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Im Kreis
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eBook275 Seiten4 Stunden

Im Kreis

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Über dieses E-Book

Er fährt seit nahezu vierzig Jahren auf der Wiener Ringlinie. Im Lauf der Zeit werden die Fahrgäste zu Bekannten, und die Geschichten, die er sich zu ihnen ausdenkt, stimmen mit der Wirklichkeit oft verblüffend genau überein.

Er beginnt in dieser Welt des Kreisens aufzugehen, Unbekannte werden zu Gefährten, Fremde zu Freunden. Er erlebt, wie Leute, die zueinander passen könnten, sich ständig verfehlen, aber auch, wie sich andere finden, weil sie zum richtigen Zeitpunkt in denselben Wagen eingestiegen sind.

Und das alles findet in einer historischen Umgebung statt, die übersät ist mit Denkmälern und Gedenktafeln - die allerdings, wie er meint, oft den falschen oder zumindest nicht den vielen wirklichen Helden gewidmet sind: zum Beispiel dem Stemmer Zamecnik, der täglich die gehunfähige Frau Peierl vom vierten Stock hinunter und wieder hinaufgetragen hat und keiner Maus etwas zuleide tun konnte, oder dem Apothekergehilfen Gasteiger, der zu arm war, um Medizin zu studieren, aber für die Leute im Bezirk sehr bald "der junge Herr Doktor" war, der sie gratis behandelte und deswegen ins Gefängnis musste. Die Putzfrau Mitzi Wunderer, die den depressiven Herrn Machacek vor dem Selbstmord bewahrte, und Franzi Bittner, der einen Gleichaltrigen aus der Donau gerettet hatte. Überall auf der Route der Linien 1 und 2 befindet sich ein Stück Erinnerung an solche vergessenen Menschen, und er kennt sie alle. Eine solche Welt sei eine bessere als die, welche noch immer die Luegers und Starhembergs verehrt - zum Glück sei deren steinerne nicht die wirkliche, meint er. Aber wer könne schon sagen, was wirklich ist...
SpracheDeutsch
HerausgeberWieser Verlag
Erscheinungsdatum12. Dez. 2014
ISBN9783990470237
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    Buchvorschau

    Im Kreis - Wilhelm Pevny

    978-3-99047-011-4

    Im Durchschnitt habe ich den Ring fünf- bis fünfzehnmal am Tag umrundet, seit mehr als achtunddreissig Jahren schon. – Angefangen hab ich vor einundvierzig Jahren mit dem 31er, 231er und 331er, danach war ich im 21er und nur noch im A, Ak oder B und Bk unterwegs; da ist man damals vom Ring bis zum Elderschplatz gefahren oder bis nach Kaisermühlen. Die längere Linie B war mir die liebste, die hat man nämlich nur fünf Mal, höchstens sechs Mal am Tag geschafft, bis 1986, danach haben wir zweiundzwanzig Jahre lang nur mehr den Ring in beide Richtungen umkreist, wofür wir nicht viel mehr als eine halbe Stunde gebraucht haben, mit den neuen Garnituren der Linien 1 und 2, wie sie seit 81 heissen, sogar noch weniger. Anfangs hat es am Ende der Ringrunde keine Pause gegeben, sondern nach vier Runden bei der Station Stadtpark oder Schottenring jeweils zwanzig Minuten Rast, und danach mit einer anderen Garnitur wieder vier Runden und nach der zweiten Pause den Rest der Fuhr. Später sind wir beim Stubenring oder beim Schottenring nach jeder Runde fünf Minuten gestanden, aber das hat sich nicht bewährt. Vor einigen Jahren haben sie die Linienführung wieder ausgeweitet, jetzt ist sie sogar länger als früher, was linienmässig eine grosse Erleichterung ist, wenngleich ich es andererseits bedauere, weil ich meine Leute nicht mehr so oft sehe.

