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Eine andere Schweizer Kulturgeschichte: 65 prägende Persönlichkeiten im Dialog
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eBook556 Seiten7 Stunden

Eine andere Schweizer Kulturgeschichte: 65 prägende Persönlichkeiten im Dialog

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Über dieses E-Book

Hans Peter Hertig erzählt in einer unkonventionellen Art eine Schweizer Kulturgeschichte der letzten 100 Jahre: Der Autor porträtiert dazu 65 Kultur prägende Persönlichkeiten zwischen 1918 und heute aus der bildenden Kunst, Literatur, Musik, Film, Theater und Tanz sowie den Wissenschaften. An vier Orten führt Hertig jeweils zwölf dieser Personen zu einem fiktiven Treffen zusammen, wo sie über ihre Arbeit und aktuelle Zeitfragen diskutieren. So kommt es zu Treffen anlässlich der Aufführung des Stücks »L'Histoire du soldat« (1918, Musik: Igor Strawinsky, Libretto: Charles-Ferdinand Ramuz), 1946 im Café »Odeon« in Zürich, einem intellektuellen Brennpunkt der damaligen Zeit, 1969 zur legendären Ausstellung »When Attitudes Become Form« in der Kunsthalle Bern, 1996 beim Jazzmusiker George Gruntz am Morgestraich in Basel. 2021 treten anstelle eines einzelnen Treffens 17 individuelle Reportagen. In diesen begegnet der Autor neben Künstler:innen auch Personen, die deren Werke dem Publikum vermitteln.

Im Zentrum von Hans Peter Hertigs »Eine andere Schweizer Kulturgeschichte« stehen die Werke, Beiträge und Praktiken von Kunst- und Literaturschaffenden, Musiker:innen und gesellschaftspolitisch engagierten Intellektuellen. Hertig bringt einem neben berühmten Stars wie Friedrich Dürrenmatt, Albert Einstein oder Pipilotti Rist Persönlichkeiten wie der Schriftstellerin Ella Maillart, die Dirigentin Sylvia Caduff oder den Architekten Aurelio Galfetti näher, die einer breiten Öffentlichkeit weniger bekannt sind. Das Buch zeigt wunderbar die Vielfältigkeit der Schweizer Kultur auf und ist ein anregender Einstieg für eine vertiefte Auseinandersetzung mit den porträtierten Kulturschaffenden.

Die 65 prägenden Persönlichkeiten
1918 | Ernest Ansermet, Albert Einstein, Hermann Hesse, Arthur Honegger, Paul Klee, Carl Albert Loosli, Charles Ferdinand Ramuz, Gonzague de Reynold, Carl Spitteler, Sophie Taeuber, Félix Vallotton, Robert Walser

1946 | Othmar H. Ammann, Blaise Cendrars, Lisa della Casa, Max Frisch, Alberto Giacometti, Le Corbusier, Ella Maillart, Meret Oppenheim, Franz Schnyder, Michel Simon, Jean Rudolf von Salis, Jakob Tuggener

1969 | S. Corinna Bille, René Burri, Sylvia Caduff, Jacques Chessex, Friedrich Dürrenmatt, Franz Gertsch, Jean-Luc Godard, Niklaus Meienberg, Paul Nizon, Irène Schweizer, Jean Starobinski, Jean Tinguely

1996 | Ernst Beyeler, Luc Bondy, Anne Cuneo, Dimitri, Aurelio Galfetti, Heinz Holliger, Anna Huber, Marthe Keller, Giovanni Orelli, Pipilotti Rist, Erika Stucky, Urs Widmer

2021 | Endo Anaconda, Renato Berta, Christian Berzins, Vanessa Billy, Jean-Sébastien Bron, Marie Caffari, Claudia Comte, Caroline Coutau, Sylvie Courvoisier, Bice Curiger, Daniel de Roulet, Jacques Dubouchet, Patricia Kopatschinskaja, Simone Lappert, Klaus Merz, Melinda Nadj Abonji, Omar Porras
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum12. Juni 2023
ISBN9783907351215
Eine andere Schweizer Kulturgeschichte: 65 prägende Persönlichkeiten im Dialog
Autor

Hans Peter Hertig

Hans Peter Hertig, 1945 geboren, ist emeritierter Professor für Kulturwissenschaften an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne E-PFL. Er absolvierte eine Laborantenlehre und studierte anschließend am Technikum Burgdorf Chemie. Die »bewegte« Zeit der späten 1960er-Jahre motivierte ihn zu einem Zweitstudium in Politikwissenschaft an der Universität Bern. Neben seiner wissenschaftlichen Karriere an Universitäten im In- und Ausland arbeitete er als Wissenschaftsrat an den Schweizerischen Botschaften in Washington und Brüssel. Von 1993–2005 war Hertig Direktor des Schweizerischen Nationalfonds SNF zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Zwischen 2006 und 2008 etablierte er das Schweizer Haus für Wissenschaft und Kultur swissnex in Schanghai. Hans Peter Hertig lebt in Bern. Neben diversen wissenschaftlichen Publikationen erschien beim rüffer & rub Sach-buchverlag 2018 das Sachbuch «Von Arthur Miller via Simone de Beauvoir zu Duke Ellington – Eine Kulturgeschichte in 12 Begegnungen».

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    Buchvorschau

    Eine andere Schweizer Kulturgeschichte - Hans Peter Hertig

    Am 16. Juni 1944 schreibt der ungarisch-französische Lichtbildkünstler Brassaï im Atelier von Pablo Picasso an der Rue des Grands Augustins 7 in Paris Kulturgeschichte. Er fotografiert eine Gruppe von 12 Persönlichkeiten, die Picasso zu einem kleinen Fest eingeladen hatte, um sich für deren Mitwirkung bei der Uraufführung seines Theaterstückes «Le Désir attrapé par la queue», eine surrealistische Farce, wie der Autor es nannte, zu bedanken. Ein einmaliges Zeitdokument. Kaum je zuvor und danach hat ein einzelnes Bild den intellektuellen und kulturellen Geist einer Lokalität und Epoche derart prägnant festgehalten. Alle von Brassaï porträtierten gehören zur Crème de la Crème des Paris der Kriegs- und Nachkriegsjahre, der vom Amateur-Dramatiker Picasso als Regisseur eingesetzte Albert Camus, die als Schauspieler agierenden Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre und Michel Leiris, der als Experte für was auch immer eingesetzte Psychoanalytiker Paul Lacan und all die anderen auf dem Foto. Was hat das Dutzend vernetzt? Die Lichtgestalt Picasso natürlich; wenn er rief, liess man sich nicht zweimal bitten. Und mindestens ebenso wichtig: die Kraft von zwei Geistesströmungen, welche Frankreichs Kulturschaffen dieser Zeit in hohem Masse prägten; die eine nicht mehr en vogue und in der Malerei des Gastgebers auch nie wirklich bestimmend, aber in den Köpfen noch mächtig präsent, der Surrealismus, die andere hoch aktuell und zumindest als politischer Flirt stark mobilisierend, der Kommunismus. Kultur und politisch-gesellschaftlicher Kontext, in welchem sie geschaffen wird, stehen geradezu idealtypisch in engster Beziehung.

