Der Friede wächst langsam - wie ein Nussbaum: Eine Kindheit in der Nachkriegszeit. Redigiert und herausgegeben von Franco Rest. Mit Illustrationen von Angela Schneevoigt-van Dyck
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Buchvorschau
Der Friede wächst langsam - wie ein Nussbaum - Gisela Rest-Hartjes
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Einige Worte zum Geleit
Die folgende Erzählung basiert auf Erfahrungen und Erlebnissen aus den ersten Jahren nach Ende des verheerenden Zweiten Weltkriegs, geschildert aus der Perspektive eines damals kleinen Mädchens, welches die Tragweite der Ereignisse allenfalls mit Mühe verstand. Die Geschichte spielt in Büderich, einem kleinen Ort am linken Rheinufer, gerade gegenüber der größeren Stadt Wesel. Zur historischen Einordnung hier einige »nackte« Daten:
8. Februar 1945
Beginn der sogenannten »Operation Veritable«, jener Schlacht der alliierten Truppen, vor allem Engländer und Amerikaner, gegen die »letzten Kampfverbände« der Deutschen Wehrmacht zwischen Rhein und Maas; diese Schlacht hatte zum Teil katastrophale Folgen für die niederländische und deutsche Zivilbevölkerung. Die Städte und die Rheinbrücken wurden zerstört, und die Menschen verloren, wenn nicht das Leben oder die Gesundheit, so doch Hab und Gut.
28. Februar 1945
Die Mutter des Mädchens wird auf der Flucht durch Granatsplitter schwer verwundet und verliert dabei ein Bein. Das Mädchen und seine Geschwister waren dabei und erlebten dieses Ereignis unverletzt.
Februar bis April 1945
Die Mutter kommt in ein Krankenhaus. Das Mädchen wird zusammen mit seiner Schwester dort von den Pflegenden mitversorgt; der Bruder fährt gemeinsam mit der Tante zu den Großeltern auf einen Bauernhof.
April 1945 bis Mai 1946
Auch die beiden Mädchen kommen auf den Bauernhof und verleben dort so etwas wie vom Krieg »unbeschwerte Kindheitstage«.
8. Mai 1945
Kapitulation aller deutschen Truppen an allen Fronten.
Sommer 1945
Der Vater kommt als »unbekannter Mann« aus dem Krieg zurück; er nimmt seine ursprüngliche Arbeit bei einer Kiesbaggerei auf und bereitet gleichzeitig den Umzug der Familie in eine neue Wohnung in Büderich vor.
Mai 1946
Die »große Oma« (Mutter des Vaters) übernimmt die Sorge für die Familie mit der beinamputierten Mutter in der neuen Wohnung, in welcher zunächst wegen der Zerstörung vieler Häuser auch eine weitere Familie einquartiert war. Mit dem Einzug in diese beengte Wohnung beginnt die Erzählung.
Februar 1946
Die Rheinbrücke zwischen Büderich und Wesel (Montgomery-Brücke) wird als Behelfsbrücke eingeweiht, nachdem die Rheinbrücken bei Wesel zerstört worden waren; sie ist sehr breit mit zwei Fahrspuren, einem Radweg dazwischen und Fußwegen an den Rändern.
1946–1950
Schulkinder bekommen in der britischen (und amerikanischen) Besatzungszone sogenannte »Schulspeisung«.
Winter 1947
Der Rhein friert von Ufer zu Ufer geschlossen zu. Die Wohnungsnot mildert sich allmählich; die miteinquartierte Familie zieht aus.
Juni 1948
Währungsreform.
Sommer 1948
Das Mädchen kommt in den katholischen Kindergarten.
April 1949
Das Mädchen wird in die örtliche Grundschule eingeschult.
Sommer 1949
Erste Schulferien im Sommer; die Kinder sind beim Großvater auf dem Bauernhof. Ein Onkel kehrt aus der Kriegsgefangenschaft heim.
1950
In den Gemäuern des Büdericher Forts sind obdachlose Familien untergebracht. Beginn der Bauarbeiten an der neuen Weseler Rheinbrücke neben dem beziehungsweise unterhalb des alten Forts.
Juni 1953
Das Mädchen nimmt als Grundschulkind an der feierlichen Einweihung dieser Rheinbabenbrücke durch den NRW-Minister Dr. Strater teil. Damit endet die hier vorgelegte biographische Erzählung.
Mit dem Titel »Der Friede wächst langsam – wie ein Nussbaum« möchte die Verfasserin alle Leserinnen und Leser einladen, den Auf- und Ausbau einer Friedensgesellschaft in Europa und auf der ganzen Welt fortzusetzen und aktiv zu begleiten. Die Geschichte ist insofern ebenso ein Modell für die Zukunft überall dort, wo Friede vielleicht Jahre braucht, um zu wachsen, wie ein Bericht aus einer vielleicht fernen Vergangenheit. – Es sei noch erwähnt, dass viele Namen in dieser Erzählung geändert wurden. Aber die Örtlichkeiten und die Zeitabläufe sind authentisch.
