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A T A K O R I E N: DAS NEUE LAND     Band 2
A T A K O R I E N: DAS NEUE LAND     Band 2
A T A K O R I E N: DAS NEUE LAND     Band 2
eBook692 Seiten9 Stunden

A T A K O R I E N: DAS NEUE LAND Band 2

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Über dieses E-Book

Die Botschaft:
"Religionen aller Länder vereinigt Euch zu einem Gott" wird besonders im Band 2 von ATAKORIEN fortgesetzt und zeigt dazu viele Möglichkeiten auf friedlich miteinander zu leben.
Die wichtigsten Fragen der Menschheit sind die nach dem Sinn und Zweck seines Daseins in dieser Welt. Was soll ich tun? Wer will ich sein? Wie will ich leben? Und unter welchen gesellschaftlichen Verhältnissen kann ich mich am besten verwirklichen und damit mein Lebensglück finden.
In ATAKORIEN haben die Menschen für kurze Zeit das Glück gefunden. Sie haben aus der Geschichte gelernt. Doch das Leben dort wird angegriffen und man beschließt vor dem Exodus noch einmal gemeinsam im Pantheon die Botschaft der ATAKORIER zu verkünden: "Die Welt dreht sich weiter und Ihr seid dazu berufen, den Geist des Friedens und der Eintracht in die Welt hinauszutragen"

ATAKORIEN, das ist ein modern-philosophisches Märchen über ein imaginäres Königreich im Norden von Afrika. In gekonnter Sprache ein großer erzählerischer Entwurf, ebenso wahr wie noch immer aktuell und brisant.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum15. März 2017
ISBN9783734561115
A T A K O R I E N: DAS NEUE LAND     Band 2

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    Buchvorschau

    A T A K O R I E N - Reinhard Bartsch

    DAS NEUE LAND

    Robert und Sabine

    Zu Beginn des nächsten Jahrzehnts brach in ATAKORIEN eine neue Entwicklungsetappe an, die man später als Wachstumsphase bezeichnete, weil sich in dieser Zeit durch einige wichtige politische Entscheidungen und Maßnahmen sowie weitere großartige Erfindungen und Entdeckungen eine stürmische Entwicklung der ökonomischen Basis und des gesamten gesellschaftlichen Überbaus des Landes vollzog. Von aller Welt unbemerkt, begann sich eine Hochkultur und eine wirtschaftliche Supermacht zu entfalten, die eines Tages ihrer Zeit weit vorauseilen und überlegen sein würde; die Grundlagen dazu wurden jetzt geschaffen.

    ***

    Nach wie vor war der Omnivisor eines der wichtigsten technischen Mittel auf der Suche nach gleichgesinnten und dem Aufbau des Friedensreiches dienlichen Persönlichkeiten. Nichts hatte das Gerät an Attraktivität eingebüßt; man durfte frei mit ihm experimentieren und kam so, neben vielfältigen und neuen Anwendungsmöglichkeiten auch zu manch absonderlich erscheinender Idee.

    „Wohin soll ich das Ding programmieren?" fragte eines Tages Gansel, der bei solchen Gelegenheiten fast immer Regie führte, seine um ihn am Omnivisor mit gespannter Erwartung versammelten Freunde. Wie immer wollte er dem interessantesten Vorschlag entsprechen, denn das Vergnügen sollte möglichst niveauvoll verlaufen.

    „Wenn ich bitten darf, nach Ost-Berlin", meinte Winkler da zur nicht geringen Überraschung aller.

    Erstaunt fragte der König: „Warum ausgerechnet Ost-Berlin, lieber Heinrich, wo eine Staatsidee herrscht, die, wie wir alle wissen, auf Lüge, Angst und Gewalt aufgebaut ist? Er schüttelte den Kopf und machte einen anderen Vorschlag. „Ich wäre viel lieber nach Frankfurt am Main gegangen, wo jetzt an der Goethe-Uni dein Freund Carlo und ein paar gute Philosophen lehren. Weißt du, wen ich meine?

    Winkler nickte. „Ja, sicher, Theo und Max. Aber ich würde mich trotzdem lieber in Ost-Berlin umsehen."