    Den Herrn Ministerialrat zum Beispiel, der bei jedem Wetter im Anzug oder zumindest im Complet fährt. Im Winter trägt er natürlich einen Mantel darüber und einen Hut auf dem Kopf. Aber auch wenn es brühheiss ist, geht er nicht ohne Sakko. Immer steigt er bei mir vorne ein und immer auch wieder bei mir aus. Trotzdem grüssen wir uns nicht – obwohl ich mir eigentlich sicher bin, dass er mich genauso bemerkt, wie ich ihn. Ah, das ist der Fahrer Sowieso wird er denken, den mag ich oder mag ich nicht. Er lässt sich nämlich nicht in die Karten schauen, ein wahres Pokerface, weder unfreundlich noch freundlich. Er steigt immer in der Weihburggasse ein und beim Burggarten aus, geht die paar Schritte Richtung Heldentor und verschwindet in der Hofburg, und zurück dann eben umgekehrt. Oft hab ich mich gefragt, warum er nicht den Innenstadtbus nimmt oder überhaupt zu Fuss geht. Wahrscheinlich will er nicht umsteigen, oder sich beim Spazieren durch die Stadt die Schuhe schmutzig machen, die sind nämlich immer tiptop gewixt. Ob seine Frau sie ihm putzt? – Wohl eher eine Haushälterin oder Zugehfrau.

    Bei der vorigen Ringrunde ist wie beinahe jeden Tag um diese Zeit die Mademoiselle zugestiegen, wie immer hinten in den Beiwagen. Die Mademoiselle steigt nämlich nie im vorderen Waggon ein. Vielleicht fährt sie schwarz, hab ich mir früher manchmal gedacht, als im Triebwagen noch ein Schaffner gesessen ist, der nicht nur Fahrkarten verkauft hat, sondern auch hin und wieder die Fahrgäste kontrolliert hat, die vorne bei mir eingestiegen sind. – Die Mademoiselle schaut allerdings, ehrlich gesagt, nicht danach aus, und für Jugendstreiche war sie schon damals zu alt. Immer ist sie bestens gekleidet. Sie würde perfekt zum Ministerialrat passen, aber die beiden sind – zumindest in all den Jahren, in denen ich den Zweier oder Einser fahre – nie zusammengetroffen. Was ich nach wie vor schade finde. Denn sie würden einfach ein passendes Paar ergeben, meine ich. Beide elegant und sehr bei sich, wenn Sie wissen, was ich meine. Sie zehn Jahre jünger als er, beide vermutlich an ernster Musik interessiert. Nun gut, vielleicht würden sie sich nichts zu sagen haben, was ich aber nicht glaube, im Gegenteil – allerdings von langen Pausen unterbrochen und sehr zurückhaltend. Denn beide hassen sicherlich Geschwätz.

    So wie auch Gitta und ich. Ja, wir beide haben mindestens genauso gut zusammengepasst, wie die beiden es vielleicht würden. Wandern und Radfahren war unsere grosse Leidenschaft, und natürlich die Kunst. – Gitta war bildschön und ihr Herz aus Gold. Wahrscheinlich müssen solche Menschen früh sterben. Und wo Glück herrscht, muss es wohl zerbrochen werden. Nein, so eine wie Gitta finde ich nie wieder. Ausserdem will ich jetzt gar keine mehr finden. Leider blieb unsere Ehe kinderlos. So hab ich nicht einmal einen Sohn oder eine Tochter, die mich an sie erinnern. Und so ist Gitta eben für mich wie ein Engel aus einer anderen Welt. Ja, ich gebe zu, ich rede auch heute noch immer wieder stumm mit ihr, zu Hause sogar manchmal laut – Gitta hast du heute die Frau Novotny gesehen, die schaut gar nicht gut aus, was meinst du? – Halten Sie mich aber bitte nicht für verrückt, ich brauch das, ich muss es loswerden, sonst rumort zu viel in mir ’rum. Denn man sieht einfach viel als Strassenbahnfahrer und auf der Ringlinie eben ganz besonders.

