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Lebet wohl, ihr engen, staub'gen Gassen: Aus dem Leben einer Rheinschiffer-Familie
Lebet wohl, ihr engen, staub'gen Gassen: Aus dem Leben einer Rheinschiffer-Familie
Lebet wohl, ihr engen, staub'gen Gassen: Aus dem Leben einer Rheinschiffer-Familie
eBook395 Seiten5 Stunden

Lebet wohl, ihr engen, staub'gen Gassen: Aus dem Leben einer Rheinschiffer-Familie

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Über dieses E-Book

Als im Hungerwinter 1947 Gertrud und ihre Zwillingsschwester Else geboren werden, stehen die Eltern, das Schifferehepaar Anna und Philipp Vowinkel, am Wendepunkt ihres Lebens: Hinter ihnen liegen Schicksalsschläge, Armut, zwei Weltkriege. Die Ära des Wirtschaftswunders bricht an - ihre Kinder, mit denen sie an Bord eines Rheinschiffs leben, sollten es einmal besser haben. Stets begleitet von Philipps skurrilem Humor ist die Familie jedoch unerwarteten Strömungen und überraschenden Untiefen ausgesetzt. Als »Backfisch« bricht Gertrud, wie einst Anna, zu neuen Ufern auf, doch der Fluss des Lebens führt sie an ganz andere Gestade als ihre Mutter.

Diese Reise durch das 20. Jahrhundert nimmt den Leser mit an die unterschiedlichsten Schauplätze: das Rheinschiff in Kriegs- und Friedenszeiten, die Dorf-»Idylle« der 50er-Jahre, ein bigottes katholisches Mädchenwohnheim, ein glamouröser Couture-Salon in den 60ern, eine großstädtische Studenten-WG um 1970…
Ein facettenreiches und sehr persönliches Panorama deutscher Zeitgeschichte.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Juni 2016
ISBN9783732358922

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    Buchvorschau

    Lebet wohl, ihr engen, staub'gen Gassen - Gertrud Winter

    EISIGE ZEITEN

    Seit Wochen konnte Philipp nun schon nicht arbeiten. Hoffnungslos festgefroren lag sein Kahn »Argo« zwischen vielen anderen Schiffen am Reed, dem Ankerplatz von Nierstein. Mühsam hatte sich das Zugschiff mit der Argo und einigen anderen Kähnen im Schlepptau noch seinen Weg durch das Treibeis gebahnt, als bereits gewaltige Eisschollen bedrohlich dröhnend an die Bordwände krachten. Kurz nachdem Schleppboot und Kähne den Niersteiner Hafen erreicht hatten, war der Rhein durch den strengen Dauerfrost unter einer dicken, undurchdringlichen Eisschicht erstarrt. Eisbrecher und Sprengungen konnten gegen die klirrende Kälte nun nichts mehr ausrichten. Philipps Frau Anna und die kleine Tochter Eva hätten derzeit ohnehin nicht mehr mitfahren können, denn Anna war hoch schwanger und erwartete täglich ihre Niederkunft.

    Es war sicher kein guter Zeitpunkt, um Kinder in die Welt zu setzen. Denn obwohl der Zweite Weltkrieg schon fast zwei Jahre vorbei war, lag Deutschland noch immer in Schutt und Asche. Es herrschte große Hungersnot.

    All diesen Widrigkeiten zum Trotz wurde ich am 20. Januar 1947, mittags um 12.10 Uhr geboren, eine Stunde und zehn Minuten vor meiner Zwillingsschwester. Sie wog 3300 Gramm und hatte blondes Haar. Ich dagegen hatte dunkle Haare und war etwas kleiner, aber dafür um 75 Gramm schwerer. Die Hebamme wunderte sich, wie wir es in diesen schlechten Zeiten zu diesem enormen Gewicht gebracht hatten. Unsere Mutter Anna hatte sich infolge dessen auch ungeheuer plagen müssen, bis wir endlich das Licht der Welt erblickten. Eva, unsere vier Jahre ältere Schwester, befürchtete, dass noch mehr Kinder hinterher kommen könnten. »Mein Papa hat gesagt, das gibt einen ganzen Korb voll!«, wandte sie sich besorgt an die Hebamme. Denn dass der Storch nun bereits zwei gebracht und auch noch in ihr Bett gelegt hatte, war schon mehr als genug. Eva hatte auch gleich eine Lösung des Problems parat: »Die Schwarzhaarige verkaufen wir!«

    Die anwesenden Erwachsenen lachten über ihren Einfall. Klein-Eva aber konnte nicht verstehen, was an dem Kinder-Überschuss lustig sein sollte. Zumindest wurde zu ihrer Beruhigung die Blonde wenig später in den Wäschekorb und die Dunkle in die geöffnete Kommodenschublade gebettet.

