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Sonntagskind: Tod eines Täters
Sonntagskind: Tod eines Täters
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eBook321 Seiten4 Stunden

Sonntagskind: Tod eines Täters

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Über dieses E-Book

Die Rettungsfahrerin Kiki Tartarou lebt als allein erziehende Mutter mit ihrer fünfzehnjährigen Tochter Tara in Wien. Als sie bei einem Noteinsatz den auf grausame Weise verstümmelten Leichnam des verstorbenen Staatsoperndirektors Pawe Pollack vorfindet und ihre Freundin, die Betriebsärztin Lis Gabriel, des Mordes verdächtigt wird, beschließt sie, die Unschuld von Lis zu beweisen und den wahren Mörder aufzuspüren. Dabei hilft ihr ihr neuer Nachbar, Tom Holzer, der einen mobilen vegetarischen Würstelstand betreibt.
Viele Mitarbeiter hatten Motive, den Operndirektor, der sich nicht nur Engagements mit sexuellen Dienstleistungen und durchaus auch pekuniär vergüten ließ, sondern offenbar auch in Drogengeschäfte größeren Ausmaßes verwickelt war, zu beseitigen. Und so macht sich Kiki eine ganze Gruppe von Verdächtigen zu Feinden, die für sie und ihre Tochter gefährlich werden.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum15. Sept. 2015
ISBN9783739295930
Sonntagskind: Tod eines Täters
Autor

Bibi Mahony

Hinter dem Pseudonym Bibi Mahony verbirgt sich eine Frau mit einem ungewöhnlich bunten Lebenslauf. Im letzten Jahrtausend in Wien geboren absolvierte sie unter erheblichem Widerwillen ihre Schullaufbahn, welche sie überstand, indem sie sich in die Welt der Musik und der Literatur zurückzog. Parallel zur Schule studierte sie bereits Musik an der Musikhochschule. Nach der Matura arbeitete sie als Videocutterin fürs Fernsehen, studierte Psychologie, machte als Opernsängerin Karriere, absolvierte eine Ausbildung als Psychotherapeutin und in all diesen Jahren schrieb sie.

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    Buchvorschau

    Sonntagskind - Bibi Mahony

    Für Birgit, ohne die es dieses Buch nie gegeben hätte.

    INHALTSVERZEICHNIS

    EINS - DONNERSTAG

    ZWEI - FREITAG

    DREI - FREITAG ABEND

    VIER - SAMSTAG

    FÜNF - SONNTAG

    SECHS - MONTAG

    SIEBEN - DIENSTAG MORGEN

    ACHT - DIENSTAG NACHMITTAG

    NEUN - MITTWOCH MORGEN

    ZEHN - MITTWOCH NACHMITTAG

    ELF - DONNERSTAG

    ZWÖLF - FREITAG

    DREIZEHN - SAMSTAG

    VIERZEHN - SONNTAG

    FÜNFZEHN - MONTAG

    SECHZEHN - DIENSTAG

    SIEBZEHN - EINE WOCHE SPÄTER

    PER VIAM...

    ÜBER DIE AUTORIN

    ANDERE WERKE VON BIBI MAHONY

    EINS - DONNERSTAG

    Mit einem schwungvollen Rückwärtsbogen manövrierte ich den Rettungswagen in die kleine Parklücke. Als der Kollege die Schiebetüre öffnete, drang das Knoblaucharoma aus dem Lokal durch die Frische des ersten Jännerschnees und ließ meinen Magen knurren wie ein Motorrad mit Starthemmung. Noch lieber wäre mir jetzt ein Löffel Hasenbutter gewesen, aber Pizza war fast genauso gut. Die Burschen waren schon aus dem Wagen gesprungen, und der Zivi hielt mir galant die Tür auf, als der Notruf einging. Ich unterdrückte ein Seufzen und startete unverzüglich den Motor. Noch bevor alle Wagentüren zugeschlagen waren, sausten wir los.

    Wenig gab es, das ich so genoss wie Geschwindigkeit. Wenn es schon nicht Pizza sein konnte, so wenigstens eine rasante Fahrt zwischen Wagenkolonnen, über rote Ampelkreuzungen, das Martinshorn auf volle Lautstärke. Ich wusste, dass meine Kollegen sich jetzt in die Sitze krallten.

