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Balkenstube
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eBook267 Seiten3 Stunden

Balkenstube

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Über dieses E-Book

Balkenstube – vielen ein Fremdwort. Auf dem Dachboden alter Häuser, ein enger Raum unter dem Schrägdach, Schlafstätte oder Abstellkammer. Oberstübchen – Ort der Erinnerung. In seinem Roman mit dem außergewöhnlichen Titel bearbeitet der Autor Bernhard Hagemeyer die Problematik von Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus. Archive werden studiert und Briefwechsel aufgestöbert, die manche Überraschung zu Tage fördern. Archivar Piepenschroer ist von Archivdirektor Dr. Büsensen, vom neo-völkischen Gedankengut besessen, nach Tannenhues abkommandiert, um im ausgelagerten Archivmagazin des Ministeriums über Verwicklungen von Persönlichkeiten mit dem NS-Regime zu forschen. Er wird immer tiefer in einen inneren, schmerzhaften Konflikt getrieben: Soll er Licht in die dunkle Vergangenheit bringen und NS-Verbrechen aufdecken oder aber Spuren verwischen und Ergebnisse vernichten? Dabei wird er mit seiner eigenen Lebenslüge konfrontiert. Nur Ellen, Wirtin der Dorfkneipe, die selbst unter dem traumatischen Erlebnis einer brutalen Vergewaltigung leidet und darüber ihr Gottvertrauen verloren hat, steht ihm fürsorglich bei. In dieser vorsichtigen Begegnung zweier Menschen, die nie richtig gelernt haben, Nähe und Vertrautheit zuzulassen, berichtet Piepenschroer nur ihr über unfassbare Zusammenhänge in seinem Lebensweg. Er spricht von Erkenntnissen, die allein durch Erinnerung möglich sind, und führt sie in das Haus der Anámnesis, das er in seiner Balkenstube auf dem Dachboden des Archivmagazins baut. Ellen versteht die Metapher nicht und bekommt Angst. Genealoge Düsterkoven, nach Tannenhues gereist, um seine wissenschaftlichen Arbeiten abzuschließen, erfährt durch einen Zufallsfund vom Schicksal des jungen Ehepaares Grünebrede. Er stößt, von Piepenschroer tatkräftig und entgegen dessen Auftrag unterstützt, auf NS-Verstrickungen seines ehemaligen Geschichtslehrers Coblus und schließlich auf unglaubliche Verflechtungen in seiner eigenen Vita.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum23. Juli 2018
ISBN9783746961071
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    Buchvorschau

    Balkenstube - Bernhard Hagemeyer

    1

    Düsterkoven kam sich dumm vor. Er konnte sich die Zusammenhänge nicht erklären. Etwas schien aus den Fugen geraten.

    Vor einigen Tagen machte er eine merkwürdige Bekanntschaft. Es war während einer akademischen Veranstaltung von Prof. Buckebruek, gesponsert von einem europäischen Lobbyisten-Verband, als ein Herr auf ihn zutrat, sich mit Hagenkötter vorstellte und ihn geradewegs fragte, ob er, Düsterkoven, mit ihm, Hagenkötter, Ernst Hagenkötter sein Name, mög-lich-er-wei-se verwandt wäre.

    „Sie werden gleich die Beziehungskiste öffnen, ermunterte Düsterkoven, „schießen Sie los!

    Hagenkötter erzählte von einer Cousine seiner Großmutter, die den Onkel seines Vetters, ein Düsterkoven ... Sie lachten, weil Hagenkötter sich im Familiengestrüpp verhedderte. Und das wenige, das Düsterkoven über seine Familie hätte beitragen können, wollte er nicht preisgeben. Warum sollte er?

    Sie standen mit anderen geladenen Gästen, die sich die Welt schönredeten, an einem Stehtisch, als plötzlich für Sekunden das Licht ausfiel. Ein Blitz, gefolgt von einem kurzen krachenden Donnerschlag, hatte offenbar ganz in der Nähe eingeschlagen.

