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Der Tod lauert an jeder Ecke: Durch Mark und Bein dringende Schreie
Der Tod lauert an jeder Ecke: Durch Mark und Bein dringende Schreie
Der Tod lauert an jeder Ecke: Durch Mark und Bein dringende Schreie
eBook820 Seiten12 Stunden

Der Tod lauert an jeder Ecke: Durch Mark und Bein dringende Schreie

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Über dieses E-Book

Konkret 40 lange Jahre machte ich einen weiten Bogen um den Ort des Grauens, insofern ich von meinem derzeitigen Wohnort auf der Schwäbischen Alb, ins Bayrische reiste. Dann im Juni 05 legten meine Frau und ich dieselbe Strecke zurück, wie gesagt vierzig Jahre danach, um mir endlich den Verlauf der Straße im Geiste einzubläuen und ich erschrak, konnte es kaum glauben, wie brutal abschüssig und kurvenreich das Stückchen Straße ist, auf der wir, mein Bruder Cosimo und ich, anno 65 jäh gestoppt wurden. Der VW-Käfer steckte bis zur hinteren Sitzbank unter der Vorderachse eines Lastwagens der Bundeswehr. Das schaurige Geschehnis in seiner Gesamtheit blieb mir einst verborgen, kurz zuvor nämlich, war ich eingeschlafen. Bei der Bergung, als ich in einen Rettungswagen der Bundeswehr hineingeschoben wurde, sah ich eine gespenstische Blaulichtorgie, mehr Erinnerung war nicht möglich. Wiederum zehn Jahre später, akkurat ein halbes Jahrhundert nach dem Entsetzen, wird dies Ereignis publiziert. Es war aber nur der Anfang eines Seuchenjahres. Der Tod war zur Stelle und verbreitete seinen Wirkungskreis, jedes Handeln wurde zu einem gefährlichen Abenteuer, eine halsbrecherische Autonummer hier und ein Niedergestochener dort, Hohn und Spott eines Falschspielers, Kontakte mit dem Boxsport und ein Opfer das im Koma liegt, ja die Liste des Spektakels kennt keine Grenzen. Und zu guter Letzt will ein vom Wahnsinn Umzingelter seinen Bruder töten, nicht mal das Flehen und Beten der Mutter kann ihn zur Vernunft bringen, Wahn und Torheit ringen um den begehrten Platz an der Tabellenspitze des Jähzorns, Marotten und Hirngespinste scheinen unaufhaltsam zu sein.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum23. Juni 2015
ISBN9783739251981
Der Tod lauert an jeder Ecke: Durch Mark und Bein dringende Schreie
Autor

George Wald

Der Autor des spannenden Buches: Das zähe Ringen um Gila; wurde in den Nachkriegsjahren am Rande der Schwäbischen Alb geboren. Er ist ein Bergmannskind und so wie alle Kinder der Knappen hatte auch er seine liebe Mühe und Not mit den Einheimischen. Die Bergleute waren a priori abgestempelt, sie wurden nicht als Gleichwertige angesehen, ja man nannte sie despektierlich nur die „Ausländer“. Schon im Kindergarten und später auch in der Schule wurden diese Kinder der Bergleute immer als Geringwertige angeschaut. Wenn in der Schule was gestohlen wurde, dann zeigte man vorschnell mit den nackten Fingern auf die Bergmannskinder, doch zumeist kam die Wahrheit auf andere Weise ans Tageslicht. Und doch ging der Autor seinen Weg, war in mehreren Berufen zu Hause, angefangen hat seine Karriere bei den Automechanikern, und zum Schluss hin wurde er schließlich ein achtbarer Betriebsleiter einer kleinen Chemiefabrik. Er hatte es zu etwas gebracht, ganz wie der Vater und all seine Geschwister. Sein Vater war ein Pfälzer und die Mutter wurde einst in Erlangen geboren. Sie wuchs in Nürnberg heran. Auch sie, die Mutter, wirkte permanent positiv auf den Autor ein, sie war eine ehrliche Haut, die in ihrem Leben nur die „Arbeit“ kannte. Das Leben des Autors war recht vielseitig, beruflich wie privat. Zwei Frauen spielten im Leben des Autors eine wesentliche Rolle, zum einen die hier in diesem Buch eroberte Gila und zum anderen seine heutige Frau Agathe, derweil die erste Frau schon im Januar 1997 verstarb. In den heutigen Tagen freilich, bezieht George Wald längst seine verdiente Rente. Zu seinem Lebenswerk hinzuzurechnen sind nicht nur seine Bücher, nein ganz nebenbei hat er sich ein stattliches Haus erbaut, größtenteils ohne Fachmänner zu engagieren, nein selbst ist der Mann. Es ist einzig die Kraft Gottes, die ihn durch die schwierigsten Phasen hindurchschreiten ließ, ja es gibt sie noch, die sich zu ihrem Glauben bekennen, ja ich, der Autor George Wald, bin oder ist römisch katholisch.

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    Buchvorschau

    Der Tod lauert an jeder Ecke - George Wald

    Paukenschlag

    Kapitel 1

    Immensurables Entsetzen

    Durch Mark und Bein dringende Schreie

    Als Cosimo von zu Hause losfuhr, an jenem zehnten Juni fünfundsechzig, stand Adam wie gesagt noch an der Haustür und schaute Cosimos Auto hinterher, das sich weiter und weiter von ihm entfernte und er verweilte regungslos dort, bis wir uns aus seinem Blickfeld entfernt hatten. Entgeistert, ja fassungslos stand er erstaunt und wie versteinert dort und wich keinen Zentimeter, und ich sah ihn im Geiste noch viel länger dort stehen, auch dann noch, als wir Geislingen schon verlassen hatten und wieder dachte ich mir, dass es eigentlich doch mehr als schade ist, dass das Miteinander nicht wunschgemäß, nicht friedlich funktionieren kann.

    Warum kann es nicht mehr so wie früher funktionieren, als wir immer gemeinsam auf Tour gingen? Warum ließen die beiden älteren Brüder immer wieder Unvernunft und Rücksichtslosigkeit einreißen und warum verschlechterten sie bewusst, durch gegenseitige Vorwürfe die Stimmung untereinander? Je älter und selbständiger sie glaubten geworden zu sein, desto größer war ihre verbissene und engstirnige Torheit. Wie so oft schon, fing alles ganz harmlos an und eskalierte dann, weil jeder der Beiden auf skurrile Art und Weise sich durchsetzen wollte. Beide waren hinterher gekränkt, wie so viele Male zuvor schon und nicht selten drohte der eine dem anderen mit entsprechenden Konsequenzen, das Resultat war öfter mal ein eklatanter Konflikt, natürlich nur verbaler Art. In diesem jetzigen Fall sah ich jene Meinung als die Richtige, die sich Cosimo auf seine Fahne geschrieben hatte. Freilich kann ich, wie Adam es getan hatte, den älteren Bruder fragen, ob ich ein Stück der Strecke fahren dürfe, aber wenn der dann, aus welchem Grund auch immer, meine Frage verneint, dann muss ich dies halt hinnehmen, muss die Meinung des Kfz-Besitzers annehmen und billigen. Und nachdem Adam sich zuvor schon so verhalten hatte, dass er Cosimos Bitte, als dieser Wochen zuvor mit Adams Auto ein Stück weit fahren wollte, rigoros und gnadenlos ablehnte, musste er sich nun auch erst gar nicht groß wundern. Ich verstand Adam beim besten Willen nicht. Wenn bei einer Omnibusreise jeder Reisender nur dann mitfahren würde, wenn er selbst auch ein Stück der geplanten Strecke fahren darf, dann säße höchstwahrscheinlich jede halbe Stunde ein anderer Chauffeur am Steuer und die Folgen wären unüberschaubar und mutmaßlich auch chaotisch, ganz abgesehen davon, dass dies versicherungstechnisch gar nicht ginge. Oder aber, wenn der Busfahrer die bittende Frage der Mitfahrenden verneint und eben niemanden fahren lässt, was der Verantwortung entspräche und jeder sich deshalb auf den Schlips getreten fühlen würde und lieber fern bliebe, würde der Busfahrer mit dem leeren Bus dem Urlaubsort entgegenfahren. Also was soll diese Sturheit einbringen? Warum kann nicht jeder von uns Brüdern alles Erdenkliche dafür tun, um eine Krise zum Guten zu wenden, oder erst gar keine entstehen zu lassen? Aber nein, stattdessen will jeder der beiden Älteren seinen Willen dem anderen aufzwingen, so als gäbe es auf der Welt nichts Schöneres als zum einen änigmatisch aufzutreten, sein Gegenüber möglichst zu provozieren und das Gegenteil von dem durchzusetzen, was dem anderen quasi am Herzen gelegen war oder liegt. Animositäten tauschten die Beiden, so wie beim Fußballspiel nach der Halbzeitpause die Seiten des Spielfeldes getauscht werden, ja sie bewarfen sich gegenseitig mit garstigen Vokabeln. Führt ein solch schwer zu verstehendes Handeln wider Erwarten trotzdem zum erstrebenswerten Lebensfrieden, zum verbundenen Frieden innerhalb der Familie, so grenzt bzw. grenzte dies an ein Wunder. Es darf aber die Frage erlaubt sein, ist dies eine sinnreiche, ausgeklügelte Lebenserfüllung? Nein gewiss nicht, nach meinem Dafürhalten wäre es angebracht, wenn auch mal einer der Brüder ganz einfach nachgeben würde. Warum also muss solch ein Verhalten, wo doch jeder von uns schon damals exorbitant wusste, dass die Familienbande stärker sein soll und auch stärker gelebt werden soll als alle anderen gesellschaftlichen Bindungen, weshalb also, wollten beide stets ihr Denken in den Vordergrund schieben? Warum versuchte sowohl der eine als auch der andere sich durchzusetzen und warum waren sie so engstirnig und hörten sich die jeweils andere Variante erst gar nicht an? Warum gibt keiner nach und warum versucht nicht einer der beiden Anforderungen an sich selbst zu stellen und eben dann erst an den Bruder, wenn überhaupt. Warum kam nicht einer auf den Gedanken, dem anderen etwas vorzuleben, etwas Stilvolles. Eine würdige Aufrichtigkeit und das Bemühen um Klarheit, die gelebte Wahrheit und ein ernstgemeintes kollegiales Ehrgefühl würde wahrscheinlich wie ein Wunder wirken. Jeder Einzelne wird gerade durch die Tugenden der Anderen zum guten Mensch, warum also will keiner den Anfang machen und was Gutes vorleben? Warum nur sieht jeder zuerst sein eigenes Bildnis? Jeder der Brüder ist doch in das Familiennetz sozialer Beziehungen eingebunden und dennoch glaubt jeder, ausgerechnet mit seinem Nächsten, mit seinem leibhaftigen Bruder in einer pflichtvergessenen, in einer leichtfertigen und sträflichen Holzhammermanier umgehen zu müssen. Leben wir denn in einer Welt, in der jeder jeden nach Herzenslust diffamieren, kränken und entblößen darf? In welcher durch gegenseitiges Herabsetzen und Vorwürfe-Machen der Gegenüberstehende beleidigt werden darf? Leben wir denn in einer solch misanthropischen, in einer lebensfeindlichen Welt, innerhalb der Familienbande, in welcher der aggressivere Bruder sich selbst in seiner hasserfüllten Blindheit zu einem Schamverletzer pervertiert?

