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Sonnenuntergang in Malpica: Die Begabung
Sonnenuntergang in Malpica: Die Begabung
Sonnenuntergang in Malpica: Die Begabung
eBook702 Seiten9 Stunden

Sonnenuntergang in Malpica: Die Begabung

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Über dieses E-Book

Wie weit würde ich gehen, um meinen Ehemann zu retten, um Familienmitglieder einer Gefahr zu entreißen? Ihre Gesichter erschienen vor mir: Alejandro, Paps, Lukas, Opa, Alex, Marc, Samara und meine vierbeinige Familie, die im Wald lebte. Die Antwort fiel mir auf einmal nicht mehr schwer. Tief im Herzen wusste ich, das Alpha-Weibchen würde töten, um die zu erretten, die es liebt. Nach Frieden mit feindlichen, unbarmherzigen und niederträchtigen Menschen zu streben, hatte die Stüpps an die Schwelle der Ausrottung ihrer Art gebracht. Die Zeit war reif, reif für Veränderungen.

Endlich ist es so weit! Der Tag, dem Julissa entgegenfieberte, ist da: ihr achtzehnter Geburtstag! Jetzt ist sie volljährig und benötigt kein Einverständnis ihres Vaters Leon, Alejandro - die Liebe ihres Lebens und ein Stüpp - zu heiraten.
Mit ihrem Liebsten plant sie das gemeinsame, zukünftige Leben, welches ihre zwei Familien, die Zweibeiner und die Vierbeiner - ein Wolfsrudel -, beinhalten soll. Keine leichte Aufgabe. Eine Rotte, Gestaltwandler und eine Welt aus gut gehüteten Geheimnissen in den Alltag zu integrieren, erfordert Jongliertalent. Und dann ist da noch der kleine Lukas, der wölfische Familienzuwachs, für den die beiden nach dem Mord an seinen Vater die Verantwortung übernommen haben.
Der Ehrentag verläuft nicht wie erhofft. Zudem ist es verdächtig ruhig geworden um die Verschwörer - eine Organisation, die Formwandler, ohne mit der Wimper zu zucken, auslöscht. Lässt ihr Interesse an Alejandro nach? Verzichtet der Geheimbund auf einen heimtückischen Spielzug, um seinen Misserfolg - missglückter Mordanschlag - letztlich in einen Erfolg zu verwandeln? Oder taucht Julissa tiefer in Alejandros gefährliche und gleichermaßen faszinierende Welt ein, als sie es jemals für möglich gehalten hätte?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum12. Aug. 2020
ISBN9783347104075
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    Buchvorschau

    Sonnenuntergang in Malpica - Prita A. Smith

    Der achtzehnte Geburtstag

    Auf einem samtigen Moos- und Nadelbett bummelte ich durch den halbdunklen Wald, die Schritte kaum vernehmbar. Dem Sonnenstand zu entnehmen, war es später Nachmittag, das Tagesgestirn stand im Westen.

    Die wenigen Sonnenstrahlen, die ihren Weg durch die Baumkronen fanden, durchschienen die Blätter und offenbarten ihre Adern, die sich wie Miniaturausgaben von vernetzten Straßenlinien auf ihnen abzeichneten.

    Durch eine Lücke im grünen, satten Blattwerk entdeckte ich eine mit zarten Spinnennetzen drapierte helle Lichtung, auf der sich ein Meer von Blumen in weißer Blütenpracht ausdehnte.

    Verloren in Gedanken promenierte ich darauf zu und kniete auf der Wiese nieder. Die Vielfalt lockte mit ihrem zuckersüßen Nektar fleißige Bienen an. Wählerisch flogen sie von einer Blüte zur nächsten und zeigten mir, welche sich für mein Hochzeitsbouquet eigneten.

    Beharrlich robbte ich den emsigen Insekten zu Dank verpflichtet auf den Knien hinterher. Ich pflückte die kräftigsten Stängel mit den voluminösesten Blütenköpfen, bis ich die Blumenstängel des üppigen Straußes nur mühsam mit den Fingern umfassen konnte.

    Ihr schwerer, honigsüßer Duft vernebelte meine Sinne. Zufrieden legte ich mich für eine wohlverdiente Pause rücklings auf die zarten Grashalme und hielt das Blumengebinde vor die Nase. Mit geschlossenen Lidern atmete ich den berückenden Wohlgeruch ein, den es verströmte.

    Neben mir raschelte es in der Blumendecke.

    Eine Waldmaus? Die Augen geöffnet, wandte ich den Kopf seitwärts und erspähte, statt einem piepsigen Langschwanz, einen schleißigen Gedichtband.

    Neugierig setzte ich das Bukett ab, rollte auf den Bauch und überkreuzte die Fußknöchel in der Luft.

    Den Lesestoff herbeigefischt, blätterte ich in den Seiten, bis ich einen Reim fand, der an Alejandros und meine vor der Tür stehende Eheschließung erinnerte.

    Glücklich, wer ein Herz gefunden,

    das nur in Liebe denkt und sinnt.

    Und, mit der Liebe treu verbunden,

    sein schön´res Leben erst beginnt.

    Wo liebend sich zwei Herzen einen,

    nun eins zu sein in Freud und Leid,

    da muss des Himmels Sonne scheinen

    und heiter lächeln jede Zeit.

    August Heinrich Hoffmann von Fallersleben

    1798-1874

    Die letzte Jahreszahl gelesen und im Kopf verklungen, ertönte ein zartes, undeutliches Wimmern in der Ferne, das zu einem einsamen Weinen anstieg. Irritiert ließ ich vom Gedichtband im Gras ab. Vom Liegeplatz erhoben, begab ich mich auf die Suche nach dem Wesen, das mit seinem Kummer die ansonsten geruhsame Lichtung übertönte. Mit wachem Blick durchsuchte ich jeden Zentimeter und entlegensten Winkel der Wiese.

    Unvermittelt fiel er auf eine mit welken Blättern bedeckte tiefe Kuhle. Zögernd trat ich darauf zu, ging in die Hocke und schob das trockene Laub mit der Hand vorsichtig beiseite. Ein Baby kam zum Vorschein - schätzungsweise sechs Monate alt -, das mich aus hellblauen Augen erst erschrocken, daraufhin erstaunt musterte. Zeitgleich verstummte sein Greinen, da es die gewollte Aufmerksamkeit erlangte. Welche Mutter setzte ihr Neugeborenes auf einer Blöße aus?

    Es handelte sich um ein hellhäutiges, gesundes Mädchen mit rosigen Wangen, obwohl ich zunächst von der irrtümlichen Annahme ausging, es sei verletzt und krank. Der Babyspeck an den Ärmchen und Beinchen überzeugte vom Gegenteil. Es war auf keinen Fall verwahrlost, auch wenn es keinerlei Kleidung am Leib trug. Von der natürlichen Decke des Blattwerkes befreit spielte es splitternackt mit den Zehen, die die winzigen Finger einfingen. Es zog an ihnen, bis sie ihm durch die Auf- und Niederbewegungen der Beine entglitten.

    In dem Moment, als ich es aufheben und in meine Arme schließen wollte, raschelte es im dichten, grünen Unterholz, das den Rand der Lichtung einsäumte. Vier dunkelbraune Wölfe pirschten sich heran. Unsicher umkreisten sie die Wiese und der Alpha-Rüde an ihrer Spitze johlte auf. Von seinem herzzerreißenden und markerschütternden Geheul wurde mir bange zumute. Sachte entfernte ich mich im Rückwärtsmodus von dem klitzekleinen Erdenbürger, der jetzt auf die Laute des Beutegreifers reagierte, indem er sie nachahmte.

    Unkontrolliert schwangen die Ärmchen und Beinchen in der Luft. Eine Fähe seilte sich vom Rudel ab, schlich auf die Kuhle zu und bettete sich neben dem Menschenkind in Seitenlage. Das Mädchen wurde furchtbar aufgeregt. Der zuckende Mund suchte hektisch, bis die Lippen eine Zitze der Wölfin fanden. Hungrig und durstig saugte es sich satt, während die Fingerchen sich in das dunkelbraune Fell schoben und zärtlich damit spielten.

    Den Säugevorgang beendet, leckte sie das Baby mit der rauen Zunge sauber und wärmte es mit dem Tierkörper. Die Behutsamkeit, mit der sie vorging, erfüllte mein Herz mit Liebe. In mir stieg das Verlangen an, beide streicheln zu wollen. Zaghaft lief ich auf die Bodenmulde zu, stolperte über aus dem Boden ragendes Wurzelwerk und fiel bäuchlings hin. Eine Ohnmacht überkam mich. Dunkelheit legte sich über die Lichtung, die Wölfe und den Säugling und verschluckte die letzten Schatten.

