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Niemand ist ein Zigeuner: Zur Ächtung eines europäischen Vorurteils
Niemand ist ein Zigeuner: Zur Ächtung eines europäischen Vorurteils
Niemand ist ein Zigeuner: Zur Ächtung eines europäischen Vorurteils
eBook261 Seiten3 Stunden

Niemand ist ein Zigeuner: Zur Ächtung eines europäischen Vorurteils

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Über dieses E-Book

Tief sitzen die Vorurteile gegen die Menschen, die man früher »Zigeuner« nannte. Nicht nur in Deutschland, in ganz Europa werden Sinti und Roma ausgegrenzt und diskriminiert, oft sogar verfolgt. Mit der Armutszuwanderung aus Südosteuropa wurde das alte Feindbild auch hierzulande wiederbelebt.

Der Historiker Wolfgang Wippermann geht den Vorurteilen auf den Grund und differenziert religiöse, soziale, romantisierende und rassistische Motive. Zusammen bilden sie, so erklärt er, eine eigenständige Ideologie: den Antiziganismus. Der entsteht nicht etwa im Bodensatz der Gesellschaft oder ist historisch erledigt, diese Ideologie ist nach wie vor politisch gewollt: Sie dient der Abgrenzung vom vermeintlich Fremden und der Legitimation von Herrschaft.

Wippermann fordert endlich Gerechtigkeit und gesellschaftliche Anerkennung für Sinti und Roma. Denn diese fortdauernde Diskriminierung verletzt den europäischen Wertekanon und muss genauso geächtet werden, wie es der Antisemitismus wird. Es wird Zeit, dass Europa begreift: Niemand ist ein Zigeuner!
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Körber
Erscheinungsdatum25. März 2015
ISBN9783896844842
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    Buchvorschau

    Niemand ist ein Zigeuner - Wolfgang Wippermann

    »Wäsche weg! Die Zigeuner kommen!«

    Einleitung

    »Wäsche weg! Die Zigeuner kommen!« – rief meine Großmutter 1951 aufgeregt aus, als sich eine Gruppe von Roma unserem Haus näherte. Meine Großmutter nahm die noch feuchte Wäsche von der Leine und befahl mir, sofort ins Haus zu gehen. Folgsam, wie ich im Alter von sechs Jahren noch war, gehorchte ich meiner geliebten Großmutter, fragte sie aber, was das alles solle. Flüsternd und sich sogar bekreuzigend teilte sie mir mit, dass »die Zigeuner« furchtbare Menschen seien, die keineswegs nur Wäsche, sondern auch kleine Kinder stehlen würden. Dies weckte meine Neugier. In der Hoffnung, durch die »Zigeuner« aus der Herrschaft meines überaus strengen Elternhauses und vom gerade begonnenen Schuldienst befreit zu werden, lief ich ihnen nach. Leider vergeblich. Die »Zigeuner« haben mich nicht gestohlen. Sie zogen an mir vorbei. Ich habe ihnen nur sehnsüchtig und voller Neid auf ihre freie Lebensweise nachschauen können.

    Mit dieser Geschichte aus meiner Kindheit habe ich beschrieben, was ich Jahre später als Historiker erforscht habe – die Antiziganismus genannte Feindschaft gegenüber jenen, wie sie sich selber nennen, Roma bzw. Sinti und Roma. Sie wurzelt in einer Mischung aus Angst und Neid und besteht aus Vorurteilen der Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, die von den Roma »gadsche« genannt werden.

    An erster Stelle ist die Namensgebung zu nennen. Denn diese ist falsch und pejorativ. Roma sind keine »Zigeuner«. Dabei handelt es sich um eine Fremdbezeichnung, eine Zuschreibung, die negative Assoziationen auslöst und auslösen soll. Im Deutschen bezieht sie sich auf die Vorstellung, dass Roma ständig herumziehen und Gaunereien begehen würden, das Wort »Zigeuner« bedeutet eigentlich »Zieh-Gauner«. Obwohl dies falsch ist, war das Vorurteil für meine Großmutter eine Tatsache. Sie glaubte fest daran, dass »Zigeuner« vor allem kleine Kinder stehlen würden. Das sich hartnäckig haltende Vorurteil, wonach »Zigeuner« notorische Diebe und Kinderräuber seien, ist das zentrale Element des sozialen Antiziganismus.