    Genug davon, vielleicht ist es ja tatsächlich besser, wenn wir nur zu zweit ins Bayrische fahren, denn unter uns Zweien, unter Cosimo und George, da gibt’s mit hundertprozentiger Gewissheit keinen Streit. Es war schon verhältnismäßig spät geworden und wir würden vielleicht irgendwo unser Auto parken und versuchen, etwas zu schlafen. Auch für diese, für die später eingeplante und angestrebte Tätigkeit des Schlafens, war es mit großer Wahrscheinlichkeit besser, nur zu zweit zu sein, vielleicht wollte es der liebe Gott haarfein so haben. Doch an ein Schlafen war einstweilen noch nicht zu denken. Wieder fuhren wir, wie vor sechs Tagen schon, exakt dieselbe Strecke als wir mit fünf Mann hoch auf recht unterhaltsame Weise unsere Vergnügungsreise ins niederbayrische Pocking starteten. Gewiss sollte auch diese Reise mehr oder weniger ein Zeitvertreib mit hohem Unterhaltungswert werden, doch es war de facto so, dass eigenartigerweise zum ersten Mal seit Familiengedenken, solch ein Unternehmen mit nur zwei Personen und zudem in einem Käfer, angetreten wurde. Sicher brachte uns der VW-Käfer auch nach Pocking, aber mit fünf und eben nicht mit zwei Personen. Es waren die drei Übriggebliebenen der großen Wald-Familie, Cosimo, Adam und ich sowie noch Hendrik Zerwina und Kadir Lubanski, die den Sportkameraden vergangener Tagen, Francis Preston in seinem

    niederbayrischen Heimatort Pocking besucht hatten. Darüber aber machten wir uns jetzt keine Gedanken mehr, warum auch sollten wir in die Vergangenheit blicken, wo doch vor uns erneut etwas Besonderes liegen sollte und überdies leben wir schließlich immer in der Gegenwart. Diesbezüglich hieß dies im Klartext, einstweilen immer auf derselben Strecke bleiben, zunächst nach Amstetten, dann über Weidenstetten und Neenstetten nach Langenau.

    Umso besser der Leser die Handlung des in seinen Händen liegenden Buches versteht, desto größer ist die Freude die sich Seite für Seite entfaltet und je mehr er sich in die vorkommenden Personen hineindenken kann und eventuell erahnt, wie der Einzelne so tickt und die gesonderten Charaktere in viele verschiedene Richtungen ausarten, um sich erfolgreich zu repräsentieren und umso mehr der Leser jede einzelne Romanfigur mit zunehmender Zeit noch besser kennenlernt, desto besser wird er das Buch auch bewerten. Für den Leser der zum ersten Mal ein Buch aus meiner Feder liest ganz besonders, aber auch für die große Mehrheit der Leser die mich persönlich kennen und auch für die jetzt neu hinzugekommenen Leser möchte ich bezüglich dieses Titels ein kleines bisschen Aufklärungsarbeit leisten. So lasst mich zurückblicken und folgendes erklären: Die hier beschriebene Wald-Familie ist oder war ein großer Familienkreis, mit vielen Verästelungen bin ich geneigt zu sagen. Hauptsächlich und nirgendwo besser lässt sich die Verästelung beim Betracht der Kinder dokumentieren. Unser Vater wurde 1903 in der Westpfalz geboren. Als er seine erste Frau heiratet, war diese, die ebenfalls schon ledig Wald hieß, bereits Mutter eines Sohnes. Sie hatte den Buben, welcher Abraham hieß, wie man so schön zu sagen pflegt, mit in die Ehe gebracht. Zur selben Zeit hatte unser Vater schon auf Kriegseinsätze zurückblicken können, im letzten Viertel des ersten Weltkrieges befand er sich an der Westfront. Nach diesem dramatischen Intermezzo, wo er sich in großer Gefahr befand, wie alle Soldaten bin ich geneigt zu sagen, besonders jedoch sind die noch Unerfahrenen gefährdet, ja sie befinden sich in purer Lebensgefahr, für die Ideologie der Machthabenden, die unfähig sind, um Diplomatie walten zu lassen. Der Krieg findet aus meiner Sicht immer durch ein menschliches Versagen statt, wenn größtenteils auch durch ein beabsichtigtes Versagen und die Dummen oder die Kleinen des Volkes müssen dafür den Kopf hinhalten. Ja nach diesem Intermezzo also, um zum Ursprungsgedanken zurückzufinden, zeigten die Walds nach und nach dem Vaterland die kalte Schulter, indem zunächst Jakobus als gelernter Bergmann das Leben in der Fremde testete und danach den Seinen grünes Licht anzeigte und signalisierte, dass das Leben in Luxemburg durchaus lohnend sei. Er hatte in dem Großherzogtum eine recht gut bezahlte Arbeit gefunden. Politisch waren die Spielregeln nach dem Krieg noch nicht ganz gefunden worden, doch bis die Walds sich entschieden hatten war der weitere Werdegang des Großherzogtums abgesichert, ja selbst die Frauen konnten sich ab 1919 über die Wahlberechtigung freuen, recht fortschrittlich muss man eingestehen, natürlich galt das Recht nur für die Einheimischen.

    Folglich sind auch die nächsten drei Kinder, Hans, Mia und Berna in Luxemburg zur Welt gekommen. Noch zwischen den beiden Weltkriegen kam das Familienoberhaupt dem Ruf Geislingens nach, wo in der Grube Karl auf dringlichste Weise gelernte Bergarbeiter gesucht wurden. Und da seine erste Frau bereits an einer Krebskrankheit verstorben war, man war eigens aus diesem Grunde wieder in die Pfalz zurückgekehrt - denn sterben wollte sie in der Heimat - nach 16 Jahren im Ausland, und um weiterhin gutes Geld zu verdienen, zog es Jakobus mit seinen drei Kindern, der Älteste war bereits volljährig und blieb in der Pfalz, wie eben erwähnt nach Württemberg, wo neuerdings in Geislingen an der Steige Eisenerz abgebaut wurde. Der Bergarbeiter Jakobus war ein Virtuose auf seinem Gebiet und mit seiner, sich im Beruf erworbenen oder angeeigneten Selbstsicherheit trat er auch im Privatleben auf, schließlich lag ihm viel daran, für seine drei Kinder, wobei die Mädchen noch sehr jung waren, eine Mutter zu finden.

    Nicht ganz unwichtig erscheint mir die Tatsache, dass man bei der Stadt Geislingen stets zu unterscheiden hat, dass in der oberen Stadthälfte die Geislinger wohnhaft waren und der etwas unterhalb liegende Teil der Stadt hieß Altenstadt. So hatte Altenstadt sogar seinen eigenen Bahnhof, er lag an einer Nebenbahn, die ins obere Filstal hinausführte. Dort, auf quasi den ersten Metern des ins obere Filstal mündenden Weges, war auch die Heimat der Bergarbeiter, die sogenannte Bergwerksiedlung und circa noch einen Kilometer weiter ins obere Filstal hineinragend befand sich der neue Arbeitsplatz, der Stollen der Grube Karl, so nämlich lautete der Name des Bergwerks. Im Zentrum von Altenstadt wohnte Jakobus in den ersten Wochen wenn nicht gar Monaten, bis dann endlich auch sein neues Heim fertiggestellt war, es lag in der Gelertstraße. Noch bevor er dort einzog lernte er eine hübsche Frau kennen, im Zentrum Altenstadts im Gasthaus Krone. Auch sie war eine Zugereiste, stammte ursprünglich aus Franken,

    war aber zwischenzeitlich im Raum Augsburg und ist des Überkinger Hotelwesens hier gelandet. Auch sie hatte schon Kinder, zwei Söhne, wobei der eine, nämlich Henry Breitinger in der Erzeugerfamilie in Augsburg aufwuchs, den Älteren aber, Paco, hatte sie quasi im Gepäck. Die Liebe war schnell geschlossen, allein schon aus dem einen Grund, weil es für die Kinder sinnvoll war, jeweils eine Mutter und einen Vater zu haben.

    Nochmals ging es für den Vater in den irrsinnigen zweiten Weltkrieg, aber ebenso nochmals sorgten die sich eben Gefundenen für Nachwuchs, denn auch aus dieser Ehe gingen Kinder hervor, zunächst zwei Mädchen und danach vier Knaben. Als schließlich meine Wenigkeit geboren, besser gesagt eingeschult wurde, ich war die Nummer elf aus zwölf, waren die Älteren größtenteils verheiratet oder sie hatten auf andere Weise das Elternhaus verlassen – um auf eigenen Beinen zu stehen und sich eine eigene Existenz aufzubauen – und so waren wir zur Zeit dieser Handlung nur noch zu dritt. Drei Buben, die Nummer 9; 10 und 11 in der Geschwister-Rangfolge, während die Nummer 8 (ein Mädchen) und die Nummer 12 (ein Junge) im Kindesalter verstarben. Somit war ich als die Nummer 11 der absolut Jüngste, der jüngste des Bergmannes Jakobus Wald, allseits bekannt als Jako.

