Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Zeig mir, was Liebe ist
Zeig mir, was Liebe ist
Zeig mir, was Liebe ist
eBook317 Seiten4 Stunden

Zeig mir, was Liebe ist

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Äußerlich die Vorzeige-Lipsticklesbe, innerlich der größte Butch: Jefferson Fynn passt in keine Schublade. Im Beruf erfolgreich, das Privatleben in einen Schrank gesperrt. Doch eines Tages werden die Sehnsucht nach Liebe und der Wunsch nach Familie groß genug, so dass Jefferson ihre Karriere an den Nagel hängt und in ihre Heimat zurückkehrt. Wo neben neuen familiären Herausforderungen auch tatsächlich die große Liebe auf sie wartet ...
SpracheDeutsch
Herausgeberédition eles
Erscheinungsdatum29. Apr. 2013
ISBN9783956090639
Zeig mir, was Liebe ist

Ähnlich wie Zeig mir, was Liebe ist

Ähnliche E-Books

Lesbische Literatur für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Zeig mir, was Liebe ist

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Zeig mir, was Liebe ist - Claudia Westphal

    Claudia Westphal

    ZEIG MIR, WAS LIEBE IST

    Roman

    Originalausgabe:

    © 2012

    ePUB-Edition:

    © 2013

    édition el!es

    www.elles.de

    info@elles.de

    Alle Rechte vorbehalten.

    ISBN 978-3-95609-063-9

    Coverfoto:

    © F.Schmidt – Fotolia.com

    Kapitel 1

    »Was habe ich nur getan?«

    Jefferson Fynn stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. Vor allem die Frage nach dem Warum quälte sie. Wahlweise hatten Psychiater ihr einzureden versucht, der Hass auf den Vater sei Ursache ihrer Traumata. Oder die Dominanz ihrer Mutter. Dass sie Anerkennung suche. Vielleicht sogar Liebe. Dass sie sexsüchtig sei. Und karrierebesessen. Alles konfuse Theorien! Keiner ihrer Seelenheiler hatte sich je mit der Erforschung des Gesamtprodukts ›Jefferson Fynn‹ beschäftigt.

    Fahles Mondlicht fiel auf das abbruchreife Haus. Jefferson ließ ihren brandneuen BMW Z3 in der Auffahrt ausrollen und stieg aus. Ein weißes Schild im Vorgarten pries die Vorzüge des Verkaufsobjekts an. Die sich in Grenzen hielten, wenn Jefferson sich recht erinnerte.

    In ihren hochhackigen Pumps stakste sie über Schotter und Grasnarben zur Veranda. Die Vordertür hing aus den Angeln. Oben im Fenster blähte sich ein Vorhang im Wind.

    Jefferson kam eine Idee. Eine jener spontanen Einfälle, die oft ebenso schnell wieder in Vergessenheit gerieten. Sie fischte ihr Handy aus der Kostümtasche und wählte die Telefonnummer der Maklerfirma.

    »Ja?«, meldete sich eine aufgeschreckte Stimme nach dem dritten Klingeln.

    »Hallo. Mein Name ist Jefferson Fynn. Ich . . .« Fahrig strich sie sich eine Strähne ihres langen, dunklen Haares aus dem Gesicht. Sollte sie es wirklich durchziehen?

    »Sind Sie noch dran?«, fragte die Frauenstimme am anderen Ende.

    »Ja, ich würde mir gern eines Ihrer Objekte ansehen. 1783 Hillside Drive.«

    »Oh?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang überrascht. Wahrscheinlich hatte die Frau nicht erwartet, dass irgendwer sich jemals für den alten, baufälligen Kasten interessieren würde.

    »Ginge es morgen Nachmittag?« Allen Zweifeln zum Trotz blieb Jefferson auf ihrem Kurs.

    »Natürlich, ich muss nur nachsehen . . .« Rascheln von Stoff. Offenbar quälte sich die Maklerin aus dem Bett.

    Jefferson schaute auf die Uhr. Es war schon nach elf. Nicht spät für Menschen in L.A., doch in Halifax ging man früher schlafen.

    »Würde es Ihnen gegen halb fünf passen, Miss . . .?« Sie machte eine Pause.

