Männer, Mythen und Mensuren: Geschichte der Corps und Burschenschaften
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Über dieses E-Book
Geschrieben ist das vorliegende Buch von einem nach seinem Selbstverständnis kritischen Fachhistoriker und überzeugten Corpsstudenten. "Männer, Mythen und Mensuren" ist weder als eine Anklagenoch als eine Verteidigungsschrift konzipiert. Das gründlich recherchierte und gleichzeitig gut lesbare Buch wendet sich an alle historisch Interessierten, die mehr über die Geschichte der Corps und Burschenschaften in Deutschland und seinen Nachbarländern erfahren möchten.
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Buchvorschau
Männer, Mythen und Mensuren - Wolfgang Wippermann
Personenregister
»Satisfaktion«
Einleitung
»Satisfaktion« hieß ein 2007 erstmals ausgestrahlter Tatort-Krimi, ein trotz seines ungewöhnlichen Titels beim Publikum außergewöhnlich erfolgreicher Film, erreichte er doch eine Einschaltquote von 22 Prozent. Warum dieser Erfolg? Lag das nur an der herausragenden Schauspielkunst von Jan Josef Liefers und Axel Prahl, welche die Rollen des »Professors Karl-Friedrich Boerne« und des etwas kantigen »Kommissars Frank Thiel« spielen? Ganz offensichtlich nicht!
Der Grund hierfür war einmal das Milieu und zum anderen die Handlung des Krimis. Handlung wie Milieu fielen nämlich aus dem Rahmen. Der Tatort spielt in der corpsstudentischen Welt, die vielen Zuschauern völlig fremd zu sein scheint, und der obligatorische Mörder war nicht (wie in Reinhard Meys Lied) der Gärtner, sondern ein Corpsstudent, der sein Opfer erschossen hatte – allerdings nicht mit einem modernen Revolver, sondern mit einer antiquierten Duellpistole.
Außergewöhnlich ist schließlich auch die Aufdeckung der Tat durch einen Corpsstudenten. Gemeint ist »Professor Karl-Friedrich Boerne«, der sich in diesem »Tatort« als Corpsstudent zu erkennen gibt. Boerne geht in Couleur¹, also mit Band und Mütze, auf das Corpshaus des studentischen Täters, um ihn dort des Mordes zu überführen. Dabei wendet Boerne spezifisch corpsstudentische Methoden an. Er provoziert den Mörder so lange, bis dieser von Boerne »Satisfaktion« verlangt. Gemeint ist die Austragung eines Duells, in dem es um die »Ehre« und die Unschuld des mörderischen Corpsstudenten geht. Boernes Konzept geht auf. Der Mörder wird von ihm schwer verletzt und gesteht seine schändliche Tat.
Das ist fantastisch. Doch es kommt noch besser. Die »Schmisse«² genannten Verwundungen, die Boerne bei der Mensur mit dem Mörder erhalten hat, werden von seiner Assistentin Haller, genannt »Alberich«, mit 13 Stichen genäht. Das ist schmerzhaft. Doch nicht für den tapferen Corpsstudenten Boerne. »Irgendwie war das toll!« erklärt er strahlend. Darauf »Alberich«: »Ihr Männer habt doch alle einen Knall!«
All dies finde ich persönlich einfach toll. Den 8 Millionen Zuschauern des Tatorts »Satisfaktion« scheint es genauso gegangen zu sein. Auch sie haben sich von den im Tatort erzählten Mythen über die Mensuren austragenden Männer schon deshalb begeistern lassen, weil sie über die ihnen völlig fremd gewordene Welt der Corpsstudenten und Burschenschafter kaum etwas wissen. Und vieles von dem, was sie wissen oder zu wissen meinen, ist falsch und vorurteilshaft. In ihren Vorurteilen sind sie zudem durch die im Tatort erzählten Geschichten bestärkt worden. Dass es sich dabei aber auch um Mythen, das heißt um unbeglaubigte Erzählungen handelt, können und wollen sie nicht erkennen.³ Dazu hat auch das beigetragen, was Filmhistoriker die »Macht der Bilder« nennen. Heutige Konsumenten von Kino- und Fernsehfilmen halten nämlich fast alles für wahr, was sie auf den Kinoleinwänden und Fernsehschirmen sehen.