    Als wäre nichts passiert, meinte Hagenkötter: „Ich habe von Professor Buckebruek, mit dem ich eng befreunde bin, von Ihrer Doktorarbeit, die Sie bei ihm schreiben, erfahren und, wie ich soeben feststelle, da auch Sie nicht so recht in unserer Sippschaft zuhause sind ..."

    Düsterkoven wog bedenklich den Kopf. „Na, ja", warf er amüsiert ein.

    „ ... denke ich, Sie sollten mal - zwei Fliegen mit einer Klappe, wenn Sie verstehen, was ich meine - nach Tannenhues fahren und dort in einem ausgelagerten Archivmagazin des Ministeriums einen Familienarchivar namens Piepenschroer aufsuchen. Der Mann dort, ein ausgewiesener Experte, mir persönlich von einem Ministerialbeamten, Archivdirektor Dr. Büsensen persönlich empfohlen, kann Ihnen bestimmt weiterhelfen."

    Während er sprach, strich er mit Daumen und Zeigefinger über seinen eminent dicken Schnauzbart oder gestikulierte weit ausholend mit seinen Armen, hob die Augenbrauen, rollte die Augen und hielt den Blick schräg nach oben gegen die Decke gerichtet. Dann wieder hatte er auf die Uhr geschaut, auf seine manikürten Fingernägel und dabei den rechten kleinen Finger derart affektiert zur Seite gespreizt, dass es unmöglich war, einen protzigen Siegelring zu übersehen.

    Düsterkoven hatte den Eindruck, sein angeblicher Verwandter wollte sich tiefer Dunkelheit an etwas erinnern. Vergessenes, tief Versunkenes aus dem Gedächtnis zurückholen. Er fühlte sich unangenehm berührt, spürte etwas Beklemmendes, um nicht zu sagen Irritierendes, das von Hagenkötter ausging.

    „Ja, warum nicht? Sind wir wirklich verwandt?", fragte er mit einem skeptischen Grinsen.

    Erneut schreckte ein harter, schließlich dumpf ausrollender Donnerschlag die Gesellschaft auf. Piepenschroer? Tannenhues? Wo liegt das? Hagenkötter? Von einem Onkel oder Vetter Ernst hatte er noch nie etwas gehört. Wie hieß der Archivdirektor noch?

    „Könnte dich jedenfalls interessieren, oder?", duzte Hagenkötter ihn ungeniert und schmeichelte, ihm eile der Ruf eines genialen Genealogen voraus.

    Düsterkoven hätte sich nachhaltiger erkundigen sollen - dann wäre das Gespräch schnell beendet gewesen. Mehr noch: Ein perfides Lügengebäude wäre zusammengebrochen.

    Aber er kam nicht dazu. Professor Buckebruek war herbeigeilt und hatte das Gespräch unterbrochen: „Düsterkoven - wir müssen los! Ich muss mit Ihnen reden."

    Auf dem Weg zur Garderobe, weiter zum Ausgang antwortete Buckebruek auf Düsterkovens Frage, wer dieser Hagenkötter sei: „Notar, gleichwohl ein Schwätzer, ein unangenehmer obendrein. Das Archiv liegt unter jedem wissenschaftlichen Niveau, die Fahrt nach Tannenhues können Sie sich schenken, und der Mann dort ist bibliografisch unbekannt."

    Düsterkoven half seinem Professor in den Mantel, der sich artig bedankte. „Im Übrigen sind Staatsexamina angesagt, Düsterkoven, fuhr er fort, „Klausuren zu begutachten und ich zähle auf Sie. Er drohte mit erhobenem Zeigefinger, weil er wusste, wie Düsterkoven, sein wissenschaftlicher Mitarbeiter, sein Amanuensis, wie man in Akademikerkreisen zu sagen pflegte, reagieren würde: Je mehr er abriet, umso widerborstiger konnte Düsterkoven reagieren und sich für das Gegenteilige entscheiden.

    In diesem Moment beschloss Düsterkoven trotzig, in den nächsten Tagen einen Herrn Piepenschroer in Tannenhues aufzusuchen.