    „Warum?" fragte Gansel.

    „Weil ich gern wissen möchte, ob atakorisches Bewusstsein unter den Bedingungen eines Gewaltsystems überhaupt existieren kann", gab der Philosoph zur Antwort.

    Das interessierte sie alle, deshalb programmierte Gansel das Gerät dorthin, wenn auch mit einigem Widerwillen. Als die Schönhauser Allee im Omnivisor auftauchte, murmelte er bissig: „Bitte sehr, Berlin. Erleben wir den Charme einer Stadt, die mit ihrem Hintern auf einem Pulverfass sitzt."

    Langsam führte er den Sucher die Straße hinab, hinweg über die Köpfe unzähliger Menschen, und nun wartete man das Ergebnis ab, aber es tat sich nichts. Also suchten sie die Umgebung ab.

    „Geh bitte auch in die Häuser, Gansel", bat Winkler, den anscheinend das Suchfieber gepackt hatte. Wenigstens einen Menschen mit atakorischem Bewusstsein wolle er sehen, das würde ihm schon genügen, sagte er.

    Im Prenzlauer Berg suchten sie vergebens. Später kämmten sie die anderen, östlichen Stadtteile durch. Es war das vergebliche Suchen nach der berühmten Nadel im Heuhaufen. Nach etwa sechs Stunden unnützen Ausharrens an dem Gerät meinte der König enttäuscht: „Lass uns aufhören, Gansel. Entweder funktioniert die Technik nicht (immer warteten sie alle darauf, dass der Omnivisor versagt, aber er versagte nie), oder in dieser armen Stadt gibt es keinen einzigen Menschen mit atakorischem Bewusstsein."

    Enttäuscht auf den König blickend, meinte Winkler, dass es zum Aufgeben noch viel zu früh sei. „Wir müssen weitersuchen, mein König, drängte er, „ich wette, irgendwann finden wir jemand mit atakorischem Bewusstsein.

    Götz schüttelte nur den Kopf, und da sich der ebenfalls entmutigte Gansel nun auf seine Seite stellte, war schnell eine Mehrheit für den Abbruch des Suchens gefunden.

    Nur Winkler verharrte eigensinnig auf seinem Standpunkt. „Wenn ihr nicht mitsuchen wollt, dann tue ich es eben allein!" sagte er mürrisch und blieb einsam an dem Gerät zurück, als ihn seine Freunde kommentarlos verließen. Was ihn da antrieb, niemand, auch er selbst nicht, hätte das zu sagen gewusst. Zum ersten Mal in seinem Leben tat er etwas, ohne sich zu fragen, ob das vernünftig sei oder nicht; und so suchte er denn im weiten Bogen die Stadt ab, geduldig, wachsam, konzentriert, Stunde um Stunde, Tag um Tag, wie ein Besessener, der niemand an sich heranließ, der nur das Nötigste an Nahrung aufnahm, so dass man sich berechtigterweise fragte, ob er verrückt geworden sei.

    Aus unbestimmten Gründen gerade von der belebten Schönhauser Allee angezogen, kehrte er immer wieder zu ihr zurück, bis dann am Abend des vierten Tages das Signalgerät ertönte. „Na endlich!" rief er froh. Im Omnivisor war ein großer, stämmiger junger Mann zu sehen, seiner Kleidung nach – schwarzer, abgetragener Anzug, weißer, steifer Halskragen – ein katholischer Priester, was Winkler im Moment nicht interessierte. Aufgeregt rief er alle seine Freunde zusammen und präsentierte ihnen seinen Erfolg.

    „Seht ihr, verkündete der Philosoph freudestrahlend, „ich hatte recht mit meiner Vermutung, dass sich selbst in dieser Region Menschen mit atakorischem Bewusstsein finden lassen.

    Der König, der den Gesuchten, wie er da in leicht gekrümmter Haltung seiner Wege ging, aufmerksam betrachtete, meinte lächelnd: „Sehr beeindruckend wirkt er gerade nicht, dieser katholische Priester, und ich bezweifle sehr, dass er den gesuchten Anforderungen entspricht."

