Dorian Hunter 46 – Schrei der Ungeborenen
Von Ernst Vlcek
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Über dieses E-Book
Der 46. Band der legendären Serie um den "Dämonenkiller" Dorian Hunter. - "Okkultismus, Historie und B-Movie-Charme - ›Dorian Hunter‹ und sein Spin-Off ›Das Haus Zamis‹ vermischen all das so schamlos ambitioniert wie kein anderer Vertreter deutschsprachiger pulp fiction." Kai Meyer
enthält die Romane:
199: "Verlorene Mädchen"
200: "Schrei der Ungeborenen"
201: "Ein Fest für die Drud"
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Buchvorschau
Dorian Hunter 46 – Schrei der Ungeborenen - Ernst Vlcek
Schrei der Ungeborenen
Band 46
Schrei der Ungeborenen
von Ernst Vlcek
© Zaubermond Verlag 2014
© Dorian Hunter – Dämonenkiller
by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt
Titelbild: Mark Freier
eBook-Erstellung: story2go | Die eBook-Manufaktur
http://www.zaubermond.de
Alle Rechte vorbehalten
Was bisher geschah:
Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen verschrieben, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor.
Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es Dorian, ihnen die Maske herunterzureißen.
Bald kommt Hunter seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloss er als französischer Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit Asmodi, dem Oberhaupt der Schwarzen Familie, der ihm die Unsterblichkeit sicherte.
Um seine Sünden zu büßen, verfasste de Conde den »Hexenhammer« – jenes Buch, das im 16. Jahrhundert zur Grundlage für die Hexenverfolgung wurde. Doch der Inquisition fielen meist Unschuldige zum Opfer; die Dämonen, auf die de Conde es abgesehen hatte, blieben ungeschoren. Vielmehr wurde bald er selbst als Ketzer angeklagt und hingerichtet. Der Pakt galt, und de Condes Seele wanderte in den nächsten Körper. In vielen Inkarnationen verfolgte er seitdem rachsüchtig die Mitglieder der Schwarzen Familie, bis es ihm in der Gegenwart als Dorian Hunter endlich gelang, Asmodi zu vernichten und auch dessen Nachfolgern wenig Glück beschieden war.
Hunter, der sich selbst als Dämonenkiller bezeichnet, besitzt als Hauptstützpunkt seiner Aktivitäten die Jugendstilvilla in der Londoner Baring Road. Dort lebt er zusammen mit der Hexe Coco Zamis, die aus Liebe zu ihm die Seiten wechselte, und den anderen Mitstreitern des Dämonenkiller-Teams: dem Zyklopenjungen Tirso, dem Hermaphroditen Phillip sowie Trevor Sullivan, dem alten Leiter der Mystery Press, der nach einer schlimmen Auseinandersetzung mit den Dämonen erst kürzlich wieder aus dem Koma erwacht ist.
Bis vor Kurzem gehörte auch Martin Zamis, Dorians und Cocos Sohn, zu den Bewohnern der Jugendstilvilla. Aber Martin hat die Seiten gewechselt – auf eine Art, die den Dämonenkiller in die schlimmste Krise seines Lebens gestürzt hat: Von einem Dämon namens Isbrant entführt stürzte Martin durch einen Zeitschacht in die Vergangenheit, wo er ohne seine Eltern aufwuchs und später die Identität seines Entführers annahm. Durch eine hinterhältige Intrige, bei der er Coco vorübergehend eine tödliche Krankheit anhexte, hat er bei der Wahl zum neuen Fürsten im Krakatau dafür gesorgt, dass sich die Zeitschleife schloss. Die Erschütterungen in der Zeit brachten den Vulkan Krakatau zum Ausbruch, und Dorian und Coco gelang es erst im letzten Augenblick, den Ort ihrer schlimmsten Niederlage zu verlassen – nicht ohne die schreckliche Gewissheit: Isbrant ist Martin, und Martin ist Isbrant. Der neue Fürst der Finsternis – ist das Kind des Dämonenkillers!
Dorian ertränkt seinen Kummer im Bourbon. Er zieht sich vor Coco zurück und denkt daran, seinen Kampf endgültig aufzugeben. Eines Tages hat die junge Hexe die Nase von Dorians Selbstmitleid voll und ergreift selbst die Initiative. Sie macht sich auf den Weg nach Wien – um alte Freunde zu treffen.
Doch aus der Reise in die Vergangenheit wird ein blutiger Albtraum ...