    Ich lag auf dem Kinderzimmerfußboden, meinem einstigen Wohnzimmerfußboden, als ich zu mir kam. Jemand stand vor mir und ich hatte einen direkten Blick auf seine nackten Füße. Etwa Schuhgröße vierunddreißig.

    „Hast du dir wehgetan?", erkundigte sich dieser schmächtige Jemand Mitgefühl zeigend.

    „Lukas?"

    „Wen hast du denn erwartet?"

    Mein kleiner Bruder. Mit beiden Händen in den Hosentaschen starrte er mich hilflos von oben an. „Äh, ich weiß nicht …"

    „Du weißt nicht, wer sich sonst hier aufhalten könnte, in meinem Zimmer?"

    „Nein, ich weiß nicht, ob ich mir wehgetan hab! Was ist passiert? Bin ich wieder schlafgewandelt?", fragte ich, was dem Schrecken nach zu urteilen, der ihm im Gesicht stand, eigentlich überflüssig war.

    „O Mann, und ob du schlafgewandelt bist! Diesmal bist du sogar über den Stuhl gestolpert! Ich glaubte schon, dein letztes Stündchen habe geschlagen … Hast du dich wirklich nicht verletzt? Nichts gebrochen? Siehst irgendwie übel aus, wie du da vor mir liegst …"

    Sein teilnahmsvoller Blick ruhte auf meinem Körper. Umständlich raffte ich mich vorsichtig auf und streckte im Stehen Arme und Beine, um mich zu vergewissern, dass sie keinen Schaden davontrugen.

    „Und?"

    „Alles in bester Ordnung, sah nur schlimm aus. Das hat man vom Traumwandeln am helllichten Tag", spielte ich das Geschehene mit einer abwertenden Handbewegung herunter, obwohl mir vom Sturz jeder beschissene Knochen schmerzte. Der Stuhl stand noch auf allen vieren, er schien mich zu verhöhnen.

    „War es ein Albtraum?"

    „Nein, Lukas, allerdings ein seltsamer Traum. Ist Alejandro endlich da?" Mit der Nachfrage versuchte ich, ihn von seiner Fragerei abzulenken, was gelang, er schüttelte verneinend den goldbraunen Schopf. Mist. Wer lenkte mich nun von der negativen Antwort ab?

    „Leon hat mir aufgetragen, dass ich dir, sobald du aufwachst, ausrichten soll, dass der Kaffee durchgelaufen ist und er Opa vom Bahnhof abholt."

    Jetzt erst kam ich in die Wirklichkeit zurück. An diesem Tag, Montag, den 4. Juli, war mein achtzehnter Geburtstag. Achtzehn! Volljährig! Alt genug, um Entschuldigungen für einen Lehrer zu schreiben. Oder zu wählen. Oder Alkohol in der Öffentlichkeit zu trinken - nicht dass ich das beabsichtigte, aber nun durfte ich es.

    Ich war voll geschäftsfähig, egal welche Verträge, von Kredit- bis Kaufvertrag durfte ich alles abschließen. Ebenso prozessfähig. Ich durfte mich ab heute selbst vor Gericht verteidigen oder einen eigenen Anwalt benennen. Und ich war autorisiert, mein eigenes Testament zu erfassen, wenn ich mit achtzehn die Notwendigkeit dafür gesehen hätte. Ich durfte, durfte, durfte.

    Doch das Wichtigste, was ich nun durfte: heiraten. Ich war in dieser Sekunde ehemündig. Zu einer erwachsenen Frau erblüht, hatte ich, gemäß BGB, das Recht, eine Ehe einzugehen, ohne davor um Erlaubnis meines Vaters zu bitten! Denn Alejandro stellte eine Bedingung in unserem Liebesverhältnis: Falls ich erotische Berührungen, eine erotische Beziehung mit ihm wollte - und dass ich das wollte, stand außer Frage -, war eine Vermählung die Voraussetzung.

    Er brach vorgestern mit dem bejahrten grauen VW Golf auf, um die Hochzeitsvorbereitungen zu organisieren. Allein von einem Stüpp, einem Formwandler wie er, obendrein das Oberhaupt der Gestaltwandler, konnte das Ehegelübde abgenommen werden, nur unter dem Umstand entfaltete es die Wirkungskraft und erlangte die Vollständigkeit.

    Als Alejandro Salvador vor etwa einem Jahr meine Lebensbahn betrat, wusste ich nach kürzester Zeit mit Bestimmtheit, dass wir zusammengehörten. Von Tag eins an waren wir mit Herz und Seele verbunden. Unzertrennlich, wenn auch durch die Stüpp-Treffs kurzfristig auseinandergerissen; solang er mich nicht zum Altar führte, verweigerte man mir als Evastochter beharrlich die Teilnahme an den Versammlungen. Deshalb wohnte er in den vergangenen Monaten den Besprechungen ohne mich bei. Dort tauschte er sich mit Angehörigen seines Volkes über Verschwörer aus, bösartige Menschen, die Wölfe hassen und ihnen nach dem Leben trachten. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um gewöhnliche Tiere oder Gestaltwandler handelt, die sich nur zu gerne unter den echten Isegrims aufhalten.

    Seine unerklärliche, innerliche Kraft, niemals zu erkranken, ging, angefangen mit dem ersten Date, mit jedem Tag, den wir miteinander verbrachten, mehr auf mich über, bislang etwa zu siebzig Prozent.

    Eigentlich passierte dieses Phänomen sogar schon in meinen Schulferien, vor unserer ersten Verabredung, da er mich im Wald auf meinen Friedhofbesuchen aus geringer Entfernung in Wolfsgestalt beobachtete; das ereignete sich, bevor wir uns offiziell in der Schule kennenlernten.

    Das seinerzeitige Asthma, das meine Lunge bis dahin plagte, war genau das: seinerzeitig, einst vorhanden und nun geheilt. Und die lästige Neurodermitis gehörte inzwischen praktisch der Vergangenheit an.

    Die restlichen dreißig Prozent seiner wunderlichen Kraft erhielt ich, laut Alejandro, nach seinem Eheversprechen. Vollkommene Gesundheit erlangte ich mit hundert Prozent. Und einen gestoppten Alterungsprozess.

    Es fiel mir schwer, daran zu glauben. Das alles schien romanhaft und total abgefahren, hörte sich wie ein Märchen oder eine Lüge an.

    Meine einzige, große Liebe war also ein Stüpp, ein Metamorph beziehungsweise Wandler der Gestalt. Fähig, sich von einen Menschen in einen Wolf zu verwandeln und umgekehrt.

    Selbst mein kleiner Bruder Lukas war einer von ihnen, wovon Paps, streng genommen sein Stiefvater, weder Kenntnis hatte, noch Verdacht schöpfte. Er ahnte auch nichts von Alejandros zweiter Identität. Welcher Vater wäre bei derartiger Nachricht über den Sohn und künftigen Schwiegersohn nicht ausgeflippt? Es machte ein Einweihen unmöglich - ein einleuchtender, notwendiger Gedankenschluss.

    Ihn im Dunkeln zu lassen, bedeutete zudem effektiveren Schutz, für ihn und uns. Sobald Verschwörer von Alejandros und Lukas´ Formwandelfähigkeit Wind bekämen, wären wir alle unseres Lebens nicht länger sicher. Alejandro Salvador. Nur der Gedanke an unsere eheliche Verbindung und die damit verbundene Vorfreude steigerten meinen Herzschlag.

    „Huhu! Halloho! July Sommer? Schwesterlein? Hast du mich verstanden?"

    Geistesabwesend starrte ich auf meinen kleinen Bruder. July - Kurzform für Julissa. An seine Worte erinnert, fiel mir Opa Josef aus Unterfranken wieder ein, der uns besuchte, um mich heiraten zu sehen. Liebevoll strich ich Lukas übers goldbraune, wuschelige Haar, um ihm zu zeigen, dass ich ihn wahrnahm. Ich liebte den strubbligen Schopf. Die Berührung fühlte sich an, als würde ich ihm in Tiergestalt durchs zottige, glänzende Fell fahren.

    „Ja, hab ich! Ich ziehe geschwind was anderes an, danach komme ich mit ins Erdgeschoss und richte den Tisch an, okay?" Einen Fuß vorne leicht angehoben, das Gewicht auf die Hacke verlagert, bewegte er ihn von rechts nach links wie bei einem seltsamen Tanz.

