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Verstellte Wegzeichen: Am Morgen des dunklen Lichts
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Verstellte Wegzeichen: Am Morgen des dunklen Lichts
eBook362 Seiten5 Stunden

Verstellte Wegzeichen: Am Morgen des dunklen Lichts

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Über dieses E-Book

Die spannende Frage, was ein Komapatient in todgleichem Schlaf erlebt, wie sich ein Mensch im "Locked-in-Syndrom" fühlt und welche Konsequenzen für ihn und auch für seine Umgebung die neue Erfahrung nach sich zieht, durchlebt die Romanfigur in schmerzlicher Deutlichkeit.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum9. Apr. 2021
ISBN9783347218369
Verstellte Wegzeichen: Am Morgen des dunklen Lichts
Autor

Walter Buchenau

Walter Buchenau, Jahrgang 1941, zweimal verheiratet, drei erwachsene Kinder und wenigstens ein halbes Dutzend Berufe: Schauspieler, Regisseur, Taxifahrer, Kellner, Nachrichtensprecher und seit Jahrzehnten Heilpraktiker in seiner Praxis in Mönchengladbach-Rheydt. Nach 2015 kam ein neuer hinzu: Autor. In „Santiago einfach, bitte!“ verarbeitete er seine Erlebnisse und Betrachtungen auf den langen einsamen Strecken des Jakobsweges. Nach einem Ausflug in die Welt der "unmöglichen Möglichkeiten" im seinem Erzählband "Der Trockenregen" (2018) handelt der Roman "Verstellte Wegzeichen" nun von den Grenzbereichen des Erlebbaren, wenn Krankheit oder Traumzustände die Betreffenden über die Schwelle des hiesigen Lebens hinausführen. Astonauten gleich, die nach ihrer Wiederkehr aus dem All ihre Umgebung und ihr Leben in einem ganz anderen Licht sehen, so fühlt sich auch ein wieder erwachter Komapatient als Neuling in seinem zurückerlangten Leben. Bei Walter Buchenau fließen hier die Erfahrungen als Behandler, Meditationsleiter und Psychotherapeut ebenso in seine Texte ein, wie die langjährige Beschäftigung mit den Themen rund um den Tod und der Frage nach dem Danach!

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    Buchvorschau

    Verstellte Wegzeichen - Walter Buchenau

    1.

    Was ist das? - Wo bin ich? - Wer bin ich? Bin ich überhaupt - oder nicht? - Warum frage ich das? - Wieso weiß ich es nicht? Fragen türmten sich auf, Antworten aber verschwanden im Nebel. Verwirrt ließ er den Eindruck auf sich wirken. - Das ist so - neu. Und alles ist so anders als … .- als was? Oder wo?

    Er war äußerst verwirrt. Vor seinen Augen sah er alles in Weiß, überall nur weiß. Aber es war da, wirklich gegenwärtig, stellte er fest! Seine Augen wanderten ein wenig zur Seite, doch der Impuls den Kopf ebenfalls zu drehen, ließ sich nicht ausführen. Das Weiße in seinem Blickfeld knickte seitlich ab, da war eine Kante, unter der es etwas dunkler weiter ging, aber schon wieder blasser wurde. Dann kamen zwei weitere Linien und anschließend wurde es sehr hell: blau oder grau, etwas dazwischen. Es blendete und seine Augen schwenkten zurück. Er schaute erneut geradeaus auf das Weiß wie eben und senkte den Blick ein wenig. Auch dort erschien am Rande des Weißen eine solche Kante, danach kam ein anderes Weiß mit Strukturen darin und wenn er den Blick ein Stückchen zur Seite rückte, zeigte sich etwas tiefer ein brauner, schmaler Winkel neben einer glänzenden Fläche. Noch etwas weiter seitlich schimmerte es grün. Eine Wiese ist grün, fiel ihm ein, ein Busch oder ein Baum ist grün. Aber nicht flach wie dort. 'Ein Bild vielleicht', dachte er! Das schien sehr real zu sein und hatte nichts zu tun mit diesen anderen Bildern, die in ihm noch so lebendig waren. Eben war er noch durch sie hindurch gewandert oder besser gewatet und sich gezwängt. Manchmal war er auch geflogen, natürlich konnte er dort fliegen. Nur zum Schluss musste er in den Sumpf zurück, dem er erst eben entkommen war. Seine Augen tasteten noch einmal das Weiße ab, das sie zuerst ausgemacht hatten. Eine Idee kam geschwebt, aber es war mühsam, sie einzufangen. Es dauerte eine Weile, bis er sie denken konnte: 'Ein Zimmer! Ich bin in einem Zimmer. - Aber wo? Und Warum? Und weshalb kann ich den Kopf nicht drehen?' Es ängstigte ihn. Er schloss die Augen, zog sich für den Moment zurück aus dieser weißen Kälte, spürte sich in eine andere Realität zurück, obwohl das Zimmer und selbst das strukturlose Weiß vor seinem Blick noch sehr gegenwärtig und greifbar waren. Was aber war wirklich?