Erstes Buch: Verlorene Mädchen
Verlorene Mädchen
1. Kapitel
»Agnes, du sollst meine Braut für die Ewigkeit sein«, sagte der Graf ernst.
Agnes lachte darüber zuerst, weil sie dachte, er mache ihr wieder einmal eines seiner übermütigen Komplimente; er war schon sehr galant, aber auch verschmitzt. Doch dann sah sie in seine Augen und erkannte, dass er meinte, was er sagte. Sie wusste nur nicht recht, was sie davon halten sollte.
»Kannst du mir etwa zu ewigem Leben verhelfen, Antos?«, fragte sie scherzhaft.
Aber er blieb ernst.
»In gewisser Weise schon«, sagte er, dabei hatte er die Stirn gerunzelt, als müsse er seine eigenen Worte erst auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen. Er verfiel danach in brütendes Schweigen.
»Was bist du fad«, maulte Agnes und warf mit einem Kissen nach ihm. »Ich möchte, dass du was mit mir unternimmst.«
Er lag rücklings in dem breiten, feudalen Messingbett, das er ihr zu ihrem siebenundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Er hatte seine Blöße bis zum Bauchnabel mit der Daunentuchent bedeckt. Die Arme im Nacken verschränkt, blickte er nachdenklich zur hohen Decke.
Das Messingbett war nicht das einzige Geschenk, das er ihr gemacht hatte. Er hatte ihr die gesamte Wohnung eingerichtet und zahlte auch die Miete dafür. Der Graf war sehr großzügig und darüber hinaus ein ideenreicher und leidenschaftlicher Liebhaber.
Sie hatten sich bis vor einer halben Stunde ausgelassen ihren Liebesspielen hingegeben, aber es schien nicht so, als wolle der Graf diese heute noch fortsetzen. Es war, als hätte er einen Hebel betätigt und damit seine Libido abgeschaltet. Agnes hob die Tuchent hoch und warf einen prüfenden Blick auf seine Männlichkeit – nein, es sah wirklich nicht danach aus, als würde es heute noch eine Fortsetzung geben.
»Was kannst du mir sonst noch bieten, wenn du schon liebesunfähig bist?«, stichelte Agnes.
Plötzlich warf er die Tuchent zurück und sprang aus dem Bett. Er war klein und dürr, mit dünnen Beinen und einem eingefallenen Brustkorb. Alles andere als ein attraktiver Mann, aber, wie gesagt, ein guter Liebhaber – und großzügig war er auch noch.
»Du willst etwas erleben, Agnes, ja?«, sagte er mit plötzlich erwachtem Tatendrang. »Dann komm. Zieh dich rasch an.«
»Warum pressiert es dir denn auf einmal so?«, wunderte sich Agnes. »Grad noch warst du am Einschlafen, und auf einmal diese Hektik. Läuft uns denn was davon?«
»Zieh dich schon an«, verlangte er barsch und angelte nach seinen eigenen Unterkleidern. »Ich habe mich entschlossen, dir etwas Einmaliges zu bieten, das du in deinem Leben nicht vergessen wirst. Also darf ich auch darum bitten, dass du gehorchst. Zieh dein schönstes Kleid an, deinen auffallendsten Hut – und den Zobel ... es ist kalt draußen.«
»Ist dir etwa eingefallen, dass wir heute wieder einmal eine Einladung haben?«, fragte sie, während sie sich bereits daranmachte, seinen Wünschen nachzukommen.
»Nein, keineswegs«, sagte er mit anzüglichem Lächeln. »Heute feiern wir ganz alleine, bloß wir zwei und sonst niemand. Das ist das Besondere daran.«
Er war lange vor ihr angekleidet und trommelte mit dem Spazierstock einen nervösen Rhythmus auf den Parkettboden, während er auf sie wartete. Aber sie ließ sich nicht schikanieren. Wenn er wollte, dass sie sich schön machte, dann musste er ihr schon auch die benötigte Zeit geben.
Aber schließlich war sie fertig, rückte noch einmal den Hut mit der keck geschwungenen Krempe zurecht, dann ließ sie sich von ihm in den Zobel helfen.
»Du warst noch nie so schön wie in diesem Augenblick«, sagte er mit ehrlicher Bewunderung. Sie quittierte es mit einem geschmeichelten Lächeln, hakte sich bei ihm unter und ließ sich von ihm über die breite Treppe die vier Stockwerke hinunterführen.
