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Requiem für die Krawatte: Die Entbürgerlichung des Bügerlichen
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eBook216 Seiten2 Stunden

Requiem für die Krawatte: Die Entbürgerlichung des Bügerlichen

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Über dieses E-Book

Bricht ein Wertesystem auseinander? Eine brillante Analyse.

Kleinbürger versus Großbürger, Spießbürger versus Bildungsbürger– es hat den Anschein, als sei der Begriff "bürgerlich" von gestern. Doch was heißt bürgerlich wirklich? Was versteht, besser: was verstand man darunter? Bürgerlichkeit ist nicht mit dem Begriff "konservativ" zu verwechseln. Das "Requiem für die Krawatte" ist voller Dissonanzen. Die "Entbürgerlichung" macht sich auch in der Kleidung bemerkbar: Der Stil für Damen und Herren ist uneindeutiger geworden, es gibt keinen einheitlichen Dresscode mehr. Thomas Chorherr schreibt ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die Entbürgerlichung im politischen Sinn sowie im Sinn von gesellschaftlichen Wertvorstellungen und stellt die Frage: Muss das Requiem für die Krawatte angestimmt werden?
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum5. Okt. 2016
ISBN9783701745418
Requiem für die Krawatte: Die Entbürgerlichung des Bügerlichen

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    Buchvorschau

    Requiem für die Krawatte - Thomas Chorherr

    was?

    Kapitel 1

    Mit den Kroaten

    fing es an

    Es klang wie ein Scherz und war doch ernst gemeint. Immerhin kann man es in einem offiziellen Antrag an die EU-Kommission lesen, der 2015 in einem Protokoll enthalten war. Was seither damit geschah, weiß ich nicht. Vielleicht hat man es vergessen, dem Papierkorb überlassen, anderwärtig verarbeitet. Vielleicht auch übersehen. Mich hat der Antrag, der von einer Gruppe vorwiegend kroatischer EU-Abgeordneter stammte, jedenfalls positiv betroffen. Ich hätte ihm, wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre, zugestimmt.

    Die Kroaten haben beantragt, die Europäische Union solle einen »Tag der Krawatte« schaffen. Dass es gerade Kroaten waren, die solches wünschten, ist nicht verwunderlich. Immerhin ist die Krawatte im 17. Jahrhundert in Europa entstanden, jene Halszierde, die, wie es im Antrag heißt, »durch kroatische Kavallerie Verbreitung fand, mit der Zeit zu einem unverzichtbaren Bekleidungsgegenstand geworden ist und allmählich die ganze Welt erobert hat«. Die kroatischen EU-Abgeordneten wurden noch deutlicher: Sie begründeten ihren Wunsch nach einem »Tag der Krawatte« mit der Tatsache, dass »auf dessen Grundlage ein solch vornehmer Bekleidungsgegenstand als Teil des europäischen kulturellen Erbes, der europäischen Identität, der Kommunikation und der Gestaltung anerkannt wird, mit dem Ziel der Erhaltung und Stärkung der Beziehungen zwischen den Europäern und ihren Beziehungen zur ganzen Welt«.

    Über den Verbleib des Antrags der Kroaten in der EU-Kommission ist, wie gesagt, nichts bekannt. Wenn er vergessen worden sein sollte, ist es nicht schade um ihn. Wenn er nicht ernst gemeint war, umso weniger. Das Requiem für die Krawatte scheint längst angestimmt worden zu sein. Scheint, nicht ist. Die Krawatte als Zeichen bürgerlicher Lebensweise und entsprechenden Kleidungsstils ist ebenso wenig aus der Mode wie das, was man heute unter »bürgerlich« versteht. Allein, sie gehört nicht mehr zum Alltag. Mag sein, dass sie der Periode der Entbürgerlichung zum Opfer gefallen ist. Aber das Bürgerliche gibt es nach wie vor. Mag sein, dass sich seine Form geändert hat. Es hat neue Erscheinungen und Ausdrucksweisen. Es lebt indes wie eh und je.