    Stau auf der Favoritenstraße? Kein Problem für mich! Die Autos drängten sich nach rechts gegen die Bürgersteigkante, während ich nicht locker ließ und mit dem Gaspedal spielte wie ein Ministrant mit dem Orgelbalg. Bei der Spinnerin am Kreuz bog ich ohne zu zögern in die Raxstraße ein, während hinter mir Bremsen quietschten und ein Lastwagenfahrer, der das Machtspiel mit mir verloren hatte, mit der Faust drohte. Cool down, mein Lieber, Vorfahrt ist Vorfahrt. Ich winkte freundlich zurück, als der LKW auch schon aus meinem Rückspiegel verschwand. Die Schneeflocken fielen jetzt dichter, und der Verkehrsfunk sprach eine Blitzeiswarnung aus. Ruhe legte sich über die Stadt. Das einzige Geräusch verursachten jetzt die quietschenden Scheibenwischer.

    »Gibt es noch intelligentes Leben in diesem Wagen?», fragte ich in die Runde.

    Der Zivi zuckte mit den Schultern.

    »Über Intelligenz solltest du wohl nichts sagen«, murmelte Martin, dessen grünlich verzogene Grimasse mir über den Rückspiegel vorwurfsvolle Blicke zuwarf.

    »Unsere Schicht ist gleich vorbei, ich will es hinter mich bringen«, antwortete ich.

    »Final?«, fragte Martin trocken. »Du bist eine Zumutung, Kiki. Mich wundert, dass überhaupt noch jemand mit dir fährt.«

    »Bis jetzt hast du immer überlebt«, konterte ich und bog zu Per Albin Hanson Siedlung ein.

    »Da ist die Ada Christen Gasse«, lotste der Zivi Florian mich, »gleich neben der Schule. Halt an, wir sind da.«

    Wir betraten den großen Wohnblock. War das Licht draußen, in Schneefall und Dämmerung, diffus gewesen, so wirkte hier alles noch dunkler, noch weniger konturiert. Am Fuß der Treppe lag eine Frau.

    Ein Mann kauerte neben ihr und hielt seine Hand unter ihre Wange, sodass sie sie nicht auf dem nackten Erdboden ablegen musste.

    Daneben eine große, dunkle Lache. Kopfverletzungen bluten stark.

    Ich drückte auf den roten Lichtschalter, und die Beleuchtung im Stockwerk über uns ging an, aber hier im Erdgeschoß schienen die Lampen defekt zu sein, und es wurde mit jeder Minute dunkler.

    Martin versorgte die Wunde und leuchtete in die Pupillen der Frau, die immerhin noch ansprechbar war. Der Zivi war zum Wagen zurückgelaufen, um die Bahre zu holen.

    Der Mann neben der Verletzten wandte mir seine tränenfeuchten Augen zu. Ich kramte nach meinem Handy, um vom Unfallort ein paar Fotos zu machen. Eine Marotte von mir. Für das Jusstudium, von dem ich vor langer Zeit einmal geträumt hatte, war es viel zu spät, ich hatte alle meine Chancen vertan, als ich mit Daniel im Kino gewesen war. Meine Neugierde war schon damals Segen und Fluch zugleich gewesen, und immer noch wollte ich wissen, wie, wann, warum etwas in der Welt geschah.

    »Es war keine Absicht«, jammerte der Mann.

    Er musste wohl der Ehemann sein, denn ich bemerkte die gleichen Ringe an ihren rechten Ringfingern. »Ich bin ausgerutscht, und dabei habe ich sie geschubst. Ich wollte das nicht.« Echte Tränen flossen ungehindert aus seinen Augen, tropften zu Boden und mischten sich mit der Blutlache.

    Nicht zum ersten Mal schätzte ich mich glücklich, keine Tatortreinigerin zu sein. Die Hausmeister würden sich nicht gerade vor Freude überschlagen, wenn sie diese Bescherung beseitigen mussten. Verächtlich musterte ich den Mann. Was ich schon alles gesehen hatte! Und nie war es Absicht gewesen, die Männer immer völlig unschuldig und die Frauen so was von ungeschickt.

    »Wie ernst ist es?«, fragte er jetzt.