    Die Fahrt in seiner schwarz-rot lackierten 2CV-Limousine bereitete ihm Freude. Selbst wenn er nicht so schnell fahren konnte und gelegentlich von rasenden, fluchenden oder wild gestikulierenden Autofahrern überholt wurde - die Ente, wie er sein Auto liebevoll nannte, belohnte ihn mit einem unvergleichlichen Freiheitsgefühl.

    Das Verdeck zurückgerollt und das halbgeteilte Fenster hochgeklappt, ließ er den linken Arm lässig im Fahrtwind hin- und herpendeln und flötete, so gut er konnte, ein Liedchen vor sich hin. Plötzlich war etwas gegen den Rahmen der Windschutzscheibe geknallt. Er musste derart scharf abbremsen, dass der Wagen zu schlingern begann und aus der Spur geriet, er es aber dennoch schaffte, ihn, nur einen knappen Meter vom Straßengraben entfernt, zum Stehen zu bringen. Mit dem Kopf wäre er beinahe gegen das Lenkrad gestoßen, hätte er sich nicht instinktiv mit beiden Händen am Lenkrad abgestützt. Die Handgelenke schmerzten. Auf der Beifahrerseite der Frontscheibe klebten lange, braunweiße Federn, offenbar die eines größeren Vogels. Entsetzt stieg er aus, schaute sich um, ging einige Meter die Straße zurück, suchte das vermutlich schwer verletzte Tier am Straßenrand, im Graben und auf der anderen Straßenseite – nirgends. Schockiert, auch traurig, dass er der sterbenden Kreatur nicht hatte helfen können, setzte er die Fahrt fort.

    „Was will ich eigentlich?", fragte er laut und ließ den linken Arm wieder aus dem Fenster baumeln. Abgesehen davon, dass ihm Hagenkötter einen dürftigen Hinweis und Buckebruek ihm abgeraten hatte, wusste er nicht genau zu sagen, was ihn nach Tannenhues zog. Er wusste es auch später nicht; denn er hatte die Frage nie klar und deutlich sich selbst gestellt.

    „Wird sich zeigen. Der Weg entsteht im Gehen", gab er sich selbst zur Antwort und erinnerte sich an den spanischen Dichter Antonio Machado und dessen Gedicht Caminante - Wanderer, da ist kein Weg. Im Gehen entsteht der Weg. Deine Spur ist der Weg. Sonst nichts. Schaust du zurück, siehst du den Pfad, der nie mehr begangen wird. Nur Kielspuren im Meer.

    2

    Der Einzug eines Memoirenberaters und Familienarchivars in ein ausgelagertes ministerielles Archivmagazin im ehemaligen Tannenhueser Pfarrhaus hatte sich auch in der Bevölkerung herumgesprochen. Die Regionalpresse hatte berichtet. Jetzt kamen sie wieder. Meist jüngere Leute, die Piepenschroer die Vergangenheit ihrer Vorfahren brachten: Verschlossene oder aufgebrochene Tagebücher, Tonbänder, zerfledderte Fotoalben, mit Bildern aus glücklichen Kindertagen und von jubelnden Soldaten, die begeistert in die Schlachten des Ersten Weltkrieges gezogen waren. Vor allem aber Briefe: Kriegserlebnisse und Todesnachrichten über Gefallene im Zweiten Weltkrieg. Traumata aus Konzentrationslagern oder Gefangenschaften. Schicksale der aus Deutschland Geflohenen oder aus dem Osten Vertriebenen. Sorgfältig gebündelte Liebesbriefe, zum Teil noch mit getrockneten Blümchen geschmückt. Dokumente und Schriftstücke, die man zwar nicht wegwerfen, aber auch nicht bei sich zuhause aufbewahren wollte.

