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Mordfall Gyger: Eine Spurensuche
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eBook253 Seiten2 Stunden

Mordfall Gyger: Eine Spurensuche

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Über dieses E-Book

Auf dem Budenplatz wurde Beat Gyger zuletzt gesehen. Es war Pfingstsamstag, 9. Juni 1973, in Thun. Am nächsten Morgen fanden zwei Reiterinnen den Leichnam des 14-Jährigen. Im Lindenbachgraben bei Mamishaus in der Nähe von Schwarzenburg. Sein gewaltsamer Tod bewegte die Menschen und tut es heute noch. Der Fall beschäftigte schweizweit die Medien. In der Fernsehserie «Aktenzeichen XY ungelöst» wurde noch gut ein Jahr später nach den Tätern gesucht.War es eine Abrechnung wegen eines Mofadiebstahls? Wollten Pädosexuelle dem Jüngling eine Lektion erteilen? Wurden Ermittlungen in die Irre geführt? War der Fluch der Zigeunerin schuld? Wurde ein Skandal grösseren Ausmasses vertuscht?
‹Mordfall Gyger› nimmt die Leserinnen und Leser 40 Jahre später auf eine Spurensuche im ungeklärten Tötungsdelikt mit. Sie führt von Thun übers Eriz bis nach Basel und bringt Mysteriöses und längst Vergessenes zutage.
SpracheDeutsch
HerausgeberZytglogge Verlag
Erscheinungsdatum8. Mai 2023
ISBN9783729624023
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    Buchvorschau

    Mordfall Gyger - Franziska Streun

    Abb

    Foto: Michael Streun

    Franziska Streun

    Geb. 1963, lebt in Thun und arbeitet als Journalistin und Redaktorin beim Thuner Tagblatt. Sie schreibt regelmässig Porträts, Geschichten und Reportagen über aussergewöhnliche Menschen. www.franziskastreun.ch

    Bei Zytglogge erschienen:

    2009 Eduard Aegerter, Querkopf und Aussenseiter (mit Bettina Joder und René Ulmer)

    2012 Rückkehr ohne Wiederkehr, Roman

    2013 Mordfall Gyger

    Auf dem Budenplatz wurde Beat Gyger zuletzt gesehen. Es war Pfingstsamstag, 9. Juni 1973, in Thun. Am nächsten Morgen fanden zwei Reiterinnen den Leichnam des 14-Jährigen. Im Lindenbachgraben bei Mamishaus in der Nähe von Schwarzenburg.

    Sein gewaltsamer Tod bewegte die Menschen und tut es heute noch. Der Fall beschäftigte schweizweit die Medien. In der Fernsehserie ‹Aktenzeichen XY ungelöst› wurde noch gut ein Jahr später nach den Tätern gesucht.

    War es eine Abrechnung wegen eines Mofadiebstahls? Wollten Pädosexuelle dem Jüngling eine Lektion erteilen? Wurden Ermittlungen in die Irre geführt? War der Fluch der Zigeunerin schuld? Wurde ein Skandal grösseren Ausmasses vertuscht?

    ‹Mordfall Gyger› nimmt die Leserinnen und Leser 40 Jahre später auf eine Spurensuche im ungeklärten Tötungsdelikt mit. Sie führt von Thun übers Eriz bis nach Basel und bringt Mysteriöses und längst Vergessenes zutage.

    «Den Entschluss, ein Buch über das Erlebte zu schreiben, habe ich bereits vor 20 Jahren gefasst. Bisher fand ich aber stets Gründe, es aufzuschieben – und es gäbe heute noch welche, es nicht zu tun.

    Trotzdem bin ich nun froh, dass Franziska Streun an mich herangetreten ist, um über diesen Fall zu schreiben, der 1973 das Leben vieler Menschen veränderte.

    Für mich bedeutete der gewaltsame Tod meines Bruders, dass ich als 12-Jähriger aus einer unbeschwerten Jugend gerissen wurde und von einem Tag zum anderen erwachsen sein musste.»

    Bernhard Gyger, Bruder von Beat

    titel

    © 2013 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel

    Alle Rechte vorbehalten

    Lektorat: Hugo Ramseyer, Bettina Kaelin

    Korrektorat: Monika Künzi, Jakob Salzmann

    Cover und Umschlaggestaltung: Michael Streun, Thun

    E-Book-Produktion: CPI books GmbH, Leck

    ISBN 978-3-7296-2402-3

    info@zytglogge.ch

    www.zytglogge.ch

    Für Beat.