    Sehr ernst, und das hätten Sie sich früher überlegen müssen, wollte ich sagen, aber Martin kam mir zuvor: »Sie kommt durch.«

    Wir hievten die Frau auf die Bahre und schoben sie durch den dunklen Gang mit dem klebrigen Boden in Richtung Rettungswagen. Das Blut war nicht die einzige Pfütze hier, erst jetzt bemerkte ich den ätzenden Geruch nach Harn und abgestandener Kohlsuppe, die ausgedrückten Filter von Zigaretten, die bis zum letzten Millimeter geraucht worden waren, viele davon mit Lippenstiftspuren, und die leeren Verpackungsfolien von Snacks und Kaugummis. Der Mann, dessen verwahrloste Kleidung ich erst draußen im Dämmerlicht sehen konnte, stieg mit ein.

    Ich warf Martin einen fragenden Blick zu, den er mit einem Nicken beantwortete, half Zivi Florian die Bahre zu fixieren und ging dann vor zur Fahrertür.

    Ein paar Jugendliche, mit Energydrink-Dosen in knalligen Farben und rauchenden Tschick in den Händen, standen neben der Hausmauer und sahen uns aus ihren starren Augen mit stecknadelkopfkleinen Pupillen zu.

    »Wieder jemand gestolpert«, sagte ein dicklicher Bursche in die Runde. »Na und?«, meinte ein anderer und drückte die Zigarette an der Hausmauer aus.

    »Haben Sie den Unfall gesehen?«, fragte ich sie. Sie drehten sich in schweigender Übereinkunft weg und gingen in das Gebäude. Ich hatte Hunger.

    Martin bat mich, diesmal mit dem Starten zu warten, bis alle angeschnallt waren. Ich kaute so lange am Nagel meines kleinen Fingers und dachte an all die Frauen, die ich schon ins Krankenhaus transportiert hatte. Gegenden Türstock gelaufen, die Treppe hinunter gefallen, am Bügelbrett gestoßen - alles angebliche Haushaltsunfälle. Genauso, wie ich schon als Kind wissen wollte, warum der Himmel blau ist, wie ein Küken aus einem Ei entsteht und warum Menschen Kriege führen, fragte ich mich auch hier: warum, warum, warum. Warum all diese Verletzungen und warum all diese Lügen?

    Endlich konnte es losgehen. Sehr zivilisiert verließ ich mit dem Wagen den Bereich der Wohnblocks, da viele Menschen zu Fuß unterwegs waren. Sie wickelten sich in ihre Jacken und hatten sich Kapuzen übergezogen. Nur zwei kleine Mädchen spielten auf der winzigen Grünfläche mit dem Schnee, hüpften Spuren in die dünne, weiße Fläche und versuchten mit herausgestreckten Zungen die dicken Flocken einzufangen. Lächelnd dachte ich an Tara. Bei der Spinnerin am Kreuz bog ich wieder stadteinwärts ein und sah vor mir die lange dreispurige Kolonne, die bewegungslos vor uns lag. »Festhalten!«, rief ich, schaltete Blaulicht und Folgetonhorn ein und schlängelte mich durch die wie verängstigt ausweichenden Wagenreihen. Ein paar Mal musste ich auf den Grünstreifen in der Mitte ausweichen, ein anderes Mal auf den Gehsteig.

    Martin und der Ehemann waren hinten bei der Verletzten geblieben, Zivi Florian saß wieder neben mir. Ich konnte sie stöhnen hören, die Frau auf der Bahre weinte leise. Warum das? Ich hatte nicht gedacht, dass ihre Verletzungen so schlimm waren.

    Um die allgemeine Lage zu beruhigen, schaltete ich das Radio ein. Kulturjournal, ja, das war jetzt genau das Richtige. Zivi Florian maulte zwar - er hörte prinzipiell nicht gern Ö1 - aber ein Hauch Bildung würde ihm schon nicht schaden.

    »Operndirektor Pawe Pollack und Society Lady Sandra Ulrich, die Witwe des vor zwei Jahren verstorbenen früheren Operndirektors Hartmut Ulrich, stellten in der heutigen Pressekonferenz ihr Konzept für den diesjährigen Opernball vor«, meldete die Sprecherin.