Hier setze ich mit dem vorliegenden Buch über »Männer, Mythen und Mensuren« ein. Es zielt auf eine Überwindung der im Film (und in Teilen der Sekundärliteratur) verbreiteten Vorurteile über die ständig nur saufenden, kotzenden und blutige Mensuren fechtenden Corpsstudenten ab. Den im Tatort »Satisfaktion« geschmähten Corpsstudenten soll Satisfaktion (= Genugtuung) gewährt werden. Bei den Corps und Burschenschaften handelt es sich nicht, wie von »Professor Boerne« mit Recht bemerkt wird, um »dieselbe braune Sauce«.
Zu diesem Ziel und Zweck wird die Geschichte der deutschen Corps und Burschenschaften erzählt. Dabei müssen die Fakten von den Fiktionen getrennt werden. Dies ist jedoch nicht immer so einfach wie vielfach angenommen wird. Der Historiker kann nämlich nicht alles so darstellen, »wie es eigentlich gewesen ist« (Leopold von Ranke). Er sollte immer bedenken, dass die »Menschen ihre eigene Geschichte machen« (Karl Marx). Dies aber, um Marx’ Satz vollständig zu zitieren, »nicht aus freien Stücken, sondern unter unmittelbar vorgefundenen gegebenen und überlieferten Umständen.« Dazu zählte Marx »die Traditionen aller toten Geschlechter«, die »wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden« lasten. Was wollte Marx uns Historikern damit sagen? Meines Erachtens Folgendes: Bei aller Verpflichtung zur Objektivität sollten Historiker immer ihre Standortbedingtheit bedenken und ihre Interessen offenlegen. Geschichte sollte aus kritischer Distanz und mit verständnisvoller Empathie geschrieben werden.
Was bedeutet das für mich und das vorliegende Buch? Geschrieben ist es in der aufklärerischen Absicht, etwas aus der Geschichte für die Gegenwart zu lernen. Dies von einem seinem Selbstverständnis nach kritischen Historiker und überzeugten Corpsstudenten. Damit aus der Distanz des Historikers, mit der Empathie des Corpsstudenten und mit dem Ziel, einen Mittelweg zwischen Distanz und Empathie zu finden.
Diese meine doppelte Befangenheit als Historiker und Corpsstudent hat sowohl Vorteile wie Nachteile. Vorteilhaft ist, dass mir die den Zuschauern des »Tatorts« völlig fremde Welt der Corpsstudenten nicht fremd, sondern sehr vertraut war. Ich musste auch nicht in sie eindringen, ich war schon lange drin.
Genauer gesagt seit meinem Beitritt zum Corps Hildeso-Guestphalia Göttingen. Das war im Sommersemester 1964. Als angehender Geschichtsstudent interessierte ich mich besonders für das, was damals immer so verschwommen als »jüngste Vergangenheit« bezeichnet wurde. Gemeint war die Zeit des Faschismus.⁴ Sie galt aber als »bewältigt«. Doch das überzeugte mich nicht. Wie meine Eltern und Lehrer habe ich auch meine älteren Corpsbrüder inquisitorisch nach ihrem Verhalten im sogenannten »Dritten Reich« gefragt. Im Gegensatz zu meinen Eltern und Lehrern haben mir meine Corpsbrüder aber den Diskurs über die faschistische Vergangenheit nicht verweigert. Sie haben mich sogar dazu ermuntert, der Sache weiter auf den Grund zu gehen und auch die Geschichte meines Corps zu erforschen. Ich erhielt den Zugang zum Archiv meines und auch einiger anderer Corps. Außerdem wurden mir sehr persönliche Aufzeichnungen und Erinnerungen zur Verfügung gestellt. Das war sehr lehrreich. Doch am meisten lernte ich aus den Gesprächen mit den Corpsstudenten, die die Zeit miterlebt hatten. Gleichwohl habe ich die Berichte dieser Zeitzeugen immer mit dem abgeglichen, was ich in den Seminaren meiner Geschichtsprofessoren und aus ihren Büchern gelernt habe. Außerdem habe ich natürlich die insgesamt überraschend wenigen wirklich guten Arbeiten über die Geschichte der deutschen Corps und Burschenschaften herangezogen.⁵
So viel zur Entstehungsgeschichte des vorliegenden Buches und den Zielen und Interessen seines Autors. Jetzt einige Bemerkungen zur Methode, den Quellen und den Aufbau der Arbeit, bei der es sich weder um eine Anklage- noch um eine Verteidigungsschrift handelt.