    Aber weshalb dieser Ausflug nach Paris für ein Buch, das im Titel Schweizer Kulturgeschichte verspricht? Sicher, es gibt ein paar indirekte Bezüge zwischen der Schweizer Kulturszene und Brassaïs Gruppenfoto. Auf diesem ebenfalls abgebildet ist Picassos Hund Kazbek. Der Afghane stand Alberto Giacometti ein paar Jahre später Modell für eine seiner bekanntesten Skulpturen, «Le Chien». Und wenn wir schon bei Giacometti sind: Leiris besprach den jungen in Paris lebenden Schweizer 1929 als erster namhafter Kunstkritiker und ebnete ihm den Weg zu einer glänzenden Karriere. Hundehalter Picasso trug seinerseits dazu bei, dass ein anderes Schweizer Nachwuchstalent Berühmtheit erlangte. Im Café Flore sitzend – wenn Anekdotenschreiber nicht wissen wo, ist es in Paris immer das Flore – ermutigte er die 23-jährige Meret Oppenheim aus Basel, eine Tasse in Pelz zu verpacken. Surrealisten-Papst André Breton stellte das Resultat als «Le Déjeuner en fourrure» in der berühmten Ausstellung «Exposition surréaliste d’objets» von 1936 aus. Vielleicht als verspäteten Dank an ihren Mentor Picasso übersetzte Meret Oppenheim «Le Désir attrapé par la queue» zwanzig Jahre später in «Wie man Wünsche am Schwanz packt». Ihretwegen erfolgte die deutsche Uraufführung nicht in Berlin oder Wien, sondern im Dezember 1956 im Kleintheater in Bern.

    Damit ist die Brücke von Brassaïs Bild von 1944 zu einem Jahrhundert Schweizer Kulturgeschichte natürlich noch nicht einsichtig geschlagen. Es ist eine durch und durch persönliche: Im Sommer 2019 wurde Picassos Stück wieder einmal in Paris aufgeführt, in einem kriegerischen Rittersaal im Musée de l’Armée, der zur Person Picasso eigentlich nicht recht passen wollte. Nach der Aufführung ging ich mit einem Pariser Freund noch ein Glas trinken, nicht im Flore, notabene. Wir kamen auf Brassaïs Foto zu sprechen, und mein Gegenüber konfrontierte mich mit einer herausfordernden Frage: «In Picassos Atelier sind zwölf Personen abgelichtet. Wer, welches Dutzend, müsste auf einer Fotografie stellvertretend für das Schweizer Kulturschaffen Mitte der 1940er-Jahre abgebildet sein?» Mir kamen spontan Alberto Giacometti, Meret Oppenheim und Le Corbusier in den Sinn. Schliesslich waren wir in Paris, wo die drei lange gelebt hatten. Aber wer sonst noch? Ich kam ins Grübeln und in Verlegenheit. Die Rettung erfolgte als Handy-Alarm: «Zug von Gare de Lyon nach Basel in 50 Minuten». Ich verpasste ihn dann gleichwohl …

    Die Frage ging mir nicht aus dem Kopf. Im zweiten Kapitel des vorliegenden Buches kommt mehr als drei Jahre später die Antwort. Darin porträtiere ich die zwölf Protagonisten, die ich als besonders repräsentativ für das Schweizer Kulturschaffen Mitte der 1940er-Jahre betrachte. Sie haben sich nicht wie im Pariser Vorbild tatsächlich getroffen – eine derart geballte Ladung führender Kulturschaffender zu gleicher Zeit am gleichen Ort ist für die französische Kulturgeschichte einmalig, und sie wäre selbst für die Schweiz, die sich gerne als einmalig versteht, der Einmaligkeit zu viel –, aber ein entsprechendes Treffen kann natürlich konstruiert werden. Und so bin ich denn auch vorgegangen: Ich habe eine mögliche Gelegenheit wie die Feier von Picassos Theaterstück aufgespürt, ein Ort, wo diese stattfindet, festgelegt, einen Gastgeber bestimmt und die zwölf Erkorenen zur fiktiven Feier eingeladen. Im Mai 1946 treffen sie sich im Grand Café Odeon in Zürich. Gastgeber ist Arnold Kübler, der Mitgründer und erste Chefredaktor des Kulturmagazins «DU». Er wollte die in den Kriegsjahren verschobene Gründungsfeier seines Magazins endlich nachholen und dazu bedeutende Schweizer Künstler:innen, Literat:innen und Musiker:innen einladen, die sein «DU» schon geziert hatten, gerade zierten oder, wie er hoffte, noch zieren würden. 1946 ergab sich anlässlich des fünfjährigen Jubiläums seiner Zeitschrift eine gute Gelegenheit.

    So wie bei der Replik im Odeon Zürich zum Initialzünder der Picasso-Feier von 1944 in Paris, bin ich auch in den übrigen, das vorliegende Buch strukturierenden Treffen vorgegangen. Zu weiteren fiktiven Treffen ist es ganz einfach deshalb gekommen, weil ich bei der Odeon-«Zusammenkunft» Feuer fing. Mit diesem im Kopf und in der Feder ist schliesslich eine Schweizer Kulturgeschichte der letzten hundert Jahre entstanden, wenn auch eine nicht ganz orthodoxe. Einmal schon wegen dem Kalender, 1918–2022. Und ungewohnt auch bezüglich Aufbau und Ansatz: Alle 25 Jahre trifft sich eine Gruppe von Schweizer Kulturschaffenden fiktiv zu einem Treffen irgendwo in der Schweiz, ein Schaulaufen der für die jeweilige Zeit repräsentativen Literat:innen, Künstler:innen, Musiker:innen und Intellektuellen, erstmals 1918, am Tag nach der Premiere von «L’Histoire du soldat» bei Igor Strawinsky in Morges, 1946 wie oben skizziert bei Arnold Kübler in Zürich, 1969 anlässlich der legendären Ausstellung «When Attitudes Become Form» bei Harald Szeemann in der Kunsthalle Bern und 1996 beim Jazzer George Gruntz am «Morgestraich» in Basel. Vom Modell der vier ersten Treffen leicht abweichend schliesslich das fünfte und abschliessende Kapitel von 2021/2022. Der Wechsel von der Fiktion in die Realität rief nach einer anderen Methodik: Zwölf Persönlichkeiten an einem bestimmten Datum an einen bestimmten Ort einzuladen ist wenig realistisch. Anstelle des einen fiktiven Treffens treten deshalb 17 Porträts, die auf der Grundlage von einzelnen Interviews mit den Persönlichkeiten entstanden sind. Warum 17 anstelle von 12? Das Schlusskapitel ist auch Bestandesaufnahme und Ausblick. Zumindest hier sollen Persönlichkeiten auf die Bühne kommen, die diese nicht direkt bespielen, sondern bauen und gestalten. Auch sie sind Kulturschaffende, aber ihre Beiträge als Ausbildende, Kritiker:innen, Kurator:innen oder andere Scharniere zwischen Schreibtisch, Atelier oder Proberaum und Publikum bleiben im Schatten. Dabei hätte die Kunst die Salons und Gemächer, wo sich einst nur privilegierte gesellschaftliche Eliten an ihr ergötzen konnten, ohne sie gar nie verlassen. Sie geben Sinn, schaffen Struktur, entscheiden mit, was Bestand hat; ohne sie gäbe es kein öffentlich zugängliches Kulturschaffen.