    Und seine Familie.

    Inhalt

    •Vorwort

    •Zum Geleit

    •Intro

    •Die Eltern melden Beat als vermisst

    •Zwei Häftlinge brechen aus dem Gefängnis aus

    •Zwei Reiterinnen entdecken die Leiche

    •Die Eltern erfahren von Beats Tod

    •Die Polizei richtet ein Sachbearbeiterbüro ein

    •Die Autopsie

    •Beat und die Schule

    •Beat will Bienchenmechaniker werden

    •Der Fluch der Zigeunerin

    •Heiler Horn ahnt Schlimmes

    •Beat, der erste Sohn

    •Bernhard, der jüngere Bruder

    •Schwarzenegg und Eriz

    •Beats letzter Tag

    •Mit dem Budenplatz kommen die Erinnerungen

    •Der Ohrfeiger

    •Das entwendete Motorfahrrad von X.

    •Zwei Verdächtige in Untersuchungshaft

    •Die Kriminalpolizei wird professionalisiert

    •Fahrzeug rammt Mofa

    •Schreie auf dem Campingplatz

    •Homosexuellenenszene als offenes Geheimnis

    •Männer, die auf pubertierende Jünglinge stehen

    •Schwulenspiele. Schwulenspiele?

    •Die Medien

    •Polizei nimmt Eltern ins Kreuzverhör

    •War es der Vater?

    •Die Beerdigung

    •‹Aktenzeichen XY ungelöst› soll helfen

    •Viele offene Fragen

    •Die Wege trennen sich

    •Ein Brief, der verwirrt

    •Der Schmerz bleibt

    •Epilog

    •Statistik

    •Personenregister

    •Dank

    •Autorin und Verlag danken für den Druckkostenbeitrag

    •Bildteil

    •Bildhinweise

    •  Vorwort

    Jedes Jahr, wenn die Schausteller an Pfingsten in Thun mit Wohnwagen, Putschautos und Kinderkarussell auffahren, erinnere ich mich daran.

    Es war Pfingstsamstag, 9. Juni 1973. Ein sonniger Tag im Frühsommer. 14 Tage nach seinem 14. Geburtstag. Eigentlich hätte Beat Gyger seiner Grossmutter eine Nachricht überbringen sollen. Stattdessen ging er auf den ‹Budeler›, den Budenplatz, unweit seines Zuhauses im Dürrenastquartier. Am nächsten Morgen entdeckten zwei Reiterinnen seinen Leichnam. Bäuchlings lag er im feuchten Lindenbachgraben. Zwischen Riggisberg und Schwarzenburg.

    Ich war damals zehn Jahre alt. Die Nachricht und die darauffolgenden Gerüchte erschütterten meine Vorstellungen einer heilen Welt. Ein Mord in meiner Stadt, ich war schockiert. Bei jedem Besuch der Chilbi war ich nach diesem Ereignis als Kind verunsichert, ob auch mir etwas zustossen könnte.

    Rummelplätze rufen noch heute sofort meine Erinnerungen an jene Zeit wach. Dieser gewaltsame Tod an Beat Gyger hatte etwas Unheimliches an sich und regte meine Fantasien darüber an, was dem Achtklässler aus dem Obermattschulhaus im Gwatt in Thun an jenem Pfingstsamstag zugestossen sein könnte.

    Vor einigen Jahren erzählte mir Beats Bruder – Bernhard Gyger – seine Geschichte über die Tragödie in seiner Kindheit. Sofort überkam mich erneut das Gefühl des Unfassbaren, gepaart mit dem Versuch, nachfühlen zu können, wie dieses ungeklärte Tötungsdelikt ein Leben von einem Tag auf den anderen verändert und fortan prägt. Der Impuls, darüber ein Buch zu schreiben und damit das Vergessen dieses gewaltsamen Todes von Beat zu verhindern, war das eine; die Frage, ob er und seine Familie eine Spurensuche erlauben, das andere.

    Ich las Zeitungsberichte, stöberte in Archiven, sprach wiederholt mit der Familie und kontaktierte über 250 Personen: Klassenkollegen, Lehrer, Schausteller, Verdächtigte, Nachbarn, Befragte, Witwen von Polizisten, pensionierte Reporter. Zu Wort kommen der damalige Fahndungsleiter, der damals zuständige Untersuchungsrichter und Fachpersonen wie Psychiater und Schwulenaktivisten.