    Während dies keiner weiteren Erläuterung bedarf, bleibt jedoch zu erklären, warum sich meine Großmutter bekreuzigte, um sich und mich vor den »Zigeunern« zu schützen. Weil sie in den »Zigeunern« teuflische Wesen erblicken wollte, die sich mit dem Teufel verbündet hätten, um von ihm seine magischen Fähigkeiten zu erlernen. Ich sehe in der Verteufelung der Roma das zentrale Element des wiederum von mir so genannten religiösen Antiziganismus.

    Zum religiösen und sozialen Antiziganismus kommt ein weiteres Vorurteil. Es handelt sich dabei um den auch von mir als Jungen geteilten Neid auf das angeblich »lustige Zigeunerleben« der Roma, die ständig herumziehen dürfen, statt sich wie alle anderen von anständiger und ehrlicher Arbeit zu ernähren – und ihre Kinder in Schulen zu schicken, wo sie zu dieser anständigen und ehrlichen Arbeit erzogen werden. Die Forschung bezeichnet dieses scheinbar positive Vorurteil als romantischen Antiziganismus.

    Diese Erklärungen und Differenzierungen des Antiziganismus sind sicherlich richtig und wichtig, erklären aber nicht, warum diese Vorurteile gegenüber allen Roma bestehen. Meine Großmutter und ich kannten keinen einzigen und haben auch mit keinem der Roma gesprochen, die an unserem Haus vorbeizogen. Dennoch waren wir vom Wahrheitsgehalt der erwähnten Vorurteile gegenüber »den Zigeunern« überzeugt. Warum? Weil wir wie die meisten Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft davon überzeugt waren, dass alle Roma von Natur aus die gleichen negativen Eigenschaften aufwiesen. Dies ist eine genuin rassistische Denkungsart. Ich bezeichne das als rassistischen Antiziganismus, der den sozialen, religiösen und romantisierenden Antiziganismus ergänzt, aber keineswegs verdrängt hat.

    Antiziganismus ist also eine Ideologie, die aus sozialen, religiösen, romantisierenden und rassistischen Elementen besteht und auf Vorurteilen über die diebischen, faulen, teuflischen und »rassisch minderwertigen« Roma beruht. Diese Ideologie bzw. dieses »falsche Bewusstsein« ist aber tief in der Mentalität der Mehrheitsgesellschaft verwurzelt und von Generation zu Generation tradiert worden. Die Ängste und Vorurteile gegenüber den Roma wurden von den Herrschenden aufgegriffen und instrumentalisiert, um von sozialen Missständen ablenken und politische Ziele rechtfertigen zu können. Roma wurden nicht nur zu Sündenböcken gemacht, sondern diskriminiert und verfolgt. Das wurde von den Angehörigen der Mehrheitsgesellschaften nicht nur gebilligt, sondern gefordert, weil der Antiziganismus in ihrer Mentalität fest verwurzelt ist.

    Mit der Geschichte und Funktion des Antiziganismus als Ideologie, Mentalität und Politik habe ich mich seit mehr als dreißig Jahren beschäftigt und darüber sowie über den Völkermord an den Roma mehrere Aufsätze und Bücher publiziert. Zunächst davon ausgegangen, dass in erster Linie der deutsche Antiziganismus zum Völkermord geführt hat, haben meine Forschungen aber ergeben, dass es sich keineswegs nur um ein spezifisch deutsches Phänomen gehandelt hat.

    Beides ist falsch. Beim Antiziganismus handelt es sich um ein gesamteuropäisches Vorurteil, und der Völkermord an den Roma ist als ein europäischer Genozid zu bezeichnen, weil er keineswegs nur von den Deutschen, sondern auch von den Angehörigen anderer europäischer Völker begangen worden ist. Dennoch ist der Antiziganismus nach 1945 nicht so geächtet worden wie der Antisemitismus, der zum Völkermord an den Juden geführt hat. Die Roma werden immer noch und in allen europäischen Ländern stärker abgelehnt, diskriminiert und verachtet als die Juden. Ein skandalöser Zustand. Niemand ist ein »Zigeuner«, und keiner darf als »Zigeuner« (oder »gypsy«, »gitano«, »tsigan«, »zigenar« etc.) beschimpft, diskriminiert und verfolgt werden. Es muss zu einer Ächtung dieses europäischen Vorurteils kommen.