    Allerdings gibt es Kollegen, die schauen gar nicht mehr hin. Die haben den Tunnelblick, sehen nur die Ampeln und die Autos unmittelbar vorm Bug, und bei der Station dann, ob alle Gestalten eingestiegen sind, ja Gestalten, nicht Frauen, Männer, alt oder jung. Glauben Sie mir, ich kann sie verstehen. Es gibt meiner Meinung nach nur diese beiden Wege. Entweder du siehst alles – oder nichts. Wobei ja auch ich Tage habe, an denen ich nicht sehr viel um mich herum wahrnehme, aber das dauert meistens nicht lange. Peng, ist da ein kleiner Bub, der am Strassenrand meine Aufmerksamkeit erregt, aber auch: Wumm, ist das eine hübsche Frau – atemberaubend! Aber wollen würd ich sie trotzdem nicht. Sie mich wahrscheinlich auch nicht. Ja, man muss wissen, mit wem man zusammenpasst und mit wem nicht.

    Gitta und ich haben es sofort gewusst. Die berühmte Liebe auf den ersten Blick. Dass es so etwas gibt! Ich seh sie, sie sieht mich, und schon sind wir ineinander verliebt. Dieses Lächeln, und wahrscheinlich auch meins, als würde einem das Herz ausrinnen. Ja, ich weiss, klingt kitschig, aber es war wirklich so. Kaum auszuhalten, sie nicht sofort zu umarmen, und andererseits doch auch wiederum schön, dass alles noch bevorstand. Diese ersten Minuten! Am nächsten Tag dann das Wiedersehen. Und endlich der Kinobesuch und der gemeinsame Ausflug. Sie in ihrem lässigen knielangen Rock und ihrer luftigen Bluse, ich in frisch erstandener Bundfaltenhose und kurzärmeligem Hemd. Die weitausholenden Bewegungen, mit denen sie den Picknickkorb öffnet und die Leckerbissen auf die ausgebreitete Decke legt. Himmel, als würde es keine andere je für mich gegeben haben, und ich glaube, für Gitta war es später ebenso. Ja, ein solches Glück muss wohl bestraft werden.

    Der Ausländer mit dem unvermeidlichen Paket ist soeben zugestiegen. Einer von der neuen – verlängerten – Runde. Immer so um vier Uhr nachmittag steigt er mit einem oder mehreren Paketen zu. Ich nenne ihn Tamile, natürlich nicht laut, sondern nur bei mir, weil es wahrscheinlich nicht korrekt ist. Damit kein Missverständnis entsteht, ich mag ihn. Er hat einen guten Blick, und er hat es wahrscheinlich nicht leicht. Seine Stirn, immer gefurcht, immer ein wenig besorgt. Was wohl drinnen ist, in diesen Paketen? Schuhe? Dafür ist das Paket zu schwer. Für Eisernes, etwa bronzene Armleuchter oder gar Goldbarren ist es wiederum zu leicht. Ausserdem wird man ihm sicherlich kein Gold anvertrauen. Gleichwohl in der Firma, in der Gitta gearbeitet hat, man glaubt es nicht, sie den Lehrbuben regelmässig mit der Losung zur Post geschickt haben. Und von Walter weiss ich, dass er früher ebenfalls hin und wieder mit Geldlieferungen betraut wurde, weil er – wie der Chef sagte – so unscheinbar und gar nicht nach Geld aussehe. Das würde auch auf den Tamilen perfekt zutreffen. Aber wahrscheinlich befindet sich etwas ganz Banales in den Paketen, auch sind sie nicht immer gleich gross.