    Von der Polizei liess ich mich über die Fahndungsarbeit von heute informieren und hörte mir ihre Beurteilung der damaligen Polizeiarbeit an. Zugleich recherchierte ich ähnliche Mordfälle, setzte mich mit psychologischen Auswirkungen nach traumatischen Erlebnissen auseinander und verarbeitete mir vorliegende Akten und persönliche Notizen. Diese Dokumente hat ein mittlerweile verstorbener Polizist – ich nenne ihn Fahnder K. – zum Glück für sich angelegt. Heute bewahrt die Familie von Beat diese auf.

    Insgesamt umfasst der Fall Gyger über ein Dutzend Bundesordner. Die mir zur Verfügung stehenden Unterlagen füllen einen halben Ordner.

    Einige Personen wollten aus unterschiedlichen Gründen nicht über Beat Gyger und das ungeklärte Tötungsdelikt sprechen. Andere redeten zwar, doch sie störten sich daran, dass in alten Erinnerungen gewühlt und dieses Drama 40 Jahre später wieder zum Thema wird – und das sogar in einem Buch. Wiederum andere bezeichneten die Spurensuche als ausserordentlich wichtig. Gerne liessen sie ihre eigene Rückblende aufleben. Einige Verdächtigte, Zeugen und Befragte sind unauffindbar geblieben oder gestorben.

    Bei allen kontaktierten Personen, die den Fall damals aus der Nähe miterlebten, wurden mit dem Namen Gyger und den Wörtern ‹Budeler› oder Budenplatz Emotionen geweckt. Sofort spulte sich ihr persönlicher Film über die damalige Zeit ab. Der gewaltsame Tod an Beat Gyger liess niemanden kalt.

    Der Staatsanwalt hat das Gesuch der Familie um generelle Akteneinsicht für die Recherchen aufgrund der aktuellen Gesetzgebung und insbesondere aus datenschutzrechtlichen Gründen verweigert. Das muss akzeptiert werden. Damit wird jedoch verhindert, Äusserungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, Details der Fahndung an die Öffentlichkeit zu bringen und die Spurensuche mit relevanten Informationen zu ergänzen. Froh bin ich, dass er detaillierte Gesuche teilweise bewilligen konnte, wie etwa das Ausleihen einiger Fotos und Originaldokumente (über die wir in kopierter Form verfügen).

    Dankbar bin ich für die fachliche Unterstützung des Dezernats Leib und Leben der Kantonspolizei Bern; im Speziellen Adrian Jossen, dem Dezernatschef-Stellvertreter. Mit seinem Beitrag zu den damaligen Fahndungsarbeiten aus heutiger Sicht hat er die Spurensuche um einen wichtigen Beitrag bereichert.

    Irritiert haben mich die Kontakte mit den pensionierten Fahndern. Keiner wollte Auskunft geben. Sie zeigten sich erbost darüber, dass dieser Fall aufgewärmt wird. Einige meldeten sich bei Witwen von Polizisten und Zeugen und rieten ihnen, sich mir gegenüber keinesfalls zu äussern.

    Überrascht und erstaunt hat mich, dass der Beitrag zum Fall Gyger aus der Fernsehserie ‹Aktenzeichen XY ungelöst› vom 13. September 1974 im Verlaufe der Recherchen vom Netz genommen worden ist. Durch wen dies erfolgte, liess sich nicht in Erfahrung bringen. Auf der Seite stand auf einmal: ‹Das mit diesem Video verbundene Youtube-Konto wurde aufgrund mehrerer Meldungen Dritter über Urheberverletzungen gekündigt.›

    Aus Vorsicht und vor allem, um keine damals Verdächtigten und Befragten in ihrem Persönlichkeitsschutz zu gefährden, sind nur wenige Personen namentlich erwähnt. Mit vollem Namen genannt sind die Familie Gyger und diejenigen Leute, die aufgrund ihrer offiziellen Funktion bereits damals öffentlich und in den Medien bekannt waren. Für alle übrigen und von mir kontaktierten Personen habe ich nach individueller Absprache deren Initialen eingesetzt. Nur die Leserinnen und Leser werden sie erkennen können, die ihre vollständigen Namen bereits von jener Zeit her kennen. Bei heiklen Fällen wollte ich die Identifizierung vermeiden. Deshalb sind einige Initialen verfälscht und vereinzelt fehlen Präzisierungen zur Funktion von damals oder sonstige Angaben zur Person.