    Dieses Buch wird sich mit der Frage befassen, was man zu Beginn des 21. Jahrhunderts unter »bürgerlich« versteht. Es wird versuchen, einer vermeintlichen Entbürgerlichung nachzuspüren. Es will klären, ob Hemdsärmel und Leibchen die Krawatte und das kleine Schwarze beim Theaterbesuch abgelöst haben. Ob der Hinweis »Das sagt man nicht« zugunsten von Formulierungen ersetzt wurde, die früher nicht einmal im Dialekt ausgesprochen worden sind. Ob wir Zeugen einer Entwicklung sind, nach der das, was man früher als Bürgertum bezeichnen konnte, seinem Inhalt nach noch Wertbeständigkeit besitzt, oder ob es zum Anachronismus geworden ist. Ob Begriffe wie Eleganz oder Anstand noch aktuell sind, oder ob die Entbürgerlichung alle Facetten des öffentlichen und privaten Lebens erreicht hat. Dieses Buch soll, so betrachtet, eine Bestandsaufnahme sein. Es soll zu klären versuchen, wieweit eine allfällige Entbürgerlichung das Bürgerliche in allen Bereichen des Lebens abgelöst hat. Und wieweit diese vermeintliche Entbürgerlichung durch eine Re-Verbürgerlichung ersetzt wird.

    Das Bürgerliche ist dabei politisch und gesellschaftlich zu verstehen. Beide Erscheinungsformen sollen in diesem Buch erläutert werden. Hinzu kommt der Unterschied zwischen »bürgerlich« und »konservativ«. Sind beide Begriffe wechselseitig zu verstehen? Und zu beachten ist noch das viel zitierte Lagerdenken. Gibt es ein bürgerliches Lager, gibt es ein solches auch heute noch?

    Es gibt Autoren, die sich ein Pauschalurteil abringen und es sich auf diese Weise leicht machen. So hat sich etwa schon 2010 die linksliberale Wiener Stadtzeitung Falter unter dem Titel »Was ist das, bürgerlich?« ausführlich mit der Frage befasst. Und hat gleich auch festgestellt, was zu sagen war: »Das Wiener Bürgertum hat seine kulturelle Überlegenheit längst verloren. Geblieben ist nur Kleinmut.«

    Der Falter glaubt zu wissen, wovon er schreibt. Es sei gestattet, ihm ausführlicher das Wort zu geben: »Die Bergsalami ist aus Frankreich, das Olivenöl aus der Toskana, das Rindsfilet aus Japan, Wagyu-Beef für 299 Euro das Kilo. Das Personal im eleganten dunklen Interieur übt sich in antiquierter Höflichkeit. Hier kann man noch den bodenlangen Zobel ausführen, ohne von Tierschützern angepöbelt zu werden, hier kann man noch ungestört von Sozialneid ein halbes Durchschnittsgehalt in Wein und Meeresfrüchte investieren. Der Meinl am Graben ist ein Haus, in dem der diskrete Charme der Bourgeoisie überall spürbar ist. Einer der wenigen Plätze, der die alte Welt des großbürgerlichen Wien widerspiegelt.«

    Der »Meinl am Graben« war dem österreichischen Fernsehen immerhin einen einstündigen Beitrag wert, der an Werbewirksamkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Aber er ist nicht das einzige Relikt des bürgerlichen Wien, soll heißen: des Bürgerlichen überhaupt, wenn man dem Falter glauben darf. Er nimmt immerhin seine Zuflucht auch beim früheren ÖVP-Bundesobmann Erhard Busek, der behauptet: »Vom Geist der Bürgerlichen des 19. Jahrhunderts ist nicht viel geblieben.« Es gebe in der modernen Stadt nur mehr wenige Orte, denen die Bürgerlichen ihren Stempel aufdrücken: das Sacher, den Musikverein, die Josefstadt. »Das Wiener Bürgertum existiert heute vor allem in den Köpfen der Konservativen«, statuiert der Falter und beruft sich auf den früheren deutschen Burgtheaterdirektor Claus Peymann. Seit dessen Ära als Chef des einstigen Tempels deutschsprachigen Theaterwesens habe eine »kompromisslose Dekonstruktion der österreichischen Identität« stattgefunden.