    Anders als die Jugend hatten ältere Herrschaften erkannt: Man müsse die Vergangenheit dem Vergessen entreißen. Eine ältere Dame, klein, auffällig elegant gekleidet, allerdings mit einem Gesicht, das an den Querschnitt eines Baumes erinnerte, der, jahrelang ausgetrocknet, tiefe Furchen aufwies, meinte, sie sei zu alt für die Vergangenheit. Sie gab vor, Schriftstellerin zu sein. Sie hätte biografisches Material aus unterschiedlichen Kreisen und Zeiten gesammelt und bereits Unmengen an Tagebüchern, Briefwechseln, Lebensaufzeichnungen und Fotografien erhalten. Sie hätte erst darüber ein Buch schreiben wollen. Ein Erinnerungsbuch. Dem Vergessen widerstehen. Der Vergangenheit ein Echo geben. Doch jetzt würden ihre Kräfte versagen. Sie hatte das so poetisch formuliert, dass er einen roten Kopf bekam, die Kisten in den Flur stellte, die Dame mit einem angedeuteten Handkuss und „Ich kümmere mich drum!" verabschieden wollte.

    Ob er eigentlich wisse, in welchem Gemäuer er arbeite, wollte die Frau wissen. Sie machte keine Anstalten zu gehen, freute sich offensichtlich, einen Gesprächspartner gefunden zu haben. Sie sprach mit heiserer Stimme und so leise, dass er nicht sicher war, ob er sie richtig verstand.

    „Nein, ja, schon, natürlich, stotterte er. „Sind Sie von hier, aus Tannenhues?

    „Ich will Sie von Ihrer Arbeit nicht abhalten, guter Mann. Geh gleich wieder. Im Januar 1933 war der katholische Pfarrer dieser Gemeinde verstorben. Noch auf dem Sterbebett hielt er seinen Kirchenküster Bröselamm an, das alte Pfarrhaus als Gemeinde- und Familienarchiv zu pflegen. Die baufällige Kirche werde zukünftig nicht mehr genutzt, entweiht und kirchenrechtlich geschlossen. Und somit sei auch er, Bröselamm als Sakristan, nicht mehr gefragt. Er möge sich aber um das Archiv kümmern und als Kirchenbuchführer nützlich machen. Mit Genehmigung der obersten Heeresleitung, wie Bröselamm das bischöfliche Vikariat nannte, hatte er das leerstehende Pfarrhaus bezogen und als sogenannter Gemeinde- und Familienarchivar gearbeitet."

    Die Frau machte eine kurze Pause. Holte tief Luft, schnaubte sich die Nase, stopfte das Taschentuch recht umständlich in ihre Handtasche, so als wolle sie sich Zeit nehmen, um ihren Gedanken neu zu formulieren. Schließlich sagte sie: „Nach Hitlers Machtergreifung da hatte er viel zu tun, der Bröselamm. Da wurde die Bevölkerung gezwungen, angemessene Beweise für ihre arische Abstammung vorzulegen. Wir waren schon einmal hier. Damals wollten wir in die Kirchenbücher schauen und Abschriften von Tauf-, Geburts- und Heiratsurkunden. Ariernachweise. Ahnenpässe. Wer keinen judenfreien Stammbaum beibringen konnte, wurde aus dem Staatsdienst entlassen oder mit Berufsverbot belegt. So war das früher. Das wissen Sie sicher. Aber was Sie nicht wissen: Bröselamm hielt die Hand auf. Wer kein Geld hatte, bekam keine Beglaubigung. Die meisten verschwanden daraufhin im Nirgendwo. So war das damals!, wiederholte sie, wandte sich zum Gehen und kam zurück. „Einige Jahre nach dem Krieg hatte er sich noch durchgewurstelt, dann war er mit einem Mal verschwunden. Ich wollte ihn sprechen, zur Rede stellen. Pustekuchen! Die Vergangenheit schien sich in alle Richtungen zu verkrümeln.

    Piepenschroer wusste nichts mit dem Wort anzufangen. Pusteblume, ja, aber Pustekuchen? Er war versucht zu fragen, warum zur Rede stellen? Er nickte nur und zeigte mit hochgezogenen Augenbrauen vorgetäuschtes Interesse. Die Frau drehte sich ab und sagte eher beiläufig: „Was ich Sie noch fragen wollte: Kennen Sie einen Herrn Coblus? Oder einen Herrn Träfter?"

