Der Zingerle: Geschichte eines Frauenmörders
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Anhand von Gerichtsakten, Zeitzeugen und Zeitungsberichten zeichnet der Autor Heinrich Schwazer die Lebensgeschichte des Guido Zingerle von der bitteren Kindheit bis zu seinem Tod im Gefängnis nach.
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Der Zingerle - Heinrich Schwazer
Schwazer
Maiausflug
23. Mai 1946. Ein Donnerstag. Die Volksschullehrerin Gertrud Kutin steigt um 8.00 Uhr früh in den ersten Zug der Guntschnabahn und fährt in die Höhe. Um diese Zeit sind noch wenig Fahrgäste unterwegs. Nur ein Bauernbub, der die Milch nach Bozen gebracht hat, und ein alter Mann sind mit ihr in der Bahn.
Die Lehrerin hat es eilig. Bis zu ihrer Schule in Glaning braucht sie bei zügigem Gehen durch den Waldweg etwa eine Dreiviertelstunde. An diesem Tag steht der Maiausflug auf dem Programm, eine Wanderung durch die Wälder oberhalb von Glaning. Die Kinder würden schon auf sie warten.
Kutin hat sich für diesen Tag ein Dirndlkleid mit schwarzem Rock, schwarz-rot kariertem Leibchen mit weißen Ärmeln und einer blauweiß gestreiften Schürze ausgesucht. In die Tasche hat sie einen Regenmantel gepackt, da das Wetter nichts Gutes verheißt. An den Fingern trägt sie wie gewöhnlich zwei Brillantringe, ein Geschenk ihres Vaters, und am Hals ein silbernes Kettchen.
Gertrud Kutin und Rosa Gasser in Salzburg
Den Abend davor hat sie mit ihrer besten Freundin Rosa Gasser, Lehrerin in der Volksschule St. Jakob, in der Stadt verbracht, in fröhlicher Stimmung. Gertrud hat vor kurzem einen jungen Mann kennen gelernt, den sie öfters bei der Maiandacht trifft.
Die Stelle in der Volksschule von Glaning ist Kutins zweiter Lehrauftrag. Fünf Klassen hat sie gleichzeitig zu betreuen. Im Jahr davor hat sie ein paar Monate in der Volksschule von Unterinn unterrichtet, frisch von der Lehrerbildungsanstalt Salzburg weg, wo die Südtiroler Lehrerinnen während des Faschismus zur Ausbildung hingeschickt wurden. Vier Jahre dauerte die Ausbildung, das letzte Studienjahr mussten sie in Innsbruck absolvieren, damit die Junglehrerinnen sofort nach Abschluss in Südtirol eingesetzt werden konnten.
Da in Innsbruck damals akute Bombengefahr bestand, wurde der Unterricht nach Mayrhofen ins Zillertal verlegt. Im Februar 1945 maturierte sie – das letzte Schuljahr wurde wegen der Kriegswirren um die Hälfte verkürzt – und unmittelbar danach übernahm sie eine Klasse in der Volksschule Unterinn.
Die Stelle am Ritten war ideal für Gertrud Kutin. Ihre Mutter wohnte in der Nähe, wenn sie in Bozen bleiben wollte, konnte sie bei ihrer Großmutter in der Rauschertorgasse übernachten. Dennoch wurde sie im zweiten Schuljahr nach Glaning versetzt. Wahlmöglichkeiten wurden den jungen Lehrerinnen in der Zeit akuten Lehrermangels keine eingeräumt. Trude, wie sie von ihren Freundinnen genannt wurde, war todunglücklich mit der Stellenzuteilung.
Der abgelegene Ort mit seinen weit verstreuten Höfen behagt ihr nicht. Sie ist ein Stadtmensch, geht gern ins Kino und trifft sich häufig mit ihren Freundinnen. Im Pfarrwidum von Glaning hat sie ein Zimmer, das ihr als Dienstwohnung zur Verfügung gestellt wurde, doch sie benützt es selten. Nach der Schule geht sie öfters nach Bozen. Der Weg durch den Wald kommt ihr ein bisschen unheimlich vor. Abends benützt sie ihn nur, wenn der „Wirts-Toni, Sohn des „Meßnerwirtes
in Glaning, dabei ist. Sonst übernachtet sie in Bozen bei ihrer Großmutter in der Rauschertorgasse oder bei ihrer Freundin und fährt am nächsten Tag früh mit der Guntschnabahn wieder hinauf.
