Grammatik und Wörter, die mir den Kopf verdrehen. Zusätzlich müssen wir zu den Stüpp-Treffen nach Deutschland und die damit verbundene Arbeit bewältigen. Es erfordert sorgfältige Planung, den Wölfen einen Nachmittag zu widmen", gab ich zu und er guckte verständnisvoll.

    Mein elf Jahre altes Brüderchen wurde von Tag zu Tag erwachsener. Seit ich ihn nur alle sechs Wochen zu Gesicht bekam, erkannte ich die körperlichen und geistigen Sprünge, die er vom einen bis zum nächsten Besuch vollführte. Kinder wuchsen tatsächlich zu schnell. Jetzt erst verstand ich, warum Paps beinahe die Fassung verlor vor Schreck, als ich ihm, kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag, die frohe Botschaft unserer baldigen Hochzeit übermittelt hatte.

    Durch den tiefer werdenden Schnee wateten wir aufwärts und füllten den Ausflug bis zum Ziel mit vielen Erzählungen aus. Wundervolle Erinnerungen trudelten auf mich ein, als wir auf die Blöße trafen, wo wir unser erstes Date verbrachten und die Stüpp-Trauung zelebrierten.

    „Wann hast du dich das letzte Mal verwandelt?, erkundigte er sich bei Lukas. Der Kleine grinste verlegen und Alejandro entschlüpfte ein: „Oh, oh!

    „Soll ich ehrlich sein?", murmelte der junge Wolf und er nickte streng.

    „Ich bitte darum."

    „Vor zwei Tagen, als ich mit den Hunden Gassi ging. Niemand beobachtete mich, ich schwör´s! Ich hab voll aufgepasst! Mama hatte keine Zeit und diese Sehnsucht breitete sich in mir aus, der ich nicht widerstehen konnte. Ollie und Stan wurden ganz aufgeregt, sie spürten, dass ich es wollte. Aber verratet es ihr nicht, sonst stellt sie mich Wochen unter Hausarrest."

    Die Schäferhunde stupsten uns mit ihren feuchten Nasen an, um uns daran zu erinnern, bei Delia nichts auszuplaudern, und für einen Moment gedankenversunken, streichelte ich ihr zartes Fell.

    „Eine gerechtfertigte Maßnahme, dir die Flausen auszutreiben! Falls du das nochmals tust, kassierst du haufenweise Ärger - von uns allen!, pfiff Alejandro ihn an. „Du weißt nie, wem du im Wald begegnest, selbst wenn du dich ungesehen fühlst. Womöglich handelt es sich bei dem gesichteten Beutegreifer um dich.

    Lukas nahm einen erschrockenen Gesichtsausdruck an. Erstens saß der letzte Satz, zweitens kam es nicht oft vor, dass er ihn ausschimpfte.

    „Verspürst du in Zukunft Verlangen nach Verwandlung und deine Mutter ist beschäftigt, rufst du Kevin an und wartest, bis er aufkreuzt, einverstanden? Für den kleinen Bruder der Leitwölfe bekommt er sofort Sonderurlaub. Dann bist du auf der sicheren Seite und wir müssen uns in Galicien keine Sorgen um dein Wohlergehen machen", wetterte Alejandro weiter.

    „Genau! Immerhin hast du uns versprochen, dich an unsere Abmachung zu halten", erinnerte ich ihn mit einem schwesterlich rügenden Blick. Kevin war ein Teenie-Gestaltwandler, der unweit von der Stadt in einem Jugendlager ausgebildet wurde, um mit achtzehn eine Karriere in der Armee zu starten. Auf ihn war Verlass.

    „Ich hab es geschnallt, es war töricht und falsch und kommt nicht wieder vor. Aber heute ist es in Ordnung, nicht wahr?"

    Erschrockenheit wandelte sich in spitzbübisches Grinsen. Bittend sah er uns mit einem Funkeln in den bernsteinfarbenen Augen an. „Das ist es, Brüderchen! Wer in Wolfsgestalt als Erster das andere Ende der Lichtung erreicht, hat gewonnen!", schrie ich aus und rannte los, um mir einen Zeitvorsprung zu sichern.