    »Wer braucht schon den Opernball«, murmelte Florian. »Ich geh heuer sicher wieder zur Demo.«

    »Genau dafür brauchen wir ihn«, konterte ich, »damit ihr Jugendlichen auch euren Spaß habt.«

    Schnittig nahm ich die Linkskurve auf den Gürtel. Der Boden war gefroren und der erste, noch feuchte Schnee hatte sich inzwischen in dünne Eisflächen verwandelt. Der Wagen schlitterte einen Moment lang, ich fand aber gleich wieder elegant in unsere Spur. Florian gab undefinierbare Geräusche von sich.

    »Vorhin war die Frau noch nicht in Lebensgefahr«, rief er plötzlich, »erst, seitdem sie bei dir eingestiegen ist. Vielleicht kannst du es dir nicht vorstellen, aber ich würde gern diesen Abend noch erleben!«

    Ich fuhr gerade über eine rote Kreuzung.

    »Wo ist dein Problem?«, fragte ich. »Habt ihr jungen Menschen keine Nerven mehr heutzutage?«

    Ich war immerhin schon eine erfahrene Frau von einunddreißig Jahren und der Knabe erst achtzehn oder neunzehn. War ich in seinem Alter auch so furchtsam gewesen? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Allerdings musste ich mir eingestehen, dass ich meine Berufswahl, Rettungsfahrerin zu werden, aus vornehmlich hedonistischen Gesichtspunkten gewählt hatte. Ich mochte es, schnell, sehr schnell zu fahren, ich hielt mich nicht gern an Geschwindigkeits- oder sonstige Begrenzungen, ich liebte es geradezu, wenn alle vor mir zurückwichen und mir die Fahrspur freigaben, und es reizte mich immer wieder, über rote Ampeln zu fahren. Das sollte ich zwar nur im Notfall tun, aber Hunger und Dienstschluss zählten bei mir auch zu den Notfällen.

    Während im Radio der Operndirektor beklatscht wurde, bog ich in die Einfahrt zum AKH ein und hielt dann knapp vor der Mauer an, dass die Bremsen lustig quietschten - Musik in meinen Ohren!

    Florian war nun etwas grün im Gesicht, Martin warf mir einen seiner bösesten Blicke zu und der mitfahrende Ehemann hatte wohl gerade seinen Mageninhalt in eine Einweg-Nierenschale entleert. Oh weh, da war etwas daneben gegangen, das musste ich noch putzen, bevor ich den Wagen abschließen konnte. Dabei hatte ich gerade von einer Pizza geträumt. Für den Moment war mir der Appetit vergangen.

    Als ich schließlich die Schweinerei aufgewischt und den Wagen desinfiziert hatte, konnte ich endlich Schlüssel und Papiere abgeben und mich auf meine Vespa schwingen.

    Mein Fahrstil am Motorrad war ähnlich dem am Steuer des Rettungswagens, was viele Autofahrer zu irritieren schien. Natürlich, ich war ja dann ohne Uniform unterwegs. Zum Spaß hatte ich einmal im Internet ein Blaulicht bestellt, das man mittels eines starken Magneten am vorderen Kotflügel befestigen konnte. Bis jetzt hatte ich noch nie gewagt, es zu verwenden. Heute überlegte ich ernsthaft, es aus dem Handschuhfach zu holen, doch ich hatte so mächtigen Hunger, dass ich nicht einmal dafür mehr anhalten wollte.

    In der Maroltingergasse angekommen, wo ich wohnte, sah ich, dass die Autos wieder einmal Stoßstange an Stoßstange in der Parkspur standen. Auch wenn in einer Stadt Parkplätze Mangelware waren und bis zum letzten Zentimeter ausgenutzt werden mussten, empfand ich es als eine Schande für die Gemeindepolitik, sogar mit einem Zweirad nach einem Abstellplatz suchen zu müssen. Knapp unter unserem Haus quälte sich gerade ein Lieferwagen in eine für ihn geradezu maßgeschneiderte Lücke. Ich schlug scharf ein und quetschte die Vespa in den kleinen Zwischenraum, der noch zwischen seiner hinteren Stoßstange und dem nächsten Auto vorhanden war. Der Lieferwagen musste schräg in der Lücke stehen bleiben, die Schnauze guckte vorne hinaus, und der Fahrer sah irritiert zu mir nach hinten. Ich tat so, als hätte ich nichts bemerkt, schloss die Vespa ab und hüpfte zufrieden ins Haus. Den Helm hatte ich vorsichtshalber zur Tarnung aufgelassen. Was der Mann mir nachrief, verstand ich nicht.