An diesem Tag warten die Glaninger Volksschüler vergeblich auf ihre Lehrerin. Nach einer Weile gehen sie ihr bis zur Bergstation der Bahn entgegen. Umsonst. Keine Spur von der Lehrerin. Der Maiausflug findet nicht statt.
Zehn Monate später, am 15. März 1947, fahren der Koch Vincenzo Fratti, seine Frau Ida und Frattis Vater mit der Guntschnabahn hinauf, um in der Gegend von Altenberg Brennholz zu sammeln. Am frühen Nachmittag haben sie einen Haufen beisammen, den sie über einen überhängenden Felsen hinunterwerfen, um das Holz von dort bis zum Weg zu transportieren. Da einige Prügel im dichten Gestrüpp hängen bleiben, muss Fratti sich durch das Unterholz bis unter den Felsen heranmachen. Dort angekommen, bemerkt er einen starken Verwesungsgeruch. Als er sich genauer umschaut, sieht er zwei menschliche Füße aus dem Laub herausragen, die oberhalb der Knöchel zusammengebunden sind. Erschrocken ruft er seiner Frau zu: „Hier liegt ein Toter!"
Gertrud Kutin und ihre Freundin Rosa Gasser auf der Talferbrücke
Fratti läuft sofort ins Tal, um die Carabinieri zu verständigen. Kurz vor 17.00 Uhr greift der Kommandant der Carabinieristation Bozen-Gries zum Telefon und gibt an den Dienst habenden Staatsanwalt die Meldung durch:
„Heute um 16.00 Uhr wurde am Guntschnaberg in einer unwegsamen und gefährlichen Zone vom Maresciallo Ingannamorte, vom Brigadier Giuseppe Sansone und vom Vizebrigadier Larcher Giuseppe eine Frauenleiche entdeckt, die bis zu den Knien unter Steinen versteckt war. Es handelt sich um die Lehrerin Gertrud Kutin, die im Frühjahr 1946 als verschwunden gemeldet wurde. Ermittlungen folgen. Wir ersuchen um Lokalaugenschein, damit die Leiche abtransportiert werden kann."
Kutins Beine ragten von den Knien abwärts unter einer Geröllhalde hervor. Bis zu 50 Kilogramm schwere Steine lagen auf ihr drauf. Die Füße waren mit einem zerschnittenen Einkaufsnetz gefesselt, ihre Arme hinter ihrem Rücken zusammengebunden. Die Leiche war nackt und auf einen hellen Regenmantel gebettet. Aus ihrer Haltung schlossen die Ermittler, dass sie verzweifelt versucht hatte, sich zu befreien.
Wenige Meter entfernt wurden die Schuhe und die Tasche der Toten gefunden, sodass die Identifizierung keine Probleme bereitete. Die Identitätskarte, Schulhefte, Bücher und einige Fotografien waren noch drinnen. Die Brieftasche, die Ringe, eine Uhr und das silberne Halskettchen fehlten. Die Todesursache konnte bei der Autopsie nicht mehr festgestellt werden, da der Körper bereits stark verwest war. Nur so viel konnten die Gerichtsmediziner feststellen: Der Leichnam war relativ heil, er wies keine Wunden und Knochenbrüche auf, und auch der Schädel war intakt. Die Nacktheit der Leiche ließ jedoch kaum einen Zweifel, dass es sich um einen Sexualmord gehandelt hatte.
Lebendig begraben
Warum Guido Zingerle sich am 23. Mai in Glaning aufhielt, konnte nie eindeutig geklärt werden. Die Gegend war ihm bekannt. Als er in den letzten Kriegsmonaten von der Deutschen Wehrmacht desertiert war und sich in die Schweiz absetzen wollte, hatte er den Buschwald oberhalb von Bozen durchquert. Damals war er in Taufers im Münstertal heillos betrunken vom Südtiroler Ordnungsdienst geschnappt und in Bozen zum Tode verurteilt worden. Das Kriegsende hatte ihm das Leben gerettet. Seither war er nicht mehr in Südtirol gewesen.
Er war 43 Jahre alt, verheiratet, hatte eine 14-jährige Tochter. Seit der Umsiedlung wohnte er in Innsbruck. Seinen Lebensunterhalt verdiente er offiziell als Zeitungskolporteur, die Haushaltskasse füllte er aber mit Schmuggeltouren. Der Familie ging es in den Jahren der Not „ziemlich gut". Auch in den fraglichen Tagen war Zingerle mit einem Rucksack voll Schmuggelgut nach Bozen gekommen, das er bereits an den Mann gebracht hatte – Sacharin, Tabak, Stoffe.