    „He, die bescheißt!", klang es hinter mir her und im Nu verwandelte ich mich in einen rotblonden Wolf. Meine Kleidung schwebte in der kalten Luft zu Boden und landete auf der eingeschneiten Erde. Die Turnschuhe standen in ihrer Spur im Schnee, als würden sie alleine weiterlaufen. Temperamentvoll und unbezähmbar raste ich über die weiße Wiese dahin, gefolgt von einem Beutegreifer mit braunglänzendem Fell, der von einem schwarzen eingeholt wurde.

    Die Schäferhunde bellten außer sich vor Freude, ein Wettrennen war ganz nach ihrem Geschmack. Zu fünft verbrachten wir einen vergnüglichen Nachmittag im winterlichen Pfälzer Wald und Alejandro und ich vergaßen für Stunden Verschwörer und Pflichten. Es war himmlisch.

    Die kommenden Tage huschten nur so an uns vorbei. Ich half Delia beim Plätzchen- und Christstollenbacken, und Alejandro befreite den Gehsteig und Hof bis zur Haustür von der Schneedecke. Für ihn war das nur eine Kleinigkeit, für Paps Schwerstarbeit - er liebte Schnee, aber hasste ihn zu schaufeln. Die weiße schwere Masse schob er auf der Wiesenfläche im Garten zu einem riesigen Hügel zusammen und baute daraus mit Lukas ein Iglu. Nachmittage verbrachten wir darin mit Geschichten lesen.

    Opa verwöhnte uns mit heißen Tee oder Kakao, den er uns draußen im Schneehaus servierte, ohne sich hinzuzugesellen. Rheuma plagte ihn in der Kälte, deshalb bevorzugte er die bequeme Couch in der warmen Stube.

    Paps arbeitete am 23. Dezember bis zum regulären Dienstschluss. Für die nächsten zwei Wochen genehmigte ihm die Klinikleitung Weihnachtsurlaub bis einschließlich 06. Januar.

    Den Morgen des Heiligen Abend widmeten Alejandro und ich Brüderchen. In der Morgendämmerung kroch er in meinem ehemaligen Schlafzimmer - inzwischen Opas - mit einem Kartenspiel und einer Taschenlampe zu uns unter die Zudecke. Es schenkte unserem Vater und Delia Zeit, im Wohnzimmer ihre Schlafsäcke einzurollen, da sie dem Familienältesten das Ehebett zum Nächtigen überließen, den Christbaum aufzustellen und zu schmücken. Dieses Jahr ging es traditionell im Hause Sommers zu.

    Zur Mittagsstunde bekamen wir mächtigen Kohldampf, unsere gurgelnden Bäuche übertönten sich gegenseitig. Alejandro wechselte seine Jogginghose gegen eine Jeans aus und stieg ins Erdgeschoss, um die Fühler auszustrecken. Der Geruch von Gebratenem schlug uns durch die geöffnete Wohnungstür entgegen und Lukas und ich verkrochen uns stöhnend unter die Bettdecke. Das Wasser lief uns im Munde zusammen und das Hungergefühl wurde unerträglich. Die hungernden Kinder in Äthiopien kamen mir in den Sinn. Doch so weit zu reisen war unnötig. Auch in Deutschland mangelte es Menschen an nahrhaften Speisen. Warum sonst gab es Suppenküchen und Hilfsorganisationen, die abgelaufene Lebensmittel an bedürftige Leute verschenkten oder preiswert verkauften? Ich musste mir eingestehen, dass ich keine Ahnung hatte, wie sich `richtiger Hunger´ tatsächlich anfühlte, Paps sorgte achtzehn Jahre lang vorbildlich für mich. Magenknurren aufgrund eines weggelassenen Frühstücks war nicht mit Nahrungsmittelmangel zu verwechseln.

    Aus den beschämenden Gedanken rissen mich Schritte aus dem Parterre, die bis zur untersten Treppenstufe vordrangen und wegen der Bettdecke über dem Kopf gedämpft klangen.

    „Kinder, Essen!"

    Delias fröhliche Stimme. „Okay, Brüderchen, du hast deine Mutter gehört. Es geht los!", grinste ich unter der Deckenkuppel, die uns half, dem leckeren Bratengeruch zu entfliehen, gleichzeitig den Sauerstoff stahl.