    Namentlich genannt sind zudem Fachpersonen, die damals nicht in den Fall involviert waren, sich aber heute zu einem bestimmten Themenbereich bei der Spurensuche äussern.

    Das vorliegende Buch erhebt keinen Anspruch darauf, den Fall aufzuklären. Ich kenne die Wahrheit nicht und bin weder Richterin noch Fahnderin. Und einzuschätzen, welche Aussagen wahr und welche erlogen, erfunden und beschönigt wurden, ist kaum möglich.

    Ich habe das Gehörte geordnet und gebe es in diesem Buch wieder – mit der Geschichte, den Erinnerungen und der Spurensuche. Darin eingeflochten sind auch Passagen und Informationen aus Originaldokumenten.

    Diese drei Ebenen habe ich um eine Fiktion, eine erfundene Perspektive aus der Sicht von Beat, erweitert. Wie die anderen Ebenen ist sie mit einer klar unterschiedenen Schrift erkennbar. Für diese fiktionale Ergänzung bin ich von einem mir vorliegenden Protokoll des damaligen und mittlerweile verstorbenen Einsatzleiters R. B. ausgegangen. Dieses enthält insgesamt 17 Einträge, die er zwei Tage nach dem Tötungsdelikt aufgrund der ersten Ermittlungen aufgelistet hat. Diese erfundene Ebene kann sowohl als mögliche These wie auch als Resultat der Recherchen verstanden werden – oder als Provokation und Anregung für eigene Theorien.

    Bernhard Gyger und seine Eltern können sich nicht mehr im Detail an die gemeinsamen Momente mit Beat erinnern, zu lange liege jener Pfingstsamstag zurück. Doch sie sagen zur fiktionalen Perspektive, dass es aus ihrer Sicht so und ähnlich gewesen sein könnte und dass sie ihn darin wiedererkennen würden.

    Mordfall Gyger: Auch nach 40 Jahren ungeklärt. Für viele unerträglich.

    Und unerklärlich.

    Franziska Streun, Thun, Herbst 2013

    •  Zum Geleit

    Gedanken des Bruders

    In jedem Leben geschehen Dinge, die sich im Gehirn einbrennen, unauslöschlich sind und tiefe Spuren hinterlassen. Bei mir ist die Ursache eines solchen Ereignisses die Tötung an meinem Bruder. Pfingsten und Rummelplätze haben seither eine andere Bedeutung. Das Unfassbare hat das Besinnliche an Feiertagen und die Unbeschwertheit verdrängt. 40 Jahre sind seither vergangen – Beats gewaltsamer Tod ist weit entfernt und vordergründig vergessen.

    Oft gibt es jedoch Momente, in denen die damaligen Umstände und Gefühle unvermittelt hervortreten, Raum einnehmen und dominieren. Dies ist nicht nur bei mir so, sondern genauso bei meinen Eltern und bestimmt bei Mitwissern, Fahndern, Verdächtigten und den Tätern.

    Den Entschluss, irgendwann ein Buch über das Erlebte zu schreiben und meine Sicht darzulegen, hatte ich bereits vor 20 Jahren gefasst. Bisher fand ich jedoch immer wieder Gründe, es weiterhin aufzuschieben – es gäbe heute noch welche, es nicht zu tun. Trotzdem bin ich nun froh, dass Franziska Streun an mich herangetreten ist, um ein Buch über diese Tragödie zu schreiben, die 1973 das Leben vieler Menschen veränderte und beeinflusste.

    Die Recherchen würden nicht einfach sein, das war unserer Familie und ihr klar. Jedoch überraschte uns sehr, dass der Staatsanwalt die generelle Akteneinsicht für die Spurensuche verweigern musste.

    In jenen Jahren wurden die Akten nicht systematisch geordnet, sondern kreuz und quer in Bundesordnern und Kartons gesammelt und aufbewahrt. Ohne die Einwilligung aktenkundiger Personen kann heute keine Einsicht gewährt werden. Doch ohne das Wissen um den Inhalt der Unterlagen kann nicht gesucht werden! Da frage ich mich: Welches Gesetz und welches Recht schützt hier wen?

    Es geht nicht um Schuld und Sühne, sondern vor allem um das Verstehen komplexer Zusammenhänge und die Gelegenheit, Betroffenen das Wort zu geben. Alle haben ihre eigene Sichtweise der Dinge. Viele haben vor langer Zeit zur Aufklärung der Tötung an meinem Bruder ihr Bestes gegeben und sind trotzdem an der Lösung des Falles gescheitert. Andere werden bis heute fälschlicherweise verdächtigt und leiden unter diesen Anschuldigungen.