Die vorliegende Geschichte der deutschen Corps und Burschenschaften wurde unter Verwendung von schriftlichen und Bildquellen geschrieben, die mit Hilfe von sowohl politik- wie kulturgeschichtlichen Methoden interpretiert wurden. Unterteilt ist das Buch in drei Kapitel. Im ersten geht es um die Entstehung und Struktur, im zweiten Kapitel um den Habitus und die Kultur und im dritten werden Niedergang und Neuanfang der deutschen Corps und Burschenschaften beschrieben.
Dies soll etwas näher erläutert werden. Zunächst zum Inhalt des ersten Kapitels: Die Vorläufer der Corps und Burschenschaften waren die »nationes«, die schon im Mittelalter an einigen europäischen Universitäten (vor allem Bologna) gebildet worden sind. Ihnen gehörten Studenten an, die »bursarii« genannt wurden, weil sie für ihren Aufenthalt in den »bursae« genannten Wohnheimen einen bestimmten Betrag aus ihrer »bursa« (= Geldbeutel) entrichten mussten.
Die Corps sind aus den alten »nationes«, die in Deutschland Landsmannschaften genannt wurden, und den neuen, im ausgehenden 18. Jahrhundert entstandenen studentischen Freimaurerorden hervorgegangen. Es handelte sich um eine Mischung aus alten Landsmannschaften und neuen Orden. Von den alten Landsmannschaften übernommen wurden die Bezeichnungen nach Staaten, Städten und Stämmen sowie nach Ländern und Regionen. Von den Orden übernommen wurde die innere Gliederung. Den Füchsen, Burschen und Senioren der Corps entsprachen die Lehrlinge, Gesellen und Meister der Orden. Ebenfalls von den Orden übernommen wurde die demokratische Organisationsstruktur: Bund, Convent und Senior; sowie die Ideologie: Erziehungsgedanke, Humanismus und Toleranz.
Die Burschenschaften wollen aus der 1815 gebildeten und 1819 verbotenen (Ur-) Burschenschaft entstanden sein. In scharfer Abgrenzung zu den älteren Corps verfolgten sie dezidiert politische Ziele. Im 19. Jahrhundert traten sie für die Einheit Deutschlands und die Freiheit der, aber keineswegs aller Deutschen ein. Sie wandten sich gegen alles Fremde und die meisten Fremden. Vor allem gegen Franzosen und Polen, aber auch gegen Juden. Wie die heutigen Populisten waren sie gegen »die da oben« und gegen »die anderen«. Sie waren Revolutionäre und Rassisten zugleich.
Die heutigen Corps und Burschenschaften verfügen über eine weitgehend gleiche – demokratische – Organisationsstruktur: Bund, Convent, Senior auf lokaler Ebene – Kösener/Weinheimer und Deutsche Burschenschaft auf überregionaler Ebene. Beide – Corps wie Burschenschaften – haben aber im Laufe ihrer Geschichte ihre Ideale und Prinzipien missachtet und verraten. Den heutigen Corps und Burschenschaften gehören keineswegs nur Studenten, sondern auch schon im Berufsleben stehende Männer an. Sie werden »Alte Herren« genannt. Ihnen stehen die sogenannten »Aktiven« gegenüber.