    Die Bilder innen erschienen ihm viel vertrauter. Nicht dass es immer angenehm gewesen wäre. Er erinnerte sich jetzt, wie er ganz zu Anfang auf einem Berggrat einer schemenhaften Gestalt folgte. Keine Ahnung, wer das sein mochte und weshalb es ihn dorthin verschlagen hatte. Alles um ihn herum wirkte düster und der Himmel war sternenlos verhangen. In der Ferne am Ende des lang gezogenen Bergrückens glühte der Horizont orangerot.

    Als sie näherkamen, öffnete sich vor ihnen eine baumlose, tiefe Senke. Unten brodelte ein Lava-See und spuckte orange Fontänen in die Höhe. Die Luft war drückend und die Glut tünchte den Himmel in die verschiedensten Rotschattierungen. Die Wolken schwebten niedrig wie der Deckel auf einem Topf, aus dem es kein Entrinnen gab. Die Gestalt vor ihm hatte sich verflüchtigt. Er stand nun alleine da, abseits des Glutsees und steckte plötzlich in einer zähen, braunen Pampe, die überall am Körper haftete und ihn festhielt. Was war das? Er wollte nur heraus, das Einzige, was ihm klar war. Aber wie? Er hatte keine Vorstellung und keine Richtung. Alles war undurchdringlich und beängstigend. Zeit existierte hier nicht, ebenso wenig wie Erinnerungen oder eine Zukunft. Ein Zustand ohne jede Orientierung. Er konnte weder sagen, wer er war, noch was er war, nur dass er war. Und hatte keine Idee, wozu das alles. Einzig seine nicht enden wollenden Bewegungen in diesem Laufrad aus Schlamm waren jetzt Realität.

    Unmöglich abzuschätzen wie lange er in dem Sumpf gefangen war. Irgendwann hatte er sich dann doch herausgearbeitet. Die Gegend veränderte sich danach dramatisch. Eine sanfte Hügellandschaft breitete sich vor ihm aus mit Wiesen, Bauminseln und sonderbaren Gebäuden, von denen er nicht wusste, wozu sie dienten. Gestalten tauchten auf, die ihm vertraut vorkamen, ohne dass er konkret jemanden erkannt hätte. Sie gingen stumm an ihm vorbei. Und dann gab es da einen Vogel - oder einen Schmetterling - etwas, das ihn umschwebte und ihm wohlgesonnen zu sein schien. Wie eine große Hummel oder eine Libelle, aber geformt aus - Licht! Durch sie hindurch konnte er die Hügel dahinter sehen. Dieses Licht tröstete ihn. Es sprach mit ihm, aber ohne Worte: er solle nicht traurig sein, das Schwerste habe er schon geschafft. Nur weiter so! Es war ein freundliches Wesen. Eine Elfe aus einem Märchen? Aber sie hatte nichts Unbestimmtes, Verschwommenes an sich, sondern war trotz ihrer Durchsichtigkeit ganz handfest und gegenwärtig.

    In dieser neuen Umgebung konnte er sich wirklich wohl fühlen. Sie war hell und warm, und er wanderte ziel- und absichtslos auf kleinen Trampelpfaden umher. Die freundliche Zuwendung dieses allgegenwärtigen Kolibris oder was es auch immer war, tat gut und ermunterte ihn zu weiteren Erkundungen. Einmal entdeckte er ein Tal zwischen den Hügeln, einen Wiesengrund, schmal und baumbestanden. Die Äste der Eichen und Trauerweiden hingen bis auf die Grasnarbe hinab und strahlten Geborgenheit aus. Er spürte die Feuchtigkeit der Halme unter den nackten Füßen und es war ihm, als ob er tanzen müsste, einfach sich drehen, die Arme ausbreiten und herumwirbeln. Er wollte die ganze Landschaft umarmen. Dabei saugte er den Geruch von Frische und Grün in sich ein. Er kreiselte so lange, bis es ihn schwindelte und er sich ins Gras fallen ließ. Das was sein Tal, es gehörte ihm, sein Eigentum, er spürte es, hier konnte er glücklich sein!