    Bevor es bei Strawinsky 1918 losgeht, in noch knapp zulässiger Kürze einige konzeptionelle und begriffliche Klärungen. Zuallererst: Was verstehe ich unter Kulturgeschichte? In ihrer «klassischen» Form ist Kulturgeschichte Kunstgeschichte. Einer ihrer Pioniere, der Basler Jacob Burckhardt, hat Mitte des 19. Jahrhunderts in brillanter Weise aus überragenden Kunstwerken der Renaissance den Zeitgeist dieser Epoche abgeleitet. Hundert Jahre später kommt es zu einer entscheidenden, politisch motivierten Begriffserweiterung. In der sogenannten «New Cultural History» geht es der aristokratischen und bürgerlichen Hochkultur an den Kragen, die traditionelle Bindung zwischen Kunst und Kultur wird gebrochen, Kultur erscheint als Synthese von Lebensentwürfen und Lebensstilen. Analysiert werden die «ways of life» der verschiedensten singulären Gruppierungen, die eine wie auch immer abgegrenzte Gemeinschaft ausmachen – transnationale Regionen, Staaten, sprachlich identifizierte Teile einer Nation, gesellschaftliche Klassen, religiöse Gruppierungen. Kunst ist ein Teil dieser Lebensstile, sowohl sie zu kreieren als auch sie zu geniessen. Und dazu gehört eine Vielfalt anderer Dinge, die Menschen sich zum Leben schaffen, Artefakte und Praktiken in Bereichen wie Sprache, Wohnen, Sport, Essen etc. Ihnen auf der Spur sind nicht mehr nur Historiker:innen und Kunstwissenschaftler:innen, sondern eine ganze Palette von Expert:innen aus Bereichen wie Philosophie, Anthropologie, Soziologie und Linguistik. Mit ihnen verlagert sich das Interesse auf Themen, welche die «klassische» Kulturgeschichte ausklammerte oder an den Rand drängte wie Macht, Gender, Rasse, Sexualität, postkoloniale Praktiken. Die Fachrichtung wird heterogen, interdisziplinär und gesellschaftskritisch, Burckhardt wird um Karl Marx, Michel Foucault und Edward Said erweitert und relativiert. Im vorliegenden Buch schleiche ich mich zwischen die beiden Fronten.

    Im Zentrum meiner Betrachtungen zu einer Kulturgeschichte der Schweiz stehen die Werke, Beiträge und Praktiken von Kunst- und Literaturschaffenden, Musiker:innen und, stellvertretend für einen erweiterten Kulturbegriff, gesellschaftspolitisch engagierte Intellektuelle. Zum Label «Schweizer Kulturgeschichte»: Meine «andere Schweizer Kulturgeschichte» definiert sich über 65 Persönlichkeiten, die diese massgebend geschrieben haben oder noch schreiben. 64 davon waren oder sind, zumindest zeitweilig, Schweizer Staatsbürger:innen. Dass es nicht alle sind, zeigt, dass ich Staatsbürgerschaft nicht als Qualifikationskriterium benutze. Das Ergebnis ist ein logisches Resultat der Suche nach Persönlichkeiten, die das kulturelle Schaffen einer Epoche bestimmen und einen unübersehbaren Schweiz-Bezug besitzen. So wie der einzige Kulturschaffende ohne Schweizer Pass, Paul Klee. Klee war Deutscher, und seine künstlerische Karriere verlief vornehmlich in Deutschland. Aber er ist in Bern aufgewachsen, hat das letzte Drittel seines Lebens wieder dort verbracht und in seiner Zeit in Deutschland weiterhin enge Beziehungen zur Schweiz gepflegt. Wie er machten viele andere der 65 Gewürdigten vornehmlich im Ausland Karriere – allein von den zwölf bei Strawinsky Eingeladenen Félix Vallotton, Arthur Honegger, Sophie Taeuber-Arp und Albert Einstein. Kein Grund, sie von der Kulturgeschichte eines winzigen Landes wie der Schweiz auszuschliessen, wo ein Aufenthalt in die grossen Kulturstätten der eigenen Sprache und die begrenzten Karrierechancen ins Ausland führt. Kein Grund auch, Hermann Hesse 1918 nicht in das Dutzend Auserkorener aufzunehmen, obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch württembergischer Staatsbürger ist und sein Bezug zur Schweiz erst noch folgen wird. Kulturgeschichte, Pässe und Ländergrenzen vertragen sich schlecht.

    Einfacher sind zeitliche Verortungen: Die Idee für das vorliegende Buch entstand im Frühjahr 2020. Und während ich am Konzept arbeitete, schlug Corona zu. Zeitungen begannen über Absagen zu berichten, darunter von Künstler:innen, die ich im Visier für meine Kulturgeschichte hatte, allein schon in der Musik: Endo Anacondas Taufe seiner letzten Stiller-Has-Platte, die Schweizer Tournee der in Brooklyn wohnenden Jazzerin Sylvie Courvoisier, jene von Patricia Kopatchinskaja mit der Camerata Bern und Schuberts «Der Tod und das Mädchen». Geschah da nicht Ähnliches bei der letzten Pandemie vor einem Jahrhundert, glaubte ich mich zu erinnern? Ganz genau: Igor Strawinsky und Charles Ferdinand Ramuz hatten in Lausanne ihr geniales Bühnenwerk «L’Histoire du soldat» uraufgeführt und wollten es anschliessend auf einer Westschweizer Tournee präsentieren. Es blieb bei der Premiere; die Spanische Grippe liess keine einzige weitere Vorführung zu. Der Parallele konnte ich nicht widerstehen, Datum und Ort meines ersten Treffens standen fest: der 29. September 1918, ein Tag nach der Uraufführung in Lausanne, im Hause des Komponisten Igor Strawinsky in Morges. Und so berichtet das vorliegende Buch über eine 104-jährige Schweizer Kulturgeschichte zwischen zwei Pandemien, dem Beginn der Spanischen Grippe von 1918 und dem (hoffentlich tatsächlich) auslaufenden Corona-Virus von 2022.

    Faktisches versus Fiktives. Die Treffen 1918, 1946, 1969 und 1996 und die darin eingebetteten Dialoge sind fiktiv. Aber der Persönlichkeit der Dialogisierenden, den Vorlieben, Abneigungen, bekannten Verhaltensmustern versuche ich dabei so weit wie möglich gerecht zu werden. Schon in den Reisen der Protagonisten zu den Orten des Geschehens: Robert Walser wohnte 1918 in Biel; zur Feier bei Strawinsky in Morges ging er den letzten Streckenteil zu Fuss. Für lange Spaziergänge ist er bekannt; «eine Art Mittel gegen die Übermacht des Tiefsinns», wie er einmal schrieb. Den als Fan schneller Autos bekannten jungen Arthur Honegger lasse ich dagegen mit einem ausgeliehenen Bugatti von Paris nach Morges brausen. Nicht aus den Fingern gesogen ist auch die Präsenz der Gäste bei den Treffen – nichts hätte sie ihren Biografien gemäss daran gehindert –, bzw. der Grund, warum sich einige entschuldigt haben. Jean-Luc Godard musste 1969 in den ersten Tagen der Kunsthalle-Ausstellung tatsächlich in aller Eile seinen Beitrag für die Filmfestspiele Berlin fertigstellen, Luc Bondy befand sich am Morgestraich 1996 in der Tat für Vertragsverhandlungen in Wien. Und auch überraschende Gäste, wie 1946 Simone de Beauvoir zu später Stunde im Odeon, hätten durchaus aufkreuzen können. Sie befand sich an diesem Tag mit Jean-Paul Sartre in Zürich, wo ihr Begleiter am Vorabend an der ETH Zürich einen Vortrag gehalten hatte.