    Prior Maurice allerdings fand es ganz normal, auf einen Geistlichen mit atakorischem Bewusstsein gestoßen zu sein.

    „Das ist natürlich divinis influxibus ex alto", sagte er andächtig.

    Winkler sprach lachend. „Abwarten, Prior, nicht alles lässt sich auf göttliche Erleuchtung zurückführen."

    Der Mann hieß Robert Lehnhard und war Kaplan. Dass ausgerechnet dieser Priester eines Tages in Atakorien eine große Rolle spielen würde, konnte zu dieser Stunde freilich niemand ahnen.

    * * *

    Den Kopf so tief gebeugt, dass sein Kinn beinahe die Brust berührte, lief Kaplan Lehnhard an jenem Abend im Mai die Kopenhagener Straße in Richtung Schönhauser Allee hinunter. Beim Anblick des großen, mit schlaksig-wiegendem Gang und rudernden Armbewegungen dahinlaufenden Mannes konnte Winkler sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er da einen tiefbetrübten, vielleicht sogar seelisch kranken Menschen beobachtete. Wenn seine Kleidung es nicht verriete, dachte der Philosoph, würde man auf keinen Fall in ihm einen Geistlichen vermuten. Dazu schien sein hin und wieder ängstlich-misstrauisches Umsichblicken ein schlechtes Gewissen zu verraten und die Besorgnis, erkannt zu werden. Was hat das zu bedeuten, fragte sich Winkler, befindet sich der Kaplan auf dunklen Pfaden? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Lehnhard bog in die Kastanienallee ein, ging dort noch etwa 200 Meter weiter und verschwand dann im Hauseingang eines der vom Krieg arg ramponierten Wohnhäuser, die dieser Straße beiderseits mit ihren zerbröckelnden, rissigen Fassaden ein typisches Nachkriegsgesicht gaben. Im Vorderhaus ging er zwei Etagen nach oben und klingelte an einer Tür, hinter der, so stand auf dem rostigen Namensschild zu lesen, eine Sabine Rüttger wohnte.

    Kurz darauf wurde die Tür geöffnet, eine junge, brünette Frau stand vor dem Kaplan, stieß einen Freudenschrei aus und rief: „Robert, endlich! Das klang froh und erleichtert. Hastig des Mannes Rechte packend, zog das zierliche Geschöpf ihn über die Türschwelle, warf die Tür zu und wechselte jäh den Tonfall. „Wo warst du? Warum bist du solange weggeblieben? Warum hast du mir das angetan? Bittere, vorwurfsvolle Fragen, die Lehnhard stumm auf sich herabprasseln ließ, während sich die grünen, ausdrucksstarken Augen in ihrem kindhaft weichgerundeten Gesicht mit Tränen füllten. Der Kaplan stand da wie versteinert und blickte zu Boden. Sein schuldbewusstes, demütiges Verharren schien die Frau in Wut zu bringen. „Ja, Robert, schweige nur, rief sie schrill, „ich weiß ohnehin, was in dir vorgeht! ... Wie oft versuchst du eigentlich noch, mich zu verlassen? Wie lange soll ich es noch ertragen, dass du dich gegen dein und gegen mein eigenes Herz zu stellen bemühst und damit scheiterst?

    Jetzt endlich sah er sie an, bestürzt, traurig, heiser klagend: „Mach’s mir doch nicht so schwer, Sabine. Du kennst doch mein Problem. Du weißt, ich liebe dich und ich liebe mein Amt. Gott hat mir eine schwere Prüfung auferlegt."

    „Besser gesagt, mein Lieber, hat Gott dich in einen gewaltigen Konflikt gestürzt, meinte Sabine, deren Zorn plötzlich verraucht war. „Ich weiß, fügte sie milder hinzu, „mit zwei großen Lieben leben zu müssen, fällt dir schwer, sie seufzte, „aber dieser Konflikt ist lösbar.

    „Wie lösbar?" fragte Lehnhard.

    Anstatt darauf zu antworten, bot sie ihm, den Kopf weit in den Nacken streckend, ihre Lippen zum Kuss.

