Seewölfe - Piraten der Weltmeere 235: Am Kap der Hölle
Von Roy Palmer
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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 235 - Roy Palmer
10
1.
Wie gespenstische Schattenwesen glitten die Schiffe in die Bucht. Es handelte sich um einen stattlichen Vierer-Verband – drei Galeonen und eine Karavelle –, der mit gleichlaufenden Manövern gegen den Südwind kreuzte, mal nach Südwesten, mal nach Südosten schwenkend, um den Schauplatz des ungeheuerlichen, unbegreiflichen Geschehens zu erreichen.
Die Stückpforten der Schiffe waren schon hochgezogen worden, als sie den Hafen von Melilla verlassen hatten, und so blickten die Mündungen der jetzt ausgerannten Geschütze hohl in die Nacht und schienen Ausschau nach dem Feind zu halten, der all dies angerichtet hatte: die Explosionen und das anschließende Feuer im weißen Palast des Abu Al-Hassan, den Aufruhr im Fischerdorf auf der langgestreckten Landzunge, die die Bucht nach Osten hin gegen das Mittelmeer abschirmte, und die Verwirrung und Ratlosigkeit auf den Mienen derer, die sich inzwischen am südlichen Ufer versammelt hatten.
Hoch stiegen die Flammen aus den Gebäuden auf. In ihrem rötlichen Schein vermochte man auf den Hügeln schwach die fünf Säulen des Herkules zu erkennen, jenes Relikt aus der Antike, das Abus Palast zu seinem Namen verholfen hatte – „Hof des Herkules".
Abu Al-Hassan war tot. Auch Ulad, der Haratin, und der Großteil von dessen Eunuchen-Garde hatten ein unrühmliches Ende gefunden. Ihre Leiber lagen unter den Trümmern des Harems begraben. Und dort, unter den Überresten der einst so stolzen Gemäuer, ruhte auch Abus großes Geheimnis: die Ballen Rauschgift, die durch die Sprengung zerfetzt worden waren. Nie wieder würde damit das schmutzige Geschäft betrieben werden, das Abus Wohlstand gesichert hatte. Einen Nachfolger gab es nicht.
Wo war der Feind? Hatte er sich in Luft aufgelöst, sich unsichtbar gemacht? Irritiert spähten die Spanier an Bord der vier Segler in die Dunkelheit. Sie wußten sich auf all das keinen Reim zu bilden. Sie hatten von Melilla aus nur die Feuerblitze gesehen und den Kanonendonner vernommen und waren daraufhin sofort ausgelaufen, um nach dem Rechten zu sehen. Jetzt aber standen sie vor einem Rätsel.
Dalida, die Ägypterin, eilte zum südlichen Ufer der Bucht. Sie langte bei Mechmed, dem Berber, an, der inmitten seiner Gruppe von Männern stand und die Hände zu Fäusten geballt hatte. Er war wie gelähmt und nahm seine Umgebung kaum noch wahr.
Ohnmächtige Wut brachte den hageren Mann mit dem knochigen, scharfgeschnittenen Gesicht fast zum Zittern. Er hatte in dieser Nacht die wohl größte Niederlage erlitten, denn die Kanonenkugeln des fremden Schiffes hatten ihn und seine Meute daran gehindert, rechtzeitig zum Palast Abu Al-Hassans vorzudringen. Furchtsam hatten sie sich hinter das Beiboot ihrer Bagalla zurückziehen müssen – eine Schmach, die Mechmed nicht zu verwinden wußte.
„Rache, murmelte er daher immer wieder. „Rache. Ihr entkommt nicht ungeschoren, ihr Hunde. Mechmeds Rache wird euch alle ereilen.
Er drehte sich um, als Dalidas Hand seinen Arm berührte.
Ihre Blicke begegneten sich. Dalidas Gesicht war unverschleiert, er konnte ihren zuckenden, rotbemalten Mund sehen. Ihre Lidschatten waren verwischt. Wirr hing ihr langes schwarzes Haar über die Schultern. Der Wind griff nach ihrem bodenlangen Gewand, bauschte es etwas auf und legte ihre Beine bis zu den Knien hinauf frei.
Auch die anderen Männer hatten sich jetzt umgewandt und betrachteten sie. Mechmed konstatierte es mit Unbehagen und sagte: „Schämst du dich nicht, dich in dieser Aufmachung zu zeigen?"
„Ich bin doch bekleidet", sagte sie.
„Verhülle dein Gesicht."
„Ich denke nicht daran, sagte sie. „Und von dir nehme ich keine Befehle entgegen. Mein einziger Herr und Gebieter ist tot. Es wird keinen anderen Mann geben, der über mich bestimmen darf. Abu Al-Hassan ist tot, Mechmed.
„Ich weiß. Ich habe es von deinen Dienerinnen gehört, die zum Dorf der Fischer geflohen sind."
„So. Und mich hättest du wohl im Palast verbrennen lassen, was? Wie gut, daß ich selbst für mich sorgen kann."