    Wie lange er dortgeblieben oder später weiter durch die Landschaft gestreift war, die ihm immer neue, überraschende Ausblicke bot, wusste er nicht. Stets war er begleitet von dem sanften Helfer. Aber immer auch auf der Suche nach jemandem oder einem bestimmten Ort, obwohl er keinerlei genauere Vorstellung davon hatte. Dabei wurde er nicht ungeduldig. Nein, wirklich nicht, die Umstände hier bedrückten nicht. In dem braunen Sumpf war das anders gewesen. Er wusste hier instinktiv, dass er eine Bestimmung hatte. Dann erblickte er plötzlich einen Berg, einen einzigen. Groß und unübersehbar, wie ein gewaltiges Ausrufezeichen erhob er sich vor ihm in der Ebene. Auf ihn musste er hinaufsteigen, das war ganz eindeutig. Auch sein lichter Helfer ermutigte ihn dazu. Also ging er es an. Seltsam nur, dass es sich gar nicht wie Bergsteigen anfühlte, sondern eher wie fliegen. Er musste nur wollen, schon funktionierte es. Wenn er sich nicht konzentrierte, fiel er wieder zurück. Lange ging es so bergauf, bis sich irgendwann plötzlich nichts mehr vor ihm befand - buchstäblich nichts, weder oben noch unten oder seitlich, rechts und links – nichts. Null. Nur Schwärze. Ein abgrundtiefes Nichts! Doch das erschreckte gar nicht. Eigentlich haben wir Augenmenschen doch in aller Regel Furcht vor der Dunkelheit und dem, was dort auf uns lauern könnte. Doch zu seinem größten Erstaunen fühlte sich dieses Nichts unglaublich wohl an! Es war Lust, es zu sehen, es lockte ihn dort hinein zu gehen, sich ganz in das Schwarz zu stürzen um aufzugehen in der absoluten Dunkelheit. Es gelang ihm nicht. Sein Begleiter bedeutete ihm - wobei er nicht hätte sagen können, womit oder wodurch, - er wusste einfach, dass er noch warten müsse. Er wäre noch nicht so weit, signalisierte er. Und schon befand er sich wieder unten in seinem Tal.

    Wieder verging viel Zeit, die sich trotzdem nicht wie Zeit anfühlte. Er verbrachte sie mit weiteren Erkundungen dieses wunderschönen Parks oder Garten Edens, mit überraschenden Begegnungen, die sich aber nun der Erinnerung entzogen, bis ein Verlangen in ihm aufstieg und er spürte, dass er diesen Bergweg erneut gehen solle. Wieder kam der Aufstieg, die Schwärze, die gleichen Gefühle, die unbändige Freude oben angekommen zu sein, so dass er sich von diesem Ort nie mehr trennen wollte. Es fühlte sich an wie ein einziges, überwältigendes Atemholen. Aber wieder durfte er nicht bleiben. Sein Begleiter drängte ihn unmissverständlich wieder zu gehen, diesmal nicht nur zurück in die hügelige Landschaft oder 'sein' Tal, diesmal sogar zurück zu dem Sumpf, wo der gläserne Kolibri lautlos verschwand. Erneut steckte er in dem zähen Morast wie anfangs. Im Gegensatz zum ersten Mal war sein Ich-Bewusstsein dabei völlig klar und fragte erfolglos nach dem Sinn und Zweck dieses Zustandes.