    »Fynn. F-Y-N-N. Ja, das passt mir gut. Und Ihr Name ist?«

    »Oh, Entschuldigung. Violet Benson. Ich treffe Sie dann um halb fünf bei dem . . . Objekt.« Die Bezeichnung ›Haus‹ wäre auch bei Weitem zu schmeichelhaft für das Gemäuer gewesen, das schon während Jeffersons Kindheit halb verfallen gewesen war.

    Sie verabschiedeten sich. Jefferson sah auf ihr Handy herab. Vier Nachrichten. Jede Wette, sie kamen alle von Jill. Ihre Rechtfertigungen konnte sie sich getrost schenken!

    Gedankenverloren spielte Jefferson mit den Schlüsseln ihres Luxusschlittens. Dieses baufällige Gemäuer war Teil ihrer Vergangenheit. Ebenso wie Jill. Beide erinnerten sie an Leidenschaft. Sehnsüchtiges Verlangen. Sündigen Sex.

    Vor sieben Stunden hatte sie Jill zuletzt gesehen. In ihrem engen, kurzen Nachthemd, das ihre tolle weibliche Figur bestens zur Geltung brachte. An sie geklammert und splitternackt, ihre neue Sekretärin. »Seid ihr etwa ein Paar, Jill?«, hatte die Blondine gewispert.

    Was für ein Witz! Bis auf dieses Flittchen wusste jeder in der Firma, dass Jill ihre Frau seit über vier Jahren mit Jefferson, ihrer persönlichen Assistentin, betrog. Jeffersons Anflug von Belustigung war rasch abgrundtiefer Bitterkeit gewichen. Gerade erst achtundzwanzig, und schon war sie durch etwas Jüngeres ersetzt worden!

    Dabei galten sie als das perfekte Paar. Ob bei Konferenzen, Geschäftsessen oder Segelausflügen mit anderen Industriekapitänen – Jefferson war an Jills Seite gewesen. Sie besaß zwar nur einen mittelmäßigen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften, in der Praxis jedoch war sie unschlagbar. Mit Charme, Ehrgeiz und dem Aussehen eines Supermodels koordinierte, spekulierte, arrangierte sie – und katapultierte mit Jill die Firma in wenigen Jahren auf den Rang eines Multimillionen-Dollar-Unternehmens.

    Jeder kannte Jills Frau. Ebenso war jeder über deren Beziehung mit Jefferson im Bilde. Dieses Arrangement war so viel einfacher als das Versteckspiel, das andere so trieben.

    Jefferson genoss ihre sexuelle Macht und ihren Status. Sie verlangte keine Treueschwüre oder gar eine Legitimierung ihrer Beziehung. Wozu auch? Ironischerweise war ihr jetzt beides gleichzeitig genommen worden. Von einer zwanzigjährigen Sekretärin. Eine erniedrigende Erfahrung.

    Um die Demütigung vollkommen zu machen, hatte sie die beiden auch noch in Jills Apartment erwischt. Dort, wo sie normalerweise Jills Frau betrogen. Zugegeben, sie und Jill hatten einander nie Treue geschworen, doch es war ein Unterschied, ob sie Jefferson in einem Hotelzimmer betrog oder in ihrem gemeinsamen Liebesnest.

    Die Schultern gestrafft und mit versteinerter Miene war Jefferson die wenigen Schritte zum Sideboard gegangen. Dort hatte sie sich einen marmornen Briefbeschwerer geschnappt und ihn ihrer Ex-Geliebten zum Abschied an die Brust geworfen.

    Halifax, Kalifornien. Nur wenige Meilen hinter der Golden Gate Bridge. Eine typische Kleinstadt. Keine zehntausend Einwohner. Auch Jeffersons Eltern lebten hier. Seit sie für Jill arbeitete, hatte sie Besuche vermieden. Jill hegte eine Abneigung gegen derlei familiären »Ballast«. Eine Frau und eine Geliebte, das reichte ihr.

    Zurzeit lebte der jüngste ihrer Brüder, Cleveland, mit seiner Familie wieder im Elternhaus. Pleite durch fehlgeschlagene Immobilienspekulationen. Bei einem Besuch in L.A. hatte Cleveland die ganze traurige Geschichte gebeichtet und nach einem Job gefragt. Stattdessen hatte Jefferson ihm Geld geliehen – das sie vermutlich nie wiedersehen würde. Dafür war Familie schließlich da. Sie gab Rückhalt. Sie fing einen auf.