    Cosimo war der älteste der übriggebliebenen Jungen, er war in diesen Tagen noch einundzwanzig, es trennten ihn noch knapp sieben Wohen vom Zweiundzwanzigsten. Ihm folgte der Rangliste gemäß Adam, der im vergangenen November seinen Zwanzigsten feierte, während ich, George, öfter auch wie Cosimo als der junge Jako Genannte, im Januar dieses Jahres siebzehn geworden war. Permanent war ich mit den Älteren unterwegs, verbrachte die größtmöglichen Zeiteinheiten mit den Freunden Cosimos, da meine Klassenkameraden der Volks- und später auch der Berufsschule richtiggehende Langweiler waren. Sie hatten nicht nur keinen Ausgang von ihren Eltern, nein sie hatten auch keinen Mumm und keine Courage, sie waren schlichtweg Schisser.

    Cosimo hatte seit seiner Schulentlassung als Stricker bei der Firma Wagner in Gingen an der Fils gearbeitet. Im Herbst letzten Jahres verlegte die Firma ihren Sitz ins Oberbayrische, Burgheim hieß der auserwählte Ort. Da Cosimo stets nur übers Wochenende zu Hause bei Mutter und den zwei Geschwistern zu finden war – ganz zu schweigen von den Kameraden, die ihm leider über die Werktage abgingen – zog er seine Konsequenz und er hatte demnach gekündigt, erst vor wenigen Wochen. Am ersten Juni war dann sein erster Arbeitstag im neuen Ambiente, hoch oben auf der Schwäbischen Alb, auf den sogenannten Heidhöfen nahe bei Böhmenkirch. Inzwischen schrieben wir den zehnten Juni und da die neue Arbeit sehr anstrengend war, hatte er sich krankgemeldet. Er wird sich in den nächsten Tagen erneut umschauen nach einer angemessenen Arbeit, was gewiss kein Problem sein wird, denn Deutschland befand sich in einer einzigartigen und bewundernswerten Prosperität, Arbeit gab es quasi an jeder Ecke. Diese Arbeit auf den Heidhöfen war nicht für einen Körperbehinderten gedacht. Das Überkopf-Arbeiten und dies überflüssigerweise auch noch im Akkord, da ist es geradezu selbstverständlich, dass Cosimo über kurz oder lang die Kräfte ausgehen.

    Adam, der andere Bruder, wollte eigentlich mitfahren, ja wir waren uns einig und das Reiseziel war auch von allen unisono akzeptiert worden, nur einen Haken hatte der Plan, denn Adam wollte über eine gewisse Zeit selber am Steuerrad sitzen. Dies aber hatte Cosimo abgelehnt, da er vor wenigen Monaten, als Adam in den Besitz von Cosimos Auto gekommen war, was Mutter seltsamerweise so entschieden hatte, genau dies hatte hinnehmen müssen. Ja Cosimo hatte keinen einzigen Meter mit seinem ehemaligen Auto zurücklegen dürfen, allein ein heimtückisches Grinsen und spöttische Augen bekam er von Adam angeboten. Nun aber sind die Zeichen der Zeit andersrum gepolt, man sieht sich halt immer zweimal im Leben, so lautete die Aussage Cosimos.

    Und so kam es zu der anfangs beschriebenen Szene, als Adam etwas traurig, aber auch mürrisch an der Haustür stand und dem Käfer Cosimos hinterherschaute.

    Adam war nicht mehr lange für uns ein lohnender Gesprächsstoff, seine Entscheidung, letztendlich zu Hause zu bleiben, war abgehakt, beim nächsten Mal, wenn wir wieder mal Entwürfe ausarbeiten wird er natürlich wieder eingeweiht, schließlich sind wir ja Brüder. Nein es gab gewiss andere Themen, Themen über die zu sprechen es lohnte, die obendrein sogar Freude machten, wie beispielsweise Themen des Sports und explizit auch des Fußballs, da die Aufstiegsspiele zur Bundesliga anstanden.

    Langenau war passiert worden und dementsprechend waren Rammingen, Asselfingen und Sontheim die nächsten Ortschaften und gleichermaßen waren es auch die letzten Orte auf württembergischer Seite, denen auf bayrischer Seite dann Gundelfingen und Lauingen folgten. Wieder erzählte mir Cosimo seine Erinnerungen aus der Adventszeit des letzten Jahres, als er hier zum Wochenbeginn an der Seite seines ehemaligen Chefs hindurchfuhr und prägnant diese Orte sich, im Weihnachtskleide, so prächtig geschmückt präsentierten.

    Jedoch die Adventszeit und die Weihnachtszeit lagen lange schon zurück, es war Frühjahr aber was für eines? Stets war das Hochwasser eine Gefahr, besonders für die Anwohner der Donau. Und da wir nun, gewissermaßen der Donau entlang flussabwärts fuhren, war insofern auch die Donau und das Hochwasser ein immer wiederkehrendes, ein brisantes Thema, denn spätestens in Donauwörth würde es eventuell brenzlig werden, so Cosimo. Doch bevor wir Donauwörth erreichten, mussten wir zuerst Dillingen, dann Hochstädt, Tapfheim und Erlingshofen hinter uns lassen. In Donauwörth angekommen, traf aber dann doch Cosimos Befürchtung zu, die Donau hatte die Macht über etliche Straßenzüge errungen, jedoch waren die Überflutungen abgesperrt, wenn auch das eine oder andere Mal ein freier Blick zur Donau möglich war, in der Finsternis allerdings, und so wurden wir aus Sicherheitsgründen auf einigermaßen trockenen Straßen umgeleitet. Mein Kopf ist heute noch voll von dem nächtlichen Anblick des Donauwassers. Ja es sah gar schrecklich aus und sie blieben bis heute, die Hochwasser-Erinnerungen von Donauwörth, wie auch die Erinnerungen an den stets lustigen Cosimo noch lebhaft in meinen Hirnzellen zuweilen regieren. Noch vor Donauwörth hatte er eine Überraschung in petto, morgen im Laufe des Tages, so Cosimo, würde er mit einem Leckerbissen aufwarten, ein Schmankerl für das Auge. Er wusste nur zu gut, mit welch intensiver Leidenschaft ich geneigt war, die aufschlussreichen Sehenswürdigkeiten dieser Welt zu bestaunen und er hätte da was ganz Besonderes, ein renommiertes Kulturgut, anzubieten, sprach er mit neugierig machenden Emotionen. Und er fuhr fort, dass es zwar nicht Paris oder Rom sei, was er mir anzubieten hätte, aber gewiss doch sehenswerte Arkadengänge und Wandmalereien eines bekannten Künstlers und zudem ein gotisches Kreuzrippengewölbe gäbe es allemal zu besichtigen, sofern wir die Mühe uns machen und die Kreisstadt Neuburg an der Donau aufsuchen würden. Im dortigen Schloss, welches einst die Residenz der Fürsten von Pfalz-Neuburg war, gäbe es diese und weitere lohnenswerte Dinge, er selbst sei erst kürzlich mit seinem ehemaligen Chef dort gewesen und es würde sich auf jeden Fall lohnen. Natürlich stimmte ich zu, wunderte mich aber, noch nie was davon gehört zu haben, aber andererseits wusste ich sehr wohl, dass es auf der Welt noch sehr viel Sehenswertes geben wird, von dem ich nichts ahnen würde, wie denn auch? Zumeist geht das Interesse, welches man für Sehenswürdigkeiten aufbringt hin zu den ganz großen Hits wie das Schloss Neuschwanstein zum Beispiel, und wenn man sich gelegentlich auch Sehenswürdigkeiten kleinerer Kategorien anschaut, so zumeist in den Zonen der klassischen Touristen- und Urlaubsgebieten, oder in heimischen Gefilden, nach dem Vorbild der Schulausflüge. Also würde das von Cosimo erwähnte Schloss am Bodensee oder am Waldgangsee sich befinden, so hätte ich selbstverständlich auch schon davon gehört oder gelesen. Neuburg an der Donau jedoch, war normalerweise nicht das von mir auserwählte oder auserkorene Ziel, wo ich zwei oder drei Wochen Urlaub hätte verbringen wollen, da hätte ich dann schon eher wieder nach Regensburg hintendiert, aber ich war noch jung und hatte längst nicht ausgelernt, in puncto Sehenswürdigkeiten. Und so wusste ich bis hierhin nicht, dass Neuburg als eine Perle an der Donau in exquisiten Kreisen gehandelt wird, wusste nicht, dass hier die Anfänge der deutschen Renaissancearchitektur zu finden sind, dass auch eine relevante, frühbarocke Einturmfassade mit ihrem pilistergegliederten Unterbau den Schlossplatz prägt, dass im Inneren der ehemaligen Hofkirche St. Maria italienische Stuckateure und Maler mitgearbeitet haben und Barockstuckateure der Wessobrunner Schule an der Orgelempore beteiligt waren, schlichtweg ich wusste so viel wie gar nichts und dennoch oder gerade deswegen, stimmte ich Cosimo zu, ja natürlich will ich das sehen und natürlich schauen wir uns dies miteinander auch an. „Gewiss werden wir uns das Schloss ansehen, sowie auch die alten Patrizierhäuser und auch die Rokokostuckaturen", schwärmte Cosimo in den höchsten Tönen.

    „Ja natürlich Cosimo, klar schauen wir uns dies alles an, ich bin doch schließlich kein Kunstbanause, ja ich freue mich darauf", gab ich ihm anschließend zu verstehen.