„Ich habe alles durchsucht, verteidigte er sich, „und keine lebende Menschenseele mehr entdeckt. Um mich und meine Männer vor den herabstürzenden Trümmern zu schützen, habe ich den Rückzug angeordnet. Konnte ich ahnen, daß du noch lebtest? Wo warst du?
„Im Haupthaus. Ich habe noch ein paar Münzen, Perlen und Edelsteine zusammengerafft. Ich wollte nicht mit leeren Händen gehen, verstehst du?"
„Ja."
Sie senkte ihre Stimme. „Keiner wird mir diesen Lederbeutel abnehmen, den ich unter meinem Gewand trage, keiner, hörst du? Er ist mein Eigentum. Ich werde ihn bis zum letzten verteidigen."
„Beruhige dich, sagte er. „Wo sind die Eunuchen, die nicht im Kampf gefallen sind, wo die anderen Frauen?
„Weggelaufen. Sie wies zu den Hügeln. „Die Angst hat sie kopflos werden lassen. Willst du es ihnen verübeln? Jetzt, nachdem sowieso alles zu Ende ist, hat es wenig Zweck, ihnen zu folgen. Lassen wir sie in Ruhe.
„Aber – die Europäerinnen! stieß er zornig hervor. „Die ungläubigen Hündinnen! Wir müssen sie fassen, denn sie werden alles über Abu Al-Hassan erzählen, und das kostet auch uns den Kopf.
Dalida lachte abfällig. Sie streifte ihr Kopftuch ab, hielt es fest und stemmte die Fäuste in die Seiten. „Um dein Haupt brauchst du dir vorläufig noch keine Sorgen zu bereiten, mein Freund. Noch rollt es nicht, und wenn, dann wohl nicht hier, in Marokko. Keiner kann Abus Machenschaften, an denen auch wir beteiligt waren, verraten, denn alle Mädchen, die gegen ihren Willen im Harem festgehalten wurden, befinden sich an Bord des fremden Schiffes – übrigens auch Beni, das Djerba-Mädchen, Ada, die Syrerin, Ofania, die Beraberin, und Kabil, der Stallbursche."
„Kabil? Mechmed griff voll Wut nach dem Heft seines Säbels. „Dieser Bastard von einem Shilh! Ich habe schon immer geahnt, daß er etwas im Schilde führte. Er ist in eins der Mädchen verschossen und hat ihr zur Flucht verholfen, nicht wahr?
„Ja. Ich denke, daß es Beni ist. Beni, das Herzblättchen."
„Ich werde sie töten, alle beide. Und die anderen auch."
„Da hast du dir viel vorgenommen", sagte Dalida spöttisch.
Mechmed sah zu seinen Männern. Die Feindseligkeit in seiner Miene veranlaßte sie, sich wieder umzudrehen und wieder die Schiffe zu beobachten, deren Besatzungen sich jetzt anschickten, vor dem Ufer zu ankern und die Beiboote abzufieren. Mechmed ließ seinen Blick wandern und stellte fest, daß das aufgeregte Auf- und Ablaufen vor den Fischerhütten allmählich aufhörte. Das Geschrei der aufgescheuchten Männer, Frauen und Kinder ließ nach. Ruhe trat ein. Bald würde das Prasseln und Knistern der Flammen alle anderen Laute übertönen.
Es war gut, daß niemand vor den Männern an Bord der Schiffe ausplaudern konnte, welche dunklen Aktivitäten im „Hofe des Herkules" abgewickelt worden waren. Menschen- und Rauschgifthandel – beides war im Königreich Marokko, das unter dem direkten Einfluß von Spanien-Portugal stand, ein todeswürdiges Verbrechen.
Die Berber, die vieles, aber nicht alles wußten, würden schweigen, desgleichen die entflohenen Eunuchen und die Dienerschaft. Dalida, die Abu Al-Hassans Lieblingsfrau gewesen war, war wie Mechmed durch Abu eng ins Vertrauen gezogen worden, doch auch sie würde natürlich kein Sterbenswörtchen von sich geben, so daß man den Spaniern gegenüber folgende Version der Ereignisse schildern konnte:
Fremde Seeräuber waren aufgetaucht und hatten den Palast in einem tollkühnen Raid besetzt. Sie hatten getötet, wer sich ihnen in den Weg stellte, hatten an sich gerissen, was sie in die Finger kriegten, und waren dann wieder mit ihrer großen Galeone abgesegelt – nicht ohne vorher ihr zerstörerisches Werk durch einige Ladungen Schwarzpulver zu beenden.
Alles das würde sehr glaubhaft klingen, und es hatte ja auch einen großen Wahrheitsgehalt.
Dennoch war es für Mechmed und seine Berber ratsam, die nähere Umgebung von Melilla zu verlassen. Der Wesir von Melilla, der spanische Gouverneur und die anderen Obrigkeiten mochten Nachforschungen anstellen und in den Trümmern des Anwesens graben lassen. Dann kam ein Teil der Dinge, die verborgen bleiben sollten, doch ans