    Vor allem der Behutsamkeit, mit der er sie jetzt in die Arme nahm und küsste, war die Tiefe seines Gefühls für sie zu entnehmen. Was aber vorerst der stille Beobachter nur ahnen konnte, schien Sabine genau zu empfinden. Ihr Lächeln nach dieser kleinen Zärtlichkeit deutete jedenfalls darauf hin.

    „Komm in die Küche, sagte sie dann, „es gibt Pellkartoffeln mit Hering.

    Robert strahlte: „Oh, mein Lieblingsgericht!"

    „Deins ist es sicher noch, aber mir hängst langsam zum Halse heraus, erklärte Sabine lachend. „Täglich seit drei Wochen gab’s bei mir Pellkartoffeln mit Hering, weil ich hoffte, du würdest kommen.

    Sie gingen in die Küche, die einfach eingerichtet war. An einem rechteckigen Tisch in der Mitte des Raums standen zwei Stühle. Der Blick aus dem großen Doppelfenster fiel auf eine mächtige, weißblühende Kastanie. Sabine hatte die Heringe bereits zubereitet. Die Kartoffeln, die in einem Topf auf dem Gasherd standen, mussten erst noch gekocht werden. Zeit genug also, das ernste Gespräch wieder aufzunehmen.

    Sie setzten sich an den Tisch. Die Frau nahm die Hände des Mannes und begann mit sanfter Stimme auf ihn einzureden. Sie wisse genau, wie sehr er überfordert sei, wenn ihn sein schlechtes Gewissen packe, sagte sie, aber sein schlechtes Gewissen melde sich leider regelmäßig an falscher Stelle. Nichtwegen des gebrochenen Keuschheitsgelübdes solle es ihn quälen, sondern wegen seiner Absicht, sich aus ihrer Liebe hinweg zu stehlen.

    „Denk darüber nach, Robert, was du anrichtest, wenn du unsere Liebe verrätst. Ich glaube, dass du vor allem damit Gott beleidigen würdest. Es gibt keine größere Sünde", sprach sie tiefernst.

    Mit gequälter Miene schüttelte Lehnhard den Kopf und murmelte: „Du machst es dir mal wieder zu einfach, Sabine."

    Nein, sie mache es sich nicht zu einfach, sondern nur einfach, behauptete sie. Die Wahrheit sei immer einfach. Und die Wahrheit sei schlicht und ergreifend die, dass über allem, wie es der Heilige Paulus formuliert habe, die Liebe stehe, und sie begann damit, die berühmten Worte aus der Heiligen Schrift zu zitieren. Aber als sie bemerkte, dass sich Lehnhards Augen daraufhin mit Tränen füllten, brach sie ab und streichelte seine Hände. Das hatte etwas Beruhigendes, Mütterliches an sich, und es erzielte die erwünschte Wirkung. Lehnhard beruhigte sich. Schließlich setzte sie sich auf seinen Schoss, küsste ihm die Tränen von den Wangen und flüsterte: „Merk dir eins, Robert: nie kommst du von mir los, es wird dir nicht gelingen, so oft du’s auch versuchst. Wir gehören zusammen."

    Während des Essens sprach Sabine von der schlechten Stimmung unter den Arbeitern des Baubetriebes, in dem sie arbeitete. Wegen der Heraufsetzung der Arbeitsnormen und anderer Willkürmaßnahmen der Herrschenden läge etwas Hochexplosives in der Luft, täglich könne ein Streik losbrechen oder andere Unruhen aufflackern, als Sekretärin beim Direktor bekäme sie das alles besonders gut mit. Natürlich sei die gefährliche Atmosphäre unter den Werktätigen den Machthabern bekannt, und diese hätten auch schon darauf reagiert. Spitzel hätten sich unter die Bauarbeiter gemischt, und es sei bereits zu den ersten Verhaftungen gekommen. Das alles erzählte sie mit sehr viel Verbitterung ... „Was meinst du, wie satt ich das habe: all das Lügen, den Zynismus, die Ausbeuterei und die Reglementierungen dieses sogenannten Arbeiter- und Bauernstaates, dem täglich mehr Leute den Rücken kehren! Und das versichere ich dir: wenn hier eines Tages ein Streik losgeht, bin ich sicher mit dabei, und zwar in der vordersten Linie!" sagte sie mit so viel Courage, dass der Kaplan erschrak.