    So schön langsam näherten wir uns Burgheim. Ich bemerkte wie er aufblühte, mental gesehen, bemerkte es mit ehrlicher Bewunderung. So also sieht jemand aus der einen Arbeitsplatz innehatte, welcher ihm Anerkennung, Zufriedenheit und Menschlichkeit bot, an welchem er Wärme erfuhr, dessen Erinnerungen ihn rührselig werden ließ, ja es ist weiß Gott schön, dass es solch beglückende und heimelige Arbeitsplätze gibt, auch wenn ich selbst noch niemals diese Erfahrung kosten durfte, die sicherlich einen höheren Sinn in sich bergen. Ganz entgegengesetzt erging es ja bekanntlich mir in der Lehre, aber auch meine mentale und körperliche Verfassung war glasklar und evident entgegengesetzt, sobald ich nur an die verrückte Welt der Thibauts dachte. Doch jetzt, nach der anstrengenden Fahrt durch die vom Hochwasser bedrohten Zonen, fühlte ich mich müde werdend. Und so versuchte ich auch das Gespräch in diese Richtung zu lenken, versuchte es Cosimo nahezulegen, dass ich gepackt bin von der Müdigkeit, vielleicht wäre es besser, auf einem nahegelegenen Parkplatz eine Rast einzulegen. Mittlerweile war es kurz vor Mitternacht und gleichwohl ich gründlich korrekt wusste wie spät es ist, beugte ich mich zur Seite um auch die Uhr am Armaturenbrett besser sehen zu können, das Hinabbeugen sollte meiner Aussage noch ein bisschen mehr an Bedeutung zukommen lassen, und demzufolge sprach ich es auch direkt an: „O meinGott! Mensch Cosimo, es ist ja schon gleich zwölf Uhr in der Nacht, schon so spät!"

    „Ja ich weiß, hörte ich Cosimo „aber wir haben ja überhaupt nichts zum Trinken im Auto. Ich gebe dir ja Recht und habe auch dieselbe Meinung wie du, ja wir werden irgendwo auf einem Feldweg am Waldesrand uns ein Plätzchen suchen, um ein paar Stunden zu schlafen. Ich habe da auch schon eine konkrete Idee, lass mich nur machen, ich finde das richtige Plätzchen, etwas näher bei Neuburg, denn was wollen wir auch jetzt in Neuburg. Wenn die Dunkelheit die Sehenswürdigkeiten verschluckt dann ist selbst Paris oder London nur Mittelmaß. Mitten in der Nacht ist es in den Städten nur für Ganoven interessant! Zunächst kaufen wir uns noch unser Trinken. Und wo kann ich am besten das Trinkbare kaufen, na was meinst du, ja präzise in unserem vertrauten Lokal, exakt dort, wo ich Woche für Woche gewohnt, wo ich Nacht für Nacht gelegen bin, wo ich mein Zimmer hatte und wo alle mich kennen, denn die freuen sich bestimmt, mich mal wieder zu sehen. Sonst gibt es ja kaum mehr eine Möglichkeit, um Bier und Wasser zu kaufen. Hier in meiner alten Bleibe weiß ich wenigstens, dass ich zu dieser Uhrzeit noch anstandslos etwas bekomme. Danach können wir immer noch schlafen, wir finden gewiss einen geeigneten Platz dafür. George es dauert nicht mehr lange, du wirst es sehen!

    „Dafür bin ich dir jetzt schon dankbar. Ja es stimmt, ich bin recht müde geworden, aber mach dir wegen mir keinen Stress Cosimo, wir haben alle Zeit der Welt!"

    „Siehst du, da vorne ist schon die gelbe Ortstafel, das also George, ist Burgheim. Freilich habe ich dieselben hinweisenden Wörter schon vor sechs Tagen ausgesprochen, doch da war das Auto vollbeladen, heute jedoch sind wir unter uns, da kann sich der eine besser auf den anderen konzentrieren und auch besser zuhören. Da drüben ist unsere Strickerei. Ich sage noch immer >>unsere<< Strickerei, obwohl ich gar nicht mehr hinzugehöre. Es rutscht mir halt immer wieder so raus, die Strickerei war ja auch weiß Gott lange genug meine zweite Heimat. Auch das oberbayrische Burgheim war fast schon zur zweiten Heimat geworden, auch da rutscht mir das >>Unsere<< hin und wieder noch raus, unser Burgheim und unsere Gaststätte!"

    „Das kann ich weiß Gott gut verstehen, es würde mir bestimmt nicht viel anders ergehen!" Er hatte zuvor auch noch den Namen dieser Gaststätte hinzugesagt, der mir aber zwischenzeitlich nicht mehr wirklich in Erinnerung ist, was ich eigentlich als schade empfinde, aber ebenso gut kann man dies aus neutraler Sicht auch nachvollziehen.

    Er erklärte mir noch dies und das, da der Friseur und dort der Bäcker, hier eine Kneipe und dort eine Kneipe, es machte ihm ganz augenscheinlich großen Spaß, auf diese Weise den Reiseführer zu spielen. „Morgen werde ich dir noch mehr zeigen und du wirst auch neue Menschen kennenlernen, sehr nette Menschen sogar, mit denen ich so manchen Spaß schon teilen durfte, sprudelte es weiter aus ihm heraus. Ja die Ankunft in Burgheim stimmte ihn suggestibel, mit rapider und hurtiger Geschwindigkeit stürmte er in ein Stimmungshoch, sein Gemütszustand schwang sich himmelhoch und er ließ seiner Begeisterung freien Lauf. Trotz meiner Mattheit und der nachlassenden Willenskraft hatte ich nach wie vor meine Freude an ihm, teilte quasi seine ausgezeichnete Laune, was ihn freudetrunken und hochbeglückt werden ließ. „Heute freilich ist es schon zu spät, um eine perfekte Dorfaufklärung noch zu inszenieren, das verschieben wir auf morgen. Heute muss ich froh sein, wenn ich noch was Trinkbares kaufen kann, was ich freilich in der Gaststätte tun werde, in welcher ich ein alter Bekannter und gern gesehener Gast auch bin. Ach was, wer wenn nicht ich sollte da noch was bekommen? Ist doch wohl klar, dass alle meine Wünsche erfüllt werden, gab er mit ausgelassener Emotion von sich, ganz so, als sei er ein hochbegabter, bei guter Laune sich befindender Gemütsathlet.

    Noch immer sehe ich akkurat im Geiste vor mir, wie Cosimo in seinem Wunschort >>Burgheim<< zu später Stunde, auf der heutigen Bahnhofstraße, welche seinerzeit noch die Bundesstraße sechzehn darstellte, in Richtung Straß beziehungsweise Neuburg an der Donau fahrend kurz nach rechts einbog, um danach unmittelbar vor diesem Gasthaus X zu parken. Ja ich habe hier das >>Gasthaus X << geschrieben und zwar deshalb, weil ich mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern kann, wie jenes Gasthaus wirklich hieß, gleichwohl ich etliche Wochen später dort selbst noch einkehrte, doch dazu später mehr.

    Hier also war er über ein halbes Jahr zu Hause, hier war er ein Bekannter, vielleicht sogar ein Vertrauter. „Ich brauche nicht lange", sagte er sich an mich wendend, stieg aus und bewegte sich hin zu jener gerade beschriebenen Gaststätte X, die ihn dann auch gleich für meine Blicke geschluckt hatte, weg war er.

    Ja, an eine korrekte, musterhafte und vorbildliche Einkehr war nun unter keinen Umständen mehr zu denken, es war wie gesagt unter der Woche und zudem nur wenige Minuten vor Mitternacht. Er wollte nur zur Theke schreiten und etwas einkaufen, zwei Flaschen Bier und zwei Flaschen Mineralwasser, so sah es seine Intention vor. Es würde nicht lange dauern hatte er ausdrücklich noch gesagt, womit ich mich veranlasst sah, mich zusammenzureißen und wachsam zu bleiben. Die Musik die aus dem Radio drang nahm ich in mir auf, ebenso noch die Nachrichten um Mitternacht und dann erneut die Musik, dies alles, so dachte ich, wird meine Absicht des Wachbleibens erleichtern. Der bayrische Rundfunk spielte Schlager der vergangenen Jahre und ich hörte, mit höher schlagendem Herz so manche Melodie, die mich an den Wörthersee und an die hübsche Brigitte erinnerte. O wie schade, dachte ich einmal mehr, war es vielleicht doch ein Fehler mit der bildschönen Wienerin Schluss gemacht zu haben? Wäre es umgekehrt gewesen, hätte also sie mit mir Schluss gemacht aus irgendwelchen Gründen heraus, ich hätte gramgebeugt meine geistigen Flaggen auf Halbmast gesetzt. Ach hätte ich es doch nie getan, warum nur kam ich zu dieser Entscheidung? Brigitte, das hatte ich doch gefühlte tausend Mal schon, wenn auch kritisch, herausgefunden, war kein gewöhnlicher Flirt für mich. O nein gewiss nicht, sie hätte weiß Gott eine Fortsetzung unserer einst so fein geschliffenen Liebe verdient gehabt! Ja unsere Liebe war entzückend, sie war teils beschwingt und teils anmutig, sie war ästhetisch und geschmackvoll, vor allem aber war sie rein und unverbraucht! Warum nur, so sinnierte ich, sah mein Dekret so abgestumpft aus? Warum fand ich keine Alternative? Ich war doch sonst nie so verletzend, so eisig und völlig ohne Gefühle. Ich glaube ich habe mich, durch welche Umstände auch immer, für das Verkehrte festgelegt! Ja mein so getätigter Machtspruch kam mir nun barbarisch vor. Einen kurzen Prozess zu machen hatte Brigitte nicht verdient, eine Resolution durchzuführen war nicht wirklich begründet. Es gab in der Geschichte schon ganz andere Beispiele, was sind schon sechs- oder siebenhundert Kilometer? Wenn ein Herz einen Wert hat, dann darf so eine Liebe nicht gelöscht werden, nicht aus solch fadenscheinigen Gründen heraus. Du hast ungerecht gehandelt George, so waren meine Gedanken streng an mich selbst gerichtet, in einer massiven Stärke, dass allein deshalb es nicht möglich schien, um in den Schlaf zu finden. Zwischendurch wie gesagt, wurden die mitternächtlichen Nachrichten kundgegeben, natürlich auch mit den Hochwassermeldungen und den Pegelständen entlang der Donau.