    Dass sich seit dem Falter-Artikel – von ihm wird noch die Rede sein – in der Frage, was man heute in Österreich unter »bürgerlich« verstehen darf, noch viel mehr geändert hat, als die Falter-Leute geglaubt haben, überrascht jene nicht, denen die soziale Entwicklung der österreichischen politischen Szene vertraut ist. Zur Illustration mag dienen, was der auf der anderen Seite des politischen Spektrums angesiedelte Andreas Unterberger nach den Wiener Gemeinderatswahlen 2015 in seinem Blog schrieb. Auszugsweise darf es zitiert werden: »Wohin ist das bürgerliche Lager entschwunden? Die Antwort mag manche verblüffen: Es gibt gar kein bürgerliches ›Lager‹. In Begriffen wie ›Lager‹ zu denken ist im heutigen Österreich ein grober Anachronismus.« Längst habe »eine totale Vermischung des bürgerlichen Lebensstils mit dem jener Welt stattgefunden, die einst als proletarisch angesehen worden ist. Von Fußballbegeisterung bis zum Würstelstand gehört alles auch irgendwie zum bürgerlichen Lebensstil. Selbst die Kleidung ist kein Unterschied mehr, seit die – soziologisch ja eigentlich eindeutig bürgerliche – 68er-Bewegung, also die der heutigen Großväter, auch hier für massive Veränderung gesorgt hat.«

    Bürgerlicher Lebensstil? Was ist das eigentlich? Noch einmal: In Spurenelementen ist er nach wie vor vorhanden, ist das Bürgerliche nicht verschwunden. Es existiert nach wie vor. Irgendwie hat man den Eindruck, dass es sogar in Bevölkerungsschichten, die man (auch darüber muss noch geschrieben werden) »bildungsfern« nennen mag, als Wunschvorstellung präsent ist.

    Noch einmal also: Ist das Bürgerliche wirklich verschwunden? Ist es nicht mehr vorhanden? Ist die Krawatte (dieses Attribut der Eleganz) nur mehr ein Merkmal einer Vergangenheit, die man vielleicht betrauert, aber als verschwunden zur Kenntnis nimmt? Oder, offen und unverblümt gefragt: Was heißt »bürgerlich« wirklich? Was hieß es, gibt es diesen Begriff überhaupt noch?

    Längst habe »eine totale Vermischung des bürgerlichen Lebensstils mit dem jener Welt stattgefunden, die einst als proletarisch angesehen worden ist«, behauptet der erwähnte Andreas Unterberger, »rechter« Denker von Gnaden. Die Entbürgerlichung hat also längst Platz gegriffen – sollte man meinen. Dass parallel dazu eine Re-Verbürgerlichung stattfindet, ist eine nahezu unmerkliche Erscheinungsform sozialer Wandlungen. Die Re-Verbürgerlichung kann aufdringlich sein. Dann stört sie. Sie kann unmerklich vor sich gehen. Dann ist sie kaum spürbar und doch gleichwohl das, was viele Menschen empfinden: Sie wünschen wieder eine Spur mehr von dem, was man – nun, sagen wir: Stil nennen könnte.

    Stil. Vielleicht auch Eleganz? Immer wieder das, was man so treffend als »G’hört sich« bezeichnen könnte? Stil ist einer jener Begriffe, die sich am schwersten definieren lassen. Gibt es einen bürgerlichen Lebensstil? Ist das, was man »bürgerlich« nennt, auch für einen bestimmten Lebensstil anwendbar? Und was ist, so betrachtet, das Gegenteil von »bürgerlich«? Noch einmal: Fragen über Fragen. Dass der Krawatte das Requiem geblasen werde, stimmt nicht. Der Eintritt in das – sagen wir: bürgerliche – Leben vollzieht sich neuerdings, wie sich feststellen lässt, in einer Spur dessen, was man auch heute noch als Eleganz bezeichnen könnte. Man zieht sich »anständig« an, was immer das auch heißen mag.

    Diese vermeintliche Re-Verbürgerlichung, ob laut oder leise, ist allenthalben zu bemerken. »Die roten Bürger« hieß schon vor etwa eineinhalb Jahrzehnten ein Buch, in dem ich mich mit dem Austro-Sozialismus befasste. Die Sozialdemokraten im Nadelstreif – das war das, was zu Beginn des dritten Jahrtausends die politische Werteskala füllte. Noch waren zwei sogenannte Großparteien ausschlaggebend, der »Rest« waren Kleinparteien. In den letzten Jahren ist dann die FPÖ zur Mittelpartei herangewachsen, parallel dazu wurden die einstigen großen zu mittleren Fraktionen.