    Es war der kälteste Winter seit fünfzig Jahren, sodass das Wasser im Kessel auf dem Küchenherd jeden Morgen gefroren war. Eisblumen an den Fenstern verwehrten den Blick nach draußen. In der kleinen Mietwohnung in der Schiffergasse, die unser Vater mit seiner Familie bewohnte, solange der Schleppkahn in Nierstein vor Anker lag, war es bitterkalt. Heizmaterial gab es nur wenig. Aus Angst, wir könnten erfrieren, wechselte unsere Mutter uns die Stoffwindeln unter der Bettdecke. Unsere kleinen Fäustchen waren von der Kälte ganz blau. Das Holz reichte kaum, um das knapp bemessene Essen auf dem Herd gar zu kochen. Die Windeln mussten in einem großen Topf auf demselben Feuer ausgekocht und von Hand gewaschen werden. Seife oder Waschpulver war schwer zu beschaffen, und sie bei der Kälte an den Leinen über dem Küchenherd zu trocknen, dauerte sehr lange. Die Muttermilch war nicht gerade reichlich für zwei Säuglinge. Für Lebensmittelmarken, die damals ausgegeben wurden, gab es sehr knapp rationierte Grundnahrungsmittel und nur ganz selten Säuglingsnahrung. So fuhr unser Vater bei Minusgraden auf seinem alten Fahrrad im Umkreis von dreißig Kilometern umher, um auf dem Schwarzmarkt Schmuck, Zigaretten oder was man sonst an begehrenswerten Tauschobjekten über den Krieg gerettet hatte, gegen Milchpulver einzutauschen. Tauschhandel war streng verboten und deshalb nicht ungefährlich. Unsere Mutter lebte ständig in Angst, er würde verhaftet. Bereits im Krieg war er immer wieder den Nazis entkommen und jetzt musste sie fürchten, dass er wegen Schwarzhandel geschnappt werden könnte. Sie wagte nicht, daran zu denken, was dann mit ihr und den Kindern geschehen sollte.

    Ebenfalls auf dem Schwarzmarkt – auf anderem Wege war nichts zu bekommen – hatte unser Vater einen gebrauchten, doppelt breiten Kinderwagen aufgetrieben. Als die Temperaturen wieder milder wurden, konnten unsere Eltern endlich mit uns hinausgehen. Mehr als einmal verwunderten sich Nachbarn oder Passanten: »Was, das sollen Zwillinge sein? Die eine ist ja blond und die andere dunkel!«

    Dann machte sich unser Vater einen Spaß daraus, mit einem verschmitzten Lächeln zu behaupten: »Die Blonde ist vom Milchmann und die Dunkle vom Schornsteinfeger.«

    Die Fragenden blickten ihn meist irritiert an. Nur wer ihn kannte, lachte, weil er wusste, dass er stets zu einem skurrilen Scherzchen aufgelegt war.

    Das Schiff Argo gehörte nicht unserem Vater, sondern zwei Schwestern, die es von ihren Eltern, dem Ehepaar Vollmar, während des Krieges geerbt hatten. Das Schiff war vermutlich nach der griechischen Heldensage benannt, nach welcher die Argonauten auf dem Schiff Argo am Schwarzen Meer das Goldene Vlies – das Fell eines fliegenden und sprechenden goldenen Widders – eroberten. Die eine der beiden Schwestern, Änne, war eine junge Witwe mit drei kleinen Kindern. Ihr Mann war auf seinem eigenen Schiff im Dezember 1942, drei Tage bevor sein Sohn Peter geboren wurde, in einen der Laderäume gestürzt und an den Folgen gestorben. Ihre Schwester Gertrud war Studienrätin. Gezwungenermaßen blieb sie unverheiratet, denn während der Hitlerzeit musste sie sich den damaligen Gesetzen entsprechend zwischen Berufstätigkeit und Ehe entscheiden. Da Gertrud keine eigenen Kinder hatte, wollte sie gerne meine Taufpatin werden und so wurde ich auf ihren Namen getauft, meine Zwillingsschwester nach unserer Cousine Else.

    Als der Rhein im Frühjahr 1947 aufgetaut und wieder befahrbar war, ging die ganze Familie zurück auf die Argo. Doch wir waren gerade ein paar Monate auf dem Schiff, da war unsere Mutter schon wieder schwanger. Am 1. April 1948 brachte sie, auch diesmal in Nierstein, den ersehnten Stammhalter zur Welt. Er wurde nach dem stolzen Vater Philipp getauft. Unsere Mutter bedauerte diese Entscheidung später: »Wenn ich Philipp rufe, kommen manchmal beide, meistens fühlt sich aber keiner angesprochen, weil jeder gerne glaubt, der andere sei gemeint!«

    Nach der Geburt ging Anna mit ihren vier Kindern so bald wie möglich wieder auf das Schiff. Obwohl unsere Eltern viel zu tun hatten, weil das allgemeine Transportwesen durch die Kriegsschäden an Schienen und Straßen stark beeinträchtigt war, blieb ihre wirtschaftliche Situation durch die Inflation immer noch miserabel.

    Die durch den Krieg seit Jahren andauernde Not erinnerte unseren Vater oft an seine Jugend. Wenn er sich zurück besann, hatte er mit wenigen Ausnahmen von Kindesbeinen an eigentlich nur schlechte Zeiten erlebt.