    Trotzdem kämpfte er sich voran, kannte unbewusst seine Richtung. Nach einer geraumen Zeitspanne erreichte er eine Erhebung wie eine Barriere, die quer zu seiner Laufrichtung das Weiterkommen versperrte. Er zögerte, schaute sich unschlüssig um und entdeckte seitlich, den Eingang zu einer Höhle. Sie forderte unzweideutig zur Erkundung auf. Also kroch er hinein. Hinter der Öffnung verengte sich der Hohlraum zuerst, schon wollte er wieder umkehren. Doch dann weitete er sich wieder und ein schwacher Lichtschein voraus lockte ihn zu folgen. Die Luft war schwül und drückend, vorsichtig tastete er sich voran. Die Wände rückten allmählich näher, je weiter er vordrang, die Decke wurde niedriger, bedrückender. Doch der Lichtschein voraus war ein Versprechen. Er meinte sogar einen frischen Luftzug zu verspüren, fühlte, dass er jetzt nicht anhalten dürfe, ohne dass es ihm jemand sagte. Am Ende des Stollens brauchte er schließlich alle Kraft, um sich durch eine schmale Öffnung nach draußen zu zwängen und war im Freien.

    Mit einem Mal nahm er jetzt seinen Körper wahr. Er fühlte seinen Kopf, seine Finger und Zehen, die kribbelten und pulsierten; er bemerkte, wie Luft in seinen Brustkorb strömte und der Bauch sich rhythmisch dehnte. Es signalisierte dem Bewusstsein ganz eindeutig, dass sein Leib existiert. So hatte er sich die ganze Zeit über – oder Nicht-Zeit in dieser anderen Dimension - nicht wahrgenommen. Ihn fröstelte auf einmal. Dann registrierte er das Weiß.

    2.

    „Hallo, Herr Ebert, da bin ich mal wieder um nach Ihnen zu schauen. Die Worte drangen befremdlich an sein Ohr. Es dauerte einen Augenblick, bis er registrierte, dass sie wohl ihm galten. Er öffnete die Augen und drehte den Blick langsam in Richtung der Stimme, während die Schritte näherkamen. „Herr Ebert!, rief es aufgeregt von links, „Sie haben ja die Augen offen! Ach wie schön, dass Sie endlich aufgewacht sind, dass sie endlich wieder bei uns sind! In seinem Blickfeld erschien ein freundliches Gesicht, umrankt von braunen Haaren und mit einer großen, ebenfalls brauen Brille, das sich leicht über ihn beugte. „Das war auch langsam Zeit! Sie haben uns ganz schön warten lassen, wissen Sie das? Aber jetzt wird alles gut! Sie werden sehen! Das muss ich gleich den andern erzählen! Das Gesicht nickte ihm zu und lachte, dann verschwand es und er hörte eine Tür klappen.

    'Aufgewacht?' ging ihm durch den Kopf, 'Warten lassen?' Hatte er geschlafen? Hatte er geträumt? Diese Welt, durch die er sich gerade eben noch gekämpft hatte, sie war doch sehr real gewesen, oder? Er fühlte noch das kühle Gras in seinem Tal unter den Füßen, spürte die Gegenwart seines Begleiters, dieses durchsichtigen Wesens, das ihn getröstet und mit seiner Fürsorge eingehüllt hatte. Er registrierte aber auch, wie der Name in seinen Ohren nachhallte. „Ebert. Das hörte sich vertraut an. War er damit gemeint? Er wiederholte ihn in Gedanken einige Male. Es klang für in stimmig. „Frank, schoss ihm plötzlich durch den Kopf. Auch das passte dazu. „Frank Ebert." Er sprach die Worte im Geist mehrmals nach und sie wurden geläufiger, vertrauter. Es passte. Das war sein Name! Doch der Rest von ihm, sein Leben, was war mit dem? Jeder Mensch hat doch eine Geschichte, wo war die?

    Eine nicht ganz greifbare, ungute Emotion stieg in ihm auf wie aus einem entfernten Winkel, wenn man sich erinnern will und gerade nicht darauf kommt, obwohl es doch auf der Zunge liegt. Schon drängten die nächsten Fragen. „Aber wer bin ich? Warum weiß ich das nicht?" Da stand etwas neben ihm. Es kam ihm vor, als sollte er in einen abgelegten Anzug schlüpfen, eine Art Ganzkörperstrumpf, der aber nicht richtig passen wollte. Es war mühsam. Auch das Denken strengte an. Er bemerkte, wie die Luft rhythmisch durch die Nase ein- und ausströmte. Das beruhigte ihn und er war erstaunt, dass er so etwas wahrnahm, dieses Etwas, das er so einfach gratis bekam. Der Atem schenkte ihm Kraft, und er empfand Dankbarkeit und Freude. Atmen! Was für ein wunderbarer Vorgang! Das ist viel mehr als nur Luft holen. Das ist: sich verbinden mit ….wem? Menschen atmen! Tiere auch. Ich bin ein Mensch, der jetzt hier in diesem Zimmer atmet. - Wo war ich vorher? Menschen haben eine Vergangenheit, eine Mutter…..' Er suchte in seinem Kopf nach einem Bild, einem Namen, etwas Konkretem, aber da war nur die weiße Wand. Es wollte einfach nichts auftauchen. Erschöpft überließ er sich wieder der Erinnerung an seine Anderswelt. die sofort gegenwärtig war.