    Ich dachte dadurch von meinem gedanklichen Kurs abweichen zu können, doch erneut ging die Schlagerpost ab. Der im letzten Jahr von Greetje Kauffeld gesungene Schlager ertönte leise: Wir können uns nur Briefe schreiben. Nochmals rief der Radio mein Interesse wach, die niedliche Stimme kam mir vor wie ein autoritäres Gewissen und ich fühlte die Gegenwart so, als sei ein erbarmungslos barscher Richter vor mir positioniert. Es folgte dem Hochwasser zufolge ein Interview mit irgendeinem Politiker und beim erneuten Pegelstand von Donauwörth entglitten mir die teils süßen aber auch die bitter schmeckenden Gedanken vom Wörthersee, dort nämlich lernten wir uns im letzten Sommer kennen und da das Gewissen bis hierher so strafend mir vorkam, war ich froh darüber abgelenkt zu werden. Dies aber war nun wirklich kein Wunder, mussten wir doch eben noch in Donauwörth den Umleitungen folgen, um nicht selbst im Wasser stehen oder stecken zu bleiben. Aber bald schon, schien wieder die Musik im Vordergrund zu stehen, doch es wurden mittlerweile noch ältere Schlager zum Besten gegeben und so wurde es für mich zur Monotonie. Meine Müdigkeit war schlechterdings in eine Phase getreten, in welcher man im Allgemeinen stehend einschläft. Ich musste mich förmlich zwingen, meine Wachsamkeit aufrecht zu erhalten. Endlich, nachdem schon gut und gerne zwanzig, eher aber dreißig Minuten vergangen waren, vielleicht sogar noch etwas mehr, kehrte Cosimo mit einer Einkaufstüte zurück, die er bedacht, mit eingeplanter Überlegungsstrategie, sanft wie ein Glaspendel hin und her schwenken ließ, mit dem markanten Lächeln im Gesicht, das ihn fast immer und fast auf all seinen Wegen begleitete, so wie ein Hund dem Herrchen. Das lebhaft Aufgeweckte, das glückselig Freudestrahlende in seinem Antlitz, das stets vergnügliche und fidele Lächeln, das gewissermaßen, wie es schien, sein staatlich geschütztes Markenzeichen war, das so spitzbübisch Schmunzelnde war wie ein stets eskortierendes Geleit und kaum dass er saß hörte ich ihn sagen: „Na George, du bist ja tatsächlich noch wach, aber ich sehe es dir an, du hast dich bestimmt sehr gelangweilt, oder?"

    „Nein so sehr auch wieder nicht, im Gegenteil, ich habe schöne Musik gehört. Zum Teil wunderschöne Schlager aus vergangenen Zeiten, die sicherlich auch dir was bedeuten. Du solltest mal wieder, so wie früher, dein Akkordeon hervorholen und die schönen Melodien selbst spielen, da würdest du mir eine riesige Freude bereiten. Aber heute gewiss nicht mehr, ja zugegeben, ich bin in den letzten Minuten unglaublich müde geworden, so ganz ohne Zwiesprache. Wenn ich nicht achtgebe, werde ich womöglich noch während des Sprechens einschlafen!"

    „Tut mir leid, aber ich habe da noch ein paar Kumpels getroffen, die konnte ich auch nicht einfach stehen, oder besser gesagt sitzen lassen, so ganz ohne Kenntnisnahme und ohne ein paar Worte gewechselt zu haben. Und es hat sich in der Tat gelohnt ein wenig Zeit zu investieren, das Geschehen am Stammtisch war nämlich noch ganz schön heiter. Willst du, dass ich dir‘s erzähle um was es ging?" Zwischenzeitlich hatte er die eingekauften Getränke verstaut und war bereit zum Losfahren.

    „Nein Cosimo, du musst dich zum einen nicht entschuldigen, ist doch klar, dass du nicht wie ein Fremder an ihnen vorbeigehen kannst, aber um zum anderen zu kommen, sei mir bitte nicht böse, heb dir deine Erlebnisse und deine Erzählungen für morgen auf, ich bin zu müde um ordentlich zuzuhören, bin sozusagen stehend k. o. Macht dir’s etwas aus wenn ich mich flachlege, um etwas schlafen zu können?"

    „Nein natürlich nicht, was soll mir das ausmachen? Mach dir den Liegesitz zurecht und schlaf schon mal im Voraus. Bei der nächstbesten Gelegenheit, sowie ich einen Parkplatz oder was Ähnliches finde, werde auch ich eine oder zwei Stunden schlafen, aber zuvor werde ich mir, in aller Ruhe, den lange schon ersehnten Kolben genehmigen, besser gesagt einen der beiden, welche ich hier soeben gekauft habe!"

    Der eben von Cosimo erwähnte Kolben war natürlich eine Flasche Bier. Ja er war heute den ganzen Tag über standhaft geblieben, hatte auf jegliche Art von Alkohol bewusst verzichtet, um eben diese Fahrt in die Tat umzusetzen und wenn er anschließend einen Parkplatz gefunden haben wird, dann kann er freilich, bevor er sich zum Schlafen legt, in aller Ruhe eine Flasche Bier sich genehmigen, wir haben schließlich Zeit ohne Ende.

    In der Zwischenzeit hatte ich flink wie ein Wiesel den Liegesitz in die Waagerechte heruntergekurbelt und als ich folglich: „also dann, gute Nacht Cosimo", sagte, hatte er bereits den zweiten Gang eingelegt und hatte die ersten fünfzig Meter auf der Landstraße in Richtung Neuburg an der Donau hinter sich gebracht. Ich konnte just in diesem Moment nicht ahnen, dass im nächsten Augenblick die ganze Welt möglicherweise ganz anders aussehen könnte, dass wie durch Geisterhand ausgelöst, der Hebel des Schicksals umgelegt werden könnte, blinzelte vielleicht noch ein letztes Mal mit einem Auge, vor dem flott vor sich gehenden Einschlafen und konnte des Weiteren nicht ahnen, dass ich gerade eben vielleicht, Cosimo zum letzten Male so gesund wie ein Fisch im Wasser sehen würde. Ich muss, dem von der Polizei aufgenommenen Unfallbericht und meinen eigenen Recherchen zufolge ganz schnell eingeschlafen sein. Auch der definitive Unfallort ist ein tatkräftiger Beweis dafür, dass ich wirklich sehr, sehr schnell eingeschlafen sein muss, denn ich habe von einem Aufprall, der kurze Zeit später, entfernungsmäßig ausgedrückt, etwa fünfhundert Meter später schon erfolgte, ebenso wenig wahrgenommen wie das Schleudern unseres Autos, gleichwohl den Spuren zufolge eine solche Fahrt des Schleuderns unsererseits noch stattgefunden haben muss, bevor es schließlich zu einem schrecklichen Aufprall kam. Ohne etwas Wissentliches wahrgenommen zu haben, muss ich vom Schlaf aus direkt in die Ohnmacht gefallen sein, nachdem ich mir krachend den Schädel angeschlagen habe, ohne es wie gesagt wissentlich bemerkt zu haben. Als ich für wenige Augenblicke zur Besinnung kam, erfolgte quasi meine erste Registrierung von einem Vorfall dessen Schwere ich nicht einordnen konnte, denn was ich optisch und akustisch wahrnehmen konnte war lediglich die Tatsache, dass ich gerade aus dem VW-Käfer, der freilich nur noch ein total demoliertes Wrack war, anhand meiner Wahrnehmung relativ behutsam herausgezerrt wurde. Ich konnte mich später nur noch daran erinnern, dass eine Menge von Blaulichtern meine Welt des Straßengrabens und die finstere Nacht auf der Landstraße gespenstisch erscheinen ließen und unzählig viele Stimmen und Wortfetzen wirkten irgendwie fieberhaft aufgewühlt und hektisch auf mich ein. Ja ein wahrer Wirbel von aufgeregten Stimmen breitete sich aus und Wortfetzen überschlugen sich, so als sei ich in unmittelbarer Nähe eines italienischen Marktes.

    Natürlich registrierte ich sofort, dass etwas Furchtbares vorgefallen sein muss, war aber, wie bereits angemerkt, nach wenigen Augenblicken schon, durch eine erneut auftretende Besinnungslosigkeit jeder weiteren Einsicht abermals beraubt. Wie groß die Zeitspanne in Wirklichkeit war, bis ich wieder kurzzeitig das Bewusstsein erlangte, ist schwierig zu sagen, jedenfalls lag ich dann schon auf einem rollenden Bett und wurde durch einen langen Korridor hindurchgeschoben. An einer Wand erkannte ich eine große Uhr, erkannte auch temporär die Uhrzeit, konnte jedoch am darauffolgenden Tag mich nicht mehr mit Sicherheit entsinnen, wie spät es denn nun wirklich war, als ich durch den Korridor geschoben worden war. Nur eines war sicher: Da der Unfall sich relativ deutlich nach Mitternacht ereignet hatte, schrieben wir den elften Juni fünfundsechzig. Es kann oder muss nicht wundernehmen, dass auch dieses Erwachen nur eines für Sekunden war und wieder war ich sozusagen weg vom Fenster, weit entfernt von jeglicher Realität.

    Unbestimmte Zeit später geriet ich irgendwie in einen Zustand des Dämmerns und nur der individuellen, der charakteristischen Wichtigkeit der Ereignisse ist es tatsächlich zuzuschreiben, dass ich mich an diese etwas dämmrige Bewusstseinstrübung mit relativ signifikanter Bravour erinnern kann. Eine lieblich klingende Stimme, die kilometerweit entfernt zu sein schien, drang kaum hörbar an mein Ohr: „Bitte ganz ruhig bleiben, keine unnötige Aufregung! Sie hatten einen Verkehrsunfall und befinden sich jetzt im Krankenhaus der >>Barmherzigen Brüder<< in Neuburg an der Donau. Können Sie sich an das Zuvor erinnern? Wer sind Sie? Wie heißen Sie?"