    Die Entbehrungen seiner Kindheit waren vor allem in der schwierigen familiären Situation begründet. Obwohl sein Vater Anton Vowinkel 1858 in ein recht wohlhabendes Elternhaus in Nierstein hinein geboren worden war, hatte dieser nicht das Glück, der Erstgeborene zu sein – dann hätte er das elterliche Weingut geerbt. Deshalb diente er zunächst bei den Dragonern. Dort wurden nur die Söhne wohlhabender Familien aufgenommen, denn diese mussten ihr eigenes Pferd mitbringen. Nach dem Militärdienst entschloss Anton sich, Gärtner zu werden. Auf der Walz kam er weit herum. Bis nach England führte ihn sein Wanderleben. Aus Erfurt brachte er die Tomatenpflanze mit nach Nierstein. Zur Thronbesteigung Kaiser Wilhelms II. im Jahr 1888 pflanzte er in Nierstein in Anwesenheit heimischer Honoratioren und vieler Bürger auf dem Dorfplatz eine Linde, die dem Platz später seinen Namen gab. 1908, als Philipp vier Jahre alt war, stürzte Anton beim Beschneiden der Äste von einem Baum. Mit schweren inneren Verletzungen wurde er auf einem Pferdefuhrwerk in das zwanzig Kilometer entfernte Krankenhaus in Mainz gebracht. Als er dort ankam, war er bereits tot. Seine Frau Anna Maria war gerade mit dem fünften Kind schwanger. Die Witwenrente wurde erst einige Jahre später eingeführt, Kindergeld gab es noch lange nicht. Anna Maria bekam keinerlei finanzielle Unterstützung vom Staat und war praktisch mittellos.

    Dabei hatte Anna Maria, geborene Gutzler aus Federsheim, in ihrer Kindheit und frühen Jugend schon viel bessere Zeiten erlebt, denn auch sie stammte aus einem sehr wohlhabenden Elternhaus. Doch von ihrer Familie durfte sie keine Hilfe erwarten, denn sie hatte 1895 gegen den Willen ihrer Eltern mit 19 Jahren als Protestantin den katholischen Anton Vowinkel geheiratet. Der 18 Jahre ältere, gut aussehende Gärtnermeister hatte sie geschwängert. Dass Anna Maria schwanger war, war schon Schande genug, aber dass sie diesen Katholiken partout auch noch heiraten wollte, verzieh man ihr nicht. Sie wurde ohne Zögern von ihrer Familie verstoßen und enterbt. Es schien in sittenstrengen Zeiten gottgefälliger und ehrenvoller, seine schwangere Tochter aus dem Haus zu jagen, als ihr hilfreich unter die Arme zu greifen.

    Wie sich die beiden kennen gelernt hatten, lässt sich nicht mehr feststellen. Es liegt aber nahe, dass Anton ursprünglich auf Anna Marias elterlichem Gut gearbeitet hatte und sie sich dabei heimlich näher gekommen waren.

    Anna Marias unverheirateter, kinderloser Bruder lebte auf großem Fuß. Er fuhr mit sechs stolzen Rössern vor seiner Kutsche zu illustren Festen und gab das Geld mit vollen Händen am Spieltisch und für Jagdgesellschaften aus. Die Schwester aber wusste nicht, wie sie nun alleine ihre fünf Kinder satt bekommen sollte. In ihrer Not beschloss Anna Maria, Hebamme zu werden. Damals war es an der Tagesordnung, dass die Kinder zu Hause geboren wurden, und es waren recht viele. So konnte es passieren, dass Anna Maria, wenn sie gerade am Küchenherd stand und für ihre Kinder Essen kochte, eilig zu einer Geburt gerufen wurde. Sie kam oft erst am nächsten oder übernächsten Tag wieder zurück, je nachdem, wie lange sich die Geburt hinzog. Marie, die älteste, 1895 geborene Tochter, musste sich dann um ihre vier jüngeren Geschwister Lina, Philipp, Jakob und Anton kümmern. Oft genug war nichts zu essen da. Dann schlichen sie sich beim Nachbarn in den Stall und stahlen den aus Protest quiekenden Schweinen die gekochten Kartoffeln aus dem Trog. Den ganzen Sommer über mussten sie barfuß laufen, da jeder nur ein Paar Schuhe für den Winter besaß.

    Philipps Mutter wollte nichts unversucht lassen, um an ihr Erbe oder zumindest an die ihr vorenthaltene Mitgift zu kommen. Mit der Unterstützung ihres Onkels prozessierte sie um ihr Erbe. Sie selbst ging dabei zwar leer aus, aber für jedes ihrer fünf Kinder erstritt sie 100 000 Mark, die mündelsicher auf einer Bank angelegt werden mussten. Das heißt, jedes Kind durfte erst nach seinem 21. Geburtstag über sein Geld verfügen.