Corps und Burschenschaften haben sich nicht nur untereinander, sondern auch von den anderen studentischen Verbindungen abgegrenzt – von den konfessionellen, jüdischen und weiblichen Korporationen. Die heutigen Verbindungen können in schlagende und nichtschlagende eingeteilt werden. Zu den schlagenden zählen die Corps sowie die im Coburger Convent zusammengeschlossenen Landsmannschaften und Turnerschaften. Die konfessionellen Verbindungen tragen nach wie vor keine Mensuren aus. Burschenschafter können, müssen aber nicht mehr fechten.
Im zweiten Kapitel geht es um den Habitus und die Kultur der deutschen Corpsstudenten und Burschenschafter. Corpsstudenten und Burschenschafter sind Männer, die ihre – brutale und sentimentale – Männlichkeit durch die Austragung von Duellen und Mensuren, das Saufen und Singen sowie ihr sexuelles Verhalten unter Beweis stellen wollen. Durch ihre Kleidung und Sprache, das Halten von Hunden und das Rauchen von Pfeifen sowie das Wohnen »auf Häusern« und den Besuch besonderer Kneipen haben sich die Corpsstudenten und Burschenschafter von ihren Mitbürgern und nichtkorporierten Kommilitonen unterschieden. Sie haben so etwas wie einen kulturgeschichtlichen Sonderweg eingeschlagen.
Im dritten Kapitel wird der Niedergang der deutschen Corps und Burschenschaften beschrieben. Er begann bereits im 19. Jahrhundert. Durch ihre Ablehnung der Demokratie von Weimar haben die Corps und Burschenschaften die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur begünstigt. Im Dritten Reich haben sich die Corps und Burschenschaften gleichschalten lassen. Dennoch hat es auf der lokalen Ebene auch Proteste gegen die nationalsozialistische Hochschulpolitik gegeben. Einige der in nationalsozialistische »Kameradschaften« umgewandelten Corps und Burschenschaften sind in klandestine Corps und Burschenschaften umfunktioniert worden. Nicht wenige ihrer Mitglieder haben trotz Verbots Couleur getragen und Mensuren ausgefochten.
Nach und zum Teil schon vor dem Ende des Dritten Reiches ist es zu einem Neuanfang gekommen. Dies gegen den Willen der siegreichen Alliierten und der alten und im Amt belassenen Professoren. Die vielfach beklagte Restauration der Corps, Burschenschaften (und der übrigen Verbindungen) kann auch als Opposition gedeutet werden. Das restaurierte deutsche Verbindungswesen geriet aber mit und nach der Studentenrevolte von 1968 in eine Krise. Die Mitgliederzahlen der einzelnen Corps, Burschenschaften und sonstigen Verbindungen gingen dramatisch zurück. Zu einem leichten Anstieg der Mitgliederzahlen ist es nach der Wiedervereinigung gekommen. Bedingt war er durch die Neu- oder Wiedergründung solcher Verbindungen an den ostdeutschen Universitäten. Doch das täuscht über ihre wahre Stärke hinweg. Sie sind zu sozialen Randgruppen geworden. Ihr prozentualer Anteil an der gesamten Studentenschaft liegt heute im Promillebereich. Abschließend wird noch ein Blick auf die Geschichte der österreichischen Corps und Burschenschaften sowie der in Österreich besonders starken katholischen Verbindungen geworfen. Dies geschieht unter der etwas polemischen, aber passenden Überschrift »Braun und glücklich«.
In der Zusammenfassung wird folgendes Fazit gezogen:
Die Geschichte der deutschen Corps und Burschenschaften wies wie der römische Gott Janus zwei Gesichter auf – ein progressives und ein reaktionäres. Aus den Rebellen des Vormärz sind die Untertanen des Kaiserreiches geworden. Viele Corpsstudenten und Burschenschafter haben die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur begünstigt; einige wenige haben sie aber auch bekämpft. Der heutigen Marginalisierung aller Verbindungen steht die Radikalisierung einiger rechter Burschenschaften gegenüber.
