Donauweibchen küssen härter: Ein bittersüßer Cocktail für SF-, Fantasy- und Krimifreunde
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Donauweibchen küssen härter - Veronika A. Grager
Ein bittersüßer Cocktail für SF-, Fantasy- und Krimifreunde
Außer der Reihe 84
Veronika A. Grager
DONAUWEIBCHEN KÜSSEN HÄRTER
Ein bittersüßer Cocktail für SF-, Fantasy- und Krimifreunde
Außer der Reihe 84
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: August 2023
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Klaus Brandt
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 342 0
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 761 9
Donauweibchen küssen härter
Wien, Mai 2017
»Schon wieder ein Toter!«
Inspektor Fritz Haller betrat das gemeinsame Büro und warf seiner Kollegin Brigitte Kempf die Morgenzeitung auf den Tisch.
Brigitte zuckte mir den Achseln. In den letzten Wochen gab es reichlich suspekte Vorfälle auf der Donauinsel. Heuer erwischte es schon drei Männer, die entweder ertranken, von irgendwelchen Tieren totgebissen wurden oder von einer Brücke fielen, konkret von der Steinspornbrücke. Dabei waren die Opfer laut Autopsie Bericht ohne Ausnahme kerngesund gewesen. Der Ertrunkene und der Brückenspringer hatten kein Wasser in der Lunge, der von Tieren Angenagte war vorher gestorben. Todesursache unbekannt. Zufälle? Unfälle? Selbstmorde? Oder ging dort ein raffinierter Mörder um? Und wieso ausschließlich Männer? Fragen über Fragen.
Kaum hatte Haller seine Jacke an den Haken an der Wand gehängt und sich einen Kaffee genommen, erschien Selina, die Putzfrau, aus dem Nebenzimmer.
»Der Bierbauch hat euch schon gesucht. Ihr sollt’s ihn anrufen.«
Anton Birnbach, Leiter des LKA Wien, wegen seiner Leibesfülle gar nicht liebevoll Bierbauch von seinen Untergebenen genannt, vergatterte Fritz Haller und Brigitte Kempf wegen der Toten von der Insel dazu, mindestens einmal täglich, noch besser morgens und abends, mit dem Fahrrad die Insel von oben bis unten abzuklappern und dabei Augen und Ohren offenzuhalten.
»Na super! Da ersparen wir uns das Fitnesscenter!«, kommentierte Haller die Wünsche ihres Vorgesetzten.
»Hätt’ ich mir denken können, dass das wieder mal an uns hängen bleibt.« Brigitte Kempf, die vor einem Jahr als einzige Frau in der Inspektion Floridsdorf ihren Dienst angetreten hatte, war genauso begeistert. Sie hätte in einer Woche ihren ersten Urlaub nehmen wollen. Den konnte sie sich jetzt vermutlich abschminken.
Die Donauinsel war eine künstlich aufgeschüttete Insel zwischen Donau und Neuer Donau, einundzwanzig Kilometer lang und bis zu zweihundertfünfzig Meter breit. Sie wurde zwischen 1972 und 1988 als Hochwasserschutz für Wien gebaut, begann mit dem Einlaufsperrwerk für das Entlastungsgerinne im Norden von Wien bei Langenzersdorf, durchquerte die Bezirke Floridsdorf und Donaustadt und endete mit der Einmündung der Neuen Donau in den großen Strom nach dem Ölhafen Lobau. Der Norden und der Süden der Insel waren naturnah, die Mitte parkartig angelegt. Dort befanden sich auch Sandstrände, Lokale sowie diverse Unterhaltungsmöglichkeiten, genannt Copa Cagrana. Rund hundertsiebzig Hektar Wald wurden gepflanzt. Ein Teil der Insel wurde zum Naturreservat für seltene Vögel und Amphibien, Rehe, Hasen, Biber und anderes Getier.
Jeden Tag radelten Haller und Kempf nun bei jedem Wetter rund um die Donauinsel. Doch die Serie mit den makabren Todesfällen riss nicht ab. Bald gab es einen vierten Toten. Und wieder konnte die Todesursache nicht ermittelt werden. Schön langsam machte sich bei Polizei und Stadtregierung Panik breit, denn das Donauinsel-Fest, das vom 22. bis 24.stattfinden sollte, stand kurz bevor.
