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Der Richtsaal: Roman
Der Richtsaal: Roman
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eBook254 Seiten3 Stunden

Der Richtsaal: Roman

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Über dieses E-Book

"Der Richtsaal" ist die gnadenlose Abrechnung eines jungen Mannes mit seiner freudlosen Kindheit. Sein aufgestauter Hass richtet sich vor allem gegen die Großmutter, die ihre Tochter - die Mutter des Erzählers - zu einem Schwangerschaftsabbruch unter abscheulichen Umständen gezwungen hatte. Siebenjährig musste er diesen Eingriff durch den Arzt-Onkel im Wohnzimmer miterleben. Im selben Wohnzimmer entschied die Großmutter, ihren Enkel wegen Epilepsie in eine Nervenklinik einzuweisen (aus der er nach monatelangem Aufenthalt psychisch gestört zurückkehrte). Und in eben diesem Wohnzimmer teilt er den Entschluss mit, sich das Leben zu nehmen, um bewusst Schande über die verhasste Familie zu bringen.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Dorothea Macheiner.
SpracheDeutsch
HerausgeberHaymon Verlag
Erscheinungsdatum21. Juni 2017
ISBN9783709936085
Der Richtsaal: Roman

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    Buchvorschau

    Der Richtsaal - Gerold Foidl

    Gerold Foidl

    Der Richtsaal

    Roman

    Herausgegeben und mit einem Nachwort

    von Dorothea Macheiner

    HAYMON

    Inhalt

    Editorische Notiz

    Nachwort

    Ungekürzte E-Book-Ausgabe

    HAYMON Verlag, Innsbruck-Wien 2014

    www.haymonverlag.at

    © 1998 by Skarabæus Verlag Innsbruck-Bozen-Wien in der Studienverlag Ges.m.b.H.

    Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

    e-mail: skarabaeus@studienverlag.at

    Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

    ISBN 978-3-7099-3608-5

    Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.skarabaeus.at.

    Der Provinzbahnhof lag verschlafen in der aufziehenden Morgendämmerung, als ich mich auf den Weg durch die winkligen Straßen der Kleinstadt machte. Ich wollte Großvater noch einmal sehen, der die Erinnerung an die wenigen Jahre Kindheitsglück verkörperte, bevor ich als Siebenjähriger Augenzeuge des grauenhaften Kosakenmassakers geworden war. Seit dieser Zeit haßte ich diese Stadt mit ihren Menschen, weil hier meine Kindheit im Lauf der Jahre so restlos zerstört worden ist, daß ich später nie mehr die Ausgelassenheit der Jugend zu erleben vermochte.

    Als mir meine Verwandten unerwartet den Beweis lieferten, daß sie es waren, die mich als Vierzehnjährigen in die Psychiatrie zwangseingewiesen hatten, verließ ich diese Stadt, die ich nicht als Heimatstadt empfand, mit dem festen Entschluß, auf keinen Fall jemals wieder zurückzukehren. Es waren dieselben Verwandten, die schon Mama zur Abtreibung gezwungen hatten, als Vater nach Kriegsende als verschollen galt und sie von einem anderen Mann schwanger war. Großmutter und Onkel Elmar, der Arzt. Denen nichts wichtiger war, als die Familienehre wie eine Reliquie zu bewahren. Ohne danach zu fragen, mit welchen Mitteln sie das bewerkstelligten.

    Der Hohn und Spott meines Vaters, der Mitschüler und meiner Umgebung verhinderten im Gewitter meiner epileptischen Anfälle von vornherein jeden Gedanken, der Stadt und ihren Bewohnern jemals die Schuld am zerstörerischen Verlauf meines Lebens nachzusehen. Bei meiner Rückkehr spielte das alles keine Rolle mehr, da ich nur gekommen war, um meinen Großvater noch ein letztes Mal zu sehen und mich anschließend umzubringen.