    Für mich persönlich bedeutete der gewaltsame Tod von Beat, dass ich als 12-Jähriger aus einer unbeschwerten Jugend gerissen wurde und von einem Tag zum anderen erwachsen sein musste. Damals gab es keine Care Teams und keine psychologische Betreuung – im Gegenteil: Für unsere Familie war Spiessrutenlaufen angesagt. Alle wollten wissen, was passiert ist. Die Leute interpretierten, Mutmassungen und Gerüchte wurden zu vermeintlichen Wahrheiten und unsere ganze Familie fand sich mit Vorwürfen eingedeckt.

    Da waren noch die wahren Geschichten, welche die Lösung des Falles offenbar so schwierig machten. Zum Beispiel ein gestohlenes Mofa, das unauffindbar ist, dessen Gepäcktaschen (‹Sacochen› genannt) dagegen bei einem Einbruch an jenem Pfingstwochenende in der Baracke einer Kiesgrube liegen geblieben sind und erst später auf den Polizeiposten gebracht werden. Oder da ist das von meiner Mutter bestickte Taschentuch, das zwei Kriminelle finden, die in der gleichen Nacht aus dem Thuner Gefängnis ausbrechen. Die Analyse des eingetrockneten Blutes ergibt eine Übereinstimmung mit der Blutgruppe meines Bruders. Beat und einer der Ausbrecher hatten dieselbe (was laut Polizei, wie sie damals sagten, einer Trefferquote von eins zu einer Million entspreche). Oder da sind die beiden Rockertreffen, die in jenen Tagen in Thun stattfanden, und die gemachten Geständnisse, die widerrufen wurden. Und da gibt es den Drohbrief gegen eine junge Frau, die sich danach ins Ausland abgesetzt hat. Nicht zu vergessen sind die unentdeckten Ermittlungspannen, deren Behebung jedoch der Fahndung eine neue Richtung hätte geben können.

    Ich betone nochmals, dass es mir nicht um eine Verurteilung der Täter geht. Aber, das stimmt, der Wunsch nach der Wahrheit bleibt. Sie wäre für mich und für viele andere unendlich erlösend und befreiend.

    Bernhard Gyger, Gwatt, Februar 2013

    •  Intro

    Wütend ist er. Stocksauer. Trotzdem lächelt er.

    Stumm beendet Beat das Nachtessen, steht auf und verschwindet in sein Zimmer.

    Die Türe knallt zu.

    «Sei doch vernünftig, Beat, und benimm dich!», hört er noch.

    Die Stimme seiner Mutter.

    «Ich will auf den Budenplatz», protestiert er murmelnd, als ob er sich selbst in seinen Absichten bestärken wollte. Er zieht dem Frieden zuliebe die schönen Kleider an, die Mutter ihm aufs Bett gelegt hat. Doch er pfeift auf diese doofe abendliche Pfingstfahrt, zu der ihn die Eltern zum Geburtstag einladen.

    Immer dieses Müssen und Sollen.

    Er sitzt auf der Bettkante und starrt aus dem Fenster. Die Sonne blendet und lässt das blonde, bis auf die Schultern fallende Haar golden glänzen.

    Vater und Mutter verstehen ihn nicht – und Vater hat den jüngeren und gescheiteren Bernhard sowieso lieber als ihn.

    Dass er mehr und mehr die Schule schwänzt und die Noten wieder schlechter werden, verheimlicht er ihnen, wie vieles andere … Ich bin doch kein kleines Kind mehr …

    Mit welcher Ausrede könnte er sich davon schleichen?

    Er will dort hin. Schulkameraden sind da, vielleicht seine Kollegen.

    Schneller als erwartet, löst sich sein Problem in Luft auf.

    «Beat! Du? Kannst du Grossmutter rasch eine Notiz bringen? Ich habe vergessen, ihr den Termin beim Augenarzt mitzuteilen.»

    Er horcht auf. Mutter steht vor der Türe. Die Gelegenheit! Die pack ich, denkt er. Einen kurzen Moment wartet er, dann tritt er aus dem Zimmer und stellt sich neben Bernhard, der am Tisch sitzt und liest und wie üblich vorgibt, als ob ihn die Reibereien zwischen Beat und den Eltern nicht interessierten.

    Vater sitzt vor seinem Teller,

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