Am 14., als Brigitte Kempf wegen Fieber das Bett hüten musste, fuhr Haller allein auf Patrouille und kehrte nicht zurück. Er verschwand spurlos. Nicht einmal sein Fahrrad wurde gefunden. Die Handypeilung blieb ergebnislos.
Brigitte war krank vor Sorge und machte sich Vorwürfe. Sie quälte sich am nächsten Tag trotz Fiebers ins Büro. Als Birnbach sie mit der Suche nach Haller beauftragte, bat sie ihn um eine Polizistin als Begleiterin. Da bisher immer nur Männer den Tod fanden, dachte sie, es könnte nicht schaden, keinen Kollegen der Gefahr auszusetzen, das nächste Opfer zu werden. Birnbach schien das nur recht zu sein, denn die alten Hasen konnten ohnehin nicht mit der Neuen. Gerade mal mit der Polizeischule fertig, groß, blond, fesch und noch dazu nicht auf den Mund gefallen. Ulli Renner, die Neue, wurde daher Brigitte Kempf zugeteilt.
»Das hätte ich mir denken können«, maulte Kempf, »dass die mir das Küken zuschanzen.« Was nicht weiter verwunderlich war. War Ulli doch das einzige weibliche Wesen auf der Inspektion außer ihr und der Putzfrau.
Sie fuhren die ganze Donauinsel ab, immerhin nun mit dem Auto. Schauten buchstäblich hinter jeden Busch und drehten jeden Stein um. Kempf mit roten Augen und rinnender Nase. Zu ihrem grippalen Infekt gesellten sich die Beschwerden durch ihre Allergien gegen alles, was schön blühte und gut roch. Und davon explodierte die Insel derzeit geradezu.
»Mist«, keuchte sie und warf das nächste Papiertaschentuch in einen Plastiksack auf ihrem Schoß.
»Du gehörst ins Bett!« Ulli, die fuhr, sah besorgt zu ihr hinüber. »Du schaust schrecklich aus.«
»Hoffentlich fürchtet sich dann wenigstens der Inselmörder vor mir«, keuchte Kempf kurzatmig und nieste erneut.
In einem kleinen Wäldchen in der Lobau schließlich fanden sie Haller, der – äußerlich unverletzt – völlig verstört wirkte und sich an einem Baum aufknüpfen wollte. Er scheiterte nur an seinem aus Lianen recht unprofessionell gebastelten Strick.
Im Krankenhaus stellte man ihn mit Medikamenten ruhig. Eine Psychiaterin versuchte, ihm zu helfen, doch nichts schien zu wirken. Immer wieder versuchte Haller, sich auf die eine oder andere Art das Leben zu nehmen. Warum nur?
Einige Tage später gab es einen weiteren Toten. Doch jetzt war die Kacke am Dampfen, denn der war prominent. Während des Donauinsel-Festes war der Schweizer Rapper Ralf de Bonnet, der Haupt-Act am Sonntag auf der größten Bühne, plötzlich weg. Nach tagelanger Suchaktion mit einer Hundertschaft von Polizeibeamten konnte er am 29. Juni nur mehr tot geborgen werden. Er wurde im Entlastungsgerinne gefunden, war jedoch nicht ertrunken. Aber wie war das möglich? Er war direkt von der Hauptbühne verschwunden! Wie kam er in die Neue Donau? An diesem Tag waren rund eine Million Menschen auf der Insel und niemand hatte etwas bemerkt. Laut Autopsie Bericht hatte er außer etwas Kokain und null Komma fünf Promille Alkohol nichts im Blut, war fit wie ein Turnschuh und kerngesund. Woran war er gestorben? Der Gerichtsmediziner zuckte mit den Schultern. »Null Ahnung. Nicht einmal einen leisen Verdacht. So etwas ist mir noch nie untergekommen. Falls wer drauf wetten will, ich tippe auf Herzversagen.«
Bierbauch ordnete an, dass Haller in Hypnose zu seinen Erlebnissen auf der Insel befragt werden sollte. Haller, mittlerweile ein sabberndes zuckendes Bündel im Rollstuhl, wurde in Tiefenhypnose versetzt.