    Ich spürte die aufkommende Morgenkälte, schlug den Kragen der speckigen Duvetinejacke hoch, zog den grauen Schlapphut tiefer in die Stirn und ging den Hauptplatz hinauf. Mit wirr in das Gesicht hängenden Haarsträhnen, dreifärbigem Stoppelbart und verschlampter Kleidung, die jedem Landstreicher zur Ehre gereicht hätte.

    Ich langte unterwegs mehrmals in die Herzgegend und betastete die Auswölbung unter der Achselhöhle, wo sich die in der Jackentasche verborgene Pistole befand. Die Hausfassaden zu beiden Seiten würdigte ich keines Blicks, ich grinste nur verächtlich hinüber zu jener Häuserfront, hinter der die Reichen und Alteingesessenen wohnten. Einer, dem man ansieht, daß er mit dieser Stadt nichts zu tun hat und auch nichts mit ihr zu tun haben will. Der es verwünscht, daß sich seine Mutter zum Zeitpunkt der Geburt gerade hier aufgehalten hat. Mein Bekenntnis zu dieser Stadt erschöpfte sich mit dem Taufschein, und fragte mich einer nach meiner Herkunft, antwortete ich: „Ich bin laut Taufschein in Lienz geboren und deshalb Tiroler, aber nur, weil ich meinen Geburtsort nicht selber bestimmen konnte."

    Tante Gaby lieferte während meines vorjährigen Urlaubs durch eine unbedachte Äußerung den Beweis über die wirklichen Umstände meiner Zwangseinweisung in die Psychiatrie. Das löste eine Lawine von chaotischen Reaktionen aus, die meine gesamte Vorstellungswelt umstürzten und die Widerstandskraft so lange lähmten, bis ich mich selbst in eine Lage manövrierte, in der ich mich zum Selbstmord entschloß, um dem ständigen Angstgefühl zu entkommen. Äußerst sorgsam und unbewußt ging das vor sich. Zuerst mein Inneres mit lähmenden Schatten verdeckend, bis es unbemerkt zu schrumpfen begann, sich zunehmend einengte und sich von allem, was um mich herum vorging, abgrenzte. Eines Tages war es dann soweit, ich konnte keinen Ausweg aus dieser verfahrenen Situation finden. Damals entschied ich mich zum Kauf einer Pistole. Anschließend empfand ich die weitere Zeit als problemlos, ich hatte wieder Distanz zwischen mich und meine Erlebnisse gelegt, die mich jedoch zunehmend in meiner Handlungsfreiheit einengten.

    Da ich von der Zukunft nichts mehr zu erwarten hatte, besann ich mich stärker auf die wenigen glücklichen Erlebnisse der Vergangenheit. Auf Mama, die vor mehr als zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, und auf Großvater. Ich spürte, daß es mir ungemein leichtfallen würde, mich umzubringen, weil ich mich zumindest an diese kurze Zeit des Glücks erinnern konnte.

    Ungeduldig in der Straßenmitte stehend, rief ich zum Küchenfenster hinauf: „Großvater! Hallo, Großvater! Wach auf! Das vertraute Gesicht beugte sich aus dem Fenster und sagte über seine mageren Schultern hinweg zu dem im Fensterrahmen auftauchenden Körper meiner Großmutter: „Wer soll denn der da unten sein, Nora?

    Er sah voll Verachtung kurz herunter und wandte sich dann ruckartig ab.

    „Mein Gott, weit ist es mit dem Buben gekommen", sagte Großmutter. Die Verachtung in Großvaters Gesicht ärgerte mich ungemein, sie nahm mich plötzlich gegen ihn ein, denn ich war doch nur seinetwegen gekommen.

    „Ich hab mir keinen Rosenstrauß erwartet", sagte ich ungehalten zur Haustür hin, weil es mir zu lange dauerte, bis endlich einer aufsperren kam.

    Ich glaubte zu wissen, was nun folgen würde, merkte aber gleich, daß es sich in keiner Weise mit meinen Vorstellungen deckte. Bevor ich noch Großvater zu Gesicht bekam, wurde mir klar, daß ich es genauso gut in Wien hätte bereinigen können. Aber nun war ich einmal da, und es war mir gleichgültig, was sich in den nächsten Stunden abspielen würde.

