Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Das letzte Jahr
Das letzte Jahr
Das letzte Jahr
eBook157 Seiten2 Stunden

Das letzte Jahr

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

1938: Die neunjährige Elfi Zimmermann erlebt das letzte Jahr vor dem Ausbruch des 2. Weltkriegs in einem südmährischen Städtchen. Zu Beginn des Jahres freut sie sich über ihr neues Fahrrad, im Herbst besetzen Hitlers Truppen die Sudetengebiete, und alles beginnt sich zu verändern. Elfi kann nicht verstehen, warum ihre jüdische Freundin, viele Nachbarn und immer mehr Geschäfte verschwinden und warum ihre Eltern nicht mit ihr sprechen, sondern nur miteinander flüstern.
Ilse Tielsch zeigt ein in dieser schwierigen Zeit in ihren Gedanken und Ängsten alleingelassenes Mädchen, das nicht akzeptieren will, dass sein unbeschwertes Leben nicht mehr möglich ist.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Atelier
Erscheinungsdatum11. Sept. 2017
ISBN9783903005631
Das letzte Jahr

Mehr von Ilse Tielsch lesen

Ähnlich wie Das letzte Jahr

Ähnliche E-Books

Historienromane für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Das letzte Jahr

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Das letzte Jahr - Ilse Tielsch

    Glossar

    1

    Ich bin die Elfi Zimmermann. Ich bin ziemlich klein und mager und habe glatte braune Haare, die mir ins Gesicht hängen würden, wenn mir die Marschenka nicht jeden Morgen zwei feste Zöpfe flechten würde. Außerdem ist zu sagen, daß ich seit ein paar Monaten ein Fahrrad besitze, das ich sehr liebe. Damit bin ich viel unterwegs, häufig auch ohne mich vorher bei meiner Mutter abgemeldet zu haben. Das ist aber nicht schlimm, weil mir in unserer sehr kleinen Stadt nicht viel passieren kann.

    Wenn wirklich etwas passieren würde, wenn ich zum Beispiel auf dem Stadtplatz, dort wo er ganz steil ist, so stürzen und mir etwas brechen würde, so daß ich nicht mehr aufstehen kann, würden das sofort mehrere Leute bemerken. Zum Beispiel die Frau Zwirschina, die neben der Kirche ihren Gemüsestand hat und alles weiß, was in der Stadt passiert, oder der Sohn vom Schnittwarenhändler am unteren Stadtplatz, der von seinem Geschäft aus den ganzen Platz überblicken kann; oder jemand von den anderen Kaufleuten, die dort ihr Geschäft haben. Auch der Schurl würde das natürlich sehen, der immer auf den Kirchenstufen sitzt, aber dem würde es wahrscheinlich egal sein, weil er nur sehr langsam denken kann. Auf jeden Fall würde gleich jemand zu meiner Mutter hinaufrennen und es ihr melden. Meine Mutter würde aber kein großes Geschrei darum machen, sondern mich zu meinem Pech auch noch zusammenschimpfen, weil ich nicht besser aufgepaßt habe.

    Bei uns kann einfach nichts geschehen, ohne daß es gleich jemand bemerkt und sich einmischt, oder jedenfalls sehr schnell davon erfährt. Neuigkeiten, die nicht bekannt werden, gibt es nicht. Deswegen macht sich in meiner Familie niemand Sorgen um mich, wenn ich einmal ein paar Stunden lang weg bin. Wenn wir in einer großen Stadt wohnen würden, zum Beispiel in Wien oder in Brünn, hätte ich es, was das betrifft, bestimmt nicht so gut.

    Ich genieße die Freiheit, die mir mein Fahrrad schenkt. Ich trete in die Pedale und fahre und fahre, bis zu den ersten bunten Häusern von Klein Tarowitz und wieder zurück, über den Stadtplatz hinunter, im Schwung um die Ecke, geradeaus, hügelauf, hügelab nach Groß Tarowitz, wo ich Freundinnen habe. Und dann fahre ich wieder zurück.

    Auf der Straßenkreuzung in der Mitte des Stadtplatzes bremse ich mit dem Rücktritt ab, biege nach links ein, überquere den Bach, fahre geradeaus, am Hof meiner Großeltern vorbei, wiederum hügelauf und hügelab, denn diese sehr kleine Stadt, in der ich mit meinen Eltern lebe, liegt in einer Mulde zwischen zahllosen Hügeln.

    Schließlich erreiche ich den Bahnhof an der Hauptstrecke, steige ab und warte, ob einer der großen Züge kommt, die manchmal nur durchfahren, oft aber auch halten. Dann sehe ich zu, wie die Fahrgäste aussteigen und zur Lokalbahn hinübergehen, die sie in unsere Stadt bringen wird. Die meisten, die hier aussteigen, kenne ich ja, Fremde kommen nur selten. Außer Feldern und Weingärten und den vielen Kellern, in denen der Wein in großen Holzfässern lagert, gibt es bei uns ja nicht viel zu sehen.