Doktor Anke Lemberg, seit gefühlten hundert Jahren im Polizeidienst, die schon jede Menge merkwürdiger Sachen gehört hatte, nahm sich des Falles an. Und kam aus dem Staunen nicht heraus. Haller schilderte anschaulich, dass er ein wunderschönes, elfenartiges Wesen traf, das ihn immer weiter weg vom Trubel und den frequentierten Plätzen lockte. Die geheimnisvolle Frau lächelte, sprach jedoch kein Wort und brachte ihn an einen Ort, der völlig zugewuchert war und über dem sich die Baumkronen wie das Kreuzgewölbe eines Domes spannten. Sie begann, zu tanzen und sich langsam vor ihm auszuziehen. Doch als er sie am Arm berührte, um ihr Einhalt zu gebieten, küsste sie ihn hart auf den Mund und verwandelte sich gleichzeitig in eine Furie. Danach fehlte ihm jede Erinnerung, selbst in Tiefenhypnose. Als er aufwachte, hatte er nur einen Wunsch: sich das Leben zu nehmen, weil er eine Frau brutal vergewaltigt hatte.
»Ein Donauweibchen«, kommentierte Kempf die Geschichte zynisch, als Doktor Lemberg ihr davon erzählte. Früher ging die Mär, dass sie immer wieder Fischer dazu brachten, aus Liebe zu ihnen ins Wasser zu gehen.
Brigitte Kempf war sicher, dass ihr Kollege nie und nimmer eine Frau vergewaltigt hätte. Sie wusste, vermutlich als Einzige auf dem Revier, dass Haller homosexuell war. Aber wie sollte sie ihm und den anderen potenziellen Opfern helfen?
Gab es früher schon ungeklärte Todesfälle auf der Insel? Und wenn ja, hatte jemals irgendwer versucht, Zusammenhänge herzustellen?
Brigitte Kempf wühlte sich durch alte Mord- und Vermisstenfälle. Und schon bald wurde sie fündig. Eigentlich war in den letzten fünfzehn Jahren fast jedes Jahr um den 1. Mai herum ein Mann unter ungeklärten Umständen von der Donauinsel verschwunden oder dort zu Tode gekommen. In den Jahren, wo sich kein dokumentierter Todesfall oder Vermisster in den Aufzeichnungen fand, hatte man vielleicht nur die Leiche nicht gefunden, oder niemand hatte den Mann vermisst gemeldet. Bisher hatte niemand einen Zusammenhang hergestellt. 2015 hatte es zwei ungeklärte Todesfälle gegeben, im Jahr darauf drei. Und in diesem Jahr waren schon fünf Männer ums Leben gekommen und ihr Partner verrückt geworden. Was war jetzt anders?
Gab es einen Geist auf der Insel? Geschah dort einmal ein Verbrechen, das nie gesühnt worden war? Sie glaubte nicht an so einen Mumpitz, aber das hieß ja wohl nicht, dass es das nicht geben konnte. Oder verrannte sie sich da in etwas?
Brigitte wandte sich an ihre Freundin Charlotte, die als Astrologin, Kartenlegerin und Medium arbeitete. Wenn irgend so ein jenseitiger Scheiß im Spiel war, dann war Lotte die richtige Ansprechpartnerin.
Gemeinsam mit Ulli holte Brigitte Haller in seinem Rollstuhl und brachte ihn zu Lotte. Sie fassten sich an den Händen und hielten eine Séance ab. Doch nichts passierte. Nur Lotte fiel in eine seltsame Starre. Als sie wieder zu sich kam, erzählte sie eine merkwürdige Geschichte.
Sie lag auf der Donauinsel am FKK-Strand und ließ sich sonnen. Es war ein schöner Frühsommertag, die Sonne stand nicht mehr sehr hoch am Himmel. Sie beschloss, noch einmal ins Wasser zu gehen und anschließend mit dem Rad nach Hause zu fahren. Als sie aus dem Wasser kam, standen zwei junge Männer am Ufer. Sie machten anzügliche Bemerkungen über ihren nackten Körper. Sie waren unübersehbar sexuell erregt und kamen langsam näher. Als sie sich umsah, bemerkte sie, dass alle anderen Badegäste in der Zwischenzeit gegangen waren. Nackte Furcht kroch in ihr hoch.