Die Verfasserin, Gisela Rest-Hartjes, ist in Büderich aufgewachsen und lebt heute in Dortmund. Die Künstlerin der Illustrationen, Angela Schneevoigt-van Dyck, ist in Wesel aufgewachsen und lebt heute in Rheinberg. Aufgrund schwerer Krankheit der Verfasserin hat ihr Ehemann den Text vor allem historisch überarbeitet. Sie hat dieser Gestaltung ausdrücklich zugestimmt.
Nickis Fahrt in die Ungewissheit
Die kleine Nicki lehnte ihren Kopf an die Schulter ihrer Schwester Gabi und betrachtete ernst die fremden Kinder, die ihnen gegenübersaßen. Gerade hielt der Lastwagen wieder an.
Hoffentlich steigen nicht noch mehr Leute zu!, dachte Nicki wütend. Peter schaute hinaus und las vor, was auf dem Ortsschild stand. »Herongen«, sagte er. »Da müssen wir noch ein ziemliches Stück fahren.«
Es war wohl nur eine Straßenkontrolle gewesen, denn kurz danach fuhren sie schon weiter.
Eigentlich war Nicki schrecklich müde und kämpfte verzweifelt darum, die Augen offenzuhalten. Sie blinzelte immer wieder wütend auf die Fremden, die es sich tatsächlich auf ihrem Bettzeug bequem gemacht hatten. Nicki war empört und verunsichert. Überhaupt war Nickis ganze heile Welt aus den Fugen geraten, und nichts schien mehr zu stimmen. Im Halbschlaf hörte sie Peter noch mehrere Ortsnamen lesen, die wie fremde Zauberworte auf sie eindrangen: »Straelen, Geldern, Issum, Alpen …«
Außer der bald vierjährigen Nicki, die mit eigentlichem Namen Nicola hieß, und der neunjährigen Gabi saßen dort von ihrer Familie noch der zehnjährige Peter und Nickis Mutter. Sie hatten ihren gesamten beweglichen Hausrat – oder doch das, was der Krieg noch übrig gelassen hatte – auf einen Lastwagen verladen, dessen Ladefläche nur mit einer Plane gegen Regen und Wind abgedeckt war, die aber den Blick nach hinten frei ließ. Nun fuhren sie durch für Nicki fremde Gegenden zu einem fremden Ort in eine fremde Wohnung. Der Vater saß vorne beim Fahrer, um den Weg zu zeigen.
Nicki versuchte sich zu erinnern, warum sie die Großeltern, die geliebten Großeltern mit ihrem Bauernhof, den Tieren und den Spielgefährten dort, verlassen mussten. Ach ja, der Krieg war vorbei, und der Vater, für Nicki ein völlig fremder Mann, war zurückgekehrt. Nun sollte die Familie wieder zusammenleben, dort, wo der Vater Arbeit hatte. Warum nur wollte er nicht bei den Großeltern auf dem Hof helfen? Nicki konnte sich keinen schöneren Beruf als den des Bauern vorstellen.
Draußen regnete es in Strömen, und Nicki drückte sich enger an die Mutter und die Schwester. Sie spürte das harte, hölzerne Bein, das die Mutter seit einiger Zeit auf der linken Seite hatte. Das eigentliche, das weiche Bein hatte der Krieg weggenommen. Oder hatte man es ihr im Krieg weggenommen? Nicki rückte unmerklich etwas mehr zu Gabi hinüber. Nein, daran wollte sie jetzt nicht denken. Die Welt war so trostlos und ungerecht. Konnte der Krieg denn nicht wenigstens die Kinder und ihre Mütter »in Frieden« lassen? Warum mussten sie bei solchem Wetter mit all ihrer Habe ins Unbekannte fahren, noch dazu mit ganz fremden Leuten, die sich einfach auf Nickis Kinderstuhl und auf ihr Bettkissen gesetzt hatten?
Schließlich fielen ihr bei dem gleichmäßigen Motorengeräusch, vermischt mit dem Regengeplätscher, doch die Augen zu. Sie schreckte mehrmals im Schlaf zusammen, aber Gabi und die Mutter legten ihr jedes Mal beruhigend die Arme um.
Dahinein kuschelte sich das kleine Mädchen mit den braunen Haaren und den schwermütigen braunen Augen, die jetzt keine Lust mehr hatten, in diese schwer zu verstehende Welt zu blicken. Wenn es die Augen geschlossen hielt, konnten seine inneren Augen die Großmutter sehen, wie sie neben dem Großvater zum Abschied winkend am Hoftor gestanden hatte. Der Cousin Bernd, fast so alt wie Nicki selber, und der Hund Lotti waren noch ein Stückchen hinter dem Wagen hergelaufen. Doch dann waren sie immer kleiner geworden, und der Regen verdarb jede weite Sicht. Am längsten konnte man die drei großen, alten Birnbäume sehen, die an der Längsseite des Hauses standen und weit über das Hausdach hinausragten.
Nicki wurde wach, als Peter rief: »Dies ist Büderich! Jetzt müssen wir gleich da sein!«
Büderich! Was für ein Name!, dachte Nicki. Genholt und Brüggen und Born waren ihr vertraut und lieb gewesen, aber Büderich!
Der strömende Regen war in dünnen Nieselregen übergegangen; aber von der Feuchtigkeit froren