    Der (Kunst-)Griff zum «Fabulieren» macht aus dem vorliegenden Buch ein Werk ausserhalb der engen akademischen Tradition. Es ist keine kulturtheoretische Studie, wie sie an Hochschulen gelesen wird. Andere haben diese Arbeit bereits geleistet, und in ihren Gebieten mit grossem Fachwissen. Meine Ambition ist eine andere. Ich will das Werk und die Persönlichkeit bedeutender «Schweizerischer» Kulturschaffender der letzten rund 100 Jahre porträtieren, und dies in einer Form, die unterhält und von einer interessierten Leserschaft von Nichtexperten mühelos verstanden wird. Das heisst nicht, dass ich Kulturschaffen im gesellschaftspolitischen Niemandsland belasse. Die Beziehung zwischen künstlerischem Werk und gesellschaftspolitisch relevantem, kulturellem Kontext ist eine wichtige Dimension meiner Betrachtungen. Was zu Beginn des 20. Jahrhunderts entsteht, und die beim ersten Treffen des Buches bei Strawinsky in Morges auftretenden Protagonisten kreieren, sind Erzeugnisse der sich durchsetzenden Moderne, geprägt vom Spannungsverhältnis zwischen Kapitalismus, Konservatismus und Sozialismus, der politischen Spaltung des Landes entlang der globalen Konfliktlinien des Ersten Weltkriegs und den Besonderheiten einer Pandemie. Ein Vierteljahrhundert später steht das Land im Bann der Geistigen Landesverteidigung. Weitere 25 Jahre danach rebelliert die Jugend und hinterfragt bis anhin tabuisierte gesellschaftliche Werte und Normen. 1996 ist die Welt neoliberalisiert und turboglobalisiert. Das Internet und die damit kreierten und gesteuerten sozialen Netzwerke verändern die Art der Kunstvermittlung und damit auch die Kunst an sich. Bei den 17 Porträts von 2021/2022 erscheint der globale Kontext, in welchem die Schweiz agiert, auf derart wackligem Grund, dass Epochen-Typisierungen und -Projektionen ins Leere laufen. Wendezeit.

    Kultur im gesellschaftspolitischen Dialog. Und Kulturschaffen als interdisziplinärer Ansatz. Hier hat der Nichtspezialisierte sein Feld. Ich bin weder Kunsthistoriker noch Literaturwissenschaftler, Musikologe oder Filmsachverständiger. Aber ich beschäftigte mich in meiner beruflichen Karriere als Wissenschaftspolitiker und Wissenschaftstheoretiker im Wesentlichen mit disziplinübergreifenden Problemen. Gleiches fasziniert mich im Kulturbereich. Wie wenn sich in den Wissenschaften harte naturwissenschaftliche Disziplinen mit der Medizin oder den Sozial- und Geisteswissenschaften treffen, entsteht dort besonders Originelles und Neues, wo der Maler mit der Musikerin oder die Literatin mit dem Fotografen in Beziehung treten. In den Begegnungen des Buches treffen sich nicht nur interessante, grossartige Kulturschaffende und Intellektuelle, sondern auch die Sparten, die sie vertreten. Kulturgeschichte ist auch die Geschichte der Beziehung zwischen Kulturarten. Dies motiviert zu tiefsinnigen Reflexionen, zu Kulturtheorie. Sie ist im vorliegenden Buch nicht ganz ausgespart, aber zugunsten der Lesefreundlichkeit stark gebändigt. Ich verzichte auf tiefgreifende kulturtheoretische Bögen.

    Eine letzte grundsätzliche, geradezu resümierende Bemerkung ist mir wichtig: Was ich im vorliegenden Buch präsentiere, ist nicht die Schweizer Kulturgeschichte der letzten hundert Jahre, sondern eine Schweizer Kulturgeschichte neben möglichen anderen. Geschichtsschreibung ist eine durch und durch subjektive Angelegenheit, gefärbt von der Sozialisation der Autor:innen, dem kulturellen Umfeld, in welchem sie aufwachsen, ihren Lebenserfahrungen, den Werten, die sie sich aneigneten und den moralischen und politischen Positionen, die daraus resultierten. Wen ich auswähle und wie ich die Ausgewählten und den Kontext, in welchem sie agieren, die Schweiz ihrer Zeit, bewerte, ist gefärbt. Unvermeidlich, aber kein Unglück, solange man von dieser Unvermeidlichkeit weiss und sie als solche akzeptiert.

    Ich habe vielen zu danken: allen voran meinem Verlag rüffer & rub und dem mir direkt zur Seite stehenden Lektor, Felix Ghezzi. rüffer & rub gehört wie viele andere kleinere Verlage zu den Kulturvermittlern, denen es bei ihrer Arbeit primär um die Sache geht und die dabei oft erhebliche Geschäftsrisiken eingehen. Wenn dann noch eine Pandemie zuschlägt, braucht es viel Mut und Durchhaltewille. Autor:innen können dies nicht hoch genug einschätzen. Ähnlich wie die Arbeit der Erstleser:innen ihrer Texte, in meinem Fall meine Gattin, Beatrix Boillat. Mehr als wertvoll, unentbehrlich! Und dazu kommen im vorliegenden Buch natürlich noch die aktiv teilnehmenden Porträtierten. In den Kapiteln, in denen keine direkten Interviews vorgesehen waren, habe ich mich mit zwei Künstlerinnen ausgetauscht, Erika Stucky und Anna Huber. Im Gegenwartskapitel, wo Begegnungen Teil des Konzeptes sind, danke ich allen für das Interesse, das sie meinem Projekt entgegengebracht, und die Zeit, die sie in die jeweilige Begegnung investiert haben, in alphabetischer Reihenfolge: Endo Anaconda, Renato Berta, Christian Berzins, Vanessa Billy, Jean-Stéphane Bron, Marie Caffari, Claudia Comte, Sylvie Courvoisier, Caroline Coutau, Bice Curiger, Daniel de Roulet, Jacques Dubochet, Patricia Kopatchinskaja, Simone Lappert, Klaus Merz, Melinda Nadj Abonji und Omar Porras. Den mit ihnen getanzten Begegnungsreigen werde ich nie vergessen …

    Ernest Ansermet (1883–1969)

    Gonzague de Reynold (1880–1970)

    Albert Einstein (1879–1955)

    Hermann Hesse (1877–1962)

    Arthur Honegger (1892–1955)

    Paul Klee (1879–1940)

    Carl Albert Loosli (1877–1959)

    Charles Ferdinand Ramuz (1878–1947)

    Carl Spitteler (1845–1924)

    Sophie Taeuber(-Arp) (1889–1943)

    Félix Vallotton (1865–1925)

    Robert Walser (1878–1956)