    Die Wohnungstür ließ sich nur schwer öffnen, irgendetwas blockierte sie. Ich konnte mir schon denken, was es war: die hingeworfene Schultasche.

    »Hi, Mum«, sagte Tara cool und ignorierte, dass ich mich mit einem Fuß in ihrer Jacke verfing und beinahe das Gleichgewicht verlor, »Hunger.«

    Kinder waren ja so ein Segen! Ein Blick ins Eisfach zeigte mir: keine Tiefkühlpizza im Haus. Eine herbe Enttäuschung. Mein Magen knurrte. Ich stellte einen Topf Wasser auf den Herd und suchte im Schrank nach Spaghetti.

    Tara beobachtete mich kühl.

    »Nudeln sind aus. Sonst hätte ich schon welche gekocht. Du musst einkaufen gehen.«

    Unbeirrt suchte ich weiter. Die Müdigkeit zog schwer an meinen Gliedern, ich wollte einfach nur noch essen und mich aufs Sofa fläzen. Und dann, bitte, in Ruhe gelassen werden. Die Schränke gehörten auch wieder einmal aufgeräumt, aber außer ein paar Gewürzgläsern und Bröseln schien nichts Essbares im Haus zu sein, nicht einmal Hasenbutter, wie ich verbittert feststellte.

    »Aufgegessen?«, fragte ich schwach und hob das ausgekratzte Glas hoch.

    »Hast du selbst aufgegessen, heute Morgen«, sagte Tara.

    »Übrigens, ich werde den Zweig wechseln.«

    Ich sah meine Tochter verwirrt an. »Wovon sprichst du?«

    Sie war zwar hübsch und sehr zart gebaut, aber weder ein Vögelchen noch ein Eichhörnchen, das am Baum von Zweig zu Zweig turnte.

    »Ich nehme nächstes Jahr Zeichnen statt Musik.«

    Nichts gegen Zeichnen. Ich liebte schöne Bilder, ich konnte durchaus etwas mit Museen anfangen und hatte Tara auch schon in Galerien mitgenommen, seit sie klein gewesen war. An unseren Wänden hingen Poster berühmter Werke von Picasso und Franz Marc, Klimt und Van Gogh - für Originale würde unser Etat niemals reichen. Aber Tara hatte, noch bevor sie sprechen konnte, gesungen, und zwar richtig, und sobald sie eine Flöte halten konnte, da war sie vielleicht drei Jahre alt, hatte sie ernsthaft musiziert. Mit sieben hatte sie ihr erstes Saxophon bekommen und seitdem musizierte sie in allen Stilen, sodass wir nicht nur einmal mit den Nachbarn Probleme bekommen hatten. Allerdings nur, was die Übezeit anging; nie hatte sich jemand über mangelnde Qualität beschwert. Seit sie neun Jahre alt war, hatte sie Jugendpreise gewonnen, und nun war sie an einem Gymnasium mit einem musischen Zweig. Nichts liebte sie mehr als Musik. Warum wollte sie ihren großen Traum aufgeben?

    Zeichnen hingegen … Niemand streicht gern die Schwächen seines Kindes heraus, besonders, wenn es gleichzeitig so auffallende Stärken gibt. Aber, um es ganz offen zu sagen, Tara konnte nicht einmal Strichmännchen so zeichnen, dass man erkannte, was gemeint war. Malen nach Zahlen war ihr zu mühsam, und nicht einmal in Geometrie konnte sie den Klassendurchschnitt erreichen. Ich verstand die Welt nicht mehr. Und zu essen fand ich auch nichts. Verwirrt starrte ich sie an.

    »Du musst einkaufen gehen. Die Spaghetti habe ich zum Frühstück vertilgt.«

    Einen halben Kilo Spaghetti zum Frühstück. War ich auch so hungrig gewesen in ihrem Alter? Überhaupt dachte ich in letzter Zeit häufig darüber nach, wie ich in Taras Alter gewesen war. Fünfzehn war sie jetzt, und mit fünfzehn war ich schwanger geworden. Als diese Tatsache im siebenten Monat endlich offenbar wurde, stellte der Arzt meiner Mutter gegenüber erstaunt fest, ich sei Virgo intacta - eine Jungfrau. Mir war diese Tatsache natürlich bekannt gewesen. Da meine Eltern sehr in ihrem Katholizismus verhaftet waren, versuchte ich mich auf den Heiligen Geist herauszureden. Leider glaubte mir niemand. Hunger? Ja, ich hatte mit fünfzehn schon viel Hunger gehabt, hatte diese Tatsache aber im Nachhinein auf die spät entdeckte Schwangerschaft geschoben. Ganz so peinlich, wie meine Eltern es darstellten, war das Ganze allerdings doch nicht. Immerhin war ich schon sechzehn, als Tara geboren wurde.