    „Wie schaust denn du aus?" sagte Großmutter vorwurfsvoll.

    Sie öffnete langsam die Tür, als müsse sie es sich erst überlegen, ob sie mich in die Wohnung lassen sollte. Mit einem Blick an ihr vorbei sah ich in den Hausgang und überhörte geflissentlich ihre Worte, da sie mich in keiner Weise berührten. Trotz der Tatsache, daß sie die Urheberin meines Irrenhausverschubs gewesen war, empfand ich ihr gegenüber jetzt nicht mehr als Gleichgültigkeit. Tiefe, öde Gleichgültigkeit, als würde es sie längst nicht mehr geben.

    Ich sah in ihre unsteten, forschen Augen, streifte die Falten des geblümten blauen Schlafrocks und dachte dabei: Sieh her, mich stört nicht einmal deine Anwesenheit. So ändern sich die Zeiten!

    Großvater lag auf der breiten Couch in der Küche. Ein alter, todkranker Mann, der sich gegen die Schmerzen seiner Metastasen auflehnte. Er sagte bei meinem Eintreten kein Wort. Sah mich nur mit dem unbeschreiblichen Ausdruck seiner blaugrünen Augen aus schmerzverzerrtem Gesicht an. Ausgezehrt lag der magere Körper, der einst ein Fixpunkt meines Lebens war, vor mir. Ich sah auf ihn nieder, unfähig, Mitleid für den Alten aufzubringen.

    Ich war gekommen, um etwas zu erledigen, das mir noch während der Zugfahrt ungemein bedeutungsvoll erschienen war und von dem ich nun wußte, daß meine Reise nichts als unnützer Zeitaufwand war.

    Als ich so vor ihm stand, wollte mir Großmutter den Filzhut vom Kopf nehmen, worauf ich mich herumwarf, ihn ihr entriß und aus Trotz wieder aufsetzte. Unsere Blicke trafen sich zwar nur einen Sekundenbruchteil, der jedoch ausreichte, um sie verängstigt zusammenfahren zu lassen.

    Um sie besser im Auge behalten zu können, drehte ich mich um und beobachtete sie. Schweißperlen sammelten sich auf ihrer Stirn, nervös zuckten ihre faltigen Mundwinkel. Sie zog die Schultern nach vorn, als würden sich ihren Rücken hinab die Hautrupfen aufstellen, doch ich hatte sie schon vergessen. Ich sah wieder auf Großvater nieder.

    Du bist in dieser kurzen Zeit ziemlich verfallen. Ein gut Teil deines Weges liegt hinter dir, und irgendwann in nächster Zeit wirst du draufgehen, sagte der Beobachter in mir. Gefühllos. Nur registrierend. Ich streifte seine Gestalt mit den Augen und sah, wie sich die Hände, gegen die Schmerzen ankämpfend, gegen die Bauchdecke preßten und wie der stotternde Atem die eingefallenen Wangen aufbauschte. Tuckernd wie ein mit Standgas laufender Dieselmotor. Dann sah ich die Verachtung in seinen alten Augen und zog die Pistole aus der Jackentasche, legte sie in die Rechte und sagte zum Alten auf der Couch: „Ich bin gekommen, um dir zu sagen, daß ich mich heute erschießen werde."

    Als ich mit dem Kopf auf die Waffe deutete, sah ich die Todesangst im Gesicht meiner Großmutter, minutenlang brachte sie keine Silbe heraus. Er ist wirklich zu allem fähig! Der Gedanke würgte sie in der Kehle, aber ich beachtete sie nicht.

    Auch Großvater hatte ich mit meiner Ankündigung schockiert.