    Der Tamile würde übrigens gut zu Lola passen. Aber wahrscheinlich hat er sowieso seine Familie mitgebracht. Obwohl ich mir nicht sicher bin, nein, eigentlich schaut er nicht so aus, als würde er täglich Kinder um sich haben und eine unterwürfige, zutrauliche oder gar aufmüpfige Frau. Sie werden vielleicht lachen, aber ich glaube wirklich, dass man das feststellen kann, wenn man mehr als vierzig Jahre praktisch täglich im Führerstand einer Strassenbahn sitzt oder früher (wie der Name es sagt) gestanden ist. – Ja, ich weiss, Tamile, unterwürfige Frau … typische Klischees. Solche Gedanken und Eindrücke seien nichts anderes als Vorurteile, mögen Sie einwenden, ausserdem könne ich auch nichts davon untermauern oder gar beweisen. Aber jetzt mal ehrlich, schauen Sie genau hin. Geben Sie doch zu, dass Sie einem Blick, einem Mund, einem Gesicht, der Kleidung, der Haltung eines Menschen beinahe alles ablesen können, Sie müssen sich darin nur schulen, vor allem aber müssen Sie regelmässig überprüfen, ob Ihre Beobachtungen zutreffen oder nicht. Das hab ich schon seinerzeit in der Schule getan. Bei den Lehrern, bei den Klassenkameraden, beim Schulwart, bei der Nachbarin, bei den Hausbewohnern, bei den Leuten im Grätzel, weil ich mich nach einigen heftigen Ernüchterungen nicht nur auf das, was sie sagten und das Äussere verlassen wollte. – Der Herr Moosbacher ist pervers, hab ich mir früh schon insgeheim gedacht, aber es erst später ausgesprochen. – Nie und nimmer, hat Walter, vom Vierziger Haus, damals gemeint: Schau ihn doch an, immer bestens gekleidet, stramm frisiert, die Augen zwar stets ein wenig trocken, aber was sagt das schon! – Um die Zeit herum als ich mit der Schule aufgehört hab, ist dann eines Tages die Funkstreife vor seinem Haus gestanden, und die Kieberer, wie wir die Polizisten in Wien nennen, haben seine Wohnung durchsucht, ihn aber nicht verhaftet. Er hat eine ordentliche Sammlung Reizwäsche und Unterwäsche gehabt, hats geheissen. Die Frauen in der Umgebung haben sich jahrelang beschwert, dass ihnen Büstenhalter und Höschen ständig wegkommen sind. Aus der Trockenkammer, vom Dachboden, sogar vom Balkon …

    Am schwierigsten wars für mich – schon in meiner Kindheit – mit den Leuten, die immer so lieb lächeln; was ich ja anfangs überhaupt nicht verstanden habe, dass jemand lächelt, ohne es zu meinen, dafür war mir das Lächeln viel zu kostbar. Aber es gab eben etliche, die dauernd lächelten, wie auf Knopfdruck und völlig überzeugend. Ist dieses Lächeln echt oder falsch, hab ich mich schon als Knirps verwundert gefragt, und auf den winzig kleinen Moment gelauert, bevor das Lächeln erstirbt, oder unmittelbar bevor sich der Mund krümmt. – Sagen Sie ruhig, ich bilde es mir ein, aber in diesen hundertstel Sekunden kann man Wesentliches über einen Menschen erfahren: auch wem gegenüber er lächelt und wem gegenüber nicht, in den Sekundenbruchteilen unmittelbar bevor das Lächeln entsteht oder erstirbt, oder wenn die Reaktion überhaupt ausbleibt – Sie müssen das Erblickte nur in Zeitlupe nochmals vor ihrem inneren Auge abspulen. Solche Wiederholungen sind, glauben Sie mir, überhaupt sehr effektiv. Vor allem bei dem, was jemand sagt. In schönster Sprache und wohlausgedrückt klingt es vielleicht wirklich toll, und du denkst: Recht hat er, gut gebrüllt, Löwe! Und dann wiederholst du insgeheim das Gesagte in neutralem Tonfall – und Bums, ist es ein kompletter Blödsinn.

    Besonders bei Schauspielern und Politikern geschieht das sehr oft, meinen Sie nicht auch? Schauspieler hören sich naturgemäss gern reden, und Politiker wahrscheinlich ebenso, und da sie sich darin gut schulen, ist alle Welt von diesem Getue mehr oder weniger gebannt und denkt sich: Gut gesagt, ein intelligenter Mann, oder: Da hat er recht, der Herr Jungspund oder Altkanzler. Und dann wiederholst du das Gesagte im Geist, säuberst es vom eitlen Gehabe, und Voilá, der grösste Blödsinn tut sich auf! – Leider nehmen sich die Leute für solche Wiederholungen meistens nicht die Zeit, und so bleibt eben in der Regel der erste Eindruck bestehen: das freundliche Gelächel, der scheinbar herzliche Umgang mit den Menschen. Und flugs gelten ausgemachte Unsympathler als Sympathieträger, und im Gegenzug wertvolle Menschen als unwesentlich.