    Doch wenn ich sie mir heute ansah, und daran dachte, dass ich selbst in diesem zarten Alter … Ein Hauch von Verständnis für den damaligen Schock meiner Eltern streifte mich. Oder war es nur der Hunger?

    »Komme gleich wieder.« Ich schnappte die Schlüssel und das Portemonnaie und lief aus der Wohnung, die Treppe hinunter. Zum Glück hatte der Supermarkt an der nächsten Ecke noch ein paar Minuten offen.

    »Hallo, Lady, geheert die Vespa Ihnen?«

    »Nein.« Typischer Reflex aus meiner Kindheit. Nie irgendetwas zugeben. Du bist fünfzehn, bekommst ein Kind und stellst dich dumm: Keine Ahnung, wie das in mich rein gekommen ist. Heiliger Geist vielleicht? »Warum fragen Sie?«

    »Die Vespa steht genau hinter meinem Transporter, ich kann ni ausladen, hier, guggense selbor?« Er schob seinen Hut in den Nacken und öffnete die Klappe ein paar Zentimeter, bevor sie auf dem Lenker der Vespa auflag.

    »Der Besitzer wohnt nicht bei uns im Haus.«

    »Wö wöhntn der?«

    »Wie bitte?«

    »Wo wohnt der denn?«

    »Woher soll ich das wissen?« Meine Hand fuhr in die Hosentasche und tastete nach dem Motorschlüssel.

    Aber jetzt konnte ich sowieso nicht mehr zurück. Ich hatte doch schon alles geleugnet. Ich zupfte an meinem Ohrläppchen. »Stellen Sie sie doch einfach weg.«

    »Das Ding wiegt mindestens 200 kg.«

    »Ding? Die ist schön, die Vespa. Finde ich halt.«

    »Scheen wär wenn der Droddl die woannersch geparkt hädd!.«

    »Sie sind ziemlich beleidigend.«

    »Wos jucktn Sie dos? Ihnen gehörts dor angeblisch gorni.«

    »Ich muss jetzt los. Sie sind drei starke Männer, irgendwie werden Sie das Ding schon schaukeln.« Ich hastete über die Straße. So weit, so gut. Schnell die Nudeln kaufen, das Wasser kochte bestimmt schon.

    Als ich wieder zurückkam, war die Vespa zwischen den nächsten beiden Autos geparkt. Einer der Männer stand am Randstein und rauchte. Die Rückklappe des Transporters war offen. Ich lief ins Haus und sauste hoch. Zwei der Männer schleppten im Treppenhaus keuchend ein breites Sofa hinauf.

    »Kann ich schnell durch? Ich glaube, bei mir kocht gleich …«

    Ich rutschte, stolperte, taumelte, fiel auf das Sofa, das den Männern ausglitt und die Stufen hinunter segelte. Der Mann mit dem Hut, der das Sofa von unten getragen hatte, wurde beinahe mitgerissen, sprang irgendwie im letzten Moment hoch und landete schwer auf mir.

    Übereinander gestapelt holperten wir abwärts bis zum nächst unteren Treppenabsatz. Bei jedem Hops warf es ihn von Neuem auf mich. Das Sofa krachte, möglicherweise war ein Bein ab.

    Ich konnte meine Augen kaum von seinem durchdringenden Blick lösen.

    »Das hat wehgetan! Müssen Sie sich denn so breit machen auf der Stiege? Eine Frechheit ist das!«, keifte ich, um von meiner Verlegenheit abzulenken.

    Würdevoll schob ich ihn von mir hinunter, sodass er endgültig auf dem Steinboden landete, rappelte mich mühsam auf, strich meine Haare hinter die Ohren und stelzte hinan.

    An der offenen Wohnungstür stand Tara.