    Seit der Stadtgründung waren die Fynns in Halifax ansässig. Und seitdem gab es in dieser Gegend auch ein Sprichwort: »Wird ein Kind in Halifax geboren, ist es ein glückliches Kind; wird ein Fynn in Halifax geboren, ist es ein Junge.« Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.

    Bis Jefferson geboren wurde. Als erstes Mädchen in zahllosen Generationen männlicher Nachkommen, die alle nach amerikanischen Präsidenten benannt wurden. Somit stand Jeffersons Name bereits am Tag ihrer Empfängnis fest und wurde auch bei der Geburt nicht geändert.

    Sie waren eine glückliche Familie. Normal, im normalsten Sinne des Wortes. Auch wenn die Ankunft eines Mädchens nach vier Söhnen ein Schicksalsschlag für Jackson und Noreen Fynn gewesen sein musste. Das machte Jefferson wett, indem sie bei jeder Gelegenheit den Jungen nacheiferte. Sie waren ihre Vorbilder, ihr Ansporn und ihre Raufkameraden.

    Bis Kennedy fortging. Nicht, dass er verstoßen worden wäre. Nach seinem Outing musste er gespürt haben, wie unerwünscht Homosexualität im Hause Fynn war.

    Genau so, wie sie es eines Tages gemerkt hatte.

    Frisch geduscht saß Jefferson gegen halb eins auf dem Doppelbett eines kleinen, anonymen Motels am Highway und surfte durch die Fernsehprogramme. Hier war der Name Fynn so gut wie Smith. Niemand kannte sie. Keiner störte sie. Fern von allen Problemen konnte Jefferson in Ruhe nachdenken.

    Wie lange wollte sie bleiben? Womit würde Jill sie zur Rückkehr überreden? Wie viel Zeit wollte sie sich lassen, ehe sie ihr nachgab?

    Reglos blickte Jefferson auf ihr kleines, silbernes Telefon. Die Mailbox war voll. Sollte sie ihre Nachrichten abhören?

    Sie war erwachsen.

    Sie zögerte es hinaus.

    Sie musste eine Entscheidung fällen.

    Sie fühlte sich nicht stark genug.

    Schlaf. Sie brauchte Schlaf.

    Als Kind hatte sie gern geschlafen. Als Heranwachsende hatte sie sich lieber nachts aus dem Haus geschlichen und tagsüber den Unterricht verpennt. Als Erwachsene war es ein Konzept, das sie eher vom Hörensagen kannte.

    Ihre Nachtstunden verliefen meist ruhelos. Zu viele Gedanken drehten sich in ihrem Kopf: Termine, Verabredungen, Anliegen anderer. Es glich einem Wollknäuel, dessen Anfang verschwunden war und dessen Ende sich endlos fortsetzte. Sie würde es nie entwirren können.

    Überraschend daher, dass Jefferson in dieser Nacht fast acht Stunden schlief. Erst Schritte auf der Treppe rissen sie aus ihrem Schlummer.

    Desorientiert strich sich Jefferson die dunklen Haarsträhnen aus dem Gesicht und plante ihren Tag.

    Ein Familienbesuch stand an. Wie sie es drehte und wendete, es gab kein Entkommen.

    Schon im Eingang der Werkstatt hörte Jefferson Musik. Von drinnen ertönten gedämpfte Stimmen, dann lautes Rufen. Ein Telefon klingelte. Es war so betriebsam wie vor zehn Jahren. Damals hatte sie ihren alten Dodge durchsehen lassen, bevor sie nach San Francisco abgedüst war. Besser gesagt war das alte Gefährt davongestottert und hatte bei San Rafael den Geist aufgegeben.

    In der großen Werkhalle suchte Jefferson nach der hochgewachsenen, breitschultrigen Gestalt ihres Bruders.

    Ehe sie ihn fand, wurde sie von seinen Kollegen entdeckt. »Hey, Fynn. Ich glaube, es ist für dich!«, hallte es durch den Raum.

    Alle Blicke richteten sich auf Jefferson. Keiner der Männer kam ihr bekannt vor. Vermutlich basierte die Annahme des Mechanikers weniger auf der frappierenden Familienähnlichkeit als auf Washingtons stadtbekannter Schwäche für gutaussehende, groß gewachsene Brünette.

    Der älteste Sohn der Fynns steckte den Kopf unter einer Motorhaube hervor. »Was machst du denn hier?«

    »Ich habe Urlaub und dachte, ich schau mal vorbei.«

    Da er sich keine Mühe machte sie zu begrüßen, durchquerte Jefferson die Werkstatt. Der Kollege, mit dem Washington sich gerade unterhalten hatte, verdrückte sich unauffällig.