    Schon vor Philipps Schulzeit hatte sich sein späterer Lehrer, Rektor Dörrschuck, eingehend mit der Niersteiner Geschichte befasst und 1911 eine erste Chronik herausgegeben. Im Geschichtsunterricht erzählte er den Kindern gerne von den Leistungen ihren Vorfahren. Er versuchte auch Philipps Neugierde auf seine Ahnen zu wecken und referierte: »Philipp, deine Vorfahren waren sehr vermögende und einflussreiche Leute. Bereits im Jahre 1632 taucht in den Annalen von Nierstein zum ersten Mal der Name Vowinkel auf. Tilman Vowinkel war hier Gemeindeschreiber. Damals konnte das einfache Volk weder lesen noch schreiben. Nur Adeligen und Geistlichen war dieses Privileg vorbehalten. Von 1748 bis 1756 waren ein Johann Vowinkel und von 1772 bis 1776 ein Mathias Vowinkel Schultheiß von Nierstein. Sie waren nicht nur Bürgermeister, sondern ihnen oblag auch die Rechtsprechung. Dein Vorfahr Sebastian Vowinkel hat als Capitaine in der Armee unter den Fahnen Kaiser Napoleons so manche Schlacht geschlagen. Und später, von 1814 bis 1820, war auch er Bürgermeister von Nierstein. Dein Onkel Anton Vowinkel war von 1863 bis 1878 ebenfalls hier Bürgermeister. Zu diesem Zeitpunkt hatte Nierstein zirka 3000 Einwohner. Eine interessante Begebenheit ist auch, dass sich ein M. Vowinkel um 1830 für 92 Gulden und 38 Kreuzer vom Militärdienst freikaufte. Dieser Betrag war mehr als das, was der Reichste in der Umgebung an Steuerabgaben im ganzen Jahr bezahlen musste! Auch dein Großvater war offenbar wohlhabend genug, um von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen.«

    Doch Philipp wollte von all dem nichts wissen. Despektierlich gab er seinem Lehrer zur Antwort: »Da ist doch drauf geschissen, davon kann ich mir heut’ nichts mehr kaufen!«

    Damit fing er sich eine kräftige Ohrfeige ein.

    Als Philipp 1918 mit 14 Jahren die Volksschule verließ, gingen das Kaiserreich und der erste Weltkrieg gerade zu Ende. Im Deutschen Reich herrschten Arbeitslosigkeit, Hungersnot und Inflation. Fast die gesamte Wirtschaft lag danieder. Und damit nicht genug, die Siegermächte verlangten hohe Reparationszahlungen für den Schaden, der während des Krieges von den Deutschen in ihren Ländern angerichtet wurde. Die Mittel dazu versuchte die neue Regierung durch Drucken zusätzlichen Papiergeldes zu beschaffen. Die Menschen gingen dazu über, am Tag der Lohnauszahlung umgehend Lebensmittel zu kaufen, denn am nächsten Tag hatte das Geld weiter an Wert verloren. In dieser Situation war Philipp völlig ratlos, was aus ihm werden sollte. Für eine weiterbildende Schule war kein Geld da, Ausbildungsplätze waren rar und kosteten ebenfalls Geld. Ob Philipp jemals sein festgelegtes Erbe würde in Anspruch nehmen können, stand aufgrund der Inflation in den Sternen. Darauf konnte er in diesen unsicheren Zeiten nicht warten.

    Inzwischen hatte Philipps Mutter einen Schiffer geheiratet und noch zwei Kinder geboren. Sein Stiefvater machte ihm schon bald klar, dass er ihn nicht durchfüttern werde und er schließlich von irgendetwas leben müsse. Da sah Philipp keine andere Möglichkeit, als selbst Schiffer zu werden, obwohl er nicht die geringste Lust dazu hatte. Auch seine Mutter war von dieser Idee nicht begeistert. Sie fand, dass er doch so ein zarter Junge sei und den körperlichen Anstrengungen womöglich nicht gewachsen. Aber sein Stiefvater sagte spöttisch: »Lass den nur gehen, in zwei Wochen ist der sowieso wieder zu Hause!«