    Dieser Wandel in der politischen Landschaft ist seither weitergegangen, sein Ende ist noch nicht abzusehen. Bei der letzten Bundespräsidentenwahl waren erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg nicht Kandidaten der Regierungsparteien unter den stimmenstärksten, sondern solche der Opposition. Das Tor zur Dritten Republik war aufgestoßen. Die Zeit, da es eine christlichsoziale und eine sozialdemokratische Partei gab, ist Geschichte. Das politische Feld ist heute breiter. »Rote« im Nadelstreif sind nichts Außergewöhnliches mehr.

    Entbürgerlichung, Re-Verbürgerlichung? Viele Leute sind der Meinung, zu Beginn des dritten Jahrtausends habe sich mehr geändert als in den beiden vorher. Vieles, wenn schon nicht alles, ist anders, als es war. Auch der viel diskutierte Begriff der Elite ist ein neuer geworden. Gleichzeitig bricht sich der Egalitarismus Bahn – der Gedanke allgemeiner politischer Gleichheit.

    Wir befinden uns in einer Welle der – wessen? – der Schlamperei, der Nonchalance, der Beliebigkeit. Oder doch der Entbürgerlichung, der die von offenbar vielen gewünschte Re-Verbürgerlichung entgegentritt?

    Es ist unvermeidlich, hier einen Schritt ins Politische zu tun. In eine Ära, da das Bürgerliche dem vierten Stand, den Arbeitern, fremd war. Bürgerliche waren pfui. »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«, lautete die Devise. Die Proletarier sind eine politische Kategorie geworden – zum Unterschied von jenen, die gerne diffamierend als »Proleten« bezeichnet werden. Der Unterschied ist gewaltig. Proletarier, Proleten, Prolos – Begriffe, die in diesem Buch noch ausführlich behandelt werden. Begriffe auch, die der bürgerlichen Sprache entstammen und die im Verlauf der Entbürgerlichung Bedeutungsänderungen erlebten. »Prolet« ist ein Schimpfwort und wird eines bleiben, auch wenn es sich um Menschen aus höheren sozialen Schichten handelt. Proletarier – gibt es diese politische Kategorie überhaupt noch? Oder hat die Re-Verbürgerlichung längst auch diese soziale Schicht umfasst? Die Entbürgerlichung jedenfalls spielt sich mehr denn je auch in der Soziolinguistik ab. Auch dies wird dieses Buch nachweisen.

    Wir haben die Schwelle von einer Zeit, da das Bürgerliche nicht so außergewöhnlich war, wie es heute scheint (wohlgemerkt: scheint, nicht ist), in eine Epoche überschritten, da es bei vielen in die falsche Kehle gerät. Bürgerlich – ist das wirklich von vorgestern? Ist das wirklich »ultrakonservativ«? Entbürgerlichung kann aufdringlich sein. Dann wird es zur Manifestation einer politischen Kontrahaltung.

    In Griechenland ist Alexis Tsipras mit seiner Syriza-Partei der Beweis dafür. Die Garderobe ist Deckmantel für die politische Überzeugung. Tsipras und Genossen waren Außenseiter, sogar Außenseiter der sozialdemokratischen Familie. Sie bildeten lange Zeit einen Kontrapunkt zu dem, was man sich als politische Gruppierung in einem Gesamtbild vorstellt, das keine Abweichungen akzeptiert, weder links noch rechts. Griechenland suchte und fand mit Tsipras eine neue Politik. Die Syriza-Abgeordneten gaben sich ungewöhnlich. Sie trugen offene Hemdkrägen und wiesen dies als politische Demonstration vor. Dass ein Finanzminister mit dem Motorrad ins Parlament fuhr und seine Akten in einem Rucksack trug, daran hatten sich die Wähler gewöhnt. Sie entschieden sich damals mit Mehrheit für das Ungewöhnliche. Aber nicht lange. Irgendwie mutete der neue Habitus an wie eine Provokation. So war er auch gemeint.