    „Bist ein wenig spät dran …"

    „Wie meinen?"

    „Das hab ich längst erledigt, Schlafwandlerin!, echote er stolz. „Nur der Erdbeerkuchen muss noch angeschnitten werden.

    „Oh, echt fleißig! Feine Sache, Brüderchen. Du verwöhnst mich."

    „July?"

    „Kleiner?"

    „Alles Gute zum Geburtstag!"

    „Danke. Lächelnd drückte ich ihn an die Brust, wobei seine Hände in den Hosentaschen blieben, als wären sie bewegungsunfähig. Drüben im Schlafzimmer schloss ich die Tür hinter mir, holte das leichte, neue Sommerkleid aus dem Schrank, schlüpfte aus dem Pyjama und zog es über. Ungeduldig klopfte es an die Tür. „Du kannst es wohl gar nicht abwarten, was? Komm rein, ich bin angezogen!, rief ich aus. Die Tür öffnete sich mit einem solchen Schwung, dass sie fast gegen die Rückwand knallte.

    „Ehrlich gesagt hab ich verdammt großen Hunger."

    „Man sagt nicht verdammt, Lukas …"

    „Alex sagt verdammt …"

    „Ich sollte ihm dafür den Mund mit Spülmittel auswaschen …"

    „Igitt! Also ich hab verflixt großen Hunger. Sahne und Erdbeeren hatte ich seit Ewigkeiten nicht mehr", mümmelte er in der Fantasie schon die roten aromatischen Früchte verschlingend, was am Kreisen seiner Zunge um die Lippen zu erkennen war, und das erklärte die Drängelei. Die Zeit, die er nach der Ermordung seines Vaters im Pfälzer Wald ausschließlich in Wolfsgestalt unter dem Rudel Wölfe verbrachte, bis sich der Erzeuger meines Halbbruders Alex, mit dem ich die gleiche Mutter teile, als Verschwörer und Mörder von Lukas´ Papa entpuppte, lag noch nicht weit zurück. Gute Hausmannskost war ihm bis zu Alejandros und meinem Entschluss, ihn nach Robert Weis´ selbstverschuldeten Tod zu adoptieren, verwehrt geblieben. Dieses dunkle Kapitel lag, dem Himmel sei Dank, jetzt hinter uns.

    Mit zwei Schritten stand er neben mir. Getrieben von Gelüste erfasste er meine Hand. Barfuß zog er mich hinaus in den Flur zur offenen Wohnungstür hin und die knarzige Holztreppe runter ins Erdgeschoss, dort durch die Diele und einen weiteren Wohnungsflur zur Küche. Auf dem Esstisch prangte eine doppelschichtige Erdbeertorte mit achtzehn schneeweißen Kerzen auf einer hellgrünen Tischdecke, umgeben von reinweißem Kaffeeservice. Brüderchen verlor keine Zeit, holte ein riesiges Messer aus einem Schubfach und reichte es mir wortlos mit grinsenden, zusammengezwickten Lippen. Sorgfältig schnitt ich die Torte in zwölf gleichgroße Stücke. Der Bohnenkaffee duftete durch die Räume und mein Magen knurrte mit Lukas´ um die Wette.

    „Wann brach Leon auf?", erkundigte ich mich beiläufig. Seit er unseren Vater mit Vornamen anredete, nannte ich ihn ebenfalls ab und zu so, wenn wir uns untereinander über ihn unterhielten.

    „Vor einer Dreiviertelstunde. Opas Zug trifft um dreizehn Uhr fünfzehn am Hauptbahnhof ein, Leon meinte allerdings, die hätten oft Verspätung. Bist du aufgeregt, ihn wiederzusehen?"

    Er redete von Opa. Ich lächelte ihn an und fuhr mit dem linken Zeigefinger vorsichtig über die scharfe Schneide des Messers, sodass sich Sahne daran häufte. „Und ob! Ich habe ihn ein ganzes Jahr nicht mehr gesehen, genau genommen, seit wir hierhergezogen sind. Du wirst sehen, er ist ein Typ, mit dem man Pferde stehlen kann, und lustig ist er obendrein. Übrigens zählt er bereits die Minuten, dich endlich kennenzulernen, das hat er gestern am Telefon preisgegeben!" Genussvoll leckte ich mit geschlossenen Augen die Fingerkuppe ab, Geburtstagstorten gönnte man sich viel zu selten. Warum erlaubten wir uns nicht wenigstens eine jeden Monat? Und tauften sie in Monatstorte um? Die Lider geöffnet, ertappte ich Lukas, wie er am Tortenrand mit dem kleinen Finger entlangstrich, um ebenfalls zu kosten.

    „Du petzt doch nicht bei Leon, oder?", fragte er besorgt nach, als er bemerkte, dass er unter schwesterlicher Beobachtung stand.

    „Schaue ich aus wie ein Judas? Das machte ich in deinem Alter auch so, gestand ich. „Pass jetzt gut auf und lerne! Ich zeige dir einen Trick, bloß niemandem verraten, das ist ein erprobtes Familiengeheimnis! Ich deutete auf eine übergroße Erdbeere mit dem Schneidemesser, die uns, umgeben von Sahne, paradiesisch anlachte. „Hier, die bohrst du vorsichtig mit der Fingerspitze heraus, und nachdem du sie gegessen hast, schmierst du das Loch mit Schlagsahne zu, damit es keiner merkt!", forderte ich ihn auf. Er folgte der Anweisung, steckte die riesige, aromatische Frucht in den Mund und mörtelte die Lücke auf der Torte mit der süßen Sahne zu.

    „Mmh, mmh, ist die lecker!, stöhnte er im Erdbeerhimmel. „Darf ich noch eine haben?

    „Pulst du zu viele Beeren raus, fällt der Kuchen in sich zusammen wie eine zu lang gebratene Gans!", kicherte ich. Er nickte enttäuscht, wenn auch verständnisvoll, begnügte sich nochmals mit dem Tortenrand, um den Frust abzureagieren.

    „Bestimmt wird es ein prima Fest!", zeigte er sich voller unvermuteter Freude und ich war mit dem Nicken dran, einem unsicheren. Leider konnte ich nicht die gleiche Verzückung an den Tag legen wie er.

    „Kommt Alejandro nicht bald zurück, krieg ich die Krise! Ohne ihn ist mein Geburtstag nur halb so schön!, stieß ich deprimiert aus und vernahm in dem Moment das Motorengeräusch von Paps´ grünem VW Passat, der in die Hofeinfahrt gelenkt wurde. Es hupte zweimal, als wäre es nötig, unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Garantiert betätigte Opa die Hupe. „Sie sind da!, rief ich aufgedreht aus, legte das Messer beiseite und packte Lukas´ Hand. Es fiel mir erst jetzt auf: Er putzte sich für Opa richtig raus. Gebügelte Jeans und ein sauberes, bedrucktes Sweatshirt in minzgrünem Grundton. Sogar Turnschuhe von unterm Tisch zog er nun an, obwohl er gewöhnlich barfuß durchs Haus und den Garten rannte. Es gab ihm das Gefühl, noch ein wenig Wolf in Menschengestalt zu sein, damit bewahrte er sich ein Fünkchen Freiheit. „Wie sehe ich aus?", flötete ich vor Aufregung und er prüfte mich von oben bis unten kritisch. Das neue Kleid war aus einem dünnen Baumwollstoff in meiner Lieblingsfarbe Türkis geschneidert; ich leistete es mir extra für den Geburtstag, sozusagen ein Geschenk an mich selbst.

    „Dir fehlen Schuhe, ansonsten siehst du aus wie immer."

    „Wie immer?", echote ich enttäuscht. Das klang nicht annähernd, nach was ich hören wollte. Rausgeschmissenes Geld. Ich hätte es sparen statt ausgeben sollen.

    „Na ja, du schaust in dem Fummel erwachsener aus als in einer Jeans", fand er, nachdem er mich einer weiteren, viel gründlicheren Inspektion unterzog. Eigentlich hatte ich sensationell, reizend oder zauberhaft erwartet, aber erwachsener tat es auch, es war jedenfalls hundert Mal besser als `wie immer´ und passte zum Einstieg ins Erwachsenenalter. Der Ausdruck Fummel wiederum setzte mir zu. Von Jungs in seinem Alter konnte man wohl nicht mehr erwarten.