    »Urlaub? Seit wann kennt dein Boss dieses Wort? Das wäre das erste Mal in . . . wie vielen Jahren?«

    »Vier.«

    Washington besah sich das Motorenteil in seinen ölverschmierten Händen. Unter dem Overall sah sie das Spiel seiner Muskeln. Seit dem High-School-Abschluss arbeitete Washington schon in dieser Reparaturwerkstatt. College-Ambitionen hatte er nie besessen. Mit Autos und Motorrädern dagegen kannte er sich aus. »Warst du schon bei Mom und Dad?«

    »Nein, vielleicht fahre ich später noch vorbei.«

    »Dann erwähne ich diesen Kurzauftritt besser nicht, falls dein voller Terminkalender einem Besuch entgegensteht.« Washington nahm niemals ein Blatt vor den Mund.

    Die unausgesprochenen Vorwürfe waren berechtigt. Alle wichtigen Ereignisse des Fynn-Clans fanden ohne Jefferson statt.

    »Wie geht es dir?«, überging sie seine Worte. Seit dem letzten Zusammentreffen war ihr Bruder sichtlich älter geworden. Die Spur von Grau an seinen Schläfen verlieh ihm einen Anflug von Seriosität.

    »Gut.« Er rang sich zu einem Vorschlag durch. »In zwanzig Minuten habe ich Mittagspause. Wir können im Diner etwas essen, wenn du noch Zeit hast.«

    Die Einladung kam überraschend. »Gern. Ich warte auf dich.«

    Pünktlich zwanzig Minuten später öffnete Jefferson die Tür zum Diner. Washington saß bereits mit zwei Kollegen an einem Tisch. Jeffersons Eintreten unterbrach die angeregte Unterhaltung. Washingtons Kollegen – ›Will‹ und ›Martin‹ stand auf den Overalls – verließen ohne ein weiteres Wort den Tisch und setzten sich eine Nische weiter.

    »Du hängst also noch immer mit Gentlemen herum.« Jefferson ließ sich auf einen der freigewordenen Plätze fallen.

    »Nur weil du in L.A. wohnst, bist du nichts Besseres als sie. Also führ dich nicht auf wie eine Großstadtzicke.«

    Das saß. In L.A. war es einfach, Leute einzuschüchtern, die nicht mit einem gut gepolsterten Bankkonto geboren worden waren. Hier kamen die meisten aus mittelständischen Familien.

    »Also, was hat es mit deinem Urlaub auf sich? Ist dein Boss gestorben?« Genüsslich biss der ältere Fynn in seinen Burger.

    Jefferson stibitzte ein paar von Washingtons Fries. »Ich fürchte, ich bin gefeuert.« Auf die näheren Umstände ihres letzten Gesprächs mit Jill wollte sie nicht eingehen.

    »Und jetzt?«

    Das war die Preisfrage. »Vielleicht bleibe ich eine Weile. Ich habe etwas Geld gespart. Später suche ich mir einen neuen Job.«

    »Schon mal was von Arbeitslosigkeit gehört, Jeffey?«

    »Sag nicht, dass attraktive Frauen, die für Geld alles tun, nicht immer Arbeit bekommen«, tat Jefferson schockiert.

    Washington lachte auf. »War das in L.A. deine Stellenbeschreibung?«

    »Wie kommst du darauf?«

    Ihr Gegenüber grinste schief. »Mom hielt es für möglich. Na ja, du warst noch nie schüchtern, wenn es um Sex ging.«

    Verstohlen schaute sich Jefferson zu Will und Martin um, die sich jedoch über Wichtigeres zu unterhalten schienen. »Du hast ihnen hoffentlich gesagt, dass ich deine Schwester bin, oder?«

    »Immerhin habe ich einen Ruf zu verlieren, du Vogelscheuche«, frotzelte Washington und wischte sich den Mund mit einer Serviette ab.

    »Vielen Dank. Die Jungs sollen schließlich nicht denken, sie wären bei mir chancenlos, nur weil ich mit dem Opa unter den Mechanikern schlafe.«

    Washington wurde ernst. »Mom und Dad sprechen oft über dich, Jefferson. Sie vermissen dich.«

    Erstaunlich. Washington war erwachsen geworden; sensibel für die Gefühle und Bedürfnisse anderer.