Als sie unten aus dem Haus Seilerstätte 9 auf die Straße traten, schlug ihnen ein eisiger Hauch entgegen. Aber die Luft war trocken, wie selten anfangs November, und roch nach Schnee. Der Graf wandte sich mit ihr nach rechts, in Richtung Wollzeile.
»Verrätst du mir endlich, wohin wir gehen?«, fragte Agnes und zog den Zobel mit der freien Hand am Hals enger.
»Lass dich überraschen«, sagte er, aber er klang nun aufgekratzt, nicht mehr so streng wie vorhin, als er sie beim Ankleiden zur Eile angetrieben hatte.
»Einen kleinen Hinweis wirst du mir doch geben, bitte, Antos«, verlangte sie schmollend.
Er überlegte kurz, dann sagte er geheimnisvoll: »Nur so viel: Ich will dir etwas Einmaliges bieten. Wir haben schon einiges miteinander erlebt. Aber die Erfahrung, die ich dir heute verschaffen werde, wird völlig neu für dich sein.«
Ja, man konnte wohl sagen, dass sie in den vier Jahren, in denen sie zusammen waren, einiges miteinander erlebt hatten. Seit sie den Grafen kannte, war ihr Leben eine Aneinanderreihung bizarrster Orgien gewesen. Sie hatte Dinge für und mit ihm gemacht, von denen sie nie geglaubt hätte, dass sie imstande sein könnte, sie zu tun, ja, Dinge, von denen sie nicht einmal geahnt hatte, dass es sie gab und dass sie machbar waren. Es war schon ein wildes, ungezügeltes Leben an der Seite des Grafen. Und das Überraschendste für sie war, dass sie keinen Augenblick davon bereute oder missen mochte.
Sie hatten die Wollzeile überquert und gingen eine geschwungene Gasse in Richtung Kai.
»Du bist heute wirklich wunderschön, Agnes«, sagte er zwischendurch mit einem bewundernden Seitenblick.
Sie lächelte wissend und sagte mit maliziösem Lächeln: »Wenn du mich nicht enttäuschst, sage ich dir vielleicht, woher das kommt.«
»Ich habe versprochen, dir etwas Einmaliges zu bieten – und dieses Versprechen werde ich halten.«
Mit dieser Beteuerung steigerte er ihre Neugierde ins Unermessliche, aber sie wagte nicht noch einmal, ihn zu fragen, was er mit ihr vorhatte.
»Führst du mich zum Donaukanal?«, fragte Agnes deshalb nur und drückte sich fester an ihn; sie war um etwa einen halben Kopf größer als er und schien durch den Zobel auch das doppelte Volumen zu haben. Er wirkte wie ihr Spielzeug, aber sie wusste, dass es, wollte man diesen Vergleich anwenden, genau umgekehrt war.
Sie erreichten den Schwedenplatz mit der Brücke über den Donaukanal.
»Willst du mit mir in die Brigittenau hinüber?«, fragte sie aufmüpfig. »In diesem Fall hättest du mir besser einen Fiaker gönnen können.«
»Nein, nein, wir sind praktisch schon hier«, sagte er beruhigend und wandte sich einem Hauseingang zu. Agnes achtete nicht auf die Adresse. Sie fühlte sich auf einmal etwas unpässlich. Ihr war auch irgendwie schwindelig, und sie fühlte sich leicht benebelt. Lag das an der schneidenden Kälte?
Er holte einen Schlüssel hervor, sperrte das Haustor auf und schob sie in den dahinterliegenden dunklen Flur. Hinter ihnen fiel das Tor krachend ins Schloss.
»Du hast mir noch gar nicht gesagt, dass du am Kai eine Wohnung besitzt«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Ich wohne hier nicht«, sagte er schwer atmend; etwas schien ihn zu erregen. »Im Moment steht dieses Haus leer. Die Adresse ist auch nicht von Bedeutung. Worauf es ankommt, ist, was darunter liegt. Wir müssen in den Keller.«
Sie tastete sich unsicher durchs Dunkel. »Kannst du denn kein Licht machen?«
»Wir brauchen kein Licht. Ich kenne den Weg. Ich führe dich.«
Er glitt an ihr vorbei, ergriff ihre Hand und zog sie mit sich.
»Achtung, Stufen«, sagte er dann.