    In der ersten Woche des Februars 1913 kommt es zu tumultartigen Debatten im eidgenössischen Parlament. Gegenstand sind nicht moderne Geschütze für die Schweizer Armee mit Blick auf bedrohliche Zeiten und schon gar nicht der mutige Vorstoss eines politischen Pioniers, die Schweizer Frauen stimm- und wahltauglich zu erklären. Was die Volksvertreter derart erhitzt, ist der Jahreskredit für die eidgenössische Kunstkommission. In seiner Ratsberichterstattung klärt das «Berner Tagblatt» auf, was mit dem Geld geschehe. Damit gefördert werde moderne Kunst, die Werke eines Geisteskranken, Vincent van Gogh, oder eines im Dschungel Tahitis residierenden Barbaren, Paul Gauguin. Es ist der Spiegel des konservativen Kunstverständnisses des Leibblatts der bernischen Konservativen. Die Diskussion wird zusätzlich angefeuert durch Vorstösse wie jene des Präsidenten der konservativen Künstlervereinigung «Sezession». Dieser bekniet den zuständigen Bundesrat, in der vor der Tür stehenden Schweizerischen Landesausstellung in Bern «Minderwertiges und Perverses auszufegen», damit Platz frei werde für «Bilder, die 95% des Volkes gefallen».

    Nur fünfeinhalb Jahre später verblüfft die gleiche Schweiz mit künstlerischer Avantgarde auf höchstem Niveau, wenn auch nicht gerade jene im Dunstkreis des Bundeshauses. Am 28. September 1918 wird in Lausanne im Théâtre Municipal ein Pionierstück der Moderne uraufgeführt: «L’Histoire du soldat. Lue, jouée et dansée». Für die Musik zeichnet der Russe Igor Strawinsky, für das Libretto der Waadtländer Charles Ferdinand Ramuz. Die Geschichte vom Soldaten hält sich einen Abend, nach der Premiere ist Schluss. Die zweite Welle der Spanischen Grippe vereitelt nicht nur weitere Aufführungen in Lausanne, ins Wasser fallen auch eine mehrwöchige Tournee in der Westschweiz sowie Auftritte in Zürich, Basel und Bern. Die eingeplanten Bühnen müssen schliessen, mehrere Mitglieder des Adhoc-Ensembles fallen aus. Bis Ende Juni 1919 werden in der Schweiz 700000 Menschen, ein Fünftel der Bevölkerung, als infiziert registriert, in Wirklichkeit waren es ohne Zweifel beträchtlich mehr.

    «L’Histoire du soldat» war ein Produkt materieller Not. Der Librettist und der Komponist brauchten Geld. Ramuz’ Einnahmen präsentierten sich seit dem Beginn seiner Karriere als freier Schriftsteller eher bescheiden und versiegten während des Ersten Weltkriegs quasi ganz. Strawinsky verlor durch die Oktoberrevolution 1917 seinen ganzen materiellen Besitz und die Urheberrechte in Russland. Die Spanische Grippe und der Weltkrieg setzten zudem seine wichtigste Einnahmequelle im Westen, das Ensemble Ballets Russes, ausser Gefecht; unter ihrem genialen Impresario Sergei Djaghilew und mit Tänzern wie Vaslav Nijinsky und Choreografen wie Michel Fokine hatte die führende Balletttruppe dieser Zeit vor allem Kreationen von Strawinsky wie «Feuervogel», «Petruschka» und natürlich «Le Sacre du printemps» aufgeführt. Sie machten den Komponisten zum gefeierten Star einer neuen Musikszene. Aber Not macht erfinderisch, zumindest wenn grosse Künstler die Köpfe zusammenstecken. In etwas mehr als einem Jahr produzierten Strawinsky und Ramuz ein gut 50-minütiges Werk, das mit einfachsten technischen Mitteln und kostengünstigem, kleinem Ensemble auf eine Art Wanderbühne-Tournee gehen würde: sieben Musiker, zwei Schauspieler, Soldat und Teufel – Letzterer in der Premierenversion auf zwei Personen aufgeteilt –, einen Erzähler sowie eine Tänzerin in der Rolle der Prinzessin. Die Spanische Grippe legt das Stück vom Soldaten, der seine Seele an den Teufel verkauft, für mehrere Jahre auf Eis. In der Schweiz war es erst 1923 wieder in Genf zu sehen, mit dem gleichen Dirigenten wie bei der Premiere, aber in gekürzter Form; Ramuz’ Original-Libretto hatte die Epidemie nicht überlebt.

    Aber schon am Tag nach der Premiere – und jetzt betreten wir fiktives Terrain – macht die Geschichte vom Soldaten wieder Geschichte. Das Premierenensemble trifft sich mit einer Schar für die damalige Zeit repräsentativen Kulturschaffenden in der Wohnung Igor Strawinskys in Morges. Vater des Gedankens war der Winterthurer Kunstmäzen Werner Reinhart. Reinhart finanzierte die Vorbereitungsarbeiten und die Premiere des «Soldat» in Lausanne und wäre auch für eventuelle Defizite bei der geplanten Tournee aufgekommen – Strawinsky hatte ihm das Stück dann auch explizit gewidmet. Doch in unserer Fiktion geht Reinharts Grosszügigkeit noch weiter. Er schlug Strawinsky vor, auf seine Kosten am Tag nach der Premiere das ganze Ensemble und wichtige Protagonisten des Schweizer Kulturschaffens zu einer Nachfeier ins Hotel Beau-Rivage Palace in Ouchy einzuladen. Etwa ein Dutzend, wie er präzisierte. Wen genau, würde er Strawinsky überlassen. Dieser nahm dankend an; mit einem Änderungsvorschlag. Er wollte die illustre Schar bei sich zu Hause empfangen und damit auch ein Zeichen russischer Gastfreundschaft setzen. Auf dem Waadtländer Buffet mit Epesses, Papet vaudois und Bricelets de Bénichon würden dann auch Blinis und eisgekühlter Wodka thronen. Anschliessend konnte man die Geladenen zurück ins Hotel nach Ouchy verfrachten. Der Plan wird realisiert, oder fast, zwei der Geladenen schafften es nicht nach Morges, Paul Klee und Carl Spitteler. Klee war als formell Deutscher mit Münchner Wohnadresse anfangs 1916 in die deutsche Armee einberufen worden und von dieser ohne Fronteinsatz erst im Dezember 1918 zunächst beurlaubt und ein paar Monate später entlassen worden. Die Einladung von Strawinsky erhielt er als Schreiber in der Kassenverwaltung der Fliegerschule Gersthofen gar nie. Carl Spitteler war angemeldet, sagte aber in letzter Minute ab.

    Ich werde die zehn Persönlichkeiten, die es schliesslich tatsächlich nach Morges schafften, im zeitlichen Verlauf ihres Eintreffens am Place St. Louis einführen und ihnen Stimme, Postur und Profil verleihen. Sie verhalten sich so, wie man dies aufgrund ihres bisherigen und gegenwärtigen Lebens und Wirkens und dem Netzwerk, in das sie eingebunden sind, erwarten kann. Fiktiv und konstruiert sind Handlungsverlauf und Gesprächskonstellationen, aber nicht, was der Rapporteur zu Biografie, Persönlichkeit und Werk der Protagonisten vermerkt und was diese in den Dialogen über sich selbst berichten.