    „O Gott, o Gott, um Himmels willen nein, nein das darf ich nicht sagen. Bitte nein!", reagierte ich stammelnd und ängstlich zögernd, aber ebenso auch schwach und ich glaube mir relativ sicher zu sein, dass ich anschließend gleich wieder geistig abwesend war.

    Doch irgendwann hörte ich die Stimme aufs Neue: „Warum glauben Sie, ihren Namen nicht sagen zu dürfen? Sie sind schwer verletzt, jedoch in besten Händen und wir helfen Ihnen, allerdings müssen wir auch wissen, wem wir helfen. Wir haben nichts Böses vor und wir meinen es nur gut mit Ihnen, also wie lautet ihr Name?"

    „Nein ich kann das nicht!" Und eruierend stelle ich im Nachhinein, auch aus heutiger Sicht noch klar, eine stoische Ruhe strahlte ich dabei nicht aus, die sieht gewiss grundsätzlich anders aus.

    „Sie brauchen keine Angst zu haben, wir wollen nur Ihr Bestes. Warum glauben Sie so fest daran, ihren Namen nicht sagen zu dürfen?"

    Ganz verschwommen nahm ich plötzlich die sprechende Gestalt, in Kopfhöhe rechtsseitig von mir, wahr. Aber ich konnte sie beim besten Willen nicht kategorisieren, war es eine Schwester oder eine Ärztin, war sie hübsch oder hässlich, jedoch die Stimme war eine herrlich hohe, gleich einem Engel. Meine folgende Aussage war eine ängstlich vibrierende: „Ich kann es nicht sagen, weil wir beide einen Krankenschein haben und schon deshalb, strenggenommen nicht so weit von zu Hause weg sein dürfen oder sollten und zudem zu dieser Uhrzeit. Nein bitte nein!"

    Ganz sanft, mit viel Zartgefühl streichelte sie meine rechte Wange und wieder hörte ich die fast schon vertraute Stimme: „Gut wir wissen jetzt, Ihr beide seid losgefahren, vielleicht im jugendlichen Leichtsinn, wofür Verständnis entgegenzubringen mir nicht schwerfällt, weil wir alle mal so jung waren, obschon der Krankenschein, wie du sagtest, ein solches Vorgehen eigentlich verbietet. Aber mein lieber Junge bleib mal ganz ruhig, der Krankenschein ist im Moment überhaupt nicht wichtig, er ist Nebensache, reine Nebensache, er soll dich nicht weiter belasten und zuweilen bekommt man auch Ausgang, obwohl der Arzt einen Krankenschein ausgestellt hat. Am besten aber, wir sprechen den Krankenschein erst gar nicht mehr an, den lassen wir ganz galant unter den Tisch fallen, weil er wie gesagt nicht wichtig ist. Was im Moment wichtig ist, das ist einzig und allein euer Leben. Wir, das Ärzteteam, müssen schauen, dass wir euer Leben retten, alles andere ist sekundär. Also längst haben wir erkannt, welch lieber Junge du bist und du machst bestimmt keinen Fehler, wenn du mir jetzt deinen Namen preisgibst!"

    So als lief gerade ein Film ab, mit sehr schlechter Bildqualität, denn nur verschwommen konnte ich sie, am Kopfende meines Bettes oder was immer es war worauf ich lag, mehr erahnen als erkennen, wie sie erwartungsvoll dastand, mit einem Stift in der Hand und auch einen Notizblock glaubte ich zu erkennen. So als würde sie mein Verlangen und meine Liebesbedürftigkeit in einer scheinbar aussichtslosen Klemme in Betracht ziehen, setzte sie ihr unaufhörliches, zärtliches Streicheln mit ihrer freien Hand fort, was mir förmlich gut tat und mich ungemein beruhigte, und ihre Liebenswürdigkeit empfand ich in schwerer Stunde so, als seien es die Hände der Mutter Gottes, die da liebkosten.

    „George, ich heiße George!"

    „Schön lieber George, prima, aber wie geht es weiter? Du hast doch sicherlich auch einen Familiennamen, oder etwa nicht?"

    „O nein, lieber Gott nein, muss denn das wirklich sein? Ich gerate in große Gefahr, auf der Arbeit und, und, und ich bin müde, kann nicht mehr, will nur mehr schlafen!"

    „Hast du denn keine Mutter, die möglicherweise Bescheid wissen möchte, die sich wahrscheinlich Sorgen macht und bestimmt auch wissen möchte, wo ihr abgeblieben seid?"

    Im selben Augenblick, so wie ihr letztes Wort gesprochen war, dröhnte ein markerschütternder Schrei durch den Raum, so verzweifelt laut, wie man es sich kaum vorstellen und wie man es auch kaum beschreiben kann: „Mamaaa! Und gleich darauf nochmal: „Mamaaa!

    Wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf mich dieser Schrei der Verzweiflung, den ich unverbrämt und unwiderruflich Cosimo zuordnen musste. Um Gottes willen, so durchfuhr es mich, was nur um Gottes willen ist mit Cosimo geschehen? Der momentanen Vergegenständlichung zufolge, muss etwas wirklich Zerstörerisches geschehen sein! Und wieder wurde ich schwach und schwächer, drohte zum wiederholten Male in einen Ohnmachtszustand zu sinken. Aus einer unendlichen Entfernung glaubte ich nun die Engelsstimme wieder wahrzunehmen, die mich mit einer exzessiven Geduld, aber ebenso mit einer übermenschlichen Gefühlswärme und andererseits mit zäher Beharrlichkeit am geistigen Wegtreten zu hindern versuchte, sie beabsichtigte mein weiteres Wachsein zu erhalten, wenigstens kurzfristig wie mir schien, um weitere Auskünfte zu erfahren und aufschreiben zu können. Wie in willenloser hypnotischer Trance, beantwortete ich peu a peu und nachgebend ihre Fragen. „Wald, George Wald ist mein Name und der, der hier drüben liegt, nur ein paar Schritte neben mir, ist mein Bruder, sein vollständiger Name ist Cosimo Wald!"

    „Und wo seid ihr zu Hause, welcher Ort ist euer Wohnort und welcher ist ihr Geburtsort?"

    „Wir sind aus Geislingen an der Steige, sind beide dort geboren und wohnen beide zusammen bei unserer Mutter in der Gelertstraße zehn! Starke Kopfschmerzen machten mir unheimlich zu schaffen, mein Kreislauf drohte erneut zu kollabieren und mich in eine Art Delirium zu versetzen, zumindest aber ließ die Unerträglichkeit der Schmerzen mich zuweilen stöhnend aufseufzen und ich musste, in meinen wenigen Darlegungen, permanent meinen Wortfluss unterbrechen. Meine Leidensmiene war wohl unübersehbar, worauf die Engelsstimme aufmerksam reagierte: „Es tut mir leid um dich, aber wir müssen zuerst nach deinem Bruder schauen, er hat die ungleich schwereren Verletzungen!

    Blinzelnd versuchte ich meinen Kopf zur Seite zu drehen und etwas anzuheben, und tatsächlich sah ich Cosimo wie tot daliegen. Dass er definitiv nicht tot da lag, konnte ich Sekunden später erneut hören, wieder schallte es unfassbar laut durch den Raum, den ich mittlerweile zu Recht als Operationssaal ausgemacht hatte, aber auch durch die gesamte Klinik schallte der ohrenbetäubend schrille Schrei: „Mamaaa!"

    Der Schrei, den ich mehrfach hören musste, klang so abscheulich grauenerregend, aber nicht die Tatsache, dass es der Aufschrei nach der Mutter war klang abscheulich, sondern die Verzweiflung die aus dem wehklagenden Schrei zu erkennen und herauszuhören war, das Grauenvolle und das Herzzerreißende, die panisch schallende Angst, die große Furcht vor der möglicherweise einsetzenden Sterbestunde! Und ich?, daliegend neben ihm, ohne ihm in gewohnter Manier oder nur im Entferntesten helfen zu können, machtlos, armselig machtlos, selbst entkräftet und ermattet, erbärmlich und kümmerlich wie ein Gelähmter, dürftig und selbst klagend, ein metaphysisches Gefühlschaos ohne Ausweg schlich sich schmerzlich und beißend durch alle Fasern meines Körpers. Alles, aber wirklich alles scheint nun hier an diesem Ort vorbei und verloren zu sein. Schreie die mir durch Mark und Bein gingen, die durch und durchgehend, durchdringend und durchbohrend waren, dass ich mit Fug und Recht behaupten kann, sie waren evident die Einleitung in mein existenziell schlimmstes psychisches Trauma, in meine grauenerregendste seelische Fraktur, welche ich je in meinem Leben hinnehmen musste. Zu der Schädigung des Körpergewebes durch äußere Gewalteinwirkung, den schweren Schädelverletzungen mit den Blutungen aus den Ohren, aus der Nase und teilweise auch aus dem Munde, kam nun auch noch dieser traumatische Schock, denn dieses verzweifelte und niederschmetternde Schreien nach der Mama, nach dem Schoße seiner Geburtsstunde, dieses Schreien ließ im Unterbewusstsein nichts Gutes in mir erahnen. Ein unerwünschtes und ineffizientes Spektakel aus meiner Sicht, schauderhaft und katastrophal, andererseits aber eine tragische Ausweglosigkeit aus dem tiefsten Innern Cosimos, ein Schreien nach dem Born des Lebens, nach den Wurzeln der Vorfahren, konkreter ein Schrei nach der Mutter, Schreie die durch ihre unvergesslich fatale Weise, sich tief in meinem Bewusstsein festsetzten. Es waren Schreie die meine Seele nicht nur kratzten, o nein sie erschütterten meine Nerven unerträglich durchdringend und einschneidend, sie hinterließen folglich eine traumatische Seelen-Quetschung, wirkten wie eine hochgradige Verbrennung, wie eine profunde Scharte, doch noch konnte ich nicht wirklich beurteilen, wie furchtbar dieser Seelenriss auf mein Inneres wirken könnte. Noch einmal, wie aus einer anderen Welt herbeikommend, drang zwischendurch wieder die Engelsstimme an mein Ohr: „Wo arbeitest du?"