    Piepenschroer verneinte, spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss, und die alte Dame sah ihm an der Nasenspitze an, dass er log. Da schob sie den Ärmel ihrer Bluse hoch. Als sie ihm eine blauschwarz tätowierte Nummer auf dem Unterarm zeigte, sie dennoch lächelte, verstand er nicht, was in ihm vorging. Er sah nur die Traurigkeit, die in ihren Augen lag. Nachdem sie gegangen war, stand er lange so da im Türrahmen - bis ihm bewusst wurde, wie kalt es war.

    Die Nachbarn wollten sich weder an die Zeit, noch an die näheren Umstände von Bröselamms Flucht erinnern. Über den ehemaligen Küster auch nur einen Satz zu verlieren, lohne nicht, hatte jemand, der am Tresen in der Kneipe Im Krug zum grünen Kranze neben Piepenschroer stand, spitz entgegnet, als das Gespräch auf seinen Vorgänger kam. Man müsse unter die Vergangenheit auch mal einen Schlussstrich ziehen. Die Geschichte ruhen lassen. Man lebe schließlich im Jahre des Herrn 1975 - „zwanzig Jahre her, als wir den Krieg verloren hatten, hatte er gemault. Die Alliierten hätten mit aller Akribie nach Nazis geforscht. Da müsse man nicht päpstlicher sein als der Papst. Und der Alte aus Rhöndorf, der Adenauer, hatte mit dieser Haltung schon Recht. Dann fingen sie wieder an zu schnüffeln, die sogenannten Achtundsechziger, die selbsternannten Revoluzzer. Und Sie? Ich kenne Sie gar nicht. Was machen Sie überhaupt hier?, fragte der Mann. Der Bierschaum hatte einen weißen Schnurbart hinterlassen, den er mit dem Handrücken abwischte.

    „Nichts ist denkbar ohne ein Vorher", antwortete Piepenschroer und wunderte sich über seine Ausdrucksweise, die er sich längst abgewöhnt hatte.

    Eine Frau, zwei Hocker weiter, schaute zu ihnen rüber. Piepenschroer hatte den Eindruck, weil sie so energisch mit dem Kopf gewackelt hatte, sie würde dem Mann widersprechen.

    „Ich will Ihnen mal was sagen", hob der Mann den Zeigefinger, „die deutsche Geschichte besteht aus mehr als diesen zwölf Jahren. Das sollte auch bei Ihnen angekommen sein. Unser Pfarrer hier, Gott hab ihn selig, pflegte bei ähnlichen Gesprächen zu sagen: Damals weigerten sich die Leute, die Realität wahrzunehmen. Es gibt kein Ende der Geschichte. Wenn Sie Weltgeschichte aus der Nähe betrachten, sehen Sie gar nichts! Die Zeit vor und die Zeit nach 1933. Wahrnehmungsverweigerung bis zu partieller Blindheit. Und das gebe ich Ihnen noch mit auf den Weg, was unser Herr Pastor, Gott hab ihn selig, sagte: Gehen Sie davon aus, dass wir nicht Gefangene unserer Vergangenheit sind. Ich für meinen Teil gestalte meine Zukunft schon selbst. Bin Gewinner. Nicht Verlierer. Also, guter Mann, ich bin weder geschichtsvergessen noch geschichtslos. Es gibt kein Ende der Geschichte. Das war’s, mein Herr! Lassen Sie uns in Ruhe! Guten Tag! Und einmal muss auch Schluss sein", polterte er weiter, sodass sich die Frau jetzt doch zu Wort meldete.

    Piepenschroer fand, das könnte ein interessantes Kneipengespräch werden. Rede, Widerrede, schimpfen, drohen und jammern: Stammtisch eben.