    »Ich vermisse euch auch. Mein Job hat mich aufgefressen . . .«

    »Vor mir musst du dich nicht rechtfertigen. Vor Mom allerdings schon. Also spar’s dir für morgen auf. Dinner um sieben.«

    »Um sieben.« Es würde ein langer Abend werden . . .

    Nachdem Washington zurück an die Arbeit gegangen war, blieb Jefferson noch Zeit bis zum Termin mit der Maklerin – wie hieß sie gleich? Benson? Eine gute Gelegenheit, sich in ihrer alten Heimatstadt umzusehen. Halifax hatte sich kaum verändert. Ein paar neue Geschäfte, das war es auch schon. Ein neuer Buchladen erregte ihre Aufmerksamkeit.

    Kaum war die Ladentür hinter Jefferson ins Schloss gefallen, entdeckte sie ausgerechnet die Person, der sie gern meilenweit aus dem Weg gegangen wäre. In einem Anflug von Panik duckte Jefferson sich hinter das nächste Regal. Bloß jetzt nicht! Am besten nie wieder! Was, wenn . . .

    »Bis Morgen, Marcy.«

    »Das Buch ist bis dahin bestimmt gekommen, Casey. Bis Morgen.«

    Jefferson stieß hörbar den Atem aus.

    Ein Regal weiter schaute eine Frau neugierig herüber. »Alles in Ordnung?«

    »Nur eine Panikattacke. Ist schon wieder gut.«

    »Also, wenn Bücher Sie derart nervös machen . . .«

    »Es waren nicht die Bücher. Obwohl . . .«, Jefferson zog einen Bildband mit einem gefräßig aussehenden Hai auf dem Cover aus dem Regal, ». . . der kann einem schon Angst machen.«

    Die junge Frau kam näher und streckte Jefferson die Hand entgegen. »Hi, ich bin Tracy.«

    »Jefferson.« Trotz des unschuldigen Händedrucks deutete sie Tracys Interesse richtig und startete einen Rückzug. »Ich muss los. Hat mich gefreut, ähm, Tracy.«

    So leicht kam sie leider nicht davon. Die zierliche Frau warf ihr schulterlanges, rotbraunes Haar zurück und verstellte ihr den Weg. »Auf die Gefahr hin, dass es wie eine Anmache klingt: Würdest du einen Kaffee mit mir trinken?«

    »Danke für die Einladung, aber nein.« Jeffersons Unbehagen wuchs. Sie war es gewohnt, dass Frauen wie Männer mit ihr flirteten. Meistens allerdings waren es Geschäftspartnerinnen von Jill. Doch das war L.A. In L.A. war Sex eine Ware, und somit war ihr Sexappeal Teil ihres Kapitals. In Halifax dagegen verwandelte sie sich wieder die siebzehnjährige Jefferson Fynn, die sich, überwältigt von schmerzvollen Erinnerungen, hinter mannshohen Regalen vor ihrer ersten großen Liebe versteckte.

    Jefferson parkte ihren Wagen in der Einfahrt des Banister-Anwesens. Erwartungsgemäß kam sie zu früh. Es gab einfach nichts für sie zu tun. In L.A. rannte ihr die Zeit davon. Immer stand sie unter Stress. Hier dagegen gab es keinen Stress, keinen Terminplaner – und keine Jill.

    Das alte Gemäuer hatte sich wenig verändert. Noch immer gab es mehr Graffiti als Farbe an den Wänden. Hinter dem Haus wucherte das Unkraut. Die Hecken waren schon lange nicht mehr gestutzt worden, die Fenster zersplittert.

    Wie damals verschaffte sich Jefferson Einlass durch die Seitenveranda. Ein modriger Geruch umfing sie. Hatte sie diesen gruseligen Ort in ihrer Vorstellung romantisiert? In der Ecke lag eine alte, durchgelegene Matratze. War es dieselbe, auf der sie das erste Mal Sex gehabt hatte?

    Erinnerungen überfluteten sie: das Lachen eines beschwipsten Mädchens. Die erotische Herausforderung. »Ich wette, du traust dich nicht, mich zu küssen!«

    Bitterkeit mischte sich in Jeffersons Erinnerungen. Sie straffte die Schultern und wandte sich dem Bereich zu, der in besseren Tagen eine Küche gewesen war.