    Mit der Antwort einigermaßen zufrieden, zog ich ihn zur Haustür hinaus und schlüpfte in ein paar hellbraune Sandalen. Hand in Hand eilten wir sodann nach draußen Richtung Hofeinfahrt. „Opa!", schrie ich um die Hausecke wie ein Brüllaffe, sodass die unmittelbare Nachbarschaft mitkriegte, dass die Sommers Besuch bekamen. Beim geparkten Auto gab ich Lukas´ Tätzchen frei und fiel Opa, der eben auf der Beifahrerseite ausstieg, um den Hals. Mit glasigem Blick schlang er die kräftigen Arme um meine Taille; seine sonnenverwöhnte Haut - von ihm erbte Paps die Hautfarbe - schimmerte in der Sonne, als wäre er eine Statue aus der Bronzezeit.

    „Lieblingsenkelin! Hast du eine Ahnung, wie großartig es ist, dich wiederzusehen, Schätzchen? Pünktlich zum achtzehnten Geburtstag und darauffolgender Hochzeit … Wie es ausschaut, verpasste ich die letzten zwölf Monate eine Menge in deinem Leben! Wo ist das Jahr hin? Und wie konntest du in der Zeit zu einer zauberhaften, jungen Frau heranreifen und Mr. Right finden?", grunzte er, als würde ich ihm die Luft abdrücken. Mit zusammengepressten Lippen und einem Lächeln löste ich die Umarmung gerade genug, um in die schelmisch blitzenden, enzianblauen Augen sehen zu können, die er blinzelnd von den Glückstränen befreite.

    „Danke für das Kompliment und Mr. Right gefunden zu haben, nenne ich schlicht und einfach pures Glück. Aber Lieblingsenkelin? Opa, was soll das? Wir wissen beide, dass ich deine einzige Enkelin bin!", spielte ich die Beleidigte und schnitt eine Grimasse. Mit einem Grinsen nahm er eine Hand von meiner Taille und tippte auf seine Wange. Ich verpasste ihm darauf einen dicken Begrüßungskuss. Er trug eine beige, bis zu den Knien reichende Jerseyhose, ein weißblau kariertes Sommerhemd und schicke Sandalen - nicht wie viele Männer seines Alters mit Socken, sondern ohne. Die Füße waren gepflegt, was auf eine regelmäßige Pediküre hindeutete. Der Hemdsaum hing über dem Hosenbund und ging bis zum Ansatz der Oberschenkel, der Hemdkragen stand lässig offen.

    Man sah Opa das Rentenalter kaum an. Irgendetwas Jungenhaftes haftete noch an ihm, als weigerte er sich, jemals erwachsen zu werden. Ein Silbergrau überpuderte das kürzlich geschnittene, verblasste, einst dunkle Haar wie den Dreitagebart. Es machte ihn nicht hochaltrig, eher attraktiver? Reifer? Lebenserfahrener? Interessanter? Ihn als alten Knaben zu bezeichnen wäre einer Beleidigung gleichgekommen, obwohl er die Position des Bejahrtesten in der Familie vertrat.

    „Du weißt, ich treibe gern meine Späßchen! Sein Blick wanderte hin zu Lukas. „Uhuu, wen haben wir denn hier? Ist das etwa mein Enkel oder der zu kurz geratene Bräutigam?, scherzte er und ich gab ihn frei. Wie ein Raubtier stürzte er sich auf meinen kleinen Bruder, der verloren nur bewegungslos dastand und sich wirre Strähnen aus dem Gesicht schob. Kopfschüttelnd starrte ich Opa hinterher. Gerade erst achtzehn Jahre und die Grenze zum Erwachsensein überschritten, schrieb er mich ab und suchte ein neues Opfer zum Knuddeln, ein jüngeres, putzigeres. Zum Kleinen runtergebeugt, erfasste er ihn an den Oberarmen, küsste die rötlichen Wangen und drückte ihn an die Männerbrust. Lukas lächelte verklemmt schief. In seinem Alter brachte ihn derartiges Benehmen in Verlegenheit.

    „Ich bin nicht der Bräutigam", stotterte er und kratzte sich peinlich berührt am Hinterkopf. Opa gewährte ihm eine Armlänge Abstand.

    „Bist du nicht? Puh! Er wischte sich den nicht vorhandenen Schweiß von der Stirn. „Das beruhigt mich aber, den hatte ich mir nämlich hochgewachsen vorgestellt! Ich malte mir soeben vor meinem inneren Auge ein albernes Bild aus. Du hast bei der Trauung neben July auf einem Stuhl gestanden, die Ärmel und Hosenbeine deines Hochzeitsanzugs mindestens sechzig Zentimeter zu lang. Nur der Kopf ragte hervor, und auf Zehenspitzen in die Höhe gereckt, schautest du ihr verliebt in die Gucker. Glücklicherweise stellte sich heraus, dass da eine Verwechslung vorliegt. In dem Fall kannst du süßer Fratz nur mein Enkel sein, richtig? Und das macht mich automatisch zu deinem Opa! Na was ist los? Kriegt der Opapa etwa keine Umarmung von dir, um ihn willkommen zu heißen?, forderte er den jungen Wolf mit einem Augenzwinkern auf. Die Kinderarme breiteten sich aus und legten sich um den sonnenverwöhnten Hals. „So ist´s recht. Er klopfte ihm sanft auf den schmalen Rücken. „Darf ich dich Lukas nennen? Und du nennst mich Opa. Ist das okay?

    Lukas nickte schweigend. „Opa, er wohnt hier und läuft dir nicht davon! Außerdem warten Kaffee und eine angeschnittene Erdbeertorte, die würde er nie versäumen wollen. Was ist mit dir? Hast du Hunger mitgebracht?", fragte ich nach, um Lukas aus der Patsche zu helfen. Er grinste den Bengel an.

    „Erdbeertorte? Dafür ist Hunger nicht erforderlich, die geht immer, zum Frühstück, Mittagessen, Abendessen und als Mitternachtssnack. Nicht wahr, mein Kleiner?"

    „Oh ja. Aber ich hab tatsächlich Hunger und das seit eineinhalb Stunden", antwortete der Knirps kleinlaut. Opa hätschelte ihn, indem er sachte auf den dichten Schopf klopfte.

    „Ach Gottchen! Du bist wirklich ein bedauernswerter Tropf! Sie haben dich gezwungen, auf meine Ankunft zu warten, was?"

    Lukas bejahte und Paps zog kopfschüttelnd einen üppigen, bunten Blumenstrauß und einen dunkelbraunen, verschrammten Lederkoffer aus dem Kofferraum hervor.

    „Alles Liebe zum Geburtstag, Kleines", wünschte er beim Überreichen des süßlich duftenden Geschenkes, das an den Traum von vorhin erinnerte. Innig umarmte er mich.

    „Danke, Paps. Blumen, die Kinder des Lichts! Woher …?" Er lachte laut auf.

    „Ich kenne dich seit achtzehn Jahren, das zu erraten, war wahrhaftig keine Kunst."

    Zärtlich drückte ich ihm einen Kuss auf die Stirn. Lukas, aus Opas Fängen befreit, half, den schweren Koffer unseres Gasts ins Haus zu schleppen.

    „Mein Gott, Vater! Was hast du in dem Ding untergebracht? Steine etwa?, stöhnte Paps keuchend und drehte sich dem Kleinen zu. „Achtung! Lukas brachte vorgewarnt schleunigst die Fußzehen in Sicherheit und das Gepäckstück krachte im Türrahmen zum Schlafzimmer auf den Boden.

    „He, Vorsicht Junge! Noch leide ich nicht an Altersdemenz … Mein teuerster Anzug und Geschenke sind darin!", verriet Opa und die Augen der jüngsten Generation weiteten sich.

    „Geschenke? Für uns?", weckte er in mir Neugier. Von der Küche aus liebäugelte ich mit dem verschlossenen Koffer, der seine besten Jahre lange hinter sich hatte. Mit zunehmender Spannung suchte ich nach einer Vase unter der Spüle, füllte sie mit Wasser auf und steckte den Strauß hinein. Auf dem Geburtstagstisch platziert, arrangierte ich die Blüten.

    „Wunderschön", meinte Opa zum Esstisch linsend.

    „Das sind sie, antwortete ich. „Blumen bringen die Natur ins Haus und verschönern jeden Raum. Nicht dass die Kochstube Verschönerung nötig gehabt hätte, aber sie waren das I-Tüpfelchen der Wohnungseinrichtung.

    „Ich rede von dir, Schätzchen. Neben deinem Antlitz sehen die Schnittblumen aus wie verdorrte Grashalme …"

    „Ach, Opa, du Charmeur", feixte ich mit einer leichten Spur Röte im Gesicht. Lukas betrachtete indessen den Koffer, seine Finger kreisten über die ausgebeulten Seiten.