Lotte zitterte noch, als sie mit der Schilderung fertig war. Sie fror und wiederholte immer wieder, wie kalt doch das Wasser gewesen wäre. Brigitte machte sich Vorwürfe, dass sie Charlotte zu der Séance überredet hatte. Lotte beachtete sie gar nicht. Sie sagte, sie müsse zurück in die Trance. Doch Brigitte bestand darauf, dass sie sich erst erholen musste, bevor sie sich wieder dieser Strapaze aussetzte.
Am nächsten Abend, nach Brigittes Dienst, trafen sie wieder zusammen. Haller saß wie üblich apathisch im Rollstuhl. Sobald sie sich an den Händen fassten, erstarrte Lotte.
Sie stand im knöcheltiefen kalten Wasser. Zwei Burschen kamen von beiden Seiten auf sie zu. Sie hatte keine Chance, zu entrinnen. Es blieb nur der Weg zurück ins Wasser. Ob sie es ans andere Ufer schaffen würde? Das Wasser war noch ziemlich kalt. Und dann? Sie war nackt! Egal. Doch die beiden holten sie ein. Einer hielt sie fest, der andere vergewaltigte sie brutal. Dann zerrten sie die Kerle ins Gebüsch. Dort verging sich der Zweite an ihr. Sie hatte aufgehört, sich zu wehren und zu schreien. Dachte, wenn sie tat, als sei sie ohnmächtig, würden die Männer von ihr ablassen. Ein Irrtum!
Als Charlotte aufschrie, löste Brigitte ihre Hände und unterbrach die Kette. Lotte war schweißgebadet und schlotterte an allen Gliedern. »Es war so realistisch«, flüsterte sie. Brigitte kochte ihr Tee und gab drei Löffel Zucker und einen kräftigen Schuss Rum dazu. Erst nach einiger Zeit war es Lotte möglich, darüber zu sprechen, was sie erlebt hatte. »Es fühlt sich an, als würde es mir passieren, hier und jetzt.«
Brigitte gruselte sich und Haller begann zu weinen.
»Lotte, wie sahen die beiden aus?«
»Groß, dunkelhaarig, ziemlich muskulös.«
»Naja, das Aussehen kann sich mit den Jahren geändert haben. Hast du irgendein besonderes Kennzeichen an den Männern gesehen? Ein Tattoo, eine besondere Narbe, ein außergewöhnliches Muttermal? Irgendwas, an dem man sie auch heute noch wiedererkennen könnte?«, fragte Brigitte.
»Ja, da war was. Lass mich nachdenken.« Lotte stopfte sich ein Kissen in den Rücken und Brigitte legte ihr eine weitere Decke über die Beine.
»Der eine hatte an der linken Hand beim Zeige- und Mittelfinger nur mehr das erste Glied. Wie ein Tischler, der einmal in die Säge geraten ist.«
»Und der andere?«
»Der hatte eine schlohweiße Haarsträhne über dem linken Ohr.«
Als Lotte kurz darauf auf die Toilette ging, merkte sie, dass sie aus der Vagina blutete. Doch sie erzählte Brigitte nichts davon. Sie wusste, sie musste noch einmal zurück. Die Geschichte war noch nicht zu Ende.
Am dritten Tag in Folge machte sie eine weitere Reise in die Vergangenheit einer Frau, die Schreckliches erlebt haben musste.
Es war ein Irrtum, zu glauben, dass die Männer sie in Ruhe lassen würden, wenn sie sich tot oder bewusstlos stellte. Während sie vom ersten Täter noch einmal brutal missbraucht wurde, erwürgte sie der andere Mann. Einmal rutschte seine verschwitzte Hand kurz von ihrer Kehle. Mit letzter Kraft verfluchte sie ihn und alle Männer, die sich je an einer Frau vergriffen hätten. Dann wurde alles schwarz.
Brigitte beobachtete Lotte mit Argusaugen. Als sie plötzlich aufhörte zu atmen, riss sie ihre Hand aus der Lottes und unterbrach die Kette. Was Lotte diesmal gesehen hatte, musste eine sehr realistische Vision gewesen sein, denn Brigitte entdeckte Würgemale an ihrem Hals. In was für eine Scheiße wurden sie da hineingezogen?
Brigitte versuchte herauszufinden, wann diese Tat stattgefunden hatte. Das war sie ihrer Freundin Lotte und ihrem Partner Haller schuldig. Wäre sie nicht krank geworden, wäre das nämlich alles nie passiert.