    Schwester Heike, Joe, der afrikanische Krankenpfleger und eine Schwesternschülerin kamen ins Zimmer gestürzt, aber Frank hatte die Augen geschlossen. Er schlief, dachten sie. Zumindest sah es so aus, aber er vernahm deutlich die weibliche Stimme von vorhin, welche die andern jetzt hinausdrängte, um seinen Schlaf nicht zu stören. Sie tat ihm gut.

    Am nächsten Morgen erschien der Stationsarzt bei Frank, um die Nachricht von seinem Aufwachen zu überprüfen. Er registrierte routinemäßig, dass der Patient tatsächlich die Augen öffnete und schloss, woraus man aber noch nicht ableiten könnte, ob er bei Bewusstsein wäre oder verstünde, was um ihn herum vor sich ginge. Zur näheren Überprüfung ordnete er ein EEG an, das so bald wie möglich erstellt werden sollte. Er war neu auf der Koma-Station und empfand wenig Empathie mit denen, die dort lagen. Für ihn waren es lediglich Fälle, die nach den Regeln der ärztlichen Kunst und streng wissenschaftlich abzuhandeln waren. Jeden anderen Ansatz hielt er für Humbug. In seinen Augen rieb sich Schwester Heike zum Beispiel viel zu sehr für diese Menschen auf. Ihm könnte das nicht passieren. Er fand es auch höchst überflüssig und albern mit einem Komapatienten zu reden, der ja sowieso nichts davon mitbekam.

    Die üblichen Krankenhausprozeduren, die Frank so noch gar nicht mitbekommen hatte, ließ er ruhig über sich ergehen. Das Waschen, Drehen, Einreiben, die passiven Bewegungen der Gliedmaßen, die er spüren konnte, erstaunten ihn. Er wunderte sich nur, dass jeder Impuls zu einer anderen Bewegung als der Augen von seinem Körper unbeantwortet blieb.

    Am Nachmittag holte ihn Joe zum EEG und eventuellen weiteren Untersuchungen ab. Joe hieß eigentlich Abdulaye Owuatuegwa und kam aus Nigeria, aber diesen Namen konnte sich keiner merken und so hatte sich 'Joe' für ihn eingebürgert. Er nahm das lachend hin. Das war sowieso eine seiner ganz großen Stärken: sein Lachen! Zu Anfang, als er ins Krankenhaus kam, begegneten ihm eine Reihe von Leuten mit Zurückhaltung bis Ablehnung. Nicht so sehr die Ärzte, als einige der anderen Pfleger, die ihm sein fehlerhaftes Deutsch ankreideten. Auch einige der älteren Patienten standen sich mit ihren Vorurteilen gegenüber einem Farbigen gewaltig selbst im Wege. Es gab einmal einen richtigen Aufstand, als ein schwieriger Patient sich mit Händen und Füßen weigerte von ihm angefasst zu werden. Joe schluckte das. Er hatte in seinem Leben schon viel Schlimmeres erlebt. Doch seine hilfsbereite Art und seine Freundlichkeit glätteten bald die Wogen. Er lernte immer besser Deutsch, und wenn er mit Patienten etwas länger zu tun hatte, war er bei ihnen rasch ausgesprochen beliebt. Er verstand es selbst den Traurigsten unter ihnen aufzumuntern. Ein Stationsarzt auf der Inneren staunte nicht schlecht, als er einmal aus einem Zimmer mit drei Schwerkranken plötzlich lauten Gesang hörte. Er schaute herein und sah Joe, der den Vorsänger gab und die drei Patienten, die in ihren Betten unter seiner Anleitung inbrünstig den Refrain mitsangen. Unglaublich! Man hatte ihn dann auf die Wachkomastation versetzt, weil andere da nicht so gerne arbeiteten. Joe nahm es gelassen hin, sozusagen als neue Herausforderung.