    „Opa?"

    „Ja, mein Kleiner?"

    Brüderchen blieb stumm.

    „Du willst nachfragen, was ich an Mitbringsel dabeihabe, richtig?"

    Der Matz rieb sich scheu die Nase und antwortete mit Kopfnicken.

    „Ein Geburtstagsgeschenk und ein Hochzeitsgeschenk für July und ein Willkommen-in-der-Familie-Geschenk für dich", klärte er ihn auf. Ich lief zurück in den Flur und gesellte mich zur kleinen Runde. Die bernsteinfarbenen Iriden des jungen Wolfes flackerten auf wie Kerzenflammen, als er Opas Worte vernahm.

    „Ich bekomme auch ein Präsent?" Ungläubig schaute er ihn an.

    „Magst du etwa keins?" Opas schelmische Augen blitzten vergnügt.

    „Aber ja doch! Das ist, als hätte ich heute ebenfalls Geburtstag …"

    Opas lächelnder Blick traf den meinen. Ich erwiderte das Lächeln, legte die Arme über Lukas´ Schultern nach vorne und kreuzte die Hände auf der Kinderbrust. „Opa steckt immer voller Überraschungen."

    „Positive und negative", merkte Paps an und erntete von seinem Vater einen erhobenen, tadelnden Zeigefinger.

    „Ist mein Geschenk groß oder klein? Wann darf ich es sehen? Ist es zerbrechlich? Ob es die Reise überstanden hat?"

    In Lukas wuchs die Anspannung. „Lass das Drängeln und komm jetzt erstmal! Schließlich warst du derjenige, der eineinhalb Stunden die Erdbeertorte mit Stielaugen betrachtete! Stärken wir uns, damit wir genügend Kraft kriegen, über die Mitbringsel herzufallen." Wie ausgebüxte Rinder schob ich die Mannsbilder mit ausgebreiteten Armen vor mir her zum Esstisch. Opa nahm neben seinem Sohn Platz und Lukas seitlich von mir. Paps zog eine Streichholzschachtel aus der vorderen Hosentasche hervor, zündete mit mehreren Hölzern die achtzehn Kerzen an, und die Männer sangen mir zu Ehren ein Ständchen.

    „Happy birthday to you, happy birthday to you, happy birthday, liebe July, happy birthday to you!"

    Das letzte `To you´ hörte sich an, als würde es das Rudel johlen. To youuuuuu.

    „Du musst sie allesamt auf einen Schlag ausblasen, dann darfst du dir was wünschen!, wies Lukas drauf hin und mit aufgeplusterten Wangen blies ich die Geburtstagskerzen aus. Ich kassierte von ihm einen Daumen hoch und von der gegenüberliegenden Tischseite begeistertes Händeklatschen. Mit geschlossenen Lidern äußerte ich stumm meinen Herzenswunsch. „Und? Der schmächtige Oberkörper beugte sich leicht zu mir her.

    „Was und?", fragte ich ihn.

    „Na was wohl! Was hast du dir gewünscht?"

    Über seine unverhohlene Neugier lachte ich. „Brüderchen, das verrate ich nicht, sonst geht der Geburtstagswunsch nicht in Erfüllung." Er zog eine beleidigte Grimasse.

    „Wo sind die Tage nur hin, Kleines?", seufzte Paps depressiv und ich zuckte unschuldig die Schultern. Die Kerzen von der Torte genommen, verteilte ich auf jeden Teller ein Stück des leckeren Snacks, goss darauf den Erwachsenen Kaffee ein und Lukas kalten Kakao.

    „Wo ist eigentlich der Bräutigam, Schätzchen? Ist er etwa schon ausgerissen?"

    Paps gab mit der Hand vor den Lippen ein unterdrücktes Glucksen von sich. Opa, enthusiasmiert von seiner eigenen witzigen Äußerung, grinste in die Runde und schaufelte sich dabei genüsslich eine Erdbeere mit Sahnehäufchen in den Mund.

    „Ach woher! Du lernst ihn bald kennen. Er trifft für unsere Hochzeit geheime Vorbereitungen, die dermaßen geheim sind, dass selbst ich, die Braut, nichts davon erfahren darf. Am Tag der Abreise versprach er hoch und heilig, spätestens heute zurück zu sein", erklärte ich ihm mit geröteten, erwartungsvollen Wangen. Ich hoffte inständig, dass er es pünktlich zum Achtzehnten zurückschaffte, in ungefähr zehn Stunden war der nämlich wieder vorbei.

    „Hast du das Hochzeitskleid?"

    „Ich muss morgen nochmal ins Brautgeschäft. Zwei sind in engerer Auswahl, die Entscheidung ist also noch nicht gefallen. Das eine, das es mir angetan hat, ist blöderweise das teuerste Modell." Paps begann leicht den Kopf zu schütteln. Er verhielt sich nie knauserig, eine enorme Summe für ein Brautkleid auszugeben, das man nur einmal im Leben trug, bedeutete für ihn jedoch Verschwendung. Ich sah es ebenso, dennoch hätte ich liebend gern, in puncto Brautmode, leichtfertig die Geldscheine rausgeschmissen.

    „Wie teuer?", fragte Opa.

    „Im Tausenderbereich."

    „Eintausend? Zweitausend?"

    „Dreitausend."

    Paps verschluckte sich an einer Erdbeere und hüstelte: „Dafür bekommst du einen guterhaltenen Kleinwagen."

    „Geld spielt an diesem Tag keine Rolle! Will die Lieblingsenkelin das sündhaft teure Kleid, soll sie es haben! Bis der Lieblingsenkel flügge ist und einen Hochzeitsanzug braucht, sind die Moneten wieder angespart."

    „Opa, du bist einfach der Beste!", sprudelte es aus mir heraus. Vom Stuhl aufgesprungen, eilte ich zu ihm rüber, legte die Arme um seinen Hals und küsste die braune Nasenspitze, was ihm ein glückliches Lächeln aufs Gesicht zauberte.

    „Ich dachte immer, ich sei der Beste!, erhob unser Vater Einspruch. „Und am Tag der Volljährigkeit kickt sie einen vom Thron. Das ist der Dank für achtzehn Jahre.

    Mit einem `Sorry, Paps!´ setzte ich mich feixend zurück auf meinen Platz und genoss die Torte. Lukas sah vom Kuchenteller auf. Sahne quoll ihm aus dem übervollen Mund.

    „Meinst du mit Lieblingsenkel mich?, horchte er nach und spuckte dabei Sahnepünktchen auf die hellgrüne Tischdecke. Paps guckte ihn missbilligend an und der Knirps schob sich eine Hand vor die Futterluke. „Tschuldigung. Opa schmunzelte.

    „Wen sonst? Willst du nicht ebenfalls irgendwann heiraten?"

    „Ich weiß nicht … Muss ich mit meiner Frau den Erdbeerkuchen teilen?", fragte er prompt und wir wieherten vor Lachen.

    „Könnte passieren!", entgegnete Opa mit einem Auge blinkernd.

    „Wenn das so ist, überlege ich´s mir noch!", fügte Lukas hinzu und ein zweites Stück Torte landete auf seinem Teller.

    Opa wandte sich mir zu. „Möchtest du, dass ich dich morgen begleite, Schätzchen, oder legst du auf die Meinung eines alten Narren keinen Wert?"

    „Alten Narren? Würdige dich nicht herab! Dein Urteil ist mir sehr wichtig und du gehst definitiv mit, das ist dein großer Auftritt als Brautkleidretter", beantwortete ich die Frage. Darauf plapperten wir über vergangene Zeiten, bis die Kaffeekanne geleert und unsere Mägen gefüllt waren. Lukas half mir beim Tischabräumen. Während ich die Spülmaschine belud, schlenderte Opa hinaus in den Flur, schob den Koffer vom Türrahmen aus ins Schlafzimmer und öffnete ihn.

    Verheißungsvoll spitzten wir die Ohren. Etwas raschelte. Ich zwinkerte Brüderchen zu, die bernsteinfarbenen Augen zuckten vor Aufregung. Mit einem Geschenk in jeder Hand kam Opa in die Küche zurück. Eines davon war in blaues Papier eingepackt und hatte die Größe einer Schuhschachtel; das rosafarbene, flache schrie förmlich meinen Namen. Mit einem Grinsen überreichte er Lukas die blaue Aufmerksamkeit. Er bedankte sich mit einem strahlenden Lächeln, stellte das Mitbringsel auf dem Tisch ab und riss sofort das Geschenkpapier entzwei.