    Wenn der Zug dann wieder anfährt, stelle ich mir vor, daß ich mitfahren darf, irgendwohin in ein unbekanntes Land, oder noch weiter bis an die Meeresküste, wo schon das Schiff wartet, in das ich einsteigen werde und das mich über den großen Ozean nach Amerika bringen wird. Ich kann lange auf einer der Holzbänke sitzen, die vor dem Bahnhofsgebäude stehen, und von meiner Schiffsreise träumen.

    Wenn es stark regnet und ich nicht radfahren kann, lese ich verschiedene Bücher. Unlängst habe ich den »Schatz im Silbersee« fertiggelesen, und seither denke ich viel über die Indianer und ihr Leben in Amerika nach. Wenn ich groß bin, werde ich vielleicht wirklich auf einem Schiff dorthin reisen und Trapperin werden. Auch mein Großonkel Ferdinand ist ja nach Amerika gefahren und hat dort wahrscheinlich ein sehr glückliches Leben und niemals Heimweh gehabt, denn er ist nie mehr nach Hause zurückgekommen, und man hat nie mehr etwas von ihm gehört.

    Es ist allerdings auch möglich, daß ich zum Zirkus gehe wie eine meiner Tanten aus Wien. Ihre Eltern haben sich zwar gewünscht, daß sie Handarbeitslehrerin wird oder Angestellte in einer Sparkasse oder etwas Ähnliches, und daß sie später vielleicht einen Schuldirektor oder einen anderen bedeutenden Mann heiratet, sie wollte das aber nicht und ist Zirkuskünstlerin geworden, und das würde mir auch sehr gefallen.

    Ich könnte ja reiten lernen und in einem wunderschönen, glitzernden Turnanzug auf dem Rücken eines Pferdes Kunststücke machen oder kopfüber auf einem Trapez durch die Luft fliegen, wie ich es einmal in einem Zirkus in Groß Seelowitz gesehen habe. Auf dem Reck, das man in die eisernen Ringe einhängen kann, die man für mich am Türstock zwischen dem Wohzimmer und dem Schlafzimmer der Eltern angebracht hat, habe ich das schon geübt. Möglicherweise genügt es aber, wenn ich mir Kunststücke ausdenke, die man mit dem Fahrrad machen kann, dann muß ich gar nicht reiten lernen.

    Eigentlich hat man mich Elfriede getauft, weil meine Taufpatin so heißt, aber wer ruft schon ein kleines Mädchen mit so einem langen altmodischen Namen. Man sucht eine Abkürzung, die sich leicht aussprechen läßt. In meinem Fall hatte man an Frieda gedacht, und ist schließlich auf Elfi gekommen. Elfi, komm her, Elfi, tu das nicht, hast du schon Klavier geübt, Elfi, hast du deine Aufgaben gemacht, bohr nicht in der Nase, Elfi, was hast du schon wieder angestellt, hab ich dir nicht schon hundertmal gesagt, daß du so was nicht machen sollst, wenn du es noch einmal tust, Elfi, kriegst du einen Klaps auf den Hintern.

    Mit so einem Klaps ist man schnell bei der Hand. Er tut natürlich nicht wirklich weh, der Schmerz ist eher seelischer Art.

    Unsere Josefka sagt ohnedies Pipinko zu mir, was ungefähr kleines Henderl oder Hühnchen heißt.

    Wie ich mich nennen werde, wenn ich mich für den Zirkus entscheiden sollte, weiß ich noch nicht. Meine Wiener Tante hat eigentlich Hannelore geheißen, sich aber dann Loretta genannt. Hannelore ist kein Name für eine Zirkuskünstlerin. Auch Elfi eignet sich wahrscheinlich nicht, Elfriede schon gar nicht.

    Wir leben, wie gesagt, in einer sehr kleinen Stadt und die liegt in Mähren. Früher hat Mähren zu Österreich gehört, nach dem Ersten Weltkrieg ist die Tschechoslowakei entstanden und Mähren gehört seither dazu. Manche Leute sind damit nicht zufrieden, in letzter Zeit hört man darüber reden, daß man viel lieber zu Österreich gehören würde, weil dort alle Deutsch reden und weil man dazugehört hat, wie der alte Kaiser noch dort gelebt hat. Warum es besser sein soll, wenn alle Leute die gleiche Sprache sprechen, verstehe ich eigentlich nicht. In unserer Stadt sprechen mehr Leute Deutsch und weniger Tschechisch, in anderen Städten ist es umgekehrt. Rundherum gibt es Dörfer, in denen nur Deutsch gesprochen wird, dazwischen liegen ein paar andere, in denen nur Tschechen leben. Zum Beispiel in Klein Tarowitz, das weiß ich genau, weil ich schon mit der Marschenka dort gewesen bin.