    Diese Bemerkung forderte Philipps Trotz geradezu heraus. Er biss die Zähne zusammen und begann, wenn auch widerwillig, eine Ausbildung als Schiffer. Am 21. Februar 1919 bekam er sein erstes Dienstbuch als Schiffsjunge vom Oppenheimer Kreisamt ausgestellt. Von nun an musste er alle paar Monate das Schiff wechseln. In seinem Dienstbuch wurde jedes Mal vom Schiffsführer der Name des Schiffes, die Strecken und die Dauer der Fahrten eingetragen sowie ein Führungszeugnis ausgestellt. Zur Bootsmannprüfung verlangte man von Philipp nach drei Jahren Ausbildung auch Grundfertigkeiten in verschiedenen handwerklichen Bereichen. Um Reparaturen am Schiff selbst vornehmen zu können, musste er Schlosser-, Schreiner- und Zimmermannskenntnisse erwerben. Philipp wurde auch ein Könner im Umgang mit Hammer, Stoßeisen und Stahlbürste, um die Rostnarben in der Schiffswand zu entfernen. Jeder Schiffmann und Matrose musste auch grundlegende Maler- und Lackiererfertigkeiten beherrschen, um die Innen- und Außenwände mit Rostschutz, Grund- und Deckfarbe zu streichen. Schutzanstrich und Reinigungsarbeiten sind besonders wichtig, denn der Schiffsrumpf ist ständig innen und außen der Korrosion durch Wind, Wasser sowie durch Eisen schädigende Ladungen von Erzen, Düngemitteln, Salz oder Kohle ausgesetzt. Selbstverständlich musste er auch Tauwerksarbeiten wie Knoten und Spleißen an Hanf- und Drahtseilen erlernen, damit die Taue stets in Ordnung waren. Das Schleppboot musste während der Fahrt sicher mit den Kähnen verzurrt sein und beim Anlegen im Hafen Wind und Wetter standhalten. Außerdem lernte Philipp, das Ruder zu führen, die Flaggensignale an den gefährlichen Engstellen auf dem Rhein zu deuten und am Abend die Positionslaternen an Deck korrekt anzubringen.

    Eines war bei seiner Ausbildung jedoch nicht vorgesehen, nämlich, dass er schwimmen lernte. Die meisten seiner Kollegen konnten es auch nicht. Dahinter steckte eine raffinierte Überlegung: Bei einer Havarie ließ eine Besatzung, die nicht schwimmen konnte, das Schiff nicht vorschnell im Stich, sondern sie kämpfte um das Schiff, um zu überleben. Philipp hatte eine solche Bedrohung tatsächlich einmal miterlebt. Eine Kollision mit einem anderen Schiff im aufkommenden Nebel schlug ein Loch in die Seitenwand. Das Wasser spritzte mit voller Wucht in den Laderaum. Der Kapitän, ein alter Fuchs, wusste sich zu helfen. Er schrie nach einer Speckseite und Holzkeilen. Philipp sauste mit pochendem Herzen in Richtung Kapitänskajüte. Die Frau des Kapitäns hatte für solche Notfälle immer eine Speckseite im Vorrat. Sie kam ihm schon damit entgegen. Philipp und ein Matrose pressten die Speckseite mit aller Kraft gegen die Leckstelle und der Kapitän befestigte sie geschickt mit einigen Holzkeilen, so dass kein Wasser mehr in den Laderaum eindringen konnte. Sie hatten Glück, dass das Loch nicht größer als die Speckseite war. Wäre das beschädigte Schiff auf diese Weise nicht zu retten gewesen, hätte die Besatzung es eilig mit dem Nachen, einem kleinen Beiboot, verlassen dürfen. Doch mit dieser Schweinebauchdichtung erreichten sie, nachdem die Sicht wieder klar war, sicher die nächste Werft, auf der das Leck repariert werden konnte.

    Im Oktober 1923 wurde in Deutschland eine neue Währung, die Rentenmark eingeführt, die dann 1924 durch die Reichsmark abgelöst wurde. Viele hatten dabei ihr gesamtes Barvermögen verloren. Jahrelang hatten Philipp und seine Geschwister in Armut gelebt und auf ihr Erbe gewartet. Jetzt, da Philipp mit 21 Jahren die Volljährigkeit erreicht hatte, war es durch die Inflation wertlos geworden. Auch die Weltwirtschaftskrise warf schon ihre Schatten voraus, die dann durch den Börsenkrach 1929 in New York ihren Höhepunkt erreichte. Die Folge war weltweite Massenarbeitslosigkeit und Hungersnot.

    Philipp hatte als Matrose auf dem Schiff sein karges Auskommen. Doch diese wirtschaftliche Katastrophe weckte bei ihm großes Interesse für die Ideen des Kommunismus. Er las die Werke von Karl Marx, Friedrich Engels und Lenin und ging, sofern er es einrichten konnte, eifrig zu Versammlungen. Mit der Zeit erschienen ihm die Ziele der Kommunisten allerdings zu radikal und er wandte sich den Sozialdemokraten zu. Legte das Schiff, auf dem er gerade war, in Nierstein an, oder hatte er zwischen dem Wechsel der Schiffe ein paar Tage oder Wochen Zeit, dann nutzte er die Gelegenheit, um nach Hause zu gehen und seiner Mutter den Großteil seines schmalen Verdienstes abzuliefern und sich mit seinen Parteigenossen zu treffen. Ihre Zusammenkünfte wurden nun immer häufiger und auch gewaltsam von den Nazis gestört und auseinander getrieben. Besonders verwerflich fand Philipp, dass in diesen Jahren bei groß angelegten Feldgottesdiensten emsig Waffen und Nazifahnen geweiht wurden und der Pfarrer von der Kanzel herab für die menschenverachtenden, nationalsozialistischen Ideen warb. Nierstein wurde eine Hochburg der Nazis. Die NSDAP kam bei der Reichstagswahl im Juli 1932 auf 59,8%. Zwischen den beiden Reichstagswahlen von Juli bis November taten Philipp und seine Parteigenossen ihr Möglichstes, um sich zu wehren und die Menschen aufzuklären. Sie verteilten Flugblätter. Doch diese Aktionen wurden immer gefährlicher, so dass Philipp dazu überging, die Flugblätter in den Gummireifen seines Fahrrades zu transportieren. Dass die NSDAP bei der darauf folgenden Wahl im November 1932 in Nierstein »nur« noch 51,2% der Stimmen erzielte, war für Philipp ein schwacher Trost.