    Wir befreiten uns von der Last des schweren Stoffes, indem wir ihn mit den Füßen zum Bettende traten. Lukas hüpfte mit roten Wangen von der Matratze und rannte im Schlafanzug nebenan ins Kinderzimmer. Und ich zog den weihnachtlich bedruckten Pyjama aus und warf ihn auf die zusammengeknüllte Bettdecke, langte nach einer Jeans und einem türkisfarbenen Sweatshirt, die auf dem Nachtkästchen obenauf lagen.

    Kaum angekleidet, den Nachtanzug unter der gradegezogenen Decke versteckt, kam der Kleine in Jeanshose, blauem Kapuzenpullover und blinkenden Rentierhörnern auf dem Kopf zurück.

    „Beeil dich!", drängte er mich und packte meine Hand. Ich wurde durch den Flur zur Treppe gezogen. Mit jeder Stufe, die uns das Erdgeschoss näher brachte, duftete es intensiver. Als wir an der Wohnzimmertür entlangkamen drückte ich probehalber die Klinke hinunter; wie erwartet, war die Tür verschlossen. Vielversprechend zwinkerte ich Lukas zu. Ich kam mir vor, als hätte jemand die Zeit zurückgeschraubt. Paps´ Brauch erinnerte mich an meine Kindheit. Weil ich am Heiligen Abend immer neugierig war, wurde die Stubentür von ihm kurzerhand verriegelt, folglich gab es keine Debatten und unerwünschte Schnüffeleien.

    In der Küche sprang uns sofort der mit grünroter Tischdecke und weihnachtlichem Geschirr angerichtete Esstisch ins Auge. Paps zündete die vier Kerzen des Adventskranzes an, der in der Tischmitte stand, und blies das Streichholz aus.

    „Fröhliche Weihnachten!", übermittelten Brüderchen und ich festliche Wünsche und umarmten alle mit einem Küsschen hier und einem Busserl da. Die Rentierhörner blinkten wie SOS Signale.

    Opa saß auf seinem Platz, eine Serviettenspitze klemmte im Kragen. Begierig stierte er auf das frische Gemüse und die dampfenden Klöße von der Größe einer Männerfaust. Alejandro und Lukas hielten Ausschau nach dem Fleisch, das von einem Biobauern aus der Nähe stammte und unser Vater auf einem Holzbrett, drüben beim Herd, in mundgerechte Scheiben schnitt. Ein Stückchen davon geschnappt, bimmelte es stürmisch an der Haustür. „Das sind Alex und Sam!", zwitscherte ich vergnügt, steckte es in den Mund, wieselte durch den Flur zur kühlen Diele und öffnete ihnen.

    „Meine Fresse, ist das arschkalt hier draußen!", jammerte Bruderherz über Samaras Kopf hinweg und schob sie vor sich her in den Dielenbereich. Schwägerin verdrehte die Augen. Ihr war nicht kalt, in ihren Adern floss Wolfsblut.

    „Zügle deine Kraftausdrücke, Alex! Ich will nicht, dass Lukas sie übernimmt!", warnte ich ihn mit erhobenem Finger. Er biss sich auf die Unterlippe, nachdem auch Samara ihn scharf mit Blicken kritisierte.

    „Okay, okay, sorry. Mann, ist das eiskalt hier draußen!", verbesserte er sich. Die Schuhe ausgezogen stellten sie sie auf die erste Treppenstufe.

    „Mmh, Braten …"

    Sie leckte ihre knallroten Lippen. „Kommt, Paps schneidet ihn eben an." Beide folgten mir in die warme Küche.

    „Frohes Fest, ihr Lieben!", wünschten sie der Familie und wiederholt wurde umarmt und geküsst. Delia nahm ihnen die Winterjacken und Strickmützen ab und hängte sie an die Garderobe im Flur. Hoffentlich lockerten sich die schwer beladenen Haken nicht und erschlugen den Nächstbesten, der daran vorbeiging, mit Klamotten.

    „Nehmt Platz, Kinder, das Menü wird kalt!", befahl sie gütig. Bruderherz setzte sich mit seiner Frau an den Tisch. Alejandro ergriff meine Hand und zog mich auf den Stuhl neben sich.