Sie tastete sich vorsichtig mit den Füßen bis zum ersten Stufenrand und stieg hinunter. Sie zählte insgesamt 23 Stufen, bis sie lehmgepressten Kellerboden unter ihren Schuhen spürte.
»Wir sind gleich da«, raunte er mit seltsam rauer Stimme; er klang aufgeregt und erwartungsvoll.
Agnes gefiel es weniger, dass er sie kreuz und quer durch diese Kellergewölbe zerrte. Ihr wurde ein wenig unheimlich zumute, denn sie fand, dass sich ihr Graf gerade reichlich seltsam benahm. Seit sie ihn kannte, hatte er sich noch nie so unergründlich angestellt.
»Bist du sicher, dass es mir gefallen wird, was du mit mir anstellen willst?«, fragte sie unsicher, als er plötzlich stehen blieb und sie auf ihn auflief. Aber er löste sich sogleich von ihr.
»Ich weiß nicht, ob es dir gefallen wird, liebe Agnes«, drang seine Stimme von irgendwo aus dem Dunkel vor ihr. »Aber ich muss es tun. Und wenn nur für mich alleine ...«
Seine Stimme klang auf einmal so kalt und distanziert, unpersönlich geradezu. Sie wollte die Arme nach ihm ausstrecken, aber sie war zu keiner Bewegung fähig. Sie konnte sich überhaupt nicht rühren. Sie wollte nach ihm rufen, aber sie hatte auch keine Stimme mehr. Nur noch ihr Gehörsinn funktionierte.
Aus der Richtung vor ihr erklang eine fremdartig klingende Stimme, die in einem seltsamen, unheimlichen Singsang Laute von sich gab, die aus einer fremden, ihr völlig unbekannten Sprache zu stammen schienen. Manches klang irgendwie vertraut und dem ähnlich, was die Zeremonienmeister bei den unzähligen Orgien von sich gegeben hatten, an denen sie mit ihrem Grafen teilgenommen hatte. Und doch war dies hier etwas ganz anderes. Es gab hier keine vermummten Zeremonienmeister, nur sie und ihren Grafen. Und er musste es sein, es war sonst niemand da, der diesen so unheimlichen und fremd klingenden Singsang von sich gab, der wie eine bedeutungsvolle Beschwörungsformel klang.
Eisiges Grauen beschlich sie. Was mochte das zu bedeuten haben? Was hatte der Graf mit ihr vor? Und sie hatte angenommen, er habe mit ihr eine schöne Überraschung vor, die sie in den siebten Himmel der Lust schweben lassen würde. Aber danach sah es nun nicht mehr aus.
Sie hätte schreien wollen, ihn zur Rede stellen und ihn beschimpfen und verfluchen wollen. Aber sie war völlig hilflos, wie durch unsichtbare Fesseln gebunden und durch einen unsichtbaren Knebel zum Verstummen gebracht. Was bildete sich dieser Zwerg ein? Was beabsichtigte er ihr anzutun?
Der Singsang verstummte und ein unwirklicher, grünlicher Lichtschein erhellte ihre Umgebung. Das heißt, sie sah durch ein unregelmäßiges Loch den Grafen in dieses seltsame Licht getaucht. Er hielt etwas in der Hand, das wie ein ganz normaler Ziegelstein aus gebranntem Lehm aussah. Damit spielten seine Hände, und er lächelte dabei ... ganz und gar diabolisch, wie es ihr schien.
Und dazu sagte er: »Ich habe dir ein einmaliges Erlebnis versprochen, begehrenswerte Agnes. Und es wird das Letzte sein, was du in diesem Dasein körperlich erlebst. Aber du wirst nicht sterben, denn du sollst meine Braut für die Ewigkeit werden. Meine Magie wird dich konservieren, für Jahrzehnte oder gar für Jahrhunderte ...«
Während er sprach, wurde die Öffnung, durch die sie ihn sah, immer kleiner. Ziegelstein um Ziegelstein gewissermaßen, die sich, wie von Zauberhand bewegt, übereinander schichteten. Und da begriff sie, welches Schicksal ihr der Graf zugedacht hatte.
Sie sollte bei lebendigem Leib eingemauert werden!
Alles in ihr drängte nach einem Schrei. Sie wollte ihn um Gnade bitten, ihn anflehen, ihr dieses grausame Schicksal zu ersparen. Aber sie musste das alles für sich behalten, konnte den Sturm ihrer verzweifelten Gefühle nur in ihrem Inneren austoben.