    »Miss Fynn?« Die Vordertür löste sich aus den Angeln und krachte begleitet von einem schrillen Aufschrei auf den Boden. Staub wallte auf. Eine kleine, blondierte Frau mit Designerbrillenimitat wedelte hustend mit der Hand vor ihrem Gesicht herum. »Freut mich, Sie kennenzulernen!« Mit einer geübten Geste wischte sie den Staub von ihrer Chanel-Kostüm-Kopie und streckte der Klientin die Hand entgegen. »Violet Benson.«

    Die Besichtigung der unteren Etage verlief ernüchternd. Die Zimmer im Erdgeschoss stanken bestialisch. Vermutlich schliefen dort Obdachlose.

    ». . . gebaut 1927 . . . der Architekt war . . .«, ließ Jefferson eine Tirade architektonischer Fakten auf sich niederprasseln.

    Im ersten Stockwerk waren die Badezimmer mit Unaussprechlichem beschmiert, die Schlafzimmer das Heim von Ratten und Kakerlaken. In ihrem eng anliegenden Armani-Kostüm war Jefferson mehr als fehl am Platz.

    Ein paar Stufen führten zum Dachboden. Instinktiv zog die Besucherin den Kopf ein und duckte sich durch die halbhohe Tür. Der Krempel von früher fehlte. Damals hatte sich alles Mögliche im Halbdunkel angesammelt: Kleider, Kisten, Bücher, ein Eichenschrank, Krimskrams der Schauspielerin, die lange im Haus gelebt hatte. Heute wirkte der große Raum verwaist.

    Jefferson fühlte einen kleinen Stich in der Brust. Hier oben war sie am glücklichsten gewesen. Ungestört. Keines der anderen Kinder ihrer Nachbarschaft hatte sich über die schmale, brüchige Treppe heraufgewagt. Jefferson verkniff sich die Frage nach dem Verbleib der Sachen und trat an die Dachluke. Dielen knarrten. Direkt unter dem verstaubten Fenster stieß ihr hochhackiger Pumps an ein loses Brett.

    Ihr altes Versteck! Jefferson schluckte. Verstohlen blickte sie zur Maklerin. Ihr Herz raste, ihre Hände wurden feucht. Lagen die Geheimnisse ihrer Jugend etwa noch immer hier oben verborgen?

    »Nicht viel zu sehen. Wollen wir wieder hinuntergehen?«, erklang Miss Bensons Stimme vom Türeingang. Offenbar misstraute sie den morschen Bodendielen.

    »Es hat sich verändert.« Zurück im Treppenhaus, beugte sich Jefferson über das Geländer. Sie sah hinunter in die Eingangshalle, dann nach oben: Der riesige Kronleuchter war verschwunden. Drähte ragten aus der Decke.

    Spielte ihr das Gedächtnis Streiche? Vergeblich versuchte Jefferson ihre Erinnerungen mit dem tatsächlichen Zustand des Hauses in Einklang zu bringen. Gab es die durchgelegene Matratze im Untergeschoss wirklich? War es dieselbe wie vor dreizehn Jahren?

    War sie noch dieselbe? Ein schlaksiges Mädchen mit Lederjacke und Elvis-Tolle, das immer eine Zigarette hinters Ohr geklemmt hatte?

    Beim ersten Wiedersehen gestern schien alles noch wie früher. Und jetzt? Reine Illusion.

    »Ihre Familie freut sich bestimmt, dass Sie wieder hierher ziehen wollen.« Die Maklerin steckte die Hausbroschüre zurück in ihre Aktentasche und steuerte gen Ausgang.

    »Sie wissen es noch nicht.« Jefferson bahnte sich vorsichtig den Weg um ein paar verrostete Farbdosen. »Außerdem gibt es vorher eine Menge zu tun. Man muss erst alles niederreißen, bevor man . . .«

    »Einen Moment! Sie wollen das Haus abreißen? Tut mir leid, Miss Fynn. In dem Fall darf ich Ihnen das Grundstück nicht verkaufen. Das Anwesen muss in seiner alten Form bestehen bleiben. Diese Bedingung ist unumstößlich. Renovieren, ja, Abreißen, nein.«

    Fassungslosigkeit machte sich in Jefferson breit. »Wie bitte? Ich wollte auf diesem Grundstück etwas Neues bauen. Ein Haus, das meinen Stil repräsentiert!« Mit einem tiefen Atemzug bändigte Jefferson ihre Empörung. Wieso berührte diese Klausel sie so? Es war nur ein Haus! Ein altes, hässliches, baufälliges Gemäuer.