    „So ist es! rief die Frau und klatschte in die Hände. „Man kann die nachfolgende Generation nicht ständig mit der Vergangenheit konfrontieren und damit ihre Zukunft belasten. Vergangenheit ist Geschichte!, rief sie. Dann trat sie ganz nah heran: „Sicher gab es Schuld und Irrtum, aber ob die Jugend von diesen alten Geschichten noch etwas hören will? Und wir Deutschen hatten unter Hitler wieder das Gefühl bekommen, Herr im eigenen Haus zu sein. Jetzt gibt man uns die Schuld. Spionieren in unserem Privatleben herum. Pfui, Teufel! Der Bröselamm, das war ein anständiger Kerl. Der wusste zu unterscheiden zwischen Ariern und Nichtdeutschen. Gott, es war die Zeit! Unser Leben! Wir waren jung! Hatten keine Vergangenheit. Jetzt plötzlich will man sie aufdecken. Wir leben heute in der Gegenwart. Und damals waren wir in dem Alter - da stellte man keine Fragen. Und wenn, bekam man keine Antworten. Man vertraute einfach. Es war jedenfalls üblich ... Sie machte plötzlich ein Pause, holte ihr Bierglas und trank es leer. „... sind Sie etwa auch so ein Naseweis? Hier im Archiv?, fragte sie, drehte Piepenschroer den Rücken zu, ohne ihm Gelegenheit für eine Antwort zu geben oder eine Frage zu stellen. „Man hält es nicht im Koppe aus!", rief sie und bat Ellen, die Wirtin, um einen Schnaps.

    Piepenschroer überlegte kurz, ob er von sich erzählen sollte. Er hätte von der Wirklichkeit, von seiner Geschichte als Erfahrung erzählt und beiden die Wahrheit ins Gesicht gesagt - die Wahrheit, die mehr schmerzt als die Lüge. Doch er beließ es dabei. Er musste ohnehin zurück. Besuch hatte sich angemeldet.

    3

    Kommen Sie herein. Piepenschroer, Alois Piepenschroer mein Name. Horst-Heinrich Düsterkoven wäre beinahe über die niedrigen Türschwelle gestolpert, wartete höflich, machte einen schnellen Diener und stellte sich vor: „Angenehm, Endenich, Fritz Endenich. Danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben, Herr Piepenschroer! und folgte ihm durch einen langen schmalen Flur in einen seltsam eingerichteten Raum.

    „Was treibt Sie zu mir? Nehmen Sie Platz, Herr Endenich, wo immer Sie möchten. Viel Auswahl hatte Düsterkoven nicht. Während er sich in einen verschlissenen Korbsessel setzte, sagte er: „Es geht um einen Forschungsauftrag. Wortlos, leicht vor sich hin schmunzelnd, legte er seine Visitenkarte auf den Tisch. Wie leicht ihm der Name über die Lippen ging!

    „Darf ich?", fragte er und nestelte eine Zigarette aus einem Zigarettenetui. Piepenschroer nickte und kramte seinerseits eine Pfeife aus der Jackentasche. Das Pfeife ansteckende Ritual sichtlich genießend, stopfte er den Tabak erst leicht, dann fester in den Pfeifenkopf, steckte ihn mit einem Streichholz nur oberflächlich in Brand, drückte mit dem Zeigefinger leicht nach, erneut ein brennender Streichholz, zwei, drei kräftige, paffende Züge hintereinander - lässig erwartungsvoll ließ er sich in seinen Schreibtischsessel fallen und lehnet sich weit zurück. Sein Kopf verschwand im dicken Rauchnebel.

    Der Mann ruht in sich selbst, dachte Düsterkoven, steckte sich die Zigarette mit einem edlen Gasfeuerzeug an und inhalierte tief. Erst jetzt bemerkte er, daß Piepenschroer zwar einen feinen Nadelstreifenanzug, an den Füßen aber braun-weiß karierte Pantoffeln trug.

    „Ein entfernter Verwandter, ein Freund meines Professors Buckebruek, hatte mich auf Sie aufmerksam gemacht. Ein merkwürdiger Mensch zwar. Aber wenn es der Wahrheitsfindung dienlich ist..., lachte Düsterkoven etwas zu laut. „... aber er hatte Ihr Archiv lobend erwähnt und Sie als wissenschaftliche Koryphäe wärmstens empfohlen, wenngleich Prof. Buckebruek meinte, in ...