»Du warst mir eine wirklich amüsante Gespielin, Agnes«, sprach der Graf weiter. »Du hast mir absolut viel Freude und Spaß bereitet. Nur, jetzt ist es Zeit für eine Trennung. Sei jedoch versichert, dass ich zu dir auf Besuch kommen werde, wann immer mir danach ist, mich mit dir zu amüsieren.« Der Graf war nun nur noch durch eine kleine Öffnung zu sehen, so groß wie ein einzelner Ziegelstein. »Leb wohl, schöne Agnes. Es wird Zeit, dass ich deine Kemenate mit dem magischen Siegel verschließe.«
Und mit diesen Worten verschloss er das Loch mit jenem Ziegel, den er die ganze Zeit über so spielerisch in seinen Händen gehalten hatte.
Nun war Agnes endgültig von Dunkelheit eingehüllt. Gefangen in einem irrsinnigen, unfassbaren Albtraum. Sie wünschte sich ein rasches Ende ohne lange Qual. Und sie wollte nur hoffen, dass es nicht so war, wie der Graf es ihr angedroht hatte, und ihr Leiden Ewigkeiten dauern konnte.
Warum tat er ihr das an, wo er doch versichert hatte, dass sie ihm viel Freude und Lust bereitet hatte? Und noch heute, vor wenigen Minuten auf dem Weg hierher, hatte er ihr beteuert, dass sie so schön sei wie nie zuvor.
Sie hatte ihm den Grund dafür, was sie ihrer Meinung nach so strahlend und unwiderstehlich schön machte, als Überraschung verraten wollen. Aber sie war nicht mehr dazu gekommen, ihm zu gestehen, dass sie ein Kind von ihm erwartete.
Der Graf hatte sie zusammen mit ihrem Ungeborenen eingemauert.
2. Kapitel
Gegenwart
Als Coco Zamis aus dem Zug stieg, schneite es nur noch leicht. Zwischen Salzburg und St. Pölten hatte es zwischendurch ein regelrechtes Schneetreiben gegeben, und die Landschaft war wie heftig überzuckert gewesen. Und das im November! Danach war der Schneefall immer schwächer geworden, und auf dem Bahnsteig des Wiener Westbahnhofes wirbelten nur noch vereinzelte Flocken durch die Luft.
Coco schulterte die Reisetasche am Trageriemen und schritt langsam über den Perron in Richtung Bahnhofgebäude, den Blick suchend nach vorne gerichtet, während die Mitreisenden an ihr vorbeihasteten. Sie selbst hatte es nicht eilig. In London hatte sie Vergil Fenton, Phillip Hayward und Tirso Aranaz zum Flughafen Heathrow begleitet – die drei waren nach Reykjavík abgeflogen. Eigentlich hatte Coco vorgehabt, ebenfalls ein Flugzeug zu nehmen, doch dann hatte sie diese bequeme aber langsame Art des Reisens gewählt, um Zeit zum Nachdenken zu haben.
Sie wollte zu den erschütternden Geschehnissen der letzten Tage erst einmal Distanz gewinnen, bevor sie sich zu irgendwelchen Handlungen entschließen konnte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie auf das Ungeheuerliche reagieren sollte, wollte auch die weitere Entwicklung abwarten. Man musste es sich vorstellen: Ihr leiblicher Sohn Martin, das Kind einer aus der Schwarzen Familie verstoßenen Hexe, die sie nun einmal war ... Martin, den sie zuletzt als liebenswerten Jungen geliebt hatte, war durch eine Zeitschleife gewandert, um sich unter dem Namen Isbrant zum Fürst der Finsternis küren zu lassen.
Was für ein Schock!
Dorian Hunter, den sie den Dämonenkiller nannten, ihr Lebensgefährte – Lebensmensch schon! – und Vater ihres Kindes, hatte auf diese Erkenntnis unglaublich heftig reagiert. Coco hätte nicht geglaubt, dass irgendetwas ihn derart erschüttern konnte, dass er völlig ausrastete. Er hatte zu trinken begonnen und war zu einem unausstehlichen Ekel geworden. Es war, als sei ein Dämon in ihn gefahren. Aber Coco wusste es besser, sie hätte es sofort erkannt, wenn eine dämonische Macht von ihm Besitz ergriffen hätte. Nein, nein, Dorian war schon noch er selbst, er hatte nur eine dunkle Seite seiner Seele hervorgekehrt, die Coco bisher völlig fremd gewesen war – und ihm selbst wohl auch.