    Aber auch der geheime Ort, an dem sie ihre Unschuld verloren hatte.

    In ihrem dunkelblauen Cabrio kurvte Jefferson durch die kleine Stadt auf der Suche nach Spuren ihrer Jugend. Alte Treffpunkte wurden inzwischen von neuen Teenagern heimgesucht. Ob ihre früheren Freunde noch alle in Halifax lebten? Nun, immerhin Casey war da. Die stand allerdings ganz unten auf Jeffersons Liste.

    Die Hausbesichtigung hätte sie sich schenken sollen. Schließlich konnte sie nicht einfach nach Halifax zurückkommen. Besonders, wo sie jeden Tag Casey in die Arme laufen könnte. Überhaupt, so lange die Beziehung zu Jill ungeklärt blieb, gab es zu viele »Wenn« und »Aber« in ihrem Leben. In L.A. waren die Dinge einfach. Dort lagen Gegenwart und Zukunft. Halifax war ihre Vergangenheit.

    Die schrille Sirene eines Streifenwagens riss Jefferson aus ihren Selbstzweifeln.

    »Noch ein Strafzettel! Na großartig!« Reichlich genervt hielt sie das Cabrio an. Im Rückspiegel beobachtete sie den Cop, der erst einmal ihr Nummernschild genauer inspizierte. Sekunden später leuchtete ihr der Strahl einer Taschenlampe ins Gesicht. »Das gibt’s ja nicht! Fynn?«

    Das brachte Jefferson aus dem Konzept. Sie wollte dem Uniformierten gerade eine herzzerreißende Geschichte über einen familiären Notfall auftischen.

    »Ich bin’s. Hank Lundy. Ich war mit Kennedy in einem Jahrgang. Wir sind oft zusammen angeln gegangen.« Rotes Haar, blasse Haut und Sommersprossen erinnerten an den farblosen Jungen von damals. »Besuchst du deine Eltern? Geht es ihnen gut?«

    Das konnte er wahrscheinlich besser beantworten. In Halifax kannten die Leute einander. Jefferson selbst erhielt seit vier Jahren nur spärliche Nachrichten von der Familienfront. »Ja, es geht ihnen sehr gut. Und was machst du so?«

    »Ich bin gerade Vater geworden. Hast du mal was von Kennedy gehört?« Hank musste der Einzige sein, zu dem dieser Kleinstadttratsch nicht vorgedrungen war.

    »Schon lange nicht mehr.« Die Worte taten weh.

    »Schade.« Hank räusperte sich vernehmlich. »Du warst zu schnell unterwegs. Diesmal verwarne ich dich nur.«

    »Danke, Hank. Das ist sehr nett von dir.« Auf ihr strahlendes Lächeln hin errötete er leicht.

    »Grüß deine Eltern, und fahr vorsichtig. Halte dich bitte an das Tempolimit.« Er nickte resolut und ging, ohne eine Erwiderung abzuwarten, zurück zu seinem Wagen.

    Kurz nach dem Zusammentreffen mit Hank betrat Jefferson einen 7-Eleven. Um kurz nach acht Uhr gab es nur wenige Kunden. Jefferson ließ sich Zeit beim Durchschlendern der Gänge.

    Ihr stand der Sinn nach Schokolade und Eiscreme. Dazu eine gute Dosis Alkohol. Und womöglich noch die hinreißende junge Frau in der Hygieneartikelabteilung, die gerade das Regal mit den Tampons inspizierte.

    Während Jefferson sie von ihrem Platz bei den Shampoos aus beobachtete, hörte sie plötzlich Schritte hinter sich.

    »Jefferson?«

    »Jackson.« Seit vier Jahren hatte sie den großen, grauhaarigen Mann weder gesehen noch gesprochen. Bei Anrufen war immer ihre Mutter am Telefon.

    »Bist du zu alt, mich Dad zu nennen?«

    »War das deine Funktion in meinem Leben?« Jefferson riss sich zusammen. Woher sollte Jackson auch wissen, wovon sie sprach? Er hatte ja nicht mit ihr auf der Couch bei zahllosen Seelenklempnern gesessen und mit angehört, wie sie ihm die Schuld für ihre Verfehlungen gab.

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1