    Komponist, Librettist, Dirigent und Mäzen hatten zusammen zu Mittag gespeist und weitergesponnen, was sie bei einer kleinen Feier am Vorabend nach der Premiere im Hotel des Alpes neben der Aufführungsstätte begonnen hatten. Mit der Qualität der Aufführung waren sie weitgehend zufrieden. «Wir waren gut, wir hätten besser sein können», brachte es der schon in jungen Jahren äusserst selbstkritische und akribische Ansermet auf den Punkt, «die Vorbereitung war viel zu knapp bemessen. Ich habe bei den Proben immer darauf hingewiesen.» Nicht zuletzt aus diesem Grund hatte es sich gelohnt, von der ursprünglichen Absicht des Chefdramaturgen Strawinsky zumindest teilweise abzuweichen. Der Komponist wollte professionelle Schauspieler durch Laiendarsteller ersetzen, um damit authentischer zu werden. Musik, Libretto und Inszenierung riefen nach Spitzenleistungen. Und was wünschenswert und möglich war, zeigten dann meisterhaft die beiden ausgewiesenen Theaterprofis Georges Pitoëff als tanzender Teufel – neben Jean Villard als sprechender Mephisto – und Pitoëffs Gattin Ludmilla als Prinzessin. Nicht ganz einig war man sich über die Reaktion des Publikums. «Enthusiastisch», urteilte Reinhart. «Besser als erwartet», brummte Pessimist Ramuz. Einer beängstigend langen Stille nach dem Fall des Vorhangs folgte offenbar ein siebenminütiger tosender Applaus. Mehr, und dazu mit 400 Zuschauern ein fast volles Haus, konnte wohl kaum erwartet werden; Lausanne hatte sich des Spektakels durchaus würdig erwiesen. Schade, dass nun nicht wie vorgesehen auch andere Orte in den Genuss kommen würden. An eine Tournee war angesichts der Pandemie nicht zu denken. Mit «Heute Abend soll dennoch gefeiert werden» half Gastgeber Strawinsky über den Wermutstropfen hinweg, «interessante Gäste sind auf dem Weg zu uns, anregende Begegnungen und Gespräche winken».

    Igor Strawinsky hatte Charles Ferdinand Ramuz im Spätherbst 1915 kennengelernt. Ramuz war ein Jahr zuvor aus Frankreich in die Schweiz zurückgekehrt. In den zehn Jahren in Paris hat er mit «Aline» und dem für den Prix Goncourt nominierten «Les Circonstances de la vie» erste Zeugnisse seines grossen Talents abgelegt. Aber die Zeit in Paris, Verheissung für alle französischsprachigen Jungschreiber aus der nationalen und internationalen Provinz, brachte nicht den erhofften Durchbruch. Nun lebte er in einem Weingut in Treytorrens, einem Weiler zwischen Cully und Rivaz im Lavaux am Genfersee, Auge und Ohr für neue Projekte waren offen. Und in der Tat stiess er auf eines, und was für eines. Nach einem Konzertbesuch in Montreux kam es zum Wiedersehen mit einem alten Bekannten, dem Konzertleiter des Kurhausorchesters von Montreux, Ernest Ansermet. Bei einem Glas Chasselas berichtete ihm dieser beiläufig von einem Russen, der in Clarens bei Montreux direkt neben ihm wohne, grossartige Musik schreibe und zu einem der ganz Grossen werden würde. «Bring ihn nach der Weinlese doch nach Treytorrens», schlug Ramuz vor, «wir werden den noch unvergorenen 1915er kosten und mit älteren Jahrgängen vergleichen.»

    Wie viele Flaschen dann an diesem milden Oktobernachmittag «unter einem gleichzeitig verschleierten und leuchtenden Himmel und einer dünnen Nebelschicht, durch die die Sonne hindurchschien, als hätte man Ölpapier auf Glas geklebt» nötig waren, um aus diesem ersten Treffen die Basis für eine tiefe Freundschaft und enge Zusammenarbeit zu machen, hat Ramuz in seinem kleinen Bändchen «Erinnerungen an Strawinsky» nicht preisgegeben. Dass Wein in Gesellschaft von Brot zusammenschweisst aber schon. «Wein und Brot zusammen, das eine, um des andern Willens. Hier liegt der Ursprung deiner Persönlichkeit, und unmittelbar hier hat auch deine Kunst ihren Ausgang: das heisst, dein ganzes Ich», kommentiert Ramuz in seinen «Erinnerungen» und meint damit wohl nicht nur, was er an diesem Nachmittag von Strawinsky wahrnimmt, sondern auch wie er sich selbst sieht und was ihn mit dem Komponisten verbindet. Ein bestimmter Kunstbegriff? Übereinstimmende Vorstellungen von künstlerischer Ästhetik? Sicher auch; beide suchen in ihrem Wirken das Schnörkellose, Einfache und Direkte. Aber worauf sie bei diesem ersten Treffen stossen, was sie vereint, sind Gemeinsamkeiten auf einer anderen Ebene. Eine erdige Verbundenheit; zwei Bauern, die Kunst machen (wie Ramuz schreibt). Beide werden sich wie alle Künstler wandeln, der Musiker dabei aber bedeutend stärker als der Schriftsteller. Noch bevor Strawinsky 1920 die Schweiz verlässt, probiert er Neues, kleinere Ensembles, Integration von alternativen Musikstilen wie Tango und Jazz, bald wird er von seiner russisch-expressionistischen Phase in die Neoklassik wechseln. Ramuz bleibt dagegen im Wesentlichen bei seinem naturalistischen Stil, einer Erzählkunst und einem Französisch, die er französischen Verlegern gegenüber schon in frühen Jahren seines Schaffens als nicht verhandelbares Markenzeichnen seiner selbst bezeichnet hat. Authentizität untergräbt man nicht. Strawinsky bleibt ein Freund, aber den Weg in die Moderne, den der Komponist beschreitet, ist nicht der des Schriftstellers. Nach ein paar fruchtbaren gemeinsamen Wegstücken zweigt Ramuz bei der Gabelung Richtung «Waadtland» wieder ab.

    Der «Fuchs», «Renard: Histoire burlesque chantée et jouée», ist Gegenstand ihrer ersten Zusammenarbeit. Ramuz hilft Strawinsky, eine russische Fabel ins Französische zu übersetzen. Knochenarbeit, wenn der Übersetzer der Originalsprache des Textes nicht mächtig ist. Silbe um Silbe, Wort um Wort, Vers um Vers. Es ist ein Ringen um das Wesen der Aussage, ohne die Eleganz der Sprache und die dahinter lauernde Musik aufs Spiel zu setzen. Unterbrochen wird die Arbeit von gemeinsamen Ausflügen in die Weinberge, nun nicht mehr im Lavaux, sondern in der Umgebung des neuen Wohnsitzes von Strawinsky in Morges. Ramuz saugt von Strawinsky auf, was dann für die gemeinsame Arbeit am «Soldaten» so wichtig wird: ein Gefühl für Musik, Konvergenzen zwischen Musik und Sprache. Er betritt neues Terrain und erweist sich auch hier als Meister. Aber es bleibt ein einmaliger Abstecher ohne nachhaltigen Einfluss auf sein Schreiben, mit der Ausnahme vielleicht, dass sich seine Sprache fortan noch rhythmischer präsentiert. Ein Abstecher ohne direkten Einfluss auf sein Werk, aber mit grosser Wirkung auf seine Karriere. Nach 1918 ist Ramuz der Schweizer Dichter, der mit Strawinsky «L’Histoire du soldat» erschuf. Aus dem Waadtländer Erzähler und Romancier, der hervorragend schreibt, wird ein internationaler, und in dieser Zeit fast noch schwieriger, ein schweizweit bekannter Schriftsteller.