    Unter welch merkwürdigen Umständen wir uns das letzte Mal vor meinem Tod sehen! Wer nicht weiß, was uns verbindet, muß denken, daß wir einander grenzenlos hassen. Tatsächlich aber bist du der einzige, der mir bis zuletzt etwas bedeutete. Daran wird sich auch in diesen letzten Stunden nichts ändern. Was jahrelang in mir herumgearbeitet hat, ist seit dem Vorjahr aufgebrochen und hat mein Inneres vergiftet. Daher ist es heute ein anderer, der vor dir steht und sich davon etwas versprochen hat: dir noch einmal in die Augen zu sehen, bevor sich der Finger krümmt.

    Sag nichts, Großvater. Dein Blick verrät mir, was du nun von mir denkst. Er sagt mir auch, was du jetzt tun wirst. Es ist dasselbe wie damals, als Großmutter auf dich Druck ausübte, Mama aus der „großen Familie" zu verstoßen, um ihren Willen sanktioniert zu sehen. Es ist kein großer Unterschied, nur wird dich heute niemand dazu drängen müssen, da du es von dir aus tun wirst. Ohne Worte, mit nichts als deiner Ignoranz, die mir klarmachen wird, daß ich für dich nicht länger existiere. Doch zweifle ich daran, ob es mir dann noch wehtun wird. Meine Brust füllt jetzt ein fester Block, in den die Stille des Todes eingezogen ist. Und es ist ganz ruhig dort, wo sonst die Todesschreie sitzen.

    Den Großeltern stockte der Atem, und ich kam mir wie ein Wegelagerer vor. Ich steckte die Pistole weg, da sie Großvater nicht dazu brachte, auch nur ein Wort zu sagen. Er ist noch immer der alte. Sagt kein Sterbenswörtchen, wenn er jemanden verachtet, seine Verachtung aber zeigt er sehr deutlich. Doch was habe ich eigentlich erwartet? Daß er mich bitten wird, es nicht zu tun, oder was sonst?

    Er bleibt stumm, nur das Zucken seiner Mundwinkel verrät ihn. Gleichgültig ist es dir nicht, wenn ich mich heute umbringe. Vor einem Jahr bist du auch schon hier draußen gelegen. Damals hat die Horde unserer Verwandten im Wohnzimmer darüber diskutiert, wieviel nach deinem Tod für jeden Erbteil anfällt. Aber dir zu sagen, daß meine Mutter, die stets deine Lieblingstochter war, bereits ein Jahr zuvor kläglich auf der Autobahn verreckt ist, dazu waren sie zu feige. Dieses Geschäft haben sie wieder mir zugeschoben. Deine Töchter, dein Sohn, die Schwiegersöhne und Gaby, die ungeliebte Schwiegertochter, genau wie Vater und Dorli, meine Schwester.

    Du weißt das vielleicht nicht.

    Das hat mich damals ganz hergenommen. Heute ist es vorbei, nichts ist mehr geblieben wie vor einem Jahr. Was jetzt geschieht, läßt mich in jeder Hinsicht kalt.

    Ich werde heute sterben in der Überzeugung, ehrlich geblieben zu sein, wie du es mir als Kind beigebracht hast. In den sechs Jahren, in denen du mir eine Behausung für das Glück erbautest, das die anderen stückweise zerstörten, ohne daß du jemals erfahren hättest, wie. Die anderen haben mich wegen des zerschlagenen Porzellans verurteilt, ohne danach zu fragen, warum ich es denn zu Boden warf.

    Es war eine magere Weide, auf der ich in meiner Kindheit graste. Auch das ist ein Grund, warum ich ein letztes Mal noch hierher gekommen bin. Um noch einmal in deine Augen zu schauen, dein Gesicht zu sehen und die Erinnerung daran mit mir zu nehmen. Es schien ganz anders zu sein, als noch die Entfernung zwischen uns lag. Nun ist es mir gleichgültig geworden, was du jetzt tust, auch wenn dir das herzlos erscheinen mag. Denn Großmutter zählt für mich nicht.

    Als lebende Morphiumleiche liegst du vor mir. Ich brauche es nicht auszusprechen, daß ich mit dir kein Mitleid empfinde. Das weißt du selbst, wenn du in meine Augen siehst. Warum sollte ich sagen, es würde mir leid tun oder ich hätte dies alles nicht gewollt, da es ohnehin erlogen wäre, wie du weißt. Es ist merkwürdig, daß ich die ganze Zeit über glaubte, es wäre für mich ungeheuer wichtig, dich noch einmal zu sehen, bevor ich aus dem Leben scheide.