    „Cooles Geweih, Kleiner!, stieß Alex in Lukas´ Richtung aus, beugte sich leicht vor, und fasste über die dampfenden Schüsseln an sein blinkendes Gehörn. „Hast du auch eins für mich?

    „Leider nein. Leon hat sie für mich gekauft", meinte Brüderchen und Delia lächelte.

    „Euer Vater vergaß, dass manche in dieser Familie nie erwachsen werden! Nächstes Jahr schenken wir dir ebenfalls welche, Alex, siehe es als Versprechen an", warf sie ein und er grinste zufrieden. Er konnte so ein Milchbubi sein.

    „Wo ist Marc? Wollte er nicht zum Essen mitkommen?", fragte Paps mit dem Fleischanschnitt beschäftigt und schaute kurz zu uns herüber. Fußtritte trafen mein Schienbein unterm Tisch und ich verkniff mir einen schmerzhaften Aufschrei. Tickten die noch ganz sauber? Blicke hätten völlig genügt.

    „Schon. Der arme Kerl sprang auf der Arbeit kurzfristig für eine kranke Kollegin ein, deshalb lässt er sich vielmals entschuldigen!", präsentierte ich ihm eine leicht schluckbare Lüge. Mit säuerlicher Miene guckte ich in die Runde. Ich hätte ihm die Ausflucht gleichermaßen ohne gezielte Tritte übermittelt, die als Alarmsignal für eine Blitzunwahrheit dienten.

    Alejandro und ich konnten an den Feiertagen, an denen wir und Samara freinahmen, ohne Marc nicht auskommen. Er war als General und treuester Gehilfe unentbehrlich und verpflichtet, die Stellung zu halten, damit in unserer Abwesenheit nicht alles in Chaos ausbrach.

    Im Gegenzug entschädigten wir ihn im Frühjahr mit einem Urlaub, um Paps´ und Delias Hochzeit sowie Alex´ und Samaras nachträglicher Feier beizuwohnen - eine beschlossene Sache. Bis dahin bildeten wir mehr Unteroffiziere aus und arbeiteten neue Soldaten ein, die wenigen Tage überbrückten wir mit eingehender Vorausplanung.

    „Das ist jammerschade!", formulierte Delia ihre Enttäuschung darüber, dass Marc es nicht zur Familienfeier schaffte, und bedachte uns Leitwölfe zugleich mit einem verstehenden Blick. Darauf ging sie unserem Vater zur Hand und brachte den aufgeschnittenen Braten an den Tisch. Alejandro zog mit einem Korkenzieher den Korken aus einer Flasche Weißwein und schenkte uns ein. Zu Ehren des Heiligabends bekam Lukas auch einen Schluck und ich meinte zu sehen, dass ihm der Brustkorb anschwoll, mit dieser Geste nahmen wir ihn in den Bund der Erwachsenen auf.

    Alle Platz genommen, ergriffen wir eine Patsche unserer Tischnachbarn und ich sprach ein Tischgebet. „Lieber Gott, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast. Amen."

    Der Kleine grinste schelmisch und fügte hinzu: „Jeder esse, was er kann, nur nicht seinen Nebenmann!"

    „Wie wahr, little Bro!", feixte Alex und ihre Fäuste trafen sich über den Leckereien. Besteck klapperte, Gläser klirrten und wir legten endlich mit dem Festtagsmahl los.

    „Wann haltet ihr die Bescherung?", fragte ich mit einem Blick auf Delia und kickte sanft unterm Tisch gegen Brüderchens Bein; ein Glück, dass die Tischdecke den regen Beinverkehr unterhalb der Tischplatte verbarg.

    „Zum Nachtisch gibt es Kaffee, danach geht’s los", versprach sie mit einem Lächeln, das ihrem Sohn galt. Seine bernsteinfarbenen Augen glänzten vor Vorfreude. Ich rief mir sein letztes Weihnachten ins Gedächtnis, das er notgedrungen in Wolfsgestalt im Wald unter dem Rudel verbrachte, solange der Mörder seines Vaters nicht gefasst war. Viele Veränderungen traten seitdem in unser aller Leben. Gute Wendungen, für jeden Einzelnen von uns.