    Um diese Thesen beweisen und diese Forderungen begründen zu können, bin ich folgendermaßen vorgegangen. Zunächst wird im ersten Kapitel begründet, warum nicht nur die deutsche, sondern alle anderen europäischen Fremdbezeichnungen der Roma falsch und antiziganistisch konnotiert sind. Im zweiten Kapitel wird gezeigt, wie es in ganz Europa zur Feind- und Fremderklärung der Roma gekommen ist. Beides ist bis heute nicht überwunden worden. Die Roma werden, wenn auch nicht mehr als Feinde Europas, so doch als Fremde angesehen. Dies, obwohl sie bzw. ihre Vorfahren schon vor tausend Jahren nach Europa eingewandert sind. In den nächsten beiden Kapiteln wenden wir uns der Entstehung und Verbreitung des religiösen und sozialen sowie des rassistischen und romantischen Antiziganismus zu. Dies geschieht wiederum unter einer gesamteuropäischen Perspektive und in einer epochenübergreifenden Weise.

    Im darauffolgenden Kapitel wird die Geschichte des intendierten und rassistisch motivierten Völkermordes an den Roma skizziert, der im Romanes, der Sprache der Roma, Porrajmos (= das Verschlungene) genannt wird. Wie bereits oben angedeutet, wird dabei auch auf die Kollaboration einiger europäischer Völker am Genozid der Roma verwiesen.

    Beides – die europäische Kollaboration und die rassistische Motivation des Porrajmos – ist jedoch, wie im sechsten Kapitel gezeigt wird, nach 1945 geleugnet worden. Dies geschah, um den überlebenden Roma den Anspruch auf Wiedergutmachung zu verweigern, und wurde mit dem antiziganistischen Argument begründet, wonach es sich bei den ermordeten Roma um »Asoziale« gehandelt habe, die wegen ihrer »asozialen« Eigenschaften und nicht wegen ihrer »rassischen« Herkunft ermordet worden seien.

    Von diesem Stigma sind die Roma in Westeuropa bis heute nicht befreit worden, auch wenn sich dazu niemand mehr bekennt. Sie werden zwar nicht mehr offen als Asoziale beschimpft, aber etwas verschämt zu einer »sozialen Randgruppe« erklärt, deren Angehörige aufgefordert werden, sich endlich in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren. Dieses Integrationsgebot ist vielleicht gut gemeint, basiert aber auf der falschen Annahme, dass sich die Roma bisher nicht integriert haben und das auch nicht wollen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Integration der Roma wird nicht von den Roma verweigert, sie wurde und wird zum Teil noch heute von Politikern in Europa verhindert, indem die Roma von der Mehrheitsgesellschaft separiert werden. Sie müssen ihre Kinder auf besondere und schlecht ausgestattete (Hilfs-)Schulen schicken, werden gezwungen, in besonderen und schlechten Wohnquartieren zu leben, und erhalten schlechtere Sozialleistungen als ihre Mitbürger. Die Separierung und Diskriminierung der Roma wird von vielen Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft begrüßt und gefordert. Für sie sind und bleiben die Roma eben ewige »Zigeuner« oder ständig herumziehende »Nomaden«. Dies ist, wie im siebenten Kapitel gezeigt wird, jedoch stärker in den westeuropäischen Ländern als in Deutschland der Fall.

    In Osteuropa ist die Situation der Roma noch schlimmer. Hier werden die schon seit Jahrhunderten lebenden Roma nicht »nur« in rechtlicher und sozialer Hinsicht diskriminiert, hier sind sie offenen Verfolgungen ausgesetzt, die nicht nur mit Elementen und Motiven des sozialen (und religiösen), sondern auch des rassistischen Antiziganismus begründet werden.

    Sowohl die Diskriminierung der Roma in Westeuropa wie ihre Verfolgung in Osteuropa hätte von Europa bzw. den verschiedenen europäischen Institutionen und Organisationen verhindert werden müssen. In mehreren ost- und westeuropäischen Ländern werden den Roma sogar die Minderheitenschutzrechte verweigert. Dies ist ein Verstoß gegen die Konventionen und Gesetze, die vom Europaparlament beschlossen und vom Europarat erlassen worden sind. Die EU hat bisher auch darauf verzichtet, die Mitgliedstaaten zu kritisieren oder ihnen den Ausschluss aus der Europäischen Union anzudrohen, die die Diskriminierung und offene Verfolgung ihrer Roma-Staatsbürger tolerieren oder gar selber betreiben. Das ist skandalös.

    Noch skandalöser ist, dass den europäischen Roma häufig das verwehrt wird, was ihnen als Bürgern eines Staates der Europäischen Union eigentlich und von Rechts wegen zusteht, nämlich die Freizügigkeit, das Recht, von einem europäischen Staat in den anderen zu ziehen und dort zu wohnen und zu arbeiten. Stattdessen werden die Roma, welche der Not in ihren Heimatländern entfliehen, als »Sozialtouristen« beschimpft, weil sie sich ihnen angeblich nicht zustehende Sozialleistungen ergaunern würden.