    „Um Gottes willen, Sabine, du wirst dich doch nicht solcher Gefahr aussetzen!"

    „Natürlich tue ich das! hielt sie ihm entgegen. „Für Gerechtigkeit zu kämpfen, ist immer gefährlich, und für Freiheit zu streiten sowieso. Doch es ist höchste Zeit, die Speichellecker der Russen zu verjagen und freie Wahlen zu verlangen! Ich denke, das ist unsere Pflicht! Gerechtigkeit und Freiheit gehören zusammen! Ihre Augen blitzten. Zweifellos war sie ein Kämpfertyp mit Moral.

    „Und Frieden, ergänzte der Kaplan. „Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit müssen eine Dreieinigkeit darstellen.

    Erfreut horchte Winkler auf. Hatte ihm bisher die mutige, junge Dame sehr gefallen als der scheinbar wankelmütige Mann, war es jetzt umgekehrt. Auch das, was Lehnhard dann doch sagte, gefiel ihm.

    Eigentlich sei es schade, dass der Philosoph Marx Gewalt predige und zur Religion auf kritische Distanz gehe, denn seine Gedanken über Arbeit und Gerechtigkeit kämen der jesuanischen Ethik sehr nahe, meinte er. Kommunismus wäre vielleicht sogar etwas Gutes, wenn nicht Unfreiheit und Gewalt einer Diktatur dahinter stünden. „Was meinst du, Sabine, wird man hier jemals begreifen, dass Gerechtigkeit auf Kosten der Freiheit keine wirkliche Gerechtigkeit ist?" fragte er.

    „Nein", antwortete sie. „Aber auch Frieden auf Kosten von Gerechtigkeit und Freiheit ist kein wahrer Frieden „ Immer wenn die Bonzen über diese Begriffe redeten, stellten sie deren Sinn auf den Kopf, meinte Sabine. Die Lüge sei neben der Gewalt das größte Übel. Das müsse aufhören, wenn nicht anders möglich, dann mit Hilfe von Gewalt.

    „Wenn ihr es wagen solltet, an dem System zu rütteln, wird’s ein Blutbad geben", prophezeite Lehnhard, doch seine Geliebte schien darüber wenig beeindruckt.

    „Dann bist du mich endlich los", meinte sie trocken.

    Lehnhard rief erschrocken: „Sabine, du forderst Gott heraus!"

    Aber sie lachte nur und meinte: „Wir werden nicht umkommen, sondern siegen."

    Niemand könne die Zukunft voraussehen, denn die liege allein in Gottes Hand, warnte Lehnhard. Gott mache alles möglich. Nach seinem Willen werde Geschichte geschrieben. Wenn er es wolle, könnten sogar Kommunisten zu Demokraten werden oder in Deutschland könnte ein Friedensreich anbrechen.

    Sabine ging darüber hinweg. Sie mutmaßte, dass er mal wieder eine tiefsinnige Predigt zu seinem Lieblingsthema Friedensreich ausbrüte und deshalb so sehr auf Pazifismus orientiert sei.

    Lehnhard gab ihr Recht. Er bereite tatsächlich eine diesbezügliche Predigt vor, und es solle eine große Predigt werden. „Ich werde über eine bestimmte Stelle aus dem Johannes-Evangelium predigen, sagte er. „Willst du sie dir nicht anhören? Sie nickte.

    Es sei die Stelle im Evangelium, wo Johannes den Himmel offen und eine himmlische Stadt sähe, meinte er ... „Und diese Stadt werde ich nun zum Ausgangspunkt einiger Betrachtungen über ein friedliches, freies und gerechtes Staatsgebilde machen", fügte er hinzu.

    Sabine sagte lächelnd: „Du Träumer, du willst den Himmel auf die Erde herunterholen."

    „Ein ständiges Anliegen des Allmächtigen", ergänzte Lehnhard ernsthaft.