Vor seiner Rückkehr nach Innsbruck wollte er noch etwas erleben. Die warme Jahreszeit ließ sein Verlangen nach einer Frau übermächtig werden. Mit seiner eigenen Frau hatte er schon seit über zehn Jahren keinen Verkehr mehr gehabt. Sie war nach der Geburt ihrer Tochter „ausgesprochen gefühlskalt geworden. Er selbst hatte sich während des Abessinienfeldzugs im Jahr 1935 den Tripper geholt. Seither hatte er häufig wechselnde Geschlechtspartnerinnen gehabt. Während des Krieges hatte er in Innsbruck erstmals auch Gewalt angewandt, um zwei Frauen seinen Willen aufzuzwingen. Einmal sogar in seiner Wohnung. Doch das war folgenlos geblieben. Die Frauen hatten ihn nicht angezeigt. Jetzt war der Trieb wieder in ihm erwacht. Eine „richtige Frau
sollte es sein, keine Prostituierte. Die verachtete er.
Er hatte in einem Stadel übernachtet und war früh aufgestanden, um nicht vom Bauer überrascht zu werden. Etwa auf halber Wegstrecke zwischen der Bergstation der Guntschnabahn und Glaning setzte er sich auf einen großen, pyramidenförmigen Felsblock, von dem aus er den Weg in beiden Richtungen überblicken konnte. Ein idealer Platz für einen Hinterhalt, wie geschaffen für einen Wegelagerer. Gegen halb neun bemerkte er eine junge Frau, die eilig in Richtung Glaning unterwegs war. Eine groß gewachsene, hübsche junge Frau, die einen Rucksack trug. Er schätzte sie auf etwa 22 oder 23 Jahre.
Zingerle zögerte keinen Moment: Das war sein Opfer. Er versperrte ihr den Weg und forderte sie ohne Umschweife auf, mit ihm zu gehen: „Ich hielt sie auf und machte ihr Liebeserklärungen. Da sie aber Widerstand leistete, nahm ich sie unter den Arm und zog sie in den nahen Wald, zirka 200 Meter entfernt", sagte er vier Jahre später nach seiner Verhaftung beim ersten Verhör.
Weiter oben liegen die Felsenhänge des Altenberges, eine völlig unwegsame Gegend, zu der man nur mit größter Mühe hinaufsteigen kann. Dorthin will er sie bringen, um ungestört über sie herfallen zu können. Als die Leiche später gefunden wurde, ging man aufgrund der Steilheit des Geländes zunächst davon aus, dass sie von mindestens zwei Personen dorthin gebracht worden sein musste.
Da die junge Frau sich erbittert wehrte, drohte er ihr mit einem Messer. Über die Ängste, die sie ausstand, machte er sich keine Gedanken. Sie flehte ihn an, sie gehen zu lassen: „Ich kenne Sie nicht, ich weiß nicht, wer Sie sind. Lassen Sie mich zu meinen Kindern in die Schule gehen."
Unter den Felsen angekommen, zwang er sie, sich auszuziehen. Da sie sich noch immer wehrte, fesselte er ihr die Hände mit ihren Strümpfen auf dem Rücken. Dann vergewaltigte er sie ein erstes Mal. Befriedigung verschaffte ihm die Vergewaltigung nicht, „weil das Mädchen nicht mitgearbeitet hat. Das versetzte ihn in Rage. Er will Nähe erzwingen. Je mehr sie ihn anfleht, sie gehen zu lassen, desto gewaltsamer versucht er, ihre Leidenschaft zu wecken. Der Innsbrucker Psychiater Dr. Karl Vorderwinkler wird später in seinem Gutachten schreiben: „Nun wurde er immer aufgeregter, weil er wegen ihres kühlen und ablehnenden Benehmens keinen Genuss hatte und sich nicht geschlechtlich austoben konnte.
Er vergewaltigte sie noch mehrmals. Drei- oder viermal, an die genaue Zahl konnte er sich später nicht mehr genau erinnern. Erinnern konnte er sich noch, dass sie ihn gebettelt habe, sie nicht zu quälen, sie nicht umzubringen. Zingerle im ersten Verhör: „Ich habe ihr nicht mehr