    Die Erbschaftshaie dachten schon vor einem Jahr, du würdest es nicht mehr lange machen, doch du lebst immer noch. Ich kann dir nur das eine wünschen: daß es mit dir zu einem raschen Ende kommt! So wie du da vor mir liegst, wird es von Tag zu Tag schmerzlicher für dich, und täglich rinnst du mehr aus, bis nichts mehr von dir übrigbleiben wird als ein aufgeschlitzter Mehlsack.

    Mein Alter, glaube mir, daß ich froh bin, ein Schießeisen in meiner Tasche zu tragen, mit dem ich mir in einigen Stunden das Hirn hinauspusten werde. Wenn du darüber nachdenkst, wirst du begreifen, daß keiner von uns beiden die geringste Chance hat. Nur deshalb werde ich abdrücken. Damit es endlich vorbei ist, denn wir zwei sind die Verlierer. Mir kann das Weitere gleich sein, meine Rechnung ist gemacht. Was aber machst du dann? Glaubst du, mit einem Körper voller Krebsfilialen eine Chance zu haben? Rede dir doch nicht solchen Unsinn ein. Du stirbst dahin, langsamer als ich. Mit Morphium vollgespritzt, da deine Schreie sonst bei Tag und Nacht durch alle Zimmer gellen würden.

    Ich ging einige Schritte ans Fenster zum Kopfende der Couch, um Großmutter besser im Auge behalten zu können. Durch die verminderte räumliche Distanz und meine unmittelbare körperliche Nähe provozierte ich den Alten derart, daß ich genau merkte, wie er an der Grenze seiner Beherrschung stand. Der magere, ausgelaugte Körper lag bebend auf der Couch. Er atmete kurz und stoßartig, auf seinen violetten Lippen ein verräterisches Zucken. Ich wollte schon aus dem Zimmer gehen, um nicht länger auf den Todkranken niedersehen zu müssen und ihn dadurch unnötig aufzuregen. Dieser karge Rest von Anteilnahme war in mir als Gegenleistung für die Erinnerung an früher noch geblieben. Großvater war immerhin der Mensch, den ich in gewisser Beziehung sogar mehr als Mama liebte. Weil er nie etwas von mir verlangte, wenn er selbst etwas gab.

    „Nora, schaff den Landstreicher aus der Wohnung. Bei uns haben immer anständige Leut verkehrt. Da hat der dreckige Typ nichts zu suchen. Außerdem will ich jetzt meine Ruh haben!"

    Großmutter reckte den Kopf aus ihrer zusammengeschundenen Gestalt und sah zu dem Alten hinüber.

    „Vater, wie kannst du nur so etwas sagen? Als ob er ein Gauner wär!" schalt sie ihn.

    „Ich hab’s dir schon gesagt. Verschwinden soll er, aber gleich. Ich mag kein Ungeziefer in der Wohnung. Mit dem da hab ich nichts zu schaffen. Sag’s ihm nur!"

    Er war höchst erregt und sprach mit einem rauhen Kratzen in der Stimme. An den Schläfen traten dunkelblaue Adern hervor, die Wangen röteten sich unter den vorstehenden Backenknochen, kalter Schweiß überzog das Gesicht. Ich warf einen flüchtigen Seitenblick auf ihn.

    Es hat ihn furchtbar hergenommen. Früher hätte ich es nicht ertragen, das mitanzusehen, geschweige denn, es selbst zu verursachen. Mein lieber Alter! Ich kann dich gut verstehen und bin dir auch nicht bös, wenn du mich verachtest, da ich ja wahrlich keine imponierende Gestalt bin, so wie ich da vor dir stehe, unrasiert, mit Schlapphut, verdrecktem Gewand und einer Pistole in der Tasche. Ich sah, wie Großmutter unerwartet die eisige Kälte von Großvaters Augen traf, die ihr neben der Angst das Gefühl einer Magenverstimmung bescherte, das sich unversehens in heftige Wut verwandelte. Gegen alles. Gegen ihre Hilflosigkeit. Gegen mich. Am nachhaltigsten jedoch gegen den Alten, dessen Augen sich abweisend und kalt auf sie richteten.