    Wie eben der Warzen Karli, der immer bei der Urania oder bei der Bellaria abwechselnd in den 1-er oder 2-er eingestiegen ist, jetzt aber schon lange nicht mehr. Der Warzen Karli war auf den ersten Eindruck, na sagen wir: gewöhnungsbedürftig, aber letztlich hat er jedermanns Herz gerührt. Keiner konnte so nett, wie er, zu Kindern sein. Er hat seine Mädels und Burlis die halbe Ringrunde unterhalten. Nein, nicht anbiedernd oder liebi liebi, sondern immer einfühlsam; und wenn das eine oder andere Kind schüchtern war oder seine Ruhe haben wollte, hat er ihm rechtgegeben und stattdessen den einen oder anderen Prominenten aufs Korn genommen, dem ein wenig mehr Zurückhaltung gut zu Gesicht stünde und die sich überhaupt ein Beispiel an den Kindern nehmen sollten. Meistens hat nach ein paar Stationen der ganze Waggon gelacht, sogar der Ministerialrat hat geschmunzelt, wenn er vorne neben mir stand. Aber in Wahrheit war Karli ein ganz trauriger Mann. Ich hab ihm nämlich sonntags im Prater das eine oder andere Mal entdeckt und auch auf der Donauwiese, einmal sogar im zweiten Bezirk in der Ferdinandstrasse vor seinem Haus. Es muss sein Haus gewesen sein. Die Art, wie er hineingegangen ist … so geht man nur in sein eigenes Haus hinein, also in eines, wo man seit Jahren Miete zahlt, dachte ich.

    »Weisst du vielleicht, was mit dem Lustigen geschehen ist?« – Lustigen? – »Na dem leicht Dicklichen mit den schütteren Haaren und dem Schorf an einer Wange, bei der Urania ist er immer zugestiegen und den ganzen Wagen hat er unterhalten.« – Ach den Warzen Karli meinst du, eigentlich hat er Karl Schlömer oder Schlohmer geheissen. War ein Spengler gewesen, hat täglich seine alte Mutter in der Schottenfeldgasse, glaube ich, besucht. Ja er, der Bittner Franzl, habe ihn gekannt, war früher öfters mit ihm auf der Baustelle. Der hat seine beiden Töchter und seine Frau bei einem Verkehrsunfall verloren. Er ist gefahren und war angetrunken, aber nicht schuld. Ein Entgegenkommender ist einem Radfahrer ausgewichen und in ihn frontal hineingekracht. Karl hat sich trotzdem Vorwürfe gemacht: dass er nüchtern besser reagieren hätte können … – das hat ihn verfolgt. Seither hat er keinen Tropfen mehr angerührt. Er war zwar nicht katholisch, ist aber an keiner Kirche von da an vorbeigegangen, heisst es.

    Seit zwei Jahren ist der Warzen Karli nicht mehr aufgetaucht. Bei der Urania oder bei der Bellaria halte ich, wenn ich im 1-er oder 2-er fahre, immer noch nach ihm Ausschau, aber vielleicht ist seine alte Mutter gestorben und fährt er jetzt nicht mehr mit dem 46er in den Achten, oder er bevorzugt die verlängerte U2, obwohl er dann zweimal umsteigen müsste, was ich nicht glaube, zu sehr hat er den Ring gemocht. – Hin und wieder, zumindest einmal im Jahr, komm ich zufällig an seinem Haus vorbei. Ich schau hinauf und rätsel, wo genau er wohnen könnt. Hinter diesem Vorhang oder jenem? Oder im zweiten Stock, wo die Fenster immer geschlossen sind und nie Licht ist. Natürlich bleibe ich nicht lange stehen und gaffe herum, wie würde das denn ausschauen. Falls jemand rauskommt, werde ich nach ihm fragen, habe ich mir jedesmal vorgenommen, aber es ist nur einmal ein Werbeverteiler herausgekommen und beim zweiten Mal ein Ausländer hineingegangen – beide konnten mir nicht weiterhelfen. Was schade ist, denn ich würde wirklich gern wissen, wies ihm geht. Vielleicht ist er verzogen, oder er ist krank geworden. Möglich, dass er gar nicht mehr lebt. Wissen Sie, es sollte eine Zeitung geben, die sich nur mit dem Alltag und dem Schicksal der einfachen Leute beschäftigt. Glauben Sie nicht, dass man eine solche Zeitung gern lesen würde, oder würde daraus nur wieder etwas Pervertiertes werden, was die Leute bloss ihrer Privatsphäre beraubt?