    Die Entbürgerlichung der Gesellschaft wird vielfach zu Recht als eine solche Provokation verstanden. »Das sagt man nicht« ist fast zu einer gesellschaftlichen Floskel geworden. So betrachtet, könnte man die Entbürgerlichung auch als Vulgarisierung bezeichnen. »Das sagt man nicht«, hieß es einst. Das Vokabular hat sich geändert. Man darf heute Wörter verwenden, die auszusprechen man früher nicht gewagt hat. Die Vulgarisierung ist gar zur Brutalisierung geworden. In der Tat: Der Falter hat recht. Die heimische Kultur ist eine »kompromisslose Dekonstruktion der österreichischen Identität« geworden. Quod erat demonstrandum.

    Kapitel 2

    Die Lager –

    nicht militärisch gemeint

    Am 12. März 1945, knapp vor zwölf Uhr Mittag, unterbrach der »Kuckuck« die Sendungen des »Großdeutschen Rundfunks« in Wien. Ich saß in einer der »Restschulen«, in die man die in Wien verbliebenen Gymnasiasten verlagert hatte; die überwiegende Mehrzahl war entweder mit der »Kinderlandverschickung« oder anderwärts weggebracht worden. Der »Kuckuck«, das war jenes Signal, das anzeigte, dass die normalen Sendungen beendet wurden, um allfälligen feindlichen Bombern keine Kontaktmöglichkeit zu geben.

    Wenn der »Kuckuck« rief, begannen die Leute zu rennen. Sie suchten einen bombensicheren Unterstand. Ich lief von der Hainburger Straße im dritten Bezirk in die Postgasse, wo mein Vater – der, weil mit einer sogenannten Halbjüdin, meiner Mutter, verheiratet sowie aus Altersgründen nicht felddiensttauglich war – als Plakatzeichner in der Polizeidirektion beschäftigt war. Das Haus aus dem Mittelalter war tief unterkellert. Wir alle meinten, dort sicher zu sein.

    Wir waren es. Das Licht flackerte und verlöschte gelegentlich, Bombeneinschläge spürte man sogar im zweiten Kellergeschoß, aber es ging vorüber, so wie die anderen schweren Bombenangriffe im Herbst 1944 und Frühwinter 1945. Und dann kam »Entwarnung« – und ich, der Zwölfjährige, erklomm das Tageslicht.

    Um es kurz zu machen: Der 12. März 1945 war der schwerste amerikanische Bombenangriff, der die Wiener Innenstadt traf. Man hat uns später erzählt, dass das Datum bewusst für den Vortag des 13. März gewählt worden war, um uns Österreichern – und den Wienern zumal – noch einmal in Erinnerung zu rufen, dass am 13. März 1938 der »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich verkündet worden war, mit allem, was daraus folgte.

    Der 12. März 1945 zeigte, was gemeint war. Die Ringstraße lag in Trümmern. Die Oper war eine rauchende Ruine, das Burgtheater schwer beschädigt, die Universität ein teilweiser Trümmerhaufen, die meisten anderen Bauten des einstigen Prachtboulevards schwer zerbombt. Am Vorabend waren sie noch heil gewesen.

    Die Amerikaner hatten demonstriert, was ihre Bomber zu leisten in der Lage waren. Als im Jahre 2015 das 150-jährige Jubiläum der Wiener Ringstraße gefeiert wurde, habe ich mich mit vielen anderen Altersgenossen an diesen 12. März erinnert. War es ein Zufall, dass die US-Bomben ausgerechnet alle jene Gebäude zerstörten, die hundertfünfzig Jahre vorher als Beweis dessen dienen sollten, was das Bürgertum – eigentlich Großbürgertum – für diese Stadt leisten konnte?

    »Es ist Mein Wille«, leitete Kaiser Franz Joseph 1857 seine »allerhöchste« Anordnung ein und verlangte die Umfriedung der Innenstadt durch einen Gürtel, der die City von den Vorstädten unterscheiden sollte. Unterscheiden musste. Die Innenstadt – das waren zumeist die Hofburg und die Adelspaläste. Die neue Ringstraße

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