    Und noch etwas anderes bleibt von der Zusammenarbeit mit Strawinsky. Ramuz besingt es in seinen Erinnerungen an den Komponisten: «Du warst mir ein Beispiel der Ursprünglichkeit, und das ist es, was unserem Land am meisten fehlt, wo die Charaktere so veranlagt sind, dass sie sich immerfort analysieren, beurteilen, dass sie sich ihr eigenes Spiegelbild vorhalten und schliesslich überhaupt nicht mehr zum Handeln fähig sind …» An was denkt Ramuz mit seiner Kritik an der Passivität seines Milieus, seiner Umgebung, die er liebt und verehrt? Zugunsten von was sollten die Charaktere handeln? Zugunsten des Ursprünglichen im echten und natürlichsten Sinn des Wortes, zu dem, was enge Heimat ausmacht. Er meint damit nicht die (politische) Schweiz, nicht einmal den (politischen) Kanton Waadt, sondern kleiner, bescheidener, eine geomorphologische Einheit, Le Pays de Vaud mit dessen Landschaft und Leuten. Er meint die kleinen Dinge um die Ecke, den Alten mit Filzhut in der Kneipe, das Schöppchen Wein (vom einheimischen), das Lied, das jeder kennt und singt. Und durch was und wen ist dieses Ursprüngliche bedroht? Durch eine Moderne, die alles bedenkenlos frisst, den ungebremsten Liberalismus des frühem 20. Jahrhunderts, der alles niederreisst, was einmal von Wert war, und die Anfänge einer gleichmachenden Globalisierung, zu einer Zeit, als der Begriff noch gar nicht erfunden war. «Eine Schweiz der Hotels, eine wie mit Theaterkulissen verfälschte und konstruierte Schweiz, mit bengalischer Beleuchtung der Wasserfälle, künstlichen Gletschern, Fallgruben, Alphornbläsern, die nach jeder Melodie um Geld bitten, und Serviertöchtern in Landestrachten … eine Karikatur der echten Schweiz», wie es Ramuz abschätzig schildert.

    Charles Ferdinand Ramuz ist nicht der Bilderfresser und Buchverbrenner, den am Anfang des Kapitels das «Berner Tagblatt» an die Wand malte. Aber die Fixierung auf seine Wurzeln, die Besonderheiten und Tugenden seiner Umgebung, des Ländlichen, vom Wandel Bedrohten, bringt ihn im frühen 20. Jahrhundert nichtsdestotrotz in das politisch gefährliche Terrain des «Blut und Bodens». Er wird zu einem «propagandiste malgré lui», wie Jérôme Meizoz in seiner Ramuz-Biografie treffend kommentiert. Ramuz hat es wohl selbst befürchtet, als er sich in den 1930er-Jahren in einem Essay als «unpolitisch» bezeichnet hat und mögliche politische Wege dieser Zeit wie Kapitalismus, Nationalsozialismus und Kommunismus allesamt verwirft. Aber sein gleichzeitiger Flirt mit einer lokalen Gruppierung des politisch rechten Flügels mit klar antiparlamentarischen und antisemitischen Tendenzen, der Ligue Vaudoise, und die Unterzeichnung eines Briefes der (unzweifelhaft) faschistischen Action Nationale in Frankreich zugunsten des (unzweifelhaft) faschistischen Schriftstellers Charles Maurras sprechen eine andere Sprache. Nur politische Naivität? Vielleicht. Aber sie bewirkt, dass Politiker der extremen Rechten in Deutschland, Frankreich und Italien in seinem Werk Sympathie für ihre Sache eruieren. Und Gleiches vermuten Gleichgesinnte in der Schweiz.

    Einer von diesen «Gleichgesinnten» ist der erste der Geladenen im Hause Strawinskys an diesem frühen Nachmittag des 29. September in Morges: Frédéric Gonzague Graf Reynold de Cressier, oder, seit die Schweiz zum Verdruss des Grafen mit dem Gleichheitsgebot in der Bundesverfassung den Adelstitel abschaffte, nur noch Gonzague de Reynold. Ernest Ansermet hatte ihn Gastgeber Strawinsky vorgeschlagen, weniger als Schriftsteller, die Qualität seiner Produkte hätte für eine Selektion nicht gereicht, denn als Galionsfigur der literarisch tätigen konservativen Rechten des Landes. Diese hat zu dieser Zeit grossen Einfluss auf politische Entscheide bis in die höchsten politischen Gremien der Schweiz. Dessen Einladung könnte sich als kulturpolitisch nützlich erweisen, machte er Strawinsky gegenüber geltend. Ramuz war gegen eine Einladung, teils aus politischen, noch mehr aber aus zwischenmenschlichen Gründen; der Graf vom Murtensee war ihm als Persönlichkeit zutiefst zuwider. Aber Strawinsky, nicht unbedingt taub auf dem politisch rechten Ohr, folgte dem Rat des Musikkollegen.

    Eigentlich ist de Reynold eher bekannt für seine Unpünktlichkeit, aber heute hat er sich um eine Stunde vertan und lässt sich schon um Mittag statt erst um 13 Uhr von seinem Fahrer im schwarzen Martini von seinem Domizil Schloss Cressier nach Morges chauffieren. Kurz nach halb zwei trifft er dort ein. Strawinsky hat das grosse Wohnzimmer im zweiten Stock vollständig geräumt und auf Seiten der Fenster mit Blick auf den wunderschönen Innenhof mit Kastanienbaum und Brunnen – den er übrigens abstellen liess, um beim Komponieren nicht gestört zu werden – einen langen Tisch für das Buffet mit Waadtländer Spezialitäten und einigen russischen Leckereien aufgestellt.

    De Reynold hatte gezögert, die Einladung überhaupt anzunehmen. Der Gastgeber und einige der Eingeladenen waren ihm höchst suspekt. So der Sozialdemokrat, und in seinen Augen eigentlich Kommunist, Carl Albert Loosli, ehemaliger Redaktor der sozialistischen «Tagwacht», mit dem er in Bern immer wieder die Waffen kreuzte. Ebenso Félix Vallotton, dessen Bild, auf dem eine bekleidete Schwarze auf dem Bett sitzend eine liegende nackte Weisse geradezu spöttisch und herablassend betrachtet, war ein echter Skandal. Man konnte nur hoffen, dass dieses Zeugnis einer in französischen Künstlerkreisen ausgebrochenen regelrechten «Negrophilie», wie seine Pariser Freunde es nannten, in der Schweiz nie ausgestellt werden durfte. Was Strawinsky betraf, so kannte er diesen nur durch Kritiken, aber dass dessen Musik ihn als Wagner- und Berlioz-Anhänger kaum begeistern würde, war wenig spekulativ. Und dann diese skandalöse Ballettaufführung in Paris vor einigen Jahren, etwas mit «Frühling» im Titel, wie er sich zu erinnern glaubte. Wahrscheinlich würde er auch die Person hinter der Musik nicht mögen. Und warum lebte der Russe überhaupt seit mehreren Jahren in der Schweiz, war also lange vor der Revolution ausgewandert? Was suchte er hier? Der Premiere seines Stückes in Lausanne würde er jedenfalls fernbleiben. Zum Empfang am Folgetag entschloss de Reynold sich aber schliesslich hinzugehen. Mit einem Hintergedanken.