    Das mit der Kirche, wissen Sie, das versteh ich zwar, aber ich selber geh in keine hinein. Zumindest nicht wegen Gitta. Bei mir war nach ihrem Tod ja eher das Gegenteil der Fall. Dass Gott so etwas zulassen kann, so einen bete ich doch nicht auch noch an! Danke lieber Gott, dass du mir meine Gitta genommen hast? – – Ah da schau her, heute Schwarzenbergplatz … der junge Spund steigt gerade ein, sehen Sie ihn, der mit der Igelfrisur im braunen Niki, ist früher immer in der Börsegasse zugestiegen. Der beweist das Gegenteil von dem, was beim Ministerialrat und dem Fräulein Mademoiselle der Fall ist. Der junge Spund hat nämlich in meinem Triebwagen genau die Frau gefunden, die zu ihm passt – so jung ist er jetzt zwar gar nimmer, trotzdem nenn ich ihn noch so. Vor ungefähr sieben Jahren wars … Durchaus ähnlich wie beim nicht mehr ganz so jungen Fräulein und dem Ministerialrat, aber eben nicht wie die beiden stets getrennt, er im vorderen und sie im hinteren Waggon, sondern beide bei mir im Triebwagen, der Spund meistens vorne hinter mir, das süsse Mädel in der Mitte des Waggons, wo man damals eigentlich nicht einsteigen durfte, aber sie konnte es sich leisten. Die selbstverständliche Art, wie sie sich bewegt, der verhaltene Liebreiz! Bei ihr käme wohl nur ein Minderbelichteter auf die Idee, sie weswegen immer zu rügen. – Die beiden würden gut zusammenpassen, der junge Spund und seine Julia, dachte ich öfters. Und dann hab ichs eines Tages tatsächlich live miterlebt. Letztlich war ja ich sogar schuld, also eigentlich verantwortlich dafür. Bei einer Notbremsung sind beide aneinandergerumpelt. Er hat sich hundertmal entschuldigt und, wie mir im Rückspiegel vorkam, ein wenig böse zu mir hergeschaut. Sie aber hatte verstanden, dass ich bremsen musste. Da schauen Sie, hat sie gesagt, der rote Wagen wär’ beinahe in die Strassenbahn hineingefahren, wenn der Fahrer nicht so geistesgegenwärtig gewesen wäre … – am liebsten wäre ich aufgestanden, zu ihr hingegangen, hätte sie umarmt und geküsst! – Ihre Mappe war ihr aus der Hand gerutscht und ein Katalog oder so was ähnliches lag am Boden. Der Spund hat das Glück gehabt, beides aufheben zu dürfen, und noch dazu einen Gesprächsgegenstand zu haben. Dass er ebenfalls so gern diesen Maler mag, hat er geschwärmt. Bis zum Schwedenplatz haben sie über die Malerei gesprochen, dort ist sie dann ausgestiegen und er hat sich – ich habs im Rückspiegel beobachtet – wie benommen auf einen der freien Plätze gesetzt. – Später habe ich sie eine Zeit lang getrennt einsteigen sehen, sodass ich überzeugt war, aus den beiden sei nichts geworden, aber plötzlich an einem Abend standen sie vor der Oper eng beieinander! Seither habe ich sie regelmässig beim Vorbeifahren oder im Waggon entdeckt, auch wenn Julia offenbar bereits nicht mehr studiert – jedenfalls ist sie seither nicht mehr bei der Universität ein- und ausgestiegen, sondern wenn, dann meistens Babenbergerstrasse oder Schubertring. Und mindestens drei Jahre hatte ich dann die beiden überhaupt nicht mehr gesehen.