    Nun erschien er in Franks Krankenzimmer, um ihn im Bett zum EEG zu fahren. Frank hatte die Augen geöffnet. „Hast du Augen endlich auf!, lobte er. „Das ist gut. Jetzt geht es zur Untersuchung. Gucken, wie es aussieht unter den Haaren! Dabei bleckte er seine weißen Zähne, dass die Ohren vom Mund Besuch bekamen. Frank schloss die Lider und öffnete sie wieder. Joe löste die Feststeller und schickte sich an, das Bett aus dem Zimmer zu rangieren. „Einmal Rallye nach Dakar!, lachte er. „Ist gut, was? Frank senkte kurz die Lider. „Und dann du wirst gesund! Auch das „Du zu jedem Patienten hatten ihm die Kollegen zuerst angekreidet, aber die Kranken fühlten sich damit wohl, spürten Wärme und Nähe, was für die Heilung oft mehr wert war, als alle Infusionen und Medikamente. Frank schloss kurz – wie zur Erwiderung – die Lider und Joe stoppte plötzlich das Gefährt. „Hey, war das Antwort? Frank schloss wieder kurz die Augen. „Mann!!, rief Joe, „du verstehst mich?! Frank schaute ihn an und klappte die Augenlider zu und auf. „Mach noch mal Augen zu! Frank schloss sie. „Und jetzt auf! Frank öffnete sie. „Halleluja, Amen! Ich kann mit dir reden! Willst du „Ja sagen, einmal die Augen zu. Frank tat es. „Und „Nein zweimal!" Frank zwinkerte zweimal. Joe lachte sein dröhnendes Lachen und war so begeistert, dass er Franks Gesicht in seine riesigen, dunklen Hände nahm und ihm einen Kuss auf die Stirn drückte.

    3.

    Schwester Heike war mindesten genauso begeistert wie Joe, als sie die Nachricht hörte. Sie arbeitete schon seit Jahren auf der Station und war die gute Seele dort. Nie krank, immer geduldig und freundlich – so versah sie ihren Job. Was und wie etwas dort ablief, bestimmte sie, abgesehen natürlich von den ärztlichen Maßnahmen. Es war ihre Station. Sie hatte eine unaufdringliche Art, Nähe und Anteilnahme zu zeigen, besonders bei den komatösen Patienten. Als erstes nach ihrem Dienstantritt heute stellte sich vor. Frank wusste ja nicht, wer ihn monatelang betreut hatte „Ich bin Schwester Heike und wir freuen uns alle über den Heimkehrer!" Dann begann sie ihm vorsichtig und über Tage verteilt von seiner Krankengeschichte zu erzählen, von der Einlieferung, dem Stammhirninfarkt und seiner langen Zeit im Koma. Auch von den Besuchen berichtete sie, die seine Frau regelmäßig abstattete und den Kindern, Eltern, Freunden, die gelegentlich vorbeischauten. Frank hörte aufmerksam zu. Die Suche nach passenden Bildern in seinem Kopf strengte ihn noch an. Heike dosierte ihre Informationen, um ihn nicht zu überfordern. Er bestätigte, was er gehört hatte, jeweils mit den Augenlidern. Wie Holzstückchen im Wasser trieben Fragmente von Erinnerungen langsam an die Oberfläche.

    Einmal, Schwester Heike stand gerade an seinem Bett, da schien es in seinem Kopf laut seinen Namen zu rufen. „Fraaank!!!! Es hallte in seinen Ohren nach und er hörte in sich hinein. Plötzlich sah er die Theke einer Rezeption vor sich, roch ein Parfum, ziemlich herb – und dann erinnerte er sich: Er war gerade eine Treppe hinunter gegangen – aber wo war das? - Er stand unten, das Telefon läutete, die Dame am Empfang - genau, sie hatte diesen Duft an sich - sie nahm ab und bedeutete ihm mit einer lautlosen Mundbewegung, wer der Anrufer sei. Er war sofort nach oben gestürmt, um das Gespräch entgegen zu nehmen, etwas Wichtiges. Korea! - Warum Korea?' Er wundert sich, hatte aber keine Zeit, dem nachzugehen, die Bilder überstürzten sich: Oben angekommen war Steve – schon wieder ein Name! - Steve war links aus der Tür gekommen, dann fühlte er noch, dass irgendetwas mit ihm passierte, - im Kopf - er hörte dieses langgezogene: „Fraaank!!, das sich von ihm entfernte, wie, wenn jemand in einem großen Saal von weit hinten etwas ruft und der Ton von den Wänden zurück hallt - und dann nichts mehr.