    Unter dem Druck der Nazis wurde im Mai 1933 der Ortsverein der SPD aufgelöst, nachdem schon etliche führende Niersteiner SPD-Genossen und Nazigegner im Konzentrationslager in Osthofen inhaftiert worden waren.

    In den Zeitungen wurde ständig zum Boykott gegen jüdische Geschäfte aufgerufen und ihre Kunden als Volksverräter beschimpft. In der Nähe der Geschäfte postierten sich Braunhemden als Beobachter. Philipp ließ sich dadurch nicht einschüchtern. Als er in Nierstein ein jüdisches Tabakgeschäft betreten wollte, baute sich ein Spitzel gebieterisch vor ihm auf und fragte barsch, ob er nicht wisse, dass es verboten sei, bei Juden einzukaufen. Philipp konnte seinen Zorn kaum zurückhalten. Er schob ihn beiseite und ließ ihn, ebenso barsch, wissen, dass er bisher hier eingekauft habe und gedenke, es auch weiterhin zu tun. Die Geschäftsinhaberin, die diesen Vorgang voller Angst vom Fenster aus beobachtet hatte, brach in Tränen aus, als er den Laden betrat. Sie sagte, es würde sich kaum mehr jemand in ihr Geschäft wagen. Vor Rührung schenkte sie ihm an diesem Tag den Tabak. Nachdem das Tabakgeschäft geschlossen worden und der Besitz der jüdischen Familie zwangsweise in »arisches« Eigentum übergegangen war, verließ die Familie 1938 Nierstein.

    Seit diesen ersten Repressalien nach der Machtergreifung Hitlers ließ Philipp sich immer seltener in seinem Heimatdorf blicken, aus Furcht, es könnte ihm ergehen wie einigen seiner Parteifreunde, die morgens in aller Frühe von der Gestapo abgeholt worden waren. In anderen Städten, an denen das Schiff anlegte, ließ er es sich jedoch nicht nehmen, mit seinen Freunden und Kollegen auch mal einen über den Durst zu trinken. So erreichte ihn in dieser Zeit einmal eine Anzeige aus Straßburg. »Wegen allzu lauter Heiterkeit und Hüpfen auf der Straße« wurde er zu einem saftigen Bußgeld verdonnert.

    Hie und da lernte er bei diesen Gelegenheiten auch hübsche Mädchen kennen, aber die Richtige war bisher nicht dabei.

    Die einsamen Stunden in seiner Freizeit auf dem Schiff nutzte er gerne zum Lesen. Weil neue Bücher für ihn zu teuer waren, ging er, wenn er davon erfuhr und er es einrichten konnte, zu Wohnungsauflösungen oder Auktionen, um Bücher über Politik, Philosophie, Weltgeschichte und Romane von namhaften Schriftstellern zu ersteigern. Den größten Teil seiner Sammlung lagerte er, nachdem er sie gelesen hatte, in Nierstein bei seinen Eltern. Durch die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 machte sich Angst und Unsicherheit in der Bevölkerung breit. Als Philipp zufällig am darauf folgenden Wochenende nach Hause kam, saß seine Mutter mit einem Stapel Bücher vor dem Küchenherd und heizte ihn emsig damit ein. Als er die Situation erfasste, wurde er fuchsteufelswild und schrie: »Dass du dich von dem hysterischen Nazipack einschüchtern lässt! Ich verbiete dir, in Zukunft auch nur eines meiner Bücher anzurühren!«

    Seine Mutter ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und gab trocken zurück: »Dann musst du sie eben in Sicherheit bringen. Ich will keinen Ärger haben!«

    Viele Bücher gab es da nicht mehr in Sicherheit zu bringen, die meisten hatte sie bereits verbrannt.

    Die ganze politische Entwicklung wurde für Philipp immer unerträglicher. Bei einem seiner Besuche in Nierstein forderte ein Nazi, er solle gefälligst den Arm zum Hitlergruß heben. Philipp hatte nur ein »Leck mich am Arsch!« für ihn übrig, drehte sich um und ging. Er wusste durchaus, dass er gefährlich lebte, aber es widerstrebte ihm, den Arm zu diesem anbiedernden, in seinen Augen schwachsinnigen Hitlergruß zu heben.