    De Reynold hatte seit Langem vor, sich wieder einmal mit Ramuz zu treffen. Morges bot die passende Gelegenheit. Sie waren beide zu Beginn des Jahrhunderts in der Zeitschrift «La Voile latine» von einer Gruppe von Westschweizer Schriftstellern engagiert, die er, de Reynold, ein paar Jahre leitete. Es kam zu Flügelkämpfen, in denen sie sich bezüglich Entwicklung der Zeitschrift diametral widersprachen. Ramuz sah sie als rein künstlerisches Unternehmen, er selbst wollte sie zu einem Sprachrohr des sogenannten Helvetismus machen, einer patriotischen Geisteshaltung, die sich im Kulturbereich der Herausbildung einer schweizerischen Nationalliteratur und ganz grundsätzlich nationalbewusster Kunst verschrieb. Aber das war Jahre her, die «Voile» hatte ihre Segel längst gestrichen und der Ärger war verdaut, den ihm Ramuz anlässlich der Nationalen Kunstausstellung in Lausanne von 1904 bereitet hatte, als er in der Presse Modernisten wie Cézanne und van Gogh verteidigte. Und selbst wenn sie sich bezüglich ästhetischer Aspekte der Malerei nicht fanden, hiess dies noch lange nicht, dass sie sich seither nicht kulturpolitisch angenähert hatten. Die von ihm, de Reynold, 1914 mitbegründete «Neue Helvetische Gesellschaft» schien seinen Postulaten jedenfalls recht zu geben. Sie entwickelte sich prächtig und vermochte in den ersten Jahren ihre Mitgliederzahl fast zu verdoppeln. Wie auch immer: Im schriftstellerischen Werk Ramuz’ und einigen seiner Beiträge in der Kulturzeitschrift «Les Cahiers vaudois» glaubte de Reynold in den letzten Jahren einen Weggefährten erkannt zu haben. Vielleicht nicht von gleicher Radikalität wie er selbst, aber ein Weggefährte allemal.

    Diesen Weg hatte der Graf vom Murtensee in seiner Streitschrift «Le Besoin de l’ordre» schon 1910 unmissverständlich vorgezeichnet, jener einer neuen radikalen Rechten, einer «konservativen Avantgarde», wie der Historiker Hans Ulrich Jost sie einst treffend etikettierte. De Reynold ist ihr «maître à penser». Im Visier sind «die herrschende Demokratie, die die religiöse, heroische an Kunst und Genie so reiche Schweiz verdirbt», ein Materialismus, «der die Tradition verachtet und die Vergangenheit verfälscht» und eine Überfremdung, die selbst in «die heiligen Bereiche der Kunst, der Wissenschaft und der Erziehung eindringt». Nötig ist die Rückbesinnung auf das, was einmal war und was das Eigene ausmacht. In der Malerei nicht japanisch anmutende Holzdrucke oder Nackte wie bei Vallotton, sondern Berge und Schweizer, die sie besteigen, wie bei Hodler. «Der Gotthard als Berg der Mitte, das Herz des Reichs, der die christliche Welt zusammenhalte, mit der Schweiz als Hüterin der Pässe und der Quellen», wie de Reynold schrieb. Kunst ist Teil eines Gesamtkunstwerkes, so wie es der Komponist Richard Wagner in Bayreuth und der Schriftsteller Gabriele D’Annunizo in Italien vorgespurt hatten. Wenn die Demokratie schon nichts taugt, soll sich der Staat zumindest in ein heroisches Gewand kleiden und Politik entsprechend ästhetisieren. Schönes schaffen für die, die diesen Staat zu führen wissen. Aber nicht nur für sie, denn die christliche Elite ist durchaus willens, einige Tropfen dieser Schönheit uneigennützig auf die trokkenen Lippen des einfachen Arbeiters fallen zu lassen, «um diesem den Trank, mit dem er gewöhnlich seinen Durst löschen muss, weniger bitter zu machen», wie sich Gesinnungsgenosse und Cousin de Reynolds, Georges de Montenach, der spätere Mitgründer der Universität Freiburg, Hochburg des katholischen Konservatismus, in seinem «L’Art et le peuple» von 1903 ausdrückte. Kein Wunder, dass eine so getröstete Arbeiterschaft 15 Jahre später radikal rebelliert …

    Zurück zu de Reynold und dessen Ankunft in Morges. Strawinsky ist eben im Begriff, dem Premierenensemble vom Abend zuvor die Namen der zu erwarteten Gäste zu verraten und den Grund ihrer Einladung zu erläutern. Und wie er auf der Liste zu de Reynold kommt, erlaubt er sich ein Spässchen und zwar genau zu jenem Zeitpunkt als dieser, von ihm unerkannt, den Raum betritt: «Was den Grafen de Reynold betrifft, gebe ich das Wort Ramuz. Er wollte ihn unbedingt nicht dabeihaben.» Grinsen mit zwei Ausnahmen, aber Ramuz agiert souverän. «Igor hat mich wieder einmal falsch verstanden; sein Französisch ist auch nach all den Jahren immer noch miserabel.»

    Die Situation ist gerettet. Und dass die folgende Unterredung der zwei Betroffenen äusserst kühl verläuft und es de Reynold nicht gelingt, Ramuz in sein Boot zu holen, ist sicher nicht diesem Missgeschick anzulasten. De Reynold, vom Vorfall ganz offensichtlich nicht aus der Fassung gebracht, steuert schnurstracks auf Ramuz zu und kommt gleich zur Sache: «Ich habe», lässt er verlauten, «Ihre kritischen Worte über den Verfall der Schweiz gelesen und kann jeden Satz unterschreiben. Man muss unbedingt Gegensteuer geben. Ich möchte eine neue politische Bewegung etablieren, welche die Schweiz wieder auf den richtigen Weg führt, und möchte Sie, Monsieur Ramuz, einladen, als Geistesverwandter mitzumachen. Eine Hauptstossrichtung soll dabei sein, die hiesige Kunst zu ‹helvetisieren›. Ich zähle auf Sie!»

    Ramuz wusste, was kommen würde. Ein gemeinsamer Bekannter, Édouard Secretan, Chefredaktor der liberal-konservativen «Gazette de Lausanne», hatte ihm vor einiger Zeit von de Reynolds Plänen berichtet und angedeutet, dass dieser wohl auch bei ihm vorstellig werde. Um gewappnet zu sein, hatte er am Morgen vor dem Gang zu Strawinsky wieder einmal in de Reynolds Bibel «Le Besoin de l’ordre» geblättert. Eine gewisse Sympathie mit einzelnen Postulaten, wie sie etwa von der Heimatschutzbewegung als Opposition gegen ungezügelte Industrialisierung vertreten wurden, konnte er nicht leugnen. Aber mit der radikalen «Blut und Boden»-Politik des Schlossherrn wollte Ramuz

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