Sehr unterschiedlich bewertet werden Habitus und Kultur der deutschen Corpsstudenten und Burschenschafter. Früher bewundert, heute aber scharf kritisiert wird, dass sie ihre Männlichkeit durch die Austragung von Duellen und Mensuren, das exzessive Saufen und eine besondere Kleidung und Sprache unter Beweis stellen.
Tatsächlich gehörten den Corps und Burschenschaften ausschließlich Männer an. Sie kamen aus völlig unterschiedlichen politischen Lagern. Es gab Konservative wie Otto von Bismarck und Sozialisten wie Karl Marx, Ferdinand Lassalle und Wilhelm Liebknecht; Nationalsozialisten wie Ernst Kaltenbrunner und Widerstandskämpfer wie Rudolf Breitscheid und Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg.
In alldem repräsentierten die Corps und Burschenschaften die positiven und negativen Aspekte der neueren deutschen Geschichte. Wir Deutschen haben eben, um ein Wort des früheren Bundespräsidenten Gustav Heinemann zu zitieren, »ein schwieriges Vaterland.«
Mit Nachdruck verweise ich auf die im Anhang zu findenden Kurzbiografien von insgesamt 21 Corpsstudenten und Burschenschaftern. Sie gehörten unterschiedlichen Parteien und Richtungen an und haben in wiederum unterschiedlicher Weise die Geschichte der deutschen Corps und Burschenschaften gestaltet und sind von ihr geprägt worden. Dabei schlagen wir einen weiten Bogen vom Präsidenten des ersten deutschen Parlaments Heinrich von Gagern bis zum Landeshauptmann von Kärnten Jörg Haider.
1. »Burschen heraus«
Entstehung und Aufstieg
»Burschen heraus, lasset es schallen von Haus zu Haus …« heißt es in einem auch heute noch gern und oft gesungenen Lied. Wer war mit diesen »Burschen« gemeint? Zu was wurden sie herausgerufen? Was haben sie getan? Sind sie ob ihres Tuns und Handelns zu loben oder zu tadeln? Diese und einige andere Fragen sollen in diesem Kapitel beantwortet werden. Wir beginnen mit der ersten Frage: Wer waren die im Lied erwähnten »Burschen«?
Bursen und Nationen
Mit dem im Lied erwähnten »Burschen« waren weder die Handwerksburschen noch die ebenfalls Burschen genannten Diener der Offiziere, sondern deutsche Studenten gemeint, die sich seit dem ausgehenden Mittelalter nach dem Vorbild der italienischen »bursarii« Burschen nannten. Die ersten »bursarii« hat es an der Universität Bologna gegeben. Warum hier?
Weil die 1088 gegründete Universität Bologna nicht nur die älteste europäische Universität ist, sie kann auch als erste freie Universität bezeichnet werden.⁶ Ihre besondere Rechtsstellung verdankt sie Kaiser Friedrich Barbarossa. Denn der hat die Universität Bologna im Jahr 1155 mit sehr weitreichenden Privilegien ausgestattet. Sie unterstand weder dem Papst noch anderen geistlichen und weltlichen Gewalten. Die Universität wurde nicht von staatlichen oder kommunalen Beamten, sondern in erster Linie von den Studenten finanziert und verwaltet. Sie waren es, die in Zusammenarbeit mit den Professoren den Rektor der Universität wählten. Die Professoren wurden nicht vom Staat, sondern von ihren Studenten bezahlt.
Die Studenten waren nach ihrer regionalen Herkunft (und nicht nach ihrem sozialen Stand) in verschiedene »nationes« eingeteilt. Sie lebten und arbeiteten in Wohnheimen. Für dieses Recht mussten sie zahlen. Das dazu notwendige Geld mussten sie ihrem »bursa« entnehmen. Daher wurden diese studentischen Wohnheime »bursae« und die zahlungskräftigen Studenten selber »bursarii« genannt.