    Inzwischen hatte sich Philipp auf der Hochzeit seines jüngsten Bruders Anton, der 1932 Lisa Baumgärtner aus dem nahe gelegenen Dorf Ludwigshöhe geheiratet hatte, Hals über Kopf in deren schöne Schwester Anna verliebt. Anna fühlte sich auch von Philipp angezogen. Wie gerne hatte sie schon in früher Jugend am Rheinufer gesessen, versonnen den Schiffen nachgeschaut und sich ausgemalt, wie schön es wäre, mit einem Mann auf einem Schiff verheiratet zu sein, um so ihrer tristen Jugend zu entfliehen und in die weite Welt zu kommen. Sie sah ihren Kindheitstraum näher rücken.

    Anna war, als sie Philipp kennen lernte, schon einige Zeit Haushälterin in Laubenheim bei einer jüdischen Familie. Helene, die Tochter des Hauses, studierte Gesang in Berlin. Ihre Familie führte ein großes Haus. Berühmte Künstler, vor allem Musiker und Dirigenten, folgten ihren Einladungen. An den Dirigenten Otto Klemperer erinnerte sich Anna auch später noch gut, denn er bedankte sich einmal sehr freundlich persönlich bei ihr und lobte die üppige Torte, die sie gebacken hatte, kunstvoll verziert mit einem Notenschlüssel.

    Schon bald nachdem die Nazis 1933 die Macht ergriffen hatten, war die hochbegabte Tochter gezwungen, ihr Studium aufzugeben, weil sie keinen Arier-Nachweis erbringen konnte. Die Familie litt sehr unter den Anfeindungen. Vor allem der Hausherr, Doktor Feist, war vor der Naziherrschaft ein beliebter und angesehener Arzt gewesen, und nun bekam er Berufsverbot. Er musste seine Praxis schließen. Damit der Familie weitere Demütigungen und die damit verbundene Aufregung erspart blieb, beeilte sich Anna, am frühen Morgen als Erstes mit einem Eimer Wasser und einer Bürste die Naziparolen, die immer öfter in der Nacht an die Gartenmauer geschmiert wurden, abzuschrubben.

    Im Spätsommer 1935 wurde ein Gesetz erlassen, das am 1. Januar 1936 in Kraft treten sollte. Paragraph 3 des »Gesetzes zum Schutz des Blutes und der deutschen Ehre«, verbot allen Juden, »weibliche Staatsangehörige deutschen Blutes unter 45 Jahren« in ihren Haushalten zu beschäftigen. Anna hatte bisher gerne bei der Familie Feist gearbeitet, obwohl sie von früh bis spät schuften musste. Aber jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als sich eine neue Arbeitsstelle zu suchen, sonst hätte sie sich strafbar gemacht.

    Später, während des Krieges, hielt Anna immer noch Kontakt zu ihren früheren Arbeitgebern in Laubenheim. Vor Gram erkrankte der Arzt schon bald schwer und starb kurze Zeit später.

    Juden hatten keinerlei Rechte und auch kein Einkommen mehr und schon gar keinen Anspruch auf irgendeine Unterstützung. Im Gegenteil, sie wurden schamlos ausgebeutet und mussten noch dankbar sein, wenn sie nicht denunziert und eingesperrt wurden. Zusätzlich wurden sie sogar für die Schäden, die die Nazis bei den Randalen in der Reichskristallnacht angerichtet hatten, zur Kasse gebeten. Anna brachte ihren früheren Arbeitgebern oft etwas zu Essen mit. Die Witwe des Arztes bot Anna in ihrer Not ihr silbernes Tafelbesteck zum Kauf an. Anna hätte ihr gerne geholfen, aber sie lehnte es ab, weil sie nicht genug Geld hatte, um es angemessen bezahlen zu können. Die Frau des Arztes bedauerte es: »Dir hätte ich es gegönnt, bevor es die Nazis beschlagnahmen, denn du bist die einzige, die es verdient hätte!«

    Im Park neben der Ruine ihrer ausgebombten Villa, konnte sich die Tochter, nachdem auch ihre Mutter gestorben war, nach dem Krieg nur die kleine Wohnung ihres früheren Chauffeurs herrichten. Mit Sprachunterricht hielt sie sich für den Rest ihres Lebens über Wasser.

    Am 17. August 1935 heuerte Philipp auf dem Schleppkahn »Argo« an. Das unmotorisierte Schiff gehörte dem sympathischen, älteren Ehepaar Vollmar, das sich bald zur Ruhe setzen wollte. Anna fand einen neuen Arbeitsplatz in Bingen in einer Konditorei. Die Arbeit dort war hart, das Essen knapp, die Behandlung und Bezahlung miserabel. Der einzige Lichtblick war, dass Bingen direkt am Rhein lag. Anna hoffte, sich nun öfter mit Philipp treffen zu können, wenn er mit dem Schiff in Bingen am Rheinufer anlegte. Doch ausgerechnet jetzt, da Anna in Bingen arbeitete, sah sie Philipp oft wochenlang nicht, denn die Argo pendelte meist mit Fracht zwischen Duisburg und Rotterdam. Auch wenn es eine Ladung nach Mainz, Frankfurt, Ludwigshafen oder Speyer hatte, war es häufig so, dass es nicht in Bingen anlegte. Deswegen war es manchmal schwierig für Philipp, Anna zu besuchen. Ihr blieb wieder nichts anderes übrig, als in ihrer knappen Freizeit am Rheinufer sehnsuchtsvoll den vorbeifahrenden Schiffen nach zu schauen, in der Hoffnung, dass die Argo dabei wäre, um Philipp wenigstens zuwinken zu können.