    „Boah! Eine Spielkonsole mit zwei Spielen! Die erträumte ich mir schon lange!", entschlüpfte es ihm. Er verlor all seine Scheu und fiel Opa um den Hals, der überrascht dreinschaute.

    „Ein paar Vögelchen zwitscherten mir deinen Wunsch."

    „Lass sehen!, forderte ich Lukas auf, die Videospiele herzuzeigen, und er hob sie hoch. „Cool! Ich mag Fantasyspiele.

    „Teil eins und zwei."

    Die Freude stand ihm im Gesicht.

    „Wirklich Vater, du verwöhnst die Kinder viel zu sehr!", sagte Paps und rollte mit den Augen.

    „Nein, tut er nicht!, verteidigte ich Opa und grinste Lukas an. Jetzt, wo sich alle Blicke auf mich richteten, händigte er mir die rosafarbene, flache Überraschung aus und ich tastete den Inhalt ab. Dünn, wie das Geschenkpapier. „Was ist da drin?

    „Aufmachen!, schrie der Kleine überdreht. Ich öffnete die Verpackung. Und Paps hob schlagartig eine Augenbraue. Ein Scheck über fünftausend Euro strahlte mich an. Für einen Augenblick dachte ich, ich falle um. Das tat ich zwar nicht, stattdessen begann ich zu hyperventilieren. „Also Opa, da bin ich nun aber baff!, rief ich verdattert aus und hielt Paps die rechteckige Anweisung unter die Nase.

    „Meine Güte, hast du etwa im Lotto gewonnen, Vater?, fragte er nach, unfähig, das Augenpaar davon abzuwenden. „Und wo du dich gerade freigiebig zeigst … Was ist mit mir? Was bekomme ich? Einen 3D-Fernseher? Ein Allround-Soundsystem?

    „Nix, du bist kein Enkel. Ich setzte dich in die Welt, genügt das nicht? Du kannst mir später mit einem kühlen Bier danken", antwortete Opa trocken.

    „Das lässt sich ändern! Nimm mich als Enkelsohn an, Opi, ich werde auch ganz brav sein. Bitteeeee", bettelte Paps wie ein Kleinkind und Lukas kicherte. Opa verzog jungenhaft den rechten Mundwinkel und wandte sich wieder mir zu.

    „Gib die Euros nicht leichtsinnig aus, Schätzchen, sondern verwende sie für das Studium. Deine Oma hätte es so gewollt."

    „Wie alt wäre sie jetzt?", sprang ich darauf an und drückte Opa gleichzeitig voller Dankbarkeit. Paps huschte ein wehmütiger Ausdruck übers zuvor fröhliche Gesicht.

    „Dreiundsiebzig. Und ich kann euch nur andeuten, welch Freude ihr die Woche beschert hätte!", erinnerte er uns mit elegischen Gefühlen.

    „Warum ist sie früh gestorben?", fragte Lukas und es entging mir nicht, dass Paps Tränen der Trauer in die Augen schossen. Opa erging es nicht anders und er räusperte sich.

    „Sie wurde plötzlich unheilbar krank. Damals, als ich sie kennenlernte, schien sie völlig gesund, wie ein Wirbelwind wehte sie in mein Leben. Doch nach unserer Heirat kränkelte sie zusehends und die Geburt von Leon schwächte sie, sie besaß keine Kraft mehr zum Weiterleben. Eure Oma, der gütigste Mensch, dem ich je begegnete, wird ewig in meinem Herzen wohnen. Nie wird sie in Vergessenheit geraten. Ich liebe sie wie am ersten Tag, unsere Zuneigung ist grenzen- und zeitlos, erwiderte er leise. Paps legte tröstend einen Arm um die Schulter seines Vaters. „Sie schenkte mir einen großartigen Sohn und der wiederum schenkte mir eine bezaubernde Enkelin und heute hat er mich mit einem süßen Enkel gesegnet. Mit dir Lukas ist die Familie fast komplett …

    „Alejandro fehlt. Und Alex", warf der Kleine ein und Opa nickte.

    „Besitzt du eigentlich ein Bild von Oma?", ergriff ich das Wort. Ich kannte sie nur aus Erzählungen.

    „Gedulde dich bis zum Hochzeitstag, Schätzchen, murmelte er wie vom Zug überrannt und wischte sich über die feuchten Augen. Das verstand ich nicht, nahm es aber so hin, die Stimmung wurde von einer Sekunde zur anderen äußerst trüb, und ich wollte das erdrückende Gefühl nicht noch verstärken. „Wo werdet ihr studieren?, änderte Opa das Thema. Alle Anwesenden wirkten erleichtert.

    „Wir haben uns in Gießen beworben, es ist die einzige Uni, die für ein Tierarztstudium am nächsten liegt."

    „In Hessen?"

    „Ja, über eine Zentrale für die Zuteilung von Studienplätzen bekommen wir Bescheid. Voraussichtlich beginnen wir im kommenden Jahr zum Winterhalbsemester, das Studium ist leider zulassungsbeschränkt und für dieses Jahr sind schon die Plätze besetzt. Ein Pluspunkt für uns, dass wir im Tierheim gearbeitet und das Wolfsprojekt vorzuweisen haben, und Alejandro absolvierte ein Zwei-Wochen-Praktikum bei einem Tierarzt. Die Hochschulausbildung ist unglaublich umfangreich und mehrwöchige Praktika ergänzen die praktischen und wissenschaftlichen Fachgebiete. Der Campus dort bietet uns nebenbei super Erholungsmöglichkeiten und an den Wochenenden fahren wir nach Hause zu Paps und Lukas. Du siehst, alles ist bis ins kleinste Detail geplant."

    „Das wird stressig, das Hin- und Herfahren."

    „Etwa dreieinhalb Stunden Fahrt für eine Strecke. Was soll´s."

    „Dauert ein Tierarztstudium nicht ewig?", hakte er nach.

    „Fünf Jahre! Ich hob eine Hand mit fünf gespreizten Fingern in die Höhe. „Wahnsinn, oder? Jedenfalls ist es das, was Alejandro und ich uns wünschen. Das Wohl der Tiere liegt uns sehr am Herzen.

    „Was macht ihr in der Zwischenzeit?"

    „Och, wir nehmen uns ein Jahr Auszeit, jobben, um Paps finanziell unter die Arme zu greifen. Doch an erster Stelle steht zurzeit die Hochzeitsreise an." Ich errötete und kaschierte es mit Grinsen.

    „Ah ja, Honeymoon, lächelte Paps mit einer gewissen Belustigung und tauschte mit seinem Vater geheime Blicke aus, „wo geht´s überhaupt hin?

    „Alejandro hat eine Drei-Wochen-Reise nach irgendwohin gebucht, ärgerlicherweise bekomme ich keine Info aus ihm heraus, er schweigt wie ein Grab!", erläuterte ich den Männern am Tisch.

    „July, baust du die Konsole mit mir auf? Ich kann´s nicht mehr erwarten!", kam es ungeduldig über Lukas´ Lippen und wir lachten schallend auf.

    „Klaro. Kommst du mit hoch, Opa? Du hast dich bisher nicht im Haus umgeschaut", forderte ich ihn auf.

    „Geht ihr junges Gemüse schon mal vor, ich ruhe mich ein bissel länger aus, die Zugreise war anstrengend."

    „Okay, also bis später …" Ich legte den Scheck auf der Tischoberfläche ab, gab Lukas die Videospiele und packte die Spielkonsole samt Zubehör. Hinter ihm durchquerte ich den Flur zur Wohnungstür, und draußen in der Diele stiegen wir die hölzernen Stufen nach oben ins grünfarbige Kinderzimmer.

    Die Konsole angeschlossen, zockten wir abwechselnd Teil eins der Fantasygeschichte. Lukas, voll in seinem Element, ließ die Daumen über den Controller fliegen und sogar ich vergaß für eine Weile, dass Alejandro sich verspätete.

    Mit ziehenden Zockerdaumen schaute ich auf die Uhr. Eine Weile? Achtzehn Uhr? Drei Stunden vergingen seit dem Kaffeekränzchen? In sechs Stunden war´s das mit dem Ehrentag? Das Ende des heißersehnten Geburtstags rückte unaufhaltsam heran.

    Dass ausgerechnet an meinem Achtzehnten Marc und Samara keinen Urlaub bekamen, nervte gewaltig. Zudem schien mein großer Bruder Alex - das Adjektiv bezog sich auf seinen hohen Wuchs, eigentlich war er der Zweitgeborene und ich die Erstgeborene und mindestens neun Monate älter - nicht in der Lage, das Handy in die Finger zu nehmen, um wenigstens einen Geburtstagsgruß zu texten. Das alles setzte mir zu. Und Alejandro? Wieso ging das Planen der Hochzeit dermaßen schleppend voran?