    Ein, wie ich finde, besonders perfides und abscheuliches Beispiel für die fortdauernde Diskriminierung der Roma hat die Bundesrepublik Deutschland im September 2014 geliefert, indem sie den Roma aus einigen Balkanstaaten, die noch nicht der EU angehören, das Grundrecht auf Asyl verweigerte. Und dies mit der ebenso fadenscheinigen wie falschen Begründung, die Roma würden in diesen Staaten nicht politisch verfolgt. Roma, die aus diesen formal als »sicher« eingestuften Staaten in die Bundesrepublik Deutschland geflüchtet sind, werden derzeit alle wieder ausgewiesen und in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt.

    All das ist ein Beleg für die Fortexistenz des Antiziganismus im gegenwärtigen Europa. Dagegen wehren sich, wie im zehnten und letzten Kapitel dargestellt wird, einige Roma-Verbände. Sie fordern jene Rechte ein, die ihnen als Angehörigen einer ethnischen Minderheit zustehen. Einige europäische Roma gehen in ihrer Forderung sogar noch weiter: Sie wollen nicht mehr nur als Minderheit angesehen werden. Schließlich handelt es sich bei den Roma um ein Volk, das zu einer Nation werden und die Errichtung eines Nationalstaates fordern kann. Wohlgemerkt kann. Denn bisher haben nur ganz wenige Roma die Errichtung eines Roma-Staates gefordert. Doch einen Namen hat er schon – Romanestan. Romanestan könnte die europäischen Roma vor dem europäischen Antiziganismus schützen, wie Israel die Juden vor dem weltweiten Antisemitismus schützt.

    Dazu muss, ja sollte es jedoch nicht kommen. Die Abwehr des europäischen Antiziganismus und der Schutz der europäischen Roma sollte unsere Aufgabe sein. Denn dafür sind wir Europäer verantwortlich. Wir müssen unsere Vorurteile überwinden und die Feindschaft gegenüber den Roma genauso ächten wie die gegen die Juden. Daher und noch einmal: Niemand ist ein »Zigeuner«, und keiner darf als »Zigeuner« (oder »gypsy«, »gitano«, »tsigan«, »zigenar« etc.) beschimpft, diskriminiert und verfolgt werden.

    Wie schon diesen Ankündigungen zu entnehmen ist, ist die gesamte Arbeit nicht zweckfrei und ohne Zorn – sine ira et studio – geschrieben worden. Sie ist kritisch und zielt auf eine Bekämpfung und Überwindung des Antiziganismus ab. Erklärungsbedürftig hingegen ist die Gewichtung der Arbeit. Der Schwerpunkt liegt auf der Gegenwart. Der Geschichte wird weniger Raum gewidmet. Das kann man kritisieren, ist die Gegenwart doch nicht ohne die Geschichte zu verstehen. Dennoch blicken wir aus der Gegenwart auf die Geschichte, um aus der Geschichte etwas für die Gegenwart zu lernen.

    Dass die gesamte Arbeit in gedrängter Kürze und in einer essayistischen Form gehalten ist, nur über einen ganz knappen Anmerkungsapparat verfügt und in einer allgemein verständlichen Sprache geschrieben ist, geschah bewusst, um einen möglichst breiten Leserkreis zu erreichen, der sich für dieses wichtige und uns alle betreffende Thema interessiert.

    Weiterführende Literaturhinweise findet man in einem angehängten Kapitel, in dem ich die »Zigeunerforschung« kritisiere. In einem abschließenden »Glossar« werden die wichtigsten Begriffe noch einmal erwähnt und erklärt. Diese zusätzlichen Informationen sollen die Leser in die Lage versetzen, meine sehr persönlich gehaltenen Thesen und Forderungen zu verstehen und mit mir zu diskutieren. Darauf freue ich mich.

    1. Schnitzel und Saucen

    »Zigeuner« und »gypsies«

    Dürfen wir noch »Zigeunerschnitzel« essen, Pommes mit einer »Zigeunersauce« bestellen und schnulzige Lieder über »gypsy women« singen, werde ich oft gefragt. Wenn es euch Spaß macht, nur zu!, pflege ich dann zu antworten. Beachtet aber bitte, dass die Roma es keineswegs spaßig finden, wenn sie als »Zigeuner« und »gypsies« bezeichnet werden. Schließlich wollt ihr ja auch nicht als »boches«, »Hunnen«, »Krauts« oder gar samt und sonders als »Faschisten« bezeichnet und beschimpft werden.