    „O nein, o lieber Gott hilf mir doch endlich, oder lass mich ganz einfach dahinsiechen, ich will nicht mehr leben!"

    „Das dürfen sie so nicht sagen, sie sind ja noch so jung und bestimmt hat der liebe Gott noch etwas vor mit Ihnen! George wir helfen dir und du wirst sehen, es kommen auch noch bessere Tage. Aber wir benötigen nun mal deine Angaben und du hast ja auch bereits so schön einen Anfang gemacht, ohne deswegen von Extra-Schmerzen gepeinigt worden zu sein! Wo also ist dein Arbeitsplatz? Wie heißt die Firma in welcher du arbeitest oder in der du zur Lehre gehst?"

    „Ja, ja ich befinde mich in der Lehre, werde Automechaniker und stehe unmittelbar vor meiner Gesellenprüfung. Und dennoch wäre es mir lieb, wenn die Lehrherren nichts von alledem wissen würden. O lieber Gott wo bist du, Maria, Mutter Gottes steh mir bei! Es waren dies die letzten Worte, mit denen ich abermals dahinsank, nichts aber auch wirklich nichts nahm ich mehr wahr, eine tiefe Ohnmacht übermannte mich aufs Neue, ohne dass ich das Wort Thibaut" in den Mund genommen habe.

    Um die Mittagszeit des elften Juni erwachte ich aus meinem Tiefschlaf. Es war dies ein qualvolles Erwachen, selbst nicht eingehend wissend welcher Schmerz größer oder ausgeprägter war, jener am Kopf oder der typische Schmerz beim Atmen, der stechende Schmerz den gewöhnlich eine gebrochene Rippe verursacht, oder gar der abgrundtiefe Trübsinn, der kümmerliche Seelenschmerz und die große Ungewissheit um Cosimo. Kurze Zeit danach stand auch just schon eine Krankenschwester an meinem Bett, wahrscheinlich durch einen anderen Patienten des Zimmers informiert oder benachrichtigt, beziehungsweise durch einen Knopfdruck eines weiteren Zimmerkollegen, durch ein verantwortungsbewusstes Klingelzeichen also herbeigerufen. Mich interessierte in diesem Augenblick das >>Wie-des-Erscheinens<< dieser Person herzlich wenig, Hauptsache sie war da. Sie versorgte mich einstweilen mit schmerzstillenden Medikamenten und mit einer neuen Infusion. Sie war des Weiteren sehr nett, fast zu hübsch um den Kopf unter der Schwesternhaube zu verstecken und freundlich war sie obendrein und sie empfahl mir, den Körper möglichst ruhiggestellt zu lassen und im Bedarfsfall die Klingel zu drücken, insofern ich Hilfe benötigen sollte. So schnell sie erschienen war, hatte sie nach ihrem ambitionierten Engagement auch wieder das Zimmer verlassen. Vorsichtig schaute ich mich um, schielte nach rechts und nach links und stellte ungläubig fest, dass ich in einem riesigen Krankenzimmer mich befand, in welchem insgesamt unglaubliche neun Betten standen und jedes einzelne war belegt. Mein Bettnachbar gleich rechts neben mir stellte sich vor: „Hallo George, so heißt du doch, oder?"

    „Ja ich heiße George, hat sich wohl schnell rumgesprochen. Aber ja doch, bei Gott ja ich heiße George!"

    „Ich bin der Franz Hiermeier, also meinetwegen darfst du gerne Franz zu mir sagen!"

    „Hallo Franz, entfuhr es mir ganz mechanisch und ohne es selbst richtig gesteuert zu haben, folgte ebenso der Fragesatz, welcher einzig brennend und schwer wie Blei auf meiner Seele lastete: „Wo ist denn mein Bruder, wisst ihr wo mein Bruder ist. Warum ist er nicht hier, ich sehe ihn nicht, habt ihr vielleicht eine Ahnung wo er sein könnte?

    „So wie wir unterrichtet sind, liegt dein Bruder in einem anderen Zimmer!", kam es erneut von Franz rüber.

    „Okay", sagte ich mit schwächer werdender Stimme und bestimmt wären mir noch andere Fragen in den Sinn gekommen, wäre ich nur annähernd in einer besseren Verfassung gewesen, so aber kam es mir vor, als hätte ich eine Überdosis Schlaftabletten eingenommen. Wieder war ich im Land der Träume, wieder schlief ich, wieder vergingen ein paar Stunden.

    Es war Nachmittag geworden und ungefähr um fünfzehn Uhr öffnete ich wiederum meine Augen. Noch wirkten die Schmerzmittel, lediglich ein leiser Schmerz im Mund war spürbar. Mein Gott nein, zu allem Überfluss ist auch noch ein Zahn beim Aufprall abgebrochen, dachte ich mir, als ich es feststellend mit der Zunge abgetastet hatte. Am meisten aber fehlte mir Cosimo, der liebgewonnene, der seit vielen, vielen Jahren schon liebgewonnene Bruder, der Lieblingsbruder schlechthin. Meine Gedanken, die essentiell bestimmt waren von den Geschehnisse in der vergangenen Nacht im Operationssaal des Hauses, die sich festgefressen hatten durch die unbarmherzige Tenazität, die kontinuierliche Beharrlichkeit die von der Stimme Cosimos herauszuhören war, sie jagten unaufhörlich durch meinen Kopf, permanent und unvermindert und sie hatten sich entwickelt zu großen und quälenden Sorgen. Sie waren immerzu voller Ungewissheit und sie wurden zur Folter und marterten an mir, an meinem Nervenkostüm, dass es kaum mehr auszuhalten war. Die unbegreifliche Rätselhaftigkeit um sein Schicksal beschäftigte mich auf torquierende, auf peinigende Art und Weise, es war eine Folter ohne Ende und der Wunsch war augedehnt und immensurabel groß, wieder bei ihm zu sein, ihn zumindest lebendig mal zu sehen. War es nicht ein geringschätziger Hohn, uns in getrennte Zimmer zu legen? Die Erinnerungen der Nacht drangsalierten mich, das Geschehene war permanent da, die sonst edle Merkfähigkeit wurde zu einem desolaten Terrorismus, Reminiszenzen entfalteten sich zur Krise. Vor meinen Augen, lag ein unsichtbarer, ein bitterer Seelenschmerz. Das Unerforschte tat weh, ebenso wie auch die Schreie und die fesselnden Nachtereignisse wehtaten. Die unerklärliche Problematik ließ sich nicht so einfach vom Tisch wischen. Es war so ungefähr wie das Pfeifen im Ohr, welches für so manchen unerträglich ist. Ja es ist unerträglich, es ist ein Rätsel und man weiß nicht wo es herkommt aber es belastet den Patienten auf extreme Weise. Wieder sah ich ihn schemenhaft auf dem Operationstisch liegen und die grüngekleideten Ärzte arbeiteten fieberhaft an seinen Verletzungen, wie es mir schien, Genaueres konnte ich aber nicht sehen. Wie oft werde ich dieses nächtliche Bildnis noch vor meinen Augen flimmern sehen? Und wie oft noch werde ich das markerschütternde Schreien nach der Mama hören? Er wusste in seiner schwersten Stunde genau, wem er sein Leben in erster Linie zu verdanken hatte! Es war die Mama, die ihn einst Gebärende! Sie war es, die er huldigend angefleht hatte! Eine letzte Hommage? Kein George, kein Adam und kein anderes Geschwisterchen sehnte er sich an seine Seite, es war die Mama von der er Hilfe sich erhofft hatte, vielleicht aber zu spät! Denn gerade dieses Schreien nach der Mama war aus meiner Sicht ein äußert bedenkliches Omen. Aber wieso, um alles in der Welt, sollte dieser Franz Hiermeier mich anlügen? Irgendwie war seine Aussage überzeugend, hoffentlich, hoffentlich! Er sieht ganz passabel aus, mein Bettnachbar, ich glaube ich kann ihm trauen, ich glaube nicht, dass er mich angelogen hat. Mit diesen Vorstellungen riss ich mich gedanklich wieder raus aus meinen selbst gefertigten Operationsbildern und aus Bildern, die so nahe am Wahnsinn festsaßen. Es wird doch hoffentlich zutreffend sein, was dieser Kollege rechts neben mir sagte, dieser Franz Hiermeier. Aber die nächtlichen Verzweiflungsschreie? Immer wiederkehrend drangen sie mir durch beide Ohren. Ich hielt schützend die Hände vor die Ohrmuscheln und hörte das Schreien nichtsdestotrotz. Welche Bedeutung hatten diese unvorstellbaren Schreie des Entsetzens, diese Schreie nach der Mama, die ich jetzt in diesem Augenblick schon wieder vernahm? Es ist entsetzlich und es nimmt kein Ende und es schockt mich immer wieder aufs Neue, dieses langgezogene Mamaaa..…, so schrill und grell tönend. So als käme es von einem Lautsprecherwagen, welcher dem Befehl womöglich nachkommt, diese Schreie in die ganze Welt hinauszutragen, hinaus zu brüllen, hinaus zu schmettern, krähen und auch kreischen oder plärren und es rief einen Schrecken in mir hervor, so als sähe ich ein gespenstisches Szenario. Sollte ich dennoch zuhören? Ist es eine letzte Laudatio für die fürsorgliche Mutter? Ich schüttelte mich wie ein begossener Pudel und hielt mir, so als hätte ein Kind ein Gräuelmärchen erzählt bekommen, mit den Händen beiderseits schon wieder die Ohren zu. Die eben geschilderte Wahnvorstellung, das geschilderte Szenario hatte mich zudem hochschnellen lassen, so dass ich mehr saß als lag, voller Qualen gewiss, denn dieses blitzartige Hochschnellen kam der gebrochenen Rippe gänzlich ungelegen, was mich obendrein tief seufzen ließ.

    „Soll ich nach der Schwester klingeln?", hörte ich Franz Hiermeier sagen.