    „Lukas!, plärrte Paps die Treppe hoch, dass ich regelrecht zusammenzuckte. „Kommst du bitte mal herunter? Sofort reichte mir Brüderchen seinen Controller.

    „Hier, spiele für mich weiter, aber wehe, du hütest dich nicht vor den Flüchen!"

    Hüten? Zu spät. Ich fühlte mich bereits verflucht, in der Realität. Ich lächelte armselig und sah ihm schwermütig hinterher, als er durch die offen stehende Wohnungstür zum Treppenaufgang rannte. Desinteressiert wehrte ich einige Monster ab, ohne Zuschauer machte das Ganze wenig Spaß. Ein greller Lichtblitz traf den jungen Hauptakteur - das Todesurteil, sorry, Bruder -, und ich stierte gelangweilt Löcher in die Luft.

    „Kleines, ich brauche deine Hilfe …"

    Paps? Müde vom Nichtstun und genervt vom Alleinsein legte ich den Controller auf den Fußboden. Dieser fade, langweilige Geburtstag ohne Alejandro, Freunde und Alex schlug mir aufs Gemüt. Ich zog mich an einem Stuhl vom Boden auf, stapfte in den Flur zur Wohnungstür und trampelte die Stufen hinab. „Bei was?, brüllte ich zur Hälfte unten. Die Frage blieb unbeantwortet. „Wo bist du? Ich schlurfte von der letzten Trittfläche aus in die Küche. Fehlanzeige! Keine Menschenseele. Frustriert trödelte ich zurück in die Diele zur Eingangstür hin, öffnete sie und trat hinaus in den Garten. Nach einem albernen Versteckspiel war mir momentan überhaupt nicht zumute. Die Sonne blendete und ich kniff die Augen zusammen. „Haaallooo! Wo seid ihr denn alle?, schmetterte ich niedergeschlagen, einem Heulen näher als einem Lachen, über die Wiese. Ein leckerer Geruch stieg mir in die Nase und ich erspähte einen aufgestellten Grill, auf dem Fleisch vor sich hin brutzelte. Gegenüber standen ein gedeckter Tisch und zwei Bierbänke ohne Rückenlehnen. „Paps? Opa? Lukas? Nun kommt schon … Alles klar! Ich zähle jetzt bis drei und zwitschert ihr bis dahin nicht an, verschwinde ich wieder ins Dachgeschoss!

    „Überraschung!"

    Mir blieb fast das Herz stehen vor Schreck. „Alejandro, Marc, Sam, Alex?" Sie tauchten um die Hausecke auf und Paps, Opa und Lukas, die Gesichter zu einem breiten Grinsen verzogen, folgten ihnen hinterher. Getrieben von einer unsichtbaren Kraft rannte ich in Alejandros ausgebreitete, sonnengebräunte Arme.

    „O Mann, ihr seid ja hundsgemein!, entschlüpfte es mir vorwurfsvoll, andererseits war ich völlig hin und weg. „Wieso hörte ich deinen Golf nicht? Ich nahm seinen wunderbaren Duft wahr, die Würze des Waldes und die Herbe von frischer Erde. Eine Kombination, die für Freiheit und Ungebundenheit stand, ähnlich wie bei einem durch die Lüfte segelnden und über den Dingen stehenden Vogel.

    „Er parkt auf der Straße, ein paar Meter vom Haus entfernt hinter Alex´ Ford. Lukas hatte den Auftrag, dich nach dem Kaffee abzulenken, um uns Zeit zu schenken, in Ruhe den Garten für die Party herzurichten."

    Er küsste mich innig und schmiegte eine warme Wange an meine. „Ihr habt mich reingelegt, ihr alle."

    „Das haben wir hervorragend gedeichselt, oder? In meinem Rücken klatschten begeistert Hände. Ich drehte herum, legte von unten den rechten Daumen an die Nasenspitze, streckte die Finger nach oben und wedelte sie hin und her. Nicht gerade erwachsen, aber ich fühlte mich danach. „Glückwunsch zum Geburtstag, Liebes, raunte mir Alejandro ins Ohr.

    „Jetzt, wo du hier bist und mein Wunsch in Erfüllung gegangen ist, wird es mit Gewissheit eine bombige Geburtstagsfete", flüsterte ich zurück.

    „Welcher Wunsch?", erkundigte er sich in voller Lautstärke.

    „Sie musste achtzehn Kerzen ausblasen, um sich was wünschen zu dürfen!, klärte Lukas ihn auf. „Das Geheimnis ist gelüftet, sie schmachtete nach deiner Heimkehr. Die Herzenssehnsucht der Schwester letztendlich doch erfahren zu haben, brachte ihn zum Schmunzeln. Alejandro drückte mir einen Kuss unter ein Ohrläppchen. Alex, hochgewachsen, schlank, strohblondes kurzes Haar und blauäugig, sportlich in hellblauer Jeans und passendem Jeanshemd gekleidet und inzwischen ein unverzichtbarer Bestandteil der Familie, tippte ihm ungeduldig auf die Schulter.

    „Schon kapiert, ihr habt euch für Stunden nicht gesehen und seid verliebt und so´n Scheiß. Dennoch gibt es weitere Gratulanten, beschwerte er sich. Mit einem Blick auf den Kleinen gab ich Alex zu verstehen, künftig in seiner Gegenwart auf Kraftausdrücke zu verzichten. Alejandro feixte und entließ mich in die Arme des großen Bruders. Der küsste meine Stirnseite und wisperte: „Was sah ich da eben? Eine Grimasse? Schluss mit Kinderfaxen, ab heute bist du endlich erwachsen!

    Das sagte der Richtige. Samara, Generalin, Gestaltwandlerin, makellose Schönheit mit nachtschwarzer Kurzhaarfrisur in einem gewagten, blauen Minirock zu einer gelben Rüschenbluse, drängte ihn mit einem Ellbogen beiseite.

    „He, wo bleiben die Manieren? Glaubt ihr, sie gehört euch allein?"

    Notgedrungen zog Alex sich zurück.

    „Happy Birthday, Süße …"

    Zwei Küsschen auf die Wangen folgten. „Danke."

    „Wer hat entschlossen, dass ich das letzte Glied in der Reihe bin?, moserte der hünenhafte Marc gespielt und sie gab mich an ihn weiter. Ich kam mir vor wie auf einem Laufband und genau das hatte ich mir erhofft. Die beige, knielange Hose passte hervorragend zu seinem glänzenden, schokoladenbraunen Haar, das ihm seitlich leger bis zu den Backen ging, und sein buntes Hawaiihemd schlotterte ihm lässig um den Hosenbund. Ein beidseitiger Bizepsgriff drückte mir beim Umarmen hörbar die Atemluft ab. Wie Samara ein General, gehörte er der Stüpp-Armee an. Seit wir die beiden bei ihrem offiziellen ersten Besuch im Haus der Sommers Paps vorstellten, ihn als Freund von Samaras Familie und sie als Alex´ Freundin, besuchten sie uns regelmäßig. „Ich wünsch dir was, Menschentochter, flüsterte er.

    „Ich … kann … es … nicht … glauben! Ich … dachte, … ihr … kriegt … keine … Urlaubsgenehmigung, zu … beschäftigt", sagte ich mit gequetschter Stimme. Mit einem verwunderten Gesichtsausdruck sah er mich an.

    „Was ist mit dir?, fragte er laut. Ich hob einen Finger an die Kehle. „Luft … Luft … Alejandro fiel über ihn her.

    „Du würgst sie, Mann, sie verfärbt sich schon … Merkst du das nicht? Lass sie los …"

    „Oh, entschuldige … Ich vergesse manchmal, wie viel Kraft in mir steckt."

    Marc öffnete den Zangengriff. Ich machte einen Schnapper, sog sofort Atemluft ein und legte die Arme um Alejandros kräftigen Nacken. „Aber ich vergebe euch", verkündete ich großherzig. Den Kopf zu Alejandro hingedreht, küssten wir uns. Paps forderte derweil zum Essen auf.

    „Kommt Kinder! Holt die Teller von der Biergarnitur, bevor die Würste und Steaks anbrennen …"

    Grillbesteck vom Tisch geschnappt, hastete er hinüber zum Grill. Opa saß zwischenzeitlich mit einer eingeklemmten Serviette am Kragen auf der Bank. Hand in Hand führte ich Alejandro zu ihm hin. Die Gestaltwandler und Alex folgten uns, ergriffen Pappteller und fielen gelüstig übers Grillgut her.