    »Bitte verzeihen Sie. So ist meine Mutter nun einmal.

    Daran müssen Sie sich gewöhnen, wenn Sie hier wohnen«, sagte sie entschuldigend.

    »Scheenen Tag noch, Frau Katastrophsky«, rief mir der Mann mit dem Hut nach.

    »Gleichfalls, Herr Guck-in-die-Luft!«

    »Kocht das Wasser schon über?«

    Ich stürzte in die Wohnung. Tara hatte zwar die Gasflamme klein gedreht, aber viel Wasser war nicht mehr im Topf. Inzwischen war mein Hunger schon so beißend, dass ich die Nudeln trotzdem hineinkippte.

    »Salz!«

    Offenbar war ich schon in dem Alter, wo die Kinder einen an alles erinnern mussten. Dass das so früh kam! Taras kulinarischer Beitrag zum heutigen Festmahl bestand darin die Ketchupflasche auf den Tisch zu stellen.

    »Für dich muss man sich immer genieren«, maulte sie.

    »Themenwechsel«, befahl ich. »Warum willst du in den bildnerischen Schulzweig wechseln? Du bist doch Musikerin durch und durch!«

    »Musik interessiert mich nicht mehr. Und im bildnerischen Zweig sind viel bessere Schüler.«

    »Ich verstehe dich nicht, es ist doch egal, welche Noten deine Mitschüler haben. Musik ist deine große Begabung. Ich dachte immer, du würdest …«

    »Das geht dich nichts an. Was war mit diesem Typen?«

    »Wie bitte?«

    »Der mit dem Hut, der auf dir gelegen ist, als du mit seinem Sofa abgestürzt bist. Ob der wohl hier einzieht?«

    »Das interessiert mich nicht. Er interessiert mich nicht.

    Außerdem stehe ich auf lange Haare. Der hat vielleicht gar keine Haare und trägt den Hut, um seine Glatze zu verstecken.«

    »Lange Haare sind total eklig«, sagte Tara mit angewiderter Grimasse.

    »Seit wann das denn?«

    »Das ist eine Generationsfrage. In der Steinzeit, als du noch jung warst, waren lange Haare vielleicht angesagt. Aber heutzutage sollen die Jungs anständige Kurzhaarschnitte haben.«

    »Wie sprichst du überhaupt mit mir? Ich bin immer noch deine Mutter! Und ich war nicht in der Steinzeit jung, ich bin überhaupt noch ziemlich jung.«

    »Erinnere mich nicht daran, das ist so peinlich!«

    Darauf wusste ich keine Antwort. War es mir selbst peinlich? Nein, auf keinen Fall. Meine Eltern hatten mich damals ganz schnell in eine Institution des Jugendamtes abgeschoben, in der man uns nicht als schwer erziehbar titulieren durfte, aber genau das über uns dachte. Ja, einige von uns waren etwas ungehobelt, und auch ich war in dem Alter nicht unbedingt der Wunschtraum einer gutbürgerlichen Familie gewesen. Und jetzt, wo Tara im Alter der gesteigerten Kratzbürstigkeit war, war das gemütliche familiäre Zusammensein auch für mich nicht immer das Gelbe vom Ei. Und doch: Was müsste sie tun, damit ich sie abschieben würde? Dass ich sie im Stich lassen würde, zusammen mit einer Aufgabe, die sowieso zu groß für einen einzelnen Menschen war?

    Ich war mit sechzehn Jahren trotzig genug gewesen, um mich ganz bewusst nicht zu schämen. Die Reue kam vielleicht mit Anfang zwanzig, als ich völlig auf mich allein gestellt dieses Kind, dieses entzückende Kind, versorgte, während ich gleichzeitig jeden nur erdenklichen Job annahm, um uns über die Runden zu bringen. Natürlich hatte Tara auch einen Vater. Daniel war nicht der Heilige Geist, er war genauso jung und ebenso dumm gewesen wie ich.

    Meine Familie verdrängte die Situation, indem sie mich aus ihrem Leben drängte. Seine hatte eine bessere Methode der Verdrängung. Sie taten so, als wäre nie etwas geschehen. Für den jungen Vater war die Situation natürlich viel einfacher, weil er das Kind nicht für alle sichtbar in seinem Bauch trug. So konnten die Schönfelds tun, als

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