    Daß wir in einer hügeligen Gegend wohnen, macht das Radfahren sehr interessant. Man muß zwar oft absteigen und das Rad bergauf schieben, kann aber auf der anderen Seite wunderbar schnell hinunterfahren, der Schwung, den man dabei bekommt, reicht oft bis zur Hälfte des nächsten Hügels. Ich sause die Hügel hinunter, manchmal sogar freihändig, um schon für den Zirkus zu üben, der Schwung trägt mich noch ein Stück auf den gegenüberliegenden Hügel hinauf. Ich trete kräftg in die Pedale, bis ich oben angekommen bin. Dabei komme ich ins Schwitzen, aber es macht Spaß. Nur wenn es allzu steil hinaufgeht, steige ich ab.

    Die Hügel rund um unsere Stadt sind im Sommer bunt gestreift, weil auf den Feldern verschiedene Pflanzen wachsen, das Getreide ist im Frühling hellgrün, später dann wird es gelb, beim Kukuruz ist es ähnlich. Das sieht sehr lustig aus. Die Rübenfelder sind dunkelgrün, die Mohnfelder blühen im Frühsommer zartrosa und weiß.

    Aus den Rüben wird in mehreren Fabriken, die es in unserer Gegend gibt, Zucker gemacht, aus dem Mohn wird die Fülle für Mohnstrudel, Mohnkipferln, Mohnbuchteln und viele andere Mehlspeisen bereitet. Am liebsten sind mir die Mohnudeln aus Erdäpfelteig mit viel Zucker und flüssiger Butter darauf. Die reifen Mohnkapseln kann man aufbrechen und sich die blauen Körner direkt in den Mund rieseln lassen. Sie schmecken leicht bitter und bleiben zwischen den Zähnen kleben. Seit mir die Marschenka gesagt hat, daß man davon dumm werden kann, mach ich das aber nicht mehr so oft.

    Angeblich, sagt die Marschenka, haben früher manche Leute in den Dörfern den Wickelkindern Mohnlutscher in den Mund gesteckt, weil sie dann fest schlafen und ihre Eltern ruhig auf den Feldern arbeiten konnten, und aus diesen Kindern wurden dann später oft nicht sehr gescheite Erwachsene. Sie sagt, ich soll mir nur den Schurl anschauen, dem hat man, wie er noch ganz klein gewesen ist, sicher Mohnschnuller gegeben. Was sie aber gar nicht wissen kann, weil der Schurl kein Wickelkind mehr gewesen ist, wie man ihn draußen beim Bahnhof zwischen den Eisenbahnschienen gefunden hat.

    Immerhin hat mir das zu denken gegeben, weil ich den Schurl fast jeden Tag sehe, wenn er auf den Kirchenstufen oder bei der Dreifaltigkeit unter den Linden sitzt oder wie er beim Nowotnywirt die Stiegen abkehrt, und ich habe mir vorgenommen, doch lieber vorsichtig zu sein.

    Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, sagt die Josefka, und die muß das wissen, weil sie ja jetzt ein Geschäft mit Glaswaren und Porzellanhäferln hat.

    Auf unseren Hügeln wachsen übrigens auch ungeheure Mengen verschiedenfarbiger Weintrauben, der Wein, den man daraus macht, ist so gut, daß die Händler von weither kommen, um ihn einzukaufen. Es gibt bei uns auch viele Weinkeller, in den Weingärten und an den Feldwegen stehen Marillenbäume und Pfirsichbäume und an den Straßenrändern Kirschbäume, und alle diese Bäume tragen im Sommer so viele Früchte, daß die Hausfrauen oft gar nicht wissen, was sie mit dem vielen Obst anfangen sollen, in die Einmachgläser geht gar nicht so viel hinein. Die Wiener holen sich manchmal etwas davon, aber es bleibt immer noch viel zu viel übrig. Gegen den Herbst zu liegen dann die blauen Zwetschken im Gras, und die Finger werden schwarz von den grünen Schalen der Nüsse, die man mit Stangen von den großen Nußbäumen schlägt.

    2

    Das Jahr 1938 hat mit einer großen Aufregung angefangen, davon muß ich unbedingt erzählen.

    Am 25. Jänner hat nämlich in unserer Wohnung die Feuerglocke geläutet. Mein Vater ist ja bei der Freiwilligen Feuerwehr und wenn es irgendwo in der Umgebung brennt, muß er sofort alles stehen und liegen lassen, seine Uniform anziehen und zum Feuerwehrdepot rennen, wo der Löschwagen mit allen Spritzen und Leitern steht und wo sich bei Alarm alle Feuerwehrmänner einfinden müssen. Aus allen Richtungen laufen die Männer herbei und kommen ganz abgehetzt beim Feuerwehrdepot an, manche setzen sich erst beim Laufen ihren Helm auf und machen die Knöpfe an ihrer Jacke zu. Alles muß ja ganz schnell gehen, sonst ist das brennende Haus oder die brennende Scheune nicht mehr zu retten. In rasender Eile müssen dann die Schläuche gelegt und mit den Wasserpumpen verbunden werden, die Feuerwehrmänner können das sehr gut, denn sie

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1