Jedenfalls hatte es Coco in der Jugendstilvilla nicht mehr ausgehalten und war regelrecht aus London geflüchtet. Sie griff die Einladung eines Freundes auf, die dieser vor längerer Zeit ausgesprochen hatte, als er bei ihnen in London zu Besuch gewesen war. Er hieß Albert und nannte sich selbst einen »Dämonologen«, was eigentlich ein zu nebuloser Begriff war. Denn er war ein Fachmann für magische Instrumente, ein Gemmenspezialist und eine echte Koryphäe auf dem Gebiet der Dämonenabwehr. Nach ihm hielt sie Ausschau, denn er hatte versprochen, sie vom Westbahnhof abzuholen und sie in der Villa seiner Tante unterzubringen. Aber sie konnte in der hektischen Menge keine Spur von ihm entdecken. Sie hoffte aber, dass sie seine Aufmerksamkeit erregen würde. Denn sie trug einen roten lackledernen Regenmantel, sodass sie aus jeder Menge herausstach.
Obwohl sie eine gute Zugverbindung gehabt hatte, war die Reise für sie beschwerlich gewesen. Sie war gestern kurz vor ein Uhr Mittag mit dem Eurostar von London nach Brüssel gefahren. Dort war sie umgestiegen und nach Köln weitergereist, von wo es um etwa zwanzig Uhr mit dem City Night Line nach Wien weiterging.
Die Sitze waren bequem und luden förmlich zum Schlafen ein. Dennoch hatte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan. Sie hatte an nichts anderes denken können als an ihren verlorenen Sohn, der als Isbrant zum Fürsten der Finsternis geworden war. Es musste irgendwann einmal darauf hinauslaufen, dass es zur Auseinandersetzung zwischen dem Dämonenkiller und Isbrant kam. Zu einem mörderischen Kampf zwischen Vater und Sohn. Etwas anderes war gar nicht denkbar, denn sie waren zu natürlichen Feinden geworden.
Hinzu kam noch, dass Coco im Zug von einem jungen Schnösel, der auf der anderen Seite des Ganges saß, hofiert worden war. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, sich mit ihr zu verabreden und sie wohl auch ins Bett zu bekommen. Außerdem war die Ankunft des City Night Line für acht Uhr fünfzig geplant gewesen. Durch eine Blockierung der Strecke hatte er sich jedoch um über drei Stunden verspätet.
Es war jetzt zwölf Uhr mittags und Coco fühlte sich hundemüde und ausgelaugt. Sie hätte im Stehen einschlafen können.
Irgendjemand rempelte sie heftig an. Als sie sich umdrehte, erkannte sie den jungen Mann, der sie auf der Fahrt nach Wien umschwärmt hatte – angebaggert, sagte man heute wohl dazu. Aber er tat, als würde er sie zum ersten Mal in seinem Leben sehen und entschuldigte sich mit einem einnehmenden Lächeln, bevor er an ihr vorbeihastete.
Das rang Coco ein Schmunzeln ab, denn sie wusste nur zu genau, warum sie ihm so fremd war. Im Zug war er nämlich ziemlich aufdringlich geworden und hatte ihr eindeutige Anträge gemacht. Und da sie ihre Ruhe haben wollte, hatte sie ihn kurzerhand hypnotisiert, als ihr seine Gegenwart zu lästig wurde. Darum war sie für ihn wieder zu einer völlig Fremden geworden. Jetzt sah sie, wie er ein paar Schritte weiter seine beiden Koffer abstellte, eine blondierte Frau, die farblos wirkte und einen verhärmten Eindruck machte, leidenschaftlich umarmte und dann auch noch zwei kleine Mädchen im Alter von etwa sieben und neun gleichzeitig hochhob und an sich drückte.
Wer hätte gedacht, dass dieser aufdringliche, lüsterne junge Mann ein freudestrahlender Familienvater war!
Coco ging an der glücklichen Familie vorbei, und als die Frau zufällig ihren Blick kreuzte, zwinkerte Coco ihr vertraulich zu. Sollte sie sich ruhig wundern, was das bedeuten mochte. Vielleicht kannte sie aber auch ihren Mann inzwischen gut genug und ahnte die vertrauliche Botschaft dieses Signals.
Coco erreichte die Bahnhofshalle, ohne eine Spur von Albert Schreiner entdeckt zu