Ulli schnaubte. »Vergiss es! Du hättest das sicher auch nicht verhindern können. Als der Rapper mitten im Konzert von der Bühne verschwand, waren Hunderte Leute um ihn herum.«
Charlotte konnte nicht viel zur fraglichen Zeitspanne sagen. Allerdings fiel ihr etwas ein. Sie, besser gesagt das Opfer, hatte an dem Tag Zeitung gelesen. Und der Aufmacher auf der ersten Seite hatte gelautet: AKW Zwentendorf heimlich in Betrieb genommen? Und dann folgte auf Seite drei ein Bericht, den sie nur überflogen hatte. Man hatte in Wien auf der Hohen Warte stark erhöhte Strahlungswerte gemessen. Erst dachte man, dass es vielleicht in einem der angrenzenden Ostblockländer einen Zwischenfall in einem Atomkraftwerk gegeben hätte. Doch das konnte man aufgrund der herrschenden Wind- und Wetterverhältnisse ausschließen. Man setzte Geigerzähler an mehreren Stellen in der Stadt ein. Am nördlichen Ende der Donauinsel war die Strahlung am stärksten. Von dort war es ein Katzensprung zum AKW Zwentendorf. Selbstverständlich bestritt die Regierung vehement, dass das Atomkraftwerk in Betrieb gegangen war. Man verwies sogar darauf, dass in einer Sitzung zwei Monate früher der Beschluss gefasst worden war, das AKW endgültig stillzulegen. Eine reife Leistung, nachdem schon sieben Jahre vorher im Nationalrat einstimmig das Atomsperrgesetz beschlossen worden war. Aber was hieß das schon? Politiker sagten dies und meinten das. Das war damals nicht anders gewesen als heute. Die Zeitung trug das Datum 2. Mai 1985.
Himmel, da war Brigitte noch gar nicht auf der Welt gewesen!
Brigitte begann zu recherchieren. Und sie fand eine ganze Menge. Die stets wiederkehrenden Todesfälle Anfang Mai auf der Donauinsel. Vor zwei Jahren waren es zwei Fälle gewesen, im Vorjahr schon drei. Und niemand hatte da einen Zusammenhang gesehen? Waren denn die Kollegen alle blind gewesen?
Wenn wirklich ein Vorfall aus dem Jahr 1985 der Auslöser für die Todesfälle gewesen war, dann musste es auch länger als fünfzehn Jahre zurückliegende Ereignisse geben. Doch die im Zentralcomputer gespeicherten Fälle reichten nicht weiter zurück.
Was Brigitte nicht fand, waren Hinweise auf eine verschwundene oder ermordete Frau im Frühling 1985. Was natürlich gar nichts bedeuten musste. Nach zweiunddreißig Jahren könnten Akten verschwunden sein. Wer wusste schon, selbst wenn die Tote in späteren Jahren gefunden worden war, ob jemals ihre Identität festgestellt werden konnte oder auch nur ein halbwegs genauer Todeszeitpunkt.
Charlotte wollte Brigitte davon überzeugen, dass sie noch einmal zurückmusste, um das herauszufinden. Doch Brigitte wollte davon nichts hören. Das sollte doch auch zu ermitteln sein.
Zwei Dinge gingen ihr nicht aus dem Kopf. Da war erst mal die Tatsache, dass all die Toten einfach so gestorben waren. Es gab keine eindeutige Todesursache. Alle waren zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt und gesund gewesen. Ebenso geheimnisvoll war, was Lotte gesagt hatte. Die Frau hätte alle Männer mit einem Fluch belegt, die sich je an einer Frau vergriffen hätten. Wieso Haller? Der Typ war homosexuell. Andererseits war er im Gegensatz zu den anderen Männern knapp, aber doch am Leben geblieben.
Brigitte fragte Lotte, ob sie sich vorstellen konnte, wieso plötzlich mehr Opfer zu beklagen seien als all die Jahre davor.
Lotte hatte eine vage Vermutung. Wenn ein Geist keine Ruhe fand, dann oft deshalb, weil die Tat nicht gesühnt wurde. Im konkreten Fall könnte das bedeuten, dass das Opfer bis heute nicht gefunden und daher die Täter nicht zur Verantwortung gezogen worden waren. Und da ein Toter oder Verschwundener pro Jahr die Aufmerksamkeit der Polizei nicht auf sich gezogen hatte, musste die Schlagzahl erhöht