    Stück für Stück über Tage stieg sein früheres Lebens in ihm auf. Er besaß eine Firma - 'Ebert & Preuß' - so hieß sie. Das war richtig. Steve war sein Partner, Freund und Weggefährte. Sie kannten sich schon ewig, aber woher? Sie stellten technische Apparate her. Ventile. Steve hatte ein Patent. Das vermarkteten sie in der Firma. - Der Gedanke an die Firma kam ihm wie ein Präsent vor, das er gerade eben bekommen hatte. Zum Teil vermochte er das, was aus dem inneren Abgrund nach oben, kam nicht zuzuordnen, wie zum Beispiel Korea. Was bedeutete das? Gelegentlich schloss er die Augen und wünschte sich in seine andere Existenz zurück, doch das ging im Moment nicht mehr. Die Gegenwart hatte ihn gepackt und Fragen wie: Wer war er wirklich? Wie hatte er davor gelebt und mit wem? Oder war er allein? Seine Frau heißt Veronica, hatte die Schwester gesagt. Doch ein Gesicht wollte sich dazu nicht einstellen, nur eine warme Welle, die ihn durchflutete. Und Florian und Caspar, neue Namen und die gleiche Gemütsbewegung. Dann fiel es ihm ein: seine Söhne – seine Familie! Die Vorstellung ergriff vehement Besitz von ihm und erzeugte Freude. Es war schön an sie zu denken! Andere Visionen schwirrten wie ferngesteuerte Drohnen durch seinen Kopf - ein Büro, das Wohnzimmer mit einer Veranda dahinter, der Hauseingang und der Vorgarten, zwei Jungen tobten die Treppe hinauf. Mit einem Mal hatten sie schon die Gesichter von jungen Männern. Nur das Gesicht seiner Frau wollte sich nicht einstellen, so sehr er sich auch darum bemühte.

    Heikes ersten Impuls seine Familie umgehend von der erfreulichen Entwicklung zu unterrichten, hatte Frank vehement unterbunden, als sie ihn darauf ansprach. Sie verstand nicht warum - er verstand sich selbst nicht. Aber er wollte es nicht, zumindest jetzt noch nicht. Er war sich nicht einmal im Klaren, ob er überhaupt in diese Welt zurückwollte. Sie ängstigte ihn. Alte Menschen haben oft Angst, wenn sie das, was um sie herum vor sich geht, nicht mehr einordnen können, und sie werden bockig. So ging es ihm. Es war ihm ein Stück Leben abhanden gekommen und die Welt hatte sich weitergedreht. Nun sollte er auf den fahrenden Zug wieder aufspringen, von dem er nicht einmal wusste, wohin er fuhr. Er fühlte sich gefangen zwischen zwei Realitäten. Diese andere Welt war so vertraut und vor allem: es gab dort keine Ablehnung, keine Aggression oder gar Hass. Auch wenn ihm dort manches schwer gefallen war, stets war ihm bewusst, dass alles nur zu seinem Besten geschah. Was würde ihn jetzt hier in dieser Realität erwarten? Gut - es gab seine Familie, seine Söhne. Er fühlte sich wohl bei dem Gedanken. Trotzdem sperrte er sich, das Hier und Jetzt bedingungslos wieder herein zu lassen. Es war noch immer fremd. Doch auch die andere Realität hatte sich bereits ein Stück weit entfernt. Heike unterließ es, ihn wegen der Benachrichtigung seiner Familie zu bedrängen, sie fürchtete einen Rückfall. Umso schlimmer wäre das dann für seine Angehörigen.

    4.