    Anna und Philipp kannten sich jetzt schon vier Jahre. Sie beschlossen zu heiraten. Anna war glücklich, endlich sollte sich ihr Kindheitstraum erfüllen. Sie fuhr zu ihrer Mutter nach Ludwigshöhe, um freudig von ihrer Entscheidung zu berichten. Doch ihre Mutter reagierte ablehnend. »Was willst du denn mit dem, der geht doch sonntags nicht in die Kirche, der kennt keinen Gott und kein Gebot und wenn der sich weiter so mit den Nazis anlegt, schnappt ihn die SS sowieso bald!« sagte sie in einem Atemzug. Das war Anna zu viel, sie ging wortlos. Sie wollte sich beim Bürgermeister nur noch ihre Geburtsurkunde und den Arier-Nachweis für das Aufgebot holen und sich dann hier nie wieder blicken lassen.

    Der Bürgermeister fragte freundlich: »Ei Mädsche, wann bisde gebore?«

    »Am 1. Juli 1911«, gab Anna zur Antwort.

    Der Bürgermeister sah sie mit großen Augen an und sagte verwundert: »Bei mir steht aber was anderes, nämlich der 1. Juni 1911, und das ist amtlich!«

    Anna war verwirrt. Sie konnte sich erinnern, dass ihre bereits verstorbene Großmutter und ihre Mutter sich früher manchmal wegen ihres Geburtsdatums gestritten hatten. Annas Mutter behauptete aber steif und fest, es sei der 1. Juli gewesen. Anna dachte, meine Mutter muss es ja wissen. Sie erklärte sich diese Verwechslung so, dass ihr Vater womöglich die Anmeldung ihrer Geburt erst später abgegeben hatte und sich dann nicht mehr so sicher war.

    Von nun an gedachte Anna ihres Geburtstages am »amtlichen« 1. Juni und nahm sich vor, sollte sie je Kinder bekommen, sich den Zeitpunkt ihrer Geburt genau zu merken.

    Später erfuhr Anna, dass ihre Eltern erst am 24. September 1910 geheiratet hatten, und so vermutete sie, dass ihre Mutter mit der Verschiebung des Geburtstermins vielleicht vertuschen wollte, dass Anna unehelich gezeugt worden war. Diese Erklärung erscheint aber fragwürdig in Anbetracht dessen, dass Annas Eltern bereits ihre Tochter Lisa hatten, die vier Jahre vor ihrer Hochzeit auf die Welt gekommen war.

    Auch Philipp ging zu seiner Mutter, um ihr seine Heiratspläne mitzuteilen. Diese war genauso wenig begeistert wie Annas Mutter. »Die ist doch viel zu jung für dich«, sagte sie kurz angebunden.

    Doch Philipp ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und gab knapp zu Antwort: »Die wird von selbst alt!«

    Er wunderte sich, dass seine Mutter nichts anderes fand, an dem sie Anstoß nehmen konnte, als den Altersunterschied, wo Anna doch nur sieben Jahre jünger war als er, während seine Mutter 18 Jahre jünger gewesen war als sein Vater. Seiner Mutter ging es wohl eher ums Geld, denn bisher hatte er brav bei ihr einen Teil seines Verdienstes abgeliefert, womit es nach der Heirat wohl ein Ende haben würde.

    Das alles waren also keine guten Voraussetzungen für ein fröhliches Hochzeitsfest, deshalb zogen Anna und Philipp am 4. April 1936 heimlich ihre Sonntagskleider an und gingen in Nierstein auf das Standesamt und in die Kirche. Sie hatten noch keine Trauzeugen, aber das ließ sich leicht regeln. Auf dem Weg dorthin – man kannte im Dorf die meisten Leute – fragten sie den Erstbesten, der ihnen auf der Straße begegnete, ob er ihr Trauzeuge sein wolle. »Aber mit dem größten Vergnügen!«, antwortete er, wohl in der Hoffnung auf ein Freibier. Ein weiterer Trauzeuge fehlte noch. Vor dem Rathaus fegte ein Mann die Straße. Sie sprachen ihn mit derselben Bitte an. Ohne zu Zögern stellte er seinen Besen an die Wand und folgte ihnen. Nach der Trauung wollten Anna und Philipp ihr Glück mit jemandem teilen. Sie überraschten Philipps Lieblingsschwester Marie, die längst schon verheiratet war und drei fast erwachsene Kinder hatte. Marie wunderte sich, wieso sie mitten unter der Woche im Sonntagsstaat daher kamen. Philipp verkündete stolz: »Ich bin jetzt Mann!«

    Marie kannte seine ständige Bereitschaft zum Scherzen und wollte nicht darauf

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