    „Sag endlich etwas, Vater! Er ist trotz allem einer von uns und gehört zur Familie."

    „Hat er vielleicht. Aber solange ich leb, geben wir uns nicht mit Gesindel ab."

    „Bei dir habe ich oft das Gefühl, als hätt ich einen Eisberg geheiratet. Du hast ja überhaupt kein Herz."

    „Nora, sag ihm endlich, daß er sich davonmachen soll, sonst steh ich auf und werf ihn aus der Wohnung!"

    „Du kannst stolz auf dich sein. Aber denk daran, solange du noch Zeit zum Leben hast, daß du den Buben damit auf dem Gewissen hast. Du treibst ihn ja geradezu in den Selbstmord, als könntest du es gar nicht erwarten, bis er tot ist!"

    Wütend biß sie sich auf die Lippen, als ihr bewußt wurde, daß ihr im Zorn das herausgerutscht war, was sie bisher vor ihm verborgen gehalten hatte. Was sie zwar dachte, aber nie aussprach: daß Großvaters Tage gezählt waren.

    Ich konnte mir ein grimmiges Grinsen nicht verkneifen, wenn ich daran dachte, wie makaber die Szene war. Erstmals machte sie sich um mein Leben Sorgen und einem anderen meinetwegen Vorwürfe. Sie, die mich vor zehn Jahren durch ihren Sohn, den Arzt, in die Psychiatrie stecken ließ. Um mich loszuwerden, weil ihnen meine aggressive Art zu gefährlich geworden war und ihre gescheiterten Erziehungsversuche nur dazu führten, daß sich meine Aggressivität unter Zwang steigerte und außer Kontrolle zu geraten drohte. Sie, die mich hinter Irrenhausmauern hatte verrotten lassen wollen, um den ständigen Unruhestifter der Familie auszuschalten, setzte sich plötzlich vehement für mich ein. Wie lachhaft das alles ist, wenn ich mir vorstelle, daß nur die Angst um den beschädigten Familienruf der Grund ihres verzweifelten Bemühens ist, nur die Angst vor der Schande, das Blut eines Selbstmörders könnte den Ruf ihres Familiennamens in dieser heuchlerischen Kleinstadt besudeln. Es hatte nur das eine Gute, daß sich in ihrer Erregtheit ihre wahren Gedanken auftaten und Großvater nun wußte, wie sie über ihn dachte. Ihm war es ohnehin klar, daß ärztliche Hilfe sein Leben nur verlängern, doch nicht mehr retten konnte. Um so mehr wütete es in ihr. Weil sie aus Überstürztheit die Übersicht verloren und das ausgesprochen hatte, was jeder von uns wußte. Ich spürte dieses Gefühl der Niederlage, das sie mit Großvater so verbissen keilen ließ. Nur um sich nicht eingestehen zu müssen, daß es ihre Schuld war, den Fehler begangen zu haben.

    Mit dem Rücken zum Fenster stehend sah ich auf den Plafond. Das alles war mir unsäglich zuwider. Ich wollte nun wirklich weg, da sich mein Heimkommen als unnützes Unternehmen herausstellte. Geboren aus einem Rest sentimentaler, falsch verstandener Anhänglichkeit an eine längst vergangene Zeit. Weil ich mit der Erinnerung an diese Zeit des Glücks nun nichts mehr anfangen konnte.

    Es könnte einem übel werden, wenn man sie da kämpfen sieht und weiß, wie sie in Wirklichkeit denken. Ich habe früher schon öfter zu Mama gesagt, daß Großmutter jedes Taktgefühl verliert und nur noch rücksichtslos ist, wenn es ihre

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