    Er besaß also mit Steve zusammen eine Firma. Nichts Weltbewegendes, aber etwas Eigenes! Und es war stetig aufwärts gegangen, seit sie eigentlich aus einer Bierlaune heraus sich selbstständig gemacht hatten. Frank kannte Steve schon eine Weile von diversen Partys und Uni-Veranstaltungen her. Sie waren sich auf Anhieb sympathisch gewesen. und seit zwei Jahren wohnten sie im gleichen Studentenheim. An einem Abend, gegen Ende der Studienzeit, saßen sie wieder einmal gemeinsam im „Kuckucksnest, ihrer Stamm-Studentenkneipe und Steve war richtig verärgert. Er studierte Maschinenbau, war bald fertiger Diplomingenieur wie der Abschluss damals noch hieß und regte sich über die Arroganz und Ignoranz einiger Firmen auf. Und Frank hatte mal wieder Kummer mit seiner damaligen Freundin, einem sehr hübschen und bei dem Frauenmangel in Aachen sehr umworbenen Mädchen, das aber äußerst anspruchsvoll und kapriziös war. Die Tatsache, dass Maschinenbau in aller Regel von Männer studiert wird, während die Studentinnen nur etwa ein knappes Drittel der Kommilitonen an der Uni ausmachen, nutzte das Mädchen genüsslich aus. Jetzt wollte sie unbedingt nach Mallorca in Urlaub fliegen, was selbstverständlich er finanzieren sollte. Das Studium schien sie sowieso nicht allzu sehr zu interessieren, während Frank ziemlich genervt in den letzten Zügen seines Abschlusses lag. Deshalb war der Krach mit ihr schon programmiert. Bei Steve ging es um einige Firmen, die er angeschrieben und denen er sein neuartiges Ventil angeboten hatte. Diese eigene Entwicklung war gleichzeitig seine Diplomarbeit. Sie eignete sich für alle Anwendungen besonders gut, wo große Mengen Flüssigkeit bewegt werden mussten. Das Ventil war genial einfach, wartungsfreundlicher und verschleißfester als alle gängigen auf dem Markt, wie er Frank erklärte. Trotzdem wollte es keiner haben. Dabei hatte er schon eine gehörige Summe in die Patentanmeldung gesteckt. „Solche Idioten!, beschied Frank. Darin war er sich mit Steve einig und sie bestellten die nächste Runde. In Steve gärte es immer noch und er setzte sein Glas heftig auf dem Tresen ab. „Dabei ist das auch noch billiger herzustellen als der andere Schrott, weil es weniger bewegliche Teile gibt!, erklärte er und schüttelte ungläubig den Kopf. „Idioten! Sag ich doch!, wiederholte Frank und nahm die bestellte Runde in Empfang. „Kannst du es nicht selber verkaufen? „Wie denn? Steve wackelte mit dem Kopf und hielt hilflos seine offenen Hände in die Luft. „Ich verstehe ja vielleicht was von Technik, eventuell auch noch von Produktionsabläufen, aber von der Vermarktung und dem ganzen anderen Kram habe ich keinen Schimmer. Und wer weiß, was das kostet! Beide schauten eine Weile ins Glas. „Also, stellte Frank fest, „den anderen Kram könnte ich! Frank studierte BWL und Business Administration. Die Vorstellung einmal einen Betrieb zu leiten, zu organisieren, neue Strategien zu erproben und dergleichen hatte ihn schon immer gereizt. „Man müsste nur einen finden, der das Ding herstellt, dann verticken wir das gemeinsam! Beide schwiegen wieder, tranken anschließend die Gläser leer und machten sich etwas unsicher auf den Beinen auf den Weg in ihre Studentenbuden. Zwei Tage später begegneten sie sich zufällig in der Teeküche. Frank war noch verärgerter als im Kuckucksnest. Seine Freundin hatte angekündigt, dass sie kurzerhand mit einem anderen ihre Urlaubspläne verwirklichen wolle, wenn er nicht mitkäme. Woraufhin er ihr erklärte, dass sie ruhig fliegen und dann am besten auch gleich auf Malle bleiben solle. Da gäbe es bestimmt noch mehr Deppen, die sie ausnützen könnte! Das war's dann mit der Beziehung. Nachdem Frank seinen Dampf abgelassen hatte, begann Steve langsam mit einem: „Hör mal, ich habe ein bisschen nachgedacht wegen dem, was wir im Kuckucksnest geredet haben. So dumm ist das gar nicht! Er wartete auf Franks Reaktion, aber der war in Gedanken noch bei seiner Exfreundin. „Was meinst du? „Die Firma! Wenn wir wirklich eine Firma gründen würden. Ich habe mich ein bisschen umgehört. Für „Start-ups gibt’s sogar ganz ordentliche Förderungen. Frank wurde hellhörig. „Und eine bestimmte Summe könnte ich auch beisteuern, meinte Steve. Die Idee breitete sich langsam in Franks Fantasie aus. „Lass uns mal in Ruhe darüber sprechen, schlug er

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