    Bis vorige Woche, da standen sie plötzlich mit einem ungefähr zweijährigen Mädchen an der Endstation in Ottakring. Das Mädchen so süss, dass es nicht zu beschreiben ist. Mein Gott, die würde sich über den Warzen Karli freuen, hab ich mir gedacht. Mit dem Finger auf die Nase oder auf die Krätze stupsen würde sie ihn. Was hast du da, Onkel? Und er würde antworten, da hat mich das böse Krokodil gebissen, als ich vorm lieben Kasperl davongelaufen bin. Und sie würde wissen wollen, wieso er vorm Kasperl davongelaufen ist, und er würde die ausgekochtesten Geschichten erzählen, und die Leute im Waggon und das Mädchen würden lauthals lachen. Mein Gott, wäre das für den Karli schön – ich würde ihn so gern wiedersehen.

    Sie müssen nämlich wissen, aber vielleicht ist es Ihnen eh schon aufgefallen: die Leute lachen nicht mehr sehr viel. – Wann und wie oft lacht heute noch einer in der Strassenbahn! In der Stosszeit ganz sicher nicht, wenn überhaupt, dann im Sommer zwischen zehn und drei, wenns ein bisschen übersichtlicher ist und mehrheitlich am Ring Touristen fahren. Sie würden es nicht glauben: Da können die Einheimischen manchmal richtig freundlich werden. – Nein, das ist nicht die Oper, das ist das Parlament, mein Herr. Wissens, der Sitz unserer Regierung. – Politik! Oh Gott, reden wir nicht darüber. – Bei uns auch. Derselbe Mist … – Ja, da verstehen sie sich, die sommerlichen Mittagsfahrer. Die gemeinsame Abneigung ist sozusagen völkerverbindend. Aber sonst? Sobald ich in die Vorstadt komm, gibts keine Touristen mehr, nur noch Ausländer. Die Jugendlichen, ich gebs zu, oft übermütig und laut. Auch ich sag manchmal: Gehts ein bisschen leiser, Leute! Aber die vielen bösen Blicke, die Gehässigkeit. Irgendwas läuft da ziemlich schief. Pass auf, Mutti, wisperte auf der vorigen Runde einer hinter mir, dass dir der nichts aus der Tasche stiehlt, der schaut so komisch, der Türk neben dir.

    Wieso bin ich schon wieder bei der Oper, da war ich doch gerade erst? Ist da nicht soeben die Dame mit der Blume zugestiegen? Oder war das in der Runde zuvor. – Die Dame ist mir bereits aufgefallen, als ich in die Haltestelle eingefahren bin, nicht nur wegen der Blume sondern auch wegen der Art, wie sie den Stengel gehalten hat. – Es war eine grosse weisse Blume, die ich nicht kenne, mit einer trichterförmigen Blüte, mindestens doppelt so gross wie eine Calla. Ein wahres Kunststück, die Blume so zu balancieren, dass man nirgends damit anstreift. Beinahe hab ich aufs Losfahren vergessen, so gespannt hab ich das Zirkuskunststück beobachtet. Ist aber der Dame tatsächlich gelungen, die Blume nicht zu knicken – als hätte sie überall Sensoren, wie in einer Waschstrasse: einmal kurz in die Knie, dann die Schulter rechts hoch, sich geschickt zur Seite drehen und beinahe im selben Moment aufrichten. – Wofür sie die wohl braucht?, hab ich mich gefragt. Hochzeit? Freundschaftsbesuch? Zum Abendessen ists noch zu früh. Was macht eine Dame mit so einer grossen Blume um drei Uhr nachmittag? – Nein, so wie sie die Blume hält, schenkt sie sie nicht her, sondern hat sie gekriegt! Stimmts? Auch das kann man dem Gehabe eines Blumenträgers, respektive einer Trägerin ablesen! – Vielleicht hat sie das Riesending von einem Galan geschenkt bekommen. Oder von einer Freundin. Betriebsfeier? Ja, das wirds sein. Sie hat auch merklich ein oder zwei Gläser getrunken gehabt. War zwar nicht beschwipst, aber deutlich gut aufgelegt. Vielleicht

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