Die meisten anderen im Mittelalter auf dem Territorium des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gegründeten Universitäten waren nach dem, wie die Universitätshistoriker sagen, »Modell Bologna« errichtet.⁷ Insgesamt waren es 16 Universitäten. Sie unterschieden sich von den anderen (insgesamt 40) europäischen Universitäten, die nach dem »Modell Paris« konstruiert waren. Diese unterstanden dem Papst, waren der kirchlichen Gerichtsbarkeit unterworfen und verfügten über keine rechtliche Autonomie. Es handelte sich eher um kirchliche Hochschulen als um freie weltliche Universitäten.
Nach und wegen der Reformation ist es zu einer grundlegenden Veränderung der europäischen Hochschullandschaft gekommen.⁸ Dies gilt vor allem in quantitativer Hinsicht. Die Zahl der europäischen Universitäten wuchs von 66 im Jahr 1500 auf 142 im Jahr 1789. Die Universitäten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, deren Zahl von 16 auf 34 gestiegen war, unterschieden sich jetzt im Hinblick auf die Konfession ihrer Gründer und Angehörigen. Zu den protestantischen Universitäten gehörten: Marburg 1527, Königsberg 1544, Jena 1558, Gießen 1607, Rinteln 1621, Kiel 1665, Halle 1694. Zu den katholischen Universitäten gehörten: Würzburg 1582, Graz 1582, Paderborn 1614.
Bei den protestantischen Universitäten handelte es sich um Staatsanstalten mit einer gewissen korporativen Selbständigkeit. Gegründet (und benannt) waren sie von den Landesfürsten, weil sie mehr und besser ausgebildete Juristen, Lehrer, Mediziner und Pastoren benötigten. Die Landesfürsten übten zugleich das Amt eines Obersten Bischofs aus. Für den Aufbau der Universitäten stellten sie die Gelder und Immobilien zur Verfügung, die sie durch die Säkularisierung des Kirchenbesitzes gewonnen hatten.
Außerdem erhielten die zu Staatsbeamten gewordenen Professoren eine staatliche Besoldung. Sie war aber in der Regel äußerst gering. Daher waren die meisten Professoren auf die finanzielle Beihilfe ihrer Studenten angewiesen. Dies in Gestalt der sogenannten Hörergelder, die die Studenten an die Professoren entrichten mussten. Einige Professoren haben ihre Gehälter noch dadurch aufgebessert, indem sie Dissertationen verfassten, mit denen die zahlungskräftigen Studenten dann von ebendiesen Professoren promoviert wurden. Diese Praxis kann man schon als kriminell bezeichnen. Rechtlich legal, aber moralisch anrüchig war, dass sich die Rechtsprofessoren durch die Anfertigung von Rechtsgutachten ein nicht unbeträchtliches finanzielles Zubrot verdienten. Besonders gut bezahlt wurden übrigens die Gutachten, die deutsche Professoren in der frühen Neuzeit für die zahlreichen Hexenprozesse angefertigt haben. Mit diesen professoralen Gutachten haben dann die zuständigen Richter die der Hexerei angeklagten Frauen zum Tode verurteilt. Das war Mord. Die professoralen Gutachter haben Beihilfe zum Mord geleistet.
Fragwürdig war die an einigen Universitäten noch im 19. Jahrhundert ausgeübte Sitte, Doktoranden »in absentia« zu promovieren. Der zukünftige Doktor musste zu diesem Zweck nicht an der entsprechenden Universität erscheinen und sich einer wie immer gearteten Prüfung unterziehen. Es reichte, die Dissertation mit der Post an die betreffende Universität zu senden, um gegen die Zahlung eines nicht unerheblichen Prüfungshonorars das begehrte Doktor-Diplom zu erhalten. Zu diesen in-absentia-Doktoren gehörte auch Karl Marx –