    „Nein danke, ist schon gut, lass es mal gut sein, ich brauche keine Hilfe mehr und überdies glaube ich nicht, dass mir überhaupt jemand helfen kann. O Mamma mia, mein Kopf!", antwortete ich mit schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck, denn das plötzliche Zusammen- und Hochfahren nach den imaginären Schreien tat de facto auch weh im Brustkasten, ach ja, da ist ja auch noch die gebrochene Rippe. Ein kurzes Einatmen und ein ebenso kurzes Ausatmen, so fand ich schnell heraus, halfen einstweilen, bis zur nächsten Medikamentenversorgung.

    Warum nur schrie Cosimo so verzweifelt nach der Mama? Warum schrie er nicht nach mir, da ich ihm doch gerade in dieser Nacht so nahe stand? Warum nicht nach Adam oder sonst nach jemand? Gott, auch Gott wäre eine Möglichkeit gewesen, er ist es doch gewöhnlich, an dem sich die Menschen gerne zu halten versuchen, sobald sie irgendwie in Not kommen. Aber es war definitiv nicht Gott, nach dem er schrie, determinativ war es eindeutig und zweifelsfrei die Mutter, welcher der jeweilige Schrei galt. War sie es, die vom ersten Tag der Geburt an die Vorbereiterin auf sein gesamtes Leben war? Ja gewiss, er sehnte sich zurück in den schützenden Schoß, durch den hindurch er einst entschlüpfte und das Licht der Welt erblickte. Ja doch, die Mutter wird immer die Mutter sein und bleiben, sie wird immer in der evolutionären Entwicklung der Mutterliebe der von Natur aus geeignetste Partner im mitmenschlichen Erlebnis des Kindes sein. Von der Mutter, die immer als erster Mensch an der Pforte der Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls steht, gehen immer auch die ersten Impulse für das Kind aus, wobei es unerheblich ist, welch einen Namen das Kind trägt. Nur durch sie wurden wir alle zu einem Teil des Ganzen, nur durch sie fanden wir alle ins Leben und nur durch sie fanden wir schließlich auch den richtigen Kontakt zur Umwelt, sie allein machte aus der Umwelt eine vitale Mitwelt und nur sie allein machte uns zu Mitwirkenden. Ihr haben wir alles zu verdanken, alles Wertvolle und alles Belanglose, ohne sie konnte und kann kein Leben und keine Familie entstehen und dorthin, zum Ursprung seines und allen Seins, sehnte er sich, jetzt am vermeintlichen Ende, intuitiv zurück. Aber bedeutet das nicht etwa, das vermeintliche Ende meine ich, dass Cosimo sich während der Schreie sehr wahrscheinlich in der Agonie befand? Und dass er demnach jetzt gar nicht mehr am Leben …! O lieber Gott nein, nein lass das bitte nicht wahr sein!!! Und wenn es so oder ähnlich gewesen sein sollte, dann bitte lass ihn diesen Kampf überlebt haben!!! schenke ihm, wenn es so sein musste und es anders nicht ging, o bitte, so schenke ihm ein Wunder!!! „Mensch George, mach dich doch nicht selbst verrückt!", so hörte ich mich selbst reden.

    „Hast du eben was gesagt George, hey Junge, geht es dir gut, soll ich die Klingel betätigen?"

    „Nein danke Franz, ja ich glaube ich habe gerade mit mir selbst gesprochen, ja Mensch, ich bin fix und fertig!"

    „Das heißt also doch einen Arzt rufen, oder George?"

    „Nein Franz, viel lieber würde ich meinen Bruder sehen, in welchem Zimmer liegt er überhaupt, schaffe ich das, was meinst du?"

    „Um Gottes willen nein, du hast strengste Bettruhe, du hast eine Infusion am Laufen, du musst im Bett bleiben und uns sagte man nur, dass dein Bruder in einem anderen Zimmer läge, in welchem weiß ich nicht. Das weiß keiner von uns und glaube mir, es war für uns ganz einfach nicht interessant, wir kannten euch doch zuvor nicht, wir wussten bis heute in den frühen Morgenstunden nicht, dass ihr beide existiert. Die Ärztin wird dir nachher sicher Bescheid sagen, bleib nur ganz ruhig Junge!"

    Spricht er die Wahrheit? Ich weiß nicht, aber irgendwie klingen seine Worte immer überzeugend. Er kommt mir keineswegs wie ein Lügner vor, weißt du was George, so mein Denken an mich selbst gerichtet, schenke ihm dein Vertrauen. Warum George, solltest du ihm kein Vertrauen schenken? Ja ich glaube, Cosimo ist dem Teufel nochmal von der Schippe gesprungen, er lebt, er hat den Kampf um Leben und Tod gewonnen, er hat den drohenden Untergang von sich abwenden können. George er lebt, sein Herz schlägt noch immer, der Todeskampf ist überstanden worden!

    Den angsteinflößenden und durch Mark und Bein hindurch dringenden Schreien der Nacht stand also ein kontroverser, ein echt nur winziger Strohhalm gegenüber, an den zu glauben ich deshalb aufrecht hielt, weil er, so wenig erörterungswürdig er auch war, meinem innigsten Herzenswunsch entsprach und das Entgegenstehende ich nicht wahrhaben mochte, nicht um alles in der Welt und um keinen Preis der Welt. Viel lieber ließ ich mich von den Worten des Franz Hiermeier indoktrinieren, Wörter, die nicht so viel Lebensabscheu enthielten, die mir eine winzige Hoffnung vermittelten. Aber dennoch, ich werde, so nahm ich mir vor, eine Schwester, oder noch besser die Ärztin fragen, sobald ich sie sehe, wie es denn bestellt ist um Cosimo. O du allmächtiger Gott ich muss es unbedingt wissen, muss die Wahrheit kennen, vorher habe ich keine Ruhe, er ist doch mein Bruder, mein Lieblingsbruder sogar, zumindest seit jenen schrillen Tagen, da Hans im Bergwerk ums Leben kam und nicht mehr unter uns zu finden war. Bleib nur ganz ruhig Junge, sagte Franz Hiermeier eben noch. Der hat vielleicht gut reden, nicht einmal sieben Jahre sind vergangen, als mein damaliger Lieblingsbruder in der Grube Karl auf tragische Weise ums Leben kam. Und nun? Cosimo? Was ist mit Cosimo? War es wirklich seine Agonie? Darf auch er nicht mehr auf Gottes Erde existieren? Ich möchte nichts sehnlicher als Franz Hiermeier glauben! Doch wer um Himmels willen, wer kann da schon ganz ruhig bleiben? Ich will Gewissheit haben und ich werde sie bekommen, sobald die Ärztin durch die Zimmertür schreitet, es wird definitiv meine erste Frage sein, so jedenfalls geht es nicht weiter.

    Das Schicksal verhielt sich in diesem Augenblick doch äußerst sarkastisch, denn ausgerechnet in meine umfangreichen Überlegungen, in meine unablässige und etwas bitter schmeckende Ungewissheit hinein und ebenso ausgerechnet auch in meine mir Mut machenden und mich stärkenden, in meine geistigen Hoffnungsambitionen hinein, nachdem ich die wildesten Gedankenverknüpfungen mittlerweile ad acta gelegt hatte, zuweilen jedenfalls, klopfte es an der Zimmertür. Auf ein mehrstimmiges „Herein wurde die Tür geöffnet und ich traute meinen eigenen Augen nicht mehr. Mutter, Adamo, Berna und Adam kamen mit einem freundlichen, aber ebenso mit einem etwas geknickten „Grüß Gott herein, abgegeben in alle Richtungen. Auch sie mussten erstaunt gewesen sein, über die riesige Dimension des Krankenzimmers. Würde ich nur die erste Sekunde ihres Auftritts, die allererste Sekunde nur, in tausende Fragmente zerteilen, so wären es nur partikuläre Miniteilchen, in denen aus meinen Augen tatsächlich eine flammende Freude des Wiedersehens aufblitzten würde. Der ungleich größere Restbrocken dieser einen Sekunde war dann in der Tat, um das Gleichnis in seiner wahren Begebenheit zu Ende zu denken, von einer blassen und entseelten Bangigkeit gekennzeichnet, in welcher sich nach und nach eine bestialische Schlinge um meinen Hals legte, die sich zusammenzog und demgemäß ebenso, zu einer fürchterlichen Enge ums Herz führte und so bildete sich tief in mir eine schauderhafte, eine unbeschreiblich entsetzliche und todbringende Missstimmung in meiner Seele, die sich in mir wie eine aufschießende Rakete entfachte. Das von allen Angehörigen getragene Schwarz ließ keinen Zweifel mehr zu, das Furchtbare nahm mehr und mehr Gestalt an, eine abscheuliche Gestalt und sie bahnte sich seinen Weg, zerstörerisch gebündelt, durchs gesamte Nervensystem, ohne Scheu und ohne irgendwelche Rücksicht, hindurchbrausend, keine Faser auslassend, dezidiert und ohne jedwede Beachtung, ohne Respekt und ohne Schonung auf Gefühle und ich fragte mich konsterniert und gleichsam enttäuscht: kann unser Herrgott im Himmel bei solch einer Hartherzigkeit, bei solch einer Rohheit und bei solch einer nicht verstehbaren Lieblosigkeit, einfach nur da stehen und es zulassen, so als sei er selbst, er persönlich präzise jene Person, mit der kolossalsten Gefühlskälte des Universums? Im Bruchteil einer einzigen Sekunde nur, bin ich kurz die schrecklichste Achterbahn des Lebens frohlockend hochgefahren, mit einem Gefühl der Freude, um dann sofort ins Elend hinabzustürzen und schneller als der Blitz einzuschlagen, denn unvermittelt und nachhaltig hatte ich begriffen, wie der Blitz aus heiterem Himmel einschlägt dass eine etwaige Freude, dass jede Hochstimmung und Glückseligkeit, die einst von dem geliebten Bruder ausging, nie wieder aufleben wird. Es ist gleich grausam wie wahr, ja es war Cosimos Agonie in der Nacht, als er neben mir lag und verzweifelt um sein Leben kämpfte und mit der Gewissheit den Tod vor seinen Augen zu sehen nach der Mutter schrie. Ja er

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