    Piepenschroer schien nicht zuzuhören, rümpfte die Nase und ging in die Küche. „Reden Sie nur weiter. Hole etwas zu trinken, rief er von dort und brachte auch seinem Besucher ein Glas Wasser mit. Dann legte er sein Jackett über eine Stuhllehne, kniete sich vor eine Wand und machte einen Kopfstand. „Lassen Sie sich nicht stören. Ich höre zu!, brummte er von da unten und ließ die ausgelatschten Hausschuhe herunterfallen.

    Düsterkoven verschlug es die Sprache und wartete, bis Piepenschroer seinen Kopfstand beendet hatte. Einmal mehr fragte er sich, warum er überhaupt hierher gekommen war. Schließlich ließ er seiner Fantasie freien Lauf und fuhr fort: „Möglicherweise passt die von meinem Vetter erwähnte Idee mit dem anspruchsvollen Promotionsthema zusammen. Hoffe ich wenigstens." Schließlich stand er auf, drückte die Zigarette aus und machte Anstalten zu gehen. Was sollte er hier? Buckebruek hatte recht - verlorene Zeit.

    „Nun zur Sache, Herr Endenich. Piepenschroer nahm mit hochrotem Kopf wieder Platz. „Wie wär’s, wenn Sie ... aber bitte: Behalten Sie doch auch Platz! Sie sprechen von einer wissenschaftlichen Studie, richtig? Von einem Forschungsauftrag.

    Düsterkoven druckste herum. Kramte aus seiner Jackentasche einen Zettel, den er schon seit Wochen mit sich herumschleppte. „Ich muss das ablesen", lachte er wieder: „Die Genealogie der Soziologisierung in der Ökonomietheorie des 20. Jahrhunderts, familiengeschichtlich dargestellt anhand von vornehmlich privaten Unterlagen aus Handwerkerfamilien in mittelständischen Kleinstädten."

    Piepenschroer lehnte sich weit zurück, grinste und paffte gedankenverloren seine Pfeife: Möglicherweise - hatte sein Besucher Endenich wirklich dieses Wort benutzt? Aber nicht gedehnt, wie sein früherer Vorgesetzter im Ministerium, Archivdirektor Dr. Gustav Büsensen. Und der hier? Erzählte und lachte. Warum diese Nervosität? Eine Familiengeschichte als theoretische Abhandlung oder als Spiegel der Vergangenheit? Wie hatte vor kurzem das alte Mütterchen gemeint: Der Vergangenheit ein Echo geben. Richtig - das war als Archivar sein Job. Er wird seinen Besucher bei Gelegenheit, sollte sie sich mal ergeben, fragen, wie der Verwandte hieß. Er glaubte, ihn zu kennen. Mög-lich-er-wei-se versteckte er sich hinter einer Maske. Masken trugen alle. Auch Fratzen. Hassfratzen, hinter denen nichts als Trümmer, stinkender Unrat und schneidende Gefühlskälte steckten. In diesem Moment, während ihm das Wort Maske durch den Kopf ging, musste er schmunzeln. Er erinnerte sich an seinen grotesken Auftritt während der ministerialinternen Osterfeier vergangenen Jahres: Er hatte sich als Weihnachtsmann verkleidet und auf Pappe ein fotografiertes Konterfei von Büsensen geklebt. Der Schnauzbart etwas zu wuchtig, dennoch: Idee und Ausführung fand er, im Spiegel betrachtet, gelungen. Als er zu den bereits feiernden Kollegen gestoßen war, sein Gesicht bedeckt mit der Chef-Papp-Fratze, hatte er gerufen: Mög-lich-er-wei-se kommt zu Ostern auch der Weihnachtsmann! Das Riesengelächter hörte er jetzt noch. Aber ein überaus beleidigter Büsensen hatte mit hochrotem Kopf und noch heller als sonst leuchtenden, abstehenden Ohren umgehend die Veranstaltung verlassen. Danach war die verschwiegene Verbundenheit zwischen ihnen beendet. Nachhaltig gestört wenige Tage später auch die Zusammenarbeit mit den Kollegen. Eisiger Dauerfrost. Im Hintergrund hatte Büsensens Sekretärin, Fräulein Tösse, die Strippen gezogen: Früher die Freundlichkeit in Person. Plötzlich ein Eisblock. Kratzbürstig,

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