    Damit ist das Wesentliche gesagt. Genau wie die Deutschen wollen auch die Roma nicht beschimpft werden. Dies geschieht aber, wenn man sie als »Zigeuner« oder als »gypsies« bezeichnet, denn diese und alle anderen europäischen Fremdbezeichnungen der Roma sind negativ konnotiert. Wie kam es dazu?

    Den Anfang haben die Griechen gemacht. Denn die haben die Roma, die vom 9. bis zum 11. Jahrhundert über Konstantinopel in den europäischen Teil des damaligen Byzantinischen Reiches eingewandert sind, als »atsigganoi« bezeichnet (im Neugriechischen werden sie »tsigganoi« genannt). Vermutlich weil die Griechen meinten, dass die eingewanderten Roma der christlichen Religionsgemeinschaft der »athinganoi« (= die Unberührbaren) angehörten. Ob es sich hierbei um eine Eigen- oder eine Fremdbezeichnung dieser Religionsgemeinschaft gehandelt hat, weiß man bis heute nicht. Sicher ist, dass sie keine positive Bedeutung hatte. Den Athinganen wurde nämlich nicht nur unterstellt, unberührbar zu sein und sein zu wollen, weil sie alle Kontakte mit ihren christlichen Brüdern und sonstigen Mitmenschen vermieden, sondern sich allzu weit von den offiziellen Dogmen und Lehren der Amtskirche entfernt zu haben, weil sie gnostische, d.h. geheime und nicht legitimierte Lehren verbreiteten. Dazu gehörte die dem persischen Zarathustra-Glauben entlehnte und als manichäistisch bezeichnete Lehre von der Existenz eines »guten« und eines »bösen« Gottes. Beide Götter bzw. Gott und Teufel sollen die Anhänger der gnostischen Sekte der Athinganen angebetet haben.

    In den Augen der Amtskirche war das Häresie, d.h. eine von den Lehren der Kirche abweichende und falsche Lehre. Daher wurden die Athinganen zu Häretikern erklärt und genau wie später die Sekte der Katharer (= die Reinen) verketzert und verfolgt. Bei den Athinganen war dies schon im 9. Jahrhundert der Fall. Danach verliert sich ihre Spur. Ob Angehörige dieser nur im Gebiet der heutigen Türkei nachweisbaren gnostischen Sekte jemals nach Europa gelangt sind, ist ebenso zu bezweifeln wie die Vermutung, dass die Roma, die zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert nach Europa eingewandert sind, jemals »athinganoi« waren.

    Dass sie dennoch von den Griechen nach den »athinganoi« als »atsigganoi« bezeichnet worden sind, ist also sachlich falsch und negativ konnotiert. Damit wurde den Roma unterstellt, wie die Athinganen keine oder zumindest keine guten Christen zu sein, weil sie nicht nur Gott, sondern auch den Teufel verehren würden. Dafür seien sie, wie in byzantinischen Quellen behauptet, vom Teufel mit der Verleihung von magischen Fähigkeiten belohnt worden. Dieses antiziganistische Gerücht wurde mit dem Hinweis auf die offensichtlich nachweisbare Tatsache begründet, dass sich einige der nach Griechenland eingewanderten Roma als Zauberer und Handleser betätigten.

    Ähnliche Vorwürfe sind auch den Roma gemacht worden, die im 13. und 14. Jahrhundert nach Griechenland eingewandert sind. Sie haben sich in einem Teil der Peloponnes niedergelassen, der von den Zeitgenossen als »Kleinägypten« bezeichnet worden ist. Vermutlich deshalb wurden diese Roma von den Griechen nicht »atsingganoi«, sondern »aigypsios« (= Ägypter) genannt. Dies geschah ebenfalls in einer antiziganistischen Absicht. Wurden doch die gegenüber den »richtigen« Ägyptern im Land am Nil bestehenden Vorurteile auf die »falschen« Ägypter auf der griechischen Peloponnes übertragen.

    Dass die beiden griechischen Fremdbezeichnungen negativ konnotiert waren, scheinen jene Roma nicht gewusst zu haben, die zu Beginn des 15. Jahrhunderts aus übrigens ungeklärten Gründen Griechenland und die angrenzenden Balkanländer verlassen haben und in das damalige Deutsche Reich und seine europäischen Nachbarländer gezogen sind, wo sie von ihren neuen mitteleuropäischen Mitbürgern als »atsingganoi« und »aigypsios« bezeichnet wurden. Allerdings waren diese griechischen Begriffe ins Lateinische und einige andere europäische Sprachen

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