    „Kennst du schon alle mit Namen, Opa?", trällerte ich vergnügt und er nickte.

    „Sie haben sich persönlich vorgestellt. Alex - eine absolute Überraschung, als Leon von ihm am Telefon berichtete. Alejandro, der fesche Bräutigam, er zwinkerte ihm zu, „Samara, das reizende Mädchen deines Bruders, und Marc, der Freund jeder Familie, ein sympathischer Kerl.

    „Solang er einen nicht aus Freundschaft mit den Armen zu Matsch zerdrückt. Und, wie findest du meine große Liebe, abgesehen von fesch? Hab ich dir zu viel versprochen?" Voller Stolz, Alejandro bald mein eigen nennen zu dürfen, strich ich ihm übers kurze, glatte, lackschwarze Haar. Es machte ihn verlegen.

    „Ich mag seinen herzgewinnenden Charakter und er ist verrückt nach dir, Schätzchen …"

    „Nicht so verrückt wie ich nach ihm bin, Opa!", rückte ich die Wahrheit zurecht. Samara kam hinzu, tippte mir mit ihren gepflegten, roten Fingernägeln an die Schulter und setzte den befüllten Teller auf dem Tisch ab.

    „Was sagst du zur Deko?"

    Bislang fand ich nicht die Zeit, den Garten zu bestaunen. Überall an den Zaunlatten, Bäumen und Büschen hingen Solarlampions, einige bunt mit Blumenmustern und rund, andere unifarben und länglich. Eine knallig gelbe Tischdecke verschönerte die Biergarnitur. Farbenfrohe Pappteller und sonnengelbe Papierservietten lagen griffbereit auf der Tischoberfläche herum, Glasschüsseln präsentierten leckere Inhalte, und ein Fass Bier stand an der Ecke und wartete aufs Anzapfen.

    „Sie ist der Hammer! Ich gestehe, dass ich mich total niedergeschlagen fühlte, weil niemand zur Fete kommen konnte. Für einen Moment glaubte ich, ich sei euch egal. Umso glücklicher bin ich jetzt, dass dieser Tag doch kein Reinfall wird! Alejandro griff nach einem Holzschlegel und verschiedenem Zapfzeug. Ein paar kräftige Schläge folgten, bei denen meine Lider zuckten. Darauf floss Gerstensaft wie ein goldener Bach und wurde mit flinken Händen in Keramik-Bierkrüge für die Erwachsenen abgefüllt, Lukas bekam Malzbier als Ersatz. Die anderen Gäste kehrten vom Grill mit beladenen Tellern zurück und mit erhobenen Krügen prosteten wir uns zu, dass die Schaumkronen überliefen. Die Abendsonne schien warm aus einem wolkenfreien Himmel. Opas silbergraues Haar und Dreitagebart glitzerten wie Stahlwolle. Wild schnatterten wir durcheinander, dazu spielte im Hintergrund ein Radio heiße Rhythmen. „Kommt, setzt euch!, bat ich und wir pflanzten uns, neben und gegenüber von Opa, auf die Bierbank, mit Ausnahme von Paps.

    Aus einer Kühlbox zu seinen Füßen zog er weitere Bratwürste und Fleischstücke hervor, ordnete sie in geraden Reihen auf dem fast leergeräumten Rost an. Rauch qualmte über die Baumkronen hinweg. Alex überfüllte seinen Pappteller, dass es für drei erwachsene Männer gereicht hätte.

    Ich grinste in mich hinein. Mit dem Einzug in Alejandros früheres Zimmer schätzte er Einladungen, die das Versprechen auf gute Hausmannskost in sich bargen. Paps balancierte zwei Teller mit Gegrilltem zu Alejandro und mir rüber, bediente im Anschluss Opa und sich zu allerletzt. Lukas, uns allen voraus, schmatzte und leckte Finger ab wie die Pfoten in Wolfsgestalt.

    „Der Hunger steht euch in den Gesichtern, Kinder, aber ehe wir uns die Mägen vollstopfen, möchte ich eine kurze Rede für mein Kleines halten!", unterbrach der Grillmeister das muntere Gequatsche mit Klappern der Grillzange und Brüderchen rülpste mehrmals heftig hintereinander. Wir lachten, wurden auf Paps´ forschen Blick hin jedoch augenblicklich still. Er blinzelte unvermittelt seltsam.

    „Auwei, es wird doch nicht wie an der Abschlussfeier werden?", zog ich ihn auf, denn da hatte er, bevor Alejandro und ich geschniegelt das Haus verließen, um in die wartende Limousine zu steigen, praktisch geheult.

    „I wo!, stieß er ein bisschen pikiert aus und zeigte sich nachdenklich. „Obgleich …

    „Paps!"

    „Okay, ich verspreche, nicht zu sentimental zu werden, immerhin ist ein Geburtstag ein freudiges Ereignis!"

    „Das traf auf den Abschlussball auch zu", flüsterte Alejandro mir zu und ich kicherte leise.

    „Benötigst du einen Trommelwirbel zur Einleitung?", fragte ich scherzhaft nach, was die Gruppe als geniale Idee einstufte; zwölf Zeigefinger trommelten schlagartig aufeinanderfolgende Takte gegen den Tischrand. Paps hob die Hand wie ein großer Maestro, die Grillzange in der anderen wirkte wie ein Taktstock.

    „Ich danke euch, Herrschaften, vielen herzlichen Dank! Und nun merkt auf, verehrte Gäste, und vor allem liebes Töchterchen: Genau achtzehn Jahre ist es her, damals warst du gar nicht schwer. Dein erster Schrei bedeutete Musik für mich, dein erstes Lächeln galt mir wie dein erstes Wort: Paps. Dein erstes Krabbeln vergesse ich niemals, du sahst aus wie ein betrunkener Käfer, und deine ersten Gehversuche verursachten bei mir panische Angst. Mit jedem Schritt und Geburtstag wurdest du standfester, älter, klüger, zauberhafter und erwachsener. Heute erreichst du die Volljährigkeit, das ganze Leben liegt dir zu Füßen, wartet darauf, erkundet zu werden. Es wird dir Momente der Freude und Sonnenschein bringen, genauso Stürme, Bekümmernis und Regen. Das Leben mutet sich wie das Wetter an, Wetterkapriolen sind keine Seltenheit. Mal ist es lichterfüllt und geruhsam, mal ist es düster und unwirtlich. Du bist der Kapitän des Schiffes July und wirst erlernen, es durch die von Zeit zu Zeit verschlungenen Lebenswege zu lotsen, vorsichtshalber lege dir regenfeste Klamotten und einen Rettungsring zu."

    Gelächter brach aus und Opa zischte mit erhobenem Finger: „Pssst!" Paps nickte ihm dankend zu.

    „Ich wünsche dir für deinen weiteren Weg Gesundheit, treue Freunde und dass sich der Becher der Liebe nie leert. Die Jugendzeit kehrt niemals zurück, behalte sie in guter Erinnerung und genieße mit uns das Hier und Jetzt! Er räusperte sich. „Okay, das ist das Ende der kurzen Rede und wie versprochen, nicht zu sentimental. Los, haut rein, dass sich die Bierbänke biegen, keine einzige Person soll heute mit knurrendem Magen nach Hause gehen!

    Wir spendeten Beifall und er verbeugte sich, drehte sich um, zog ein Taschentuch aus der Jeans und schnäuzte sich lautstark. Oje!

    „Hast du die Ansprache einfach herbeigezaubert oder zuvor gedanklich ausgearbeitet?", fragte ich ihn.

    „Letzteres, dabei aufgeschrieben und auswendig gelernt. Ich wollte, dass sie sich reimt, es klappte nur nicht. Die poetische Begabung fehlt."

    „Mir gefiel es, Paps …" Er wandte sich mir zu, und ich erhob mein Hinterteil von der Bank und küsste seine Wange, worauf er grinste.

    „Lieben Dank. Dann punkte ich damit doppelt …"

    Aus der hinteren Hosentasche zauberte er ein weißes Kuvert hervor und hielt es mir hin. Aufgeregt riss ich es auf und zog lachend eine blanko Führerscheinanmeldung hervor. „O Paps! Das ist so genial, mir fehlen die Worte!", rief ich überrascht aus.

    „Wie wär´s mit: Vergelts Gott und ich bestehe ihn?"

    „Vergelts Gott und ich bestehe

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