    Die beiden Schäferhunde schnüffelten in der Luft. Zwischen den Stuhlbeinen krochen sie unter den Tisch und streckten sich der Länge nach aus. Mit ihrem kuschelweichen Fell wärmten sie meine Füße wie Hüttenschuhe aus Schafwolle.

    „Habt ihr das Geld an die Spendenaktion überwiesen?", informierte sich Paps und steckte ein in Soße getauchtes Knödelstück in den Mund. Fragend musterte er Alejandro und mich.

    „Klar! Ich hing erst vorhin dem Gedanken nach, wie ungerecht die Gaben in der Welt verteilt sind. Wir zwei schenken uns dieses Jahr auch nichts, wir haben uns an der Sammlung beteiligt", teilte ich mit. Zärtlich küsste ich Alejandros ausgebeulte, mit Bratenfleisch gefüllte Wange. Opa lachte auf.

    „Füllten Küsse Mägen aus, gäbe es viel weniger Leid auf der Erde!", rief er aus und wir bestätigten den schönen Traum mit Kopfnicken. Blöderweise war er nicht realisierbar.

    „Alex und ich haben unser Geld für Präsente auf das Konto des hiesigen Tierheims eingezahlt, um den Tieren hier vor Ort eine Weihnacht mit bis zum Rand bestückten Näpfen zu bescheren!"

    Schwägerin steckte sich eine Gabel Gemüse in den Mund und lächelte Bruderherz verliebt zu.

    „Was mich wiederum daran erinnert, meine zwei besten Kumpel nicht zu vergessen", mümmelte Lukas und mehrere große Fleischstücke verschwanden auf seltsame Weise von seinem Teller unterm Tisch. Das Schmatzen, das nachfolgend nach oben dröhnte, war nicht zu überhören.

    Wir genossen das leckere, gemütliche Weihnachtsessen. Ich musste mich um das Wohlergehen meiner drei Männer in Deutschland nicht sorgen, Delia war eine ausgezeichnete Köchin.

    Mit vollen Bäuchen saßen wir eine Weile beieinander und unterhielten uns. Sie bemerkte die steigende Nervosität in ihrem Sprössling - unser Vater hatte keine Ahnung, dass er ihr leibliches Kind war -, stand auf und kochte eine Kanne Kaffee.

    Die Jugendlichen der Familie (Alejandro und Samara trotz ihres hohen Alters mitgerechnet) räumten das schmutzige Essgeschirr ab. Wieder Platz auf der Tischoberfläche geschaffen, stellte Paps Kaffeetassen und einen vollbeladenen Weihnachtsteller mit Plätzchen und Christstollen in die Tischmitte.

    Opa schnappte sich ein Stück vom Stollen und ging mit den Hunden, die draußen in der Diele jammerten, in den Garten. Brüderchen wurde zapplig und rutschte auf seinem Sitzplatz hin und her. Klingeln an der Haustür schreckte ihn zusätzlich auf.

    „Schaust du mal, wer das ist, Lukas?", bat unser Vater. Der Kleine sprang vom Stuhl und ins Entree. Mit einem roten Briefumschlag zurück hob er ihn in die Luft. Auf der Vorderseite standen sein Vor- und Nachname: Lukas Braune.

    „Der lag auf dem Fußabstreicher! Ist ziemlich schwer", stammelte er kurzatmig vor Anspannung und wir verkniffen uns ein Kichern.

    „Mach ihn auf, immerhin steht dein Name darauf", meinte seine Mutter. Ihr Sohnemann befolgte ihren Rat. Einen Augenblick später hielt er den Schlüssel zur Wohnzimmertür in den Fingern.

    „Heißt das, es kann losgehen?", erkundigte er sich mit weit aufgerissenen Augen. Paps nickte schmunzelnd. Delia verteilte Textkopien; wir stimmten stille Nacht, heilige Nacht an und wagten uns hinter dem Kleinen auf die verschlossene Tür zu. Die kompletten sechs Strophen sangen wir, im Gegensatz zum letzten Jahr eine hundertprozentige Steigerung. Opa kam zurück, putzte sich Schnee vom Pullover und stampfte ihn

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