    Darauf wusste Sabine keine Erwiderung, sagte aber, dass sie nun genug habe vom Philosophieren und endlich was Besseres zu tun gedächte. Sie erhob sich und forderte Lehnhard auf, ihr zu folgen.

    Aber was war das? Flog da nicht ein Schatten über des Mannes Gesicht? Widerte ihn gar an, was man als höchste Himmelsgabe betrachtet? „Die verfluchte Liebe", murmelte Winkler vor sich hin und stellte das Gerät ab.

    Einer inneren Eingebung folgend, schaute er ein paar Stunden später erneut auf den Kaplan.

    Der Geistliche saß zu Hause vor einer Flasche Schnaps und war anscheinend volltrunken. Mühsam schrieb er ein paar Worte auf einen Papierbogen, unverständliches Zeug vor sich hin lallend und immer wieder zur Flasche greifend. Eine widerwärtige Szene. Winkler wollte schon abschalten, aber etwas Unbestimmbares hielt ihn zurück. Ein paar Minuten später stand Lehnhard auf. Es war gegen 1 Uhr nachts. Schwankend wie ein Rohr im Wind torkelte er aus seiner Wohnung, hinunter in die Kirche und schließlich auf den Glockenturm hinauf. Winkler ahnte Schlimmes. Oben angelangt, versuchte Lehnhard nun, auf die Brüstung eines offenen Fensters zu steigen. Der Turm war über 40 Meter hoch.

    „Großer Gott, nein! sagte Winkler. Dann sah er den Geistlichen auf der Brüstung stehen und sich bekreuzigen. „Nein, wiederholte der Philosoph entsetzt. In diesem Moment stürzte der Kaplan aber nicht nach draußen. Irgendwie ins Rutschen gekommen, stürzte er nach drinnen und blieb bewusstlos neben den Glocken liegen.

    Natürlich behielt Winkler den Kaplan im Auge.

    Dass Lehnhard seelisch litt, erkannte jetzt auch sein Vorgesetzter, Pfarrer Köhler in der Gemeinde Sankt Stephanus, während sie gemeinsam das sonntägliche Hochamt zelebrierten. Der stumpfe, depressive Blick, das schlaffe Lächeln ins Leere, die müde, heisere Stimme des Kaplans während der Wandlung, das alles waren eigentlich unmissverständliche Symptome. Es war der Morgen nach seinem misslungenen Suizidversuch, an dem Lehnhard im Glockenturm, sich an nichts mehr erinnernd erwacht war und sich dann schwer verwirrt, unter Vermeidung jeglichen Aufsehens, in seine Wohnung gestohlen hatte, wo er beim Anblick der geleerten Schnapsflasche und des unleserlichen Gekritzels auf dem Papier dunkel das Geschehene zu erahnen begann.

    Wie es nach dem Hochamt üblich war, nahmen auch heute in des Pfarrers Wohnung die beiden Geistlichen das Mittagsmahl gemeinsam zu sich. Dabei sprachen sie kaum miteinander, beobachteten sich aber heimlich: der eine misstrauisch forschend, der andere ängstlich schamerfüllt.

    Nach dem Essen geschah nun das, was der Kaplan längst befürchtet hatte. „Lehnhard, was ist los mit Ihnen?" Die Frage klang unaufdringlich, der Blick des Pfarrers allerdings bohrte sich förmlich in die trüben Augen seines Kaplans hinein.

    Zunächst versuchte dieser, sich dumm zu stellen. „Was soll los sein, Herr Pfarrer, mir geht's gut, ich kann nicht klagen."

    „Lehnhard, lügen Sie nicht. Die Augen des Herrn schauen auf Sie herab!"

    Der Kaplan senkte schweigend den Blick und biss sich auf die Lippen.

    „Nun mal raus mit der Sprache. Was ist es? drängte der Pfarrer, der, wie sich gleich zeigen sollte, besser über die Ursache der Depression seines jüngeren Kollegen Bescheid wusste, als dieser ahnte. „Ist es eine Frau?

    „Wie kommen Sie ..."

    „Ich frage ja nur, unterbrach ihn Köhler schnell. „Und ich frage Sie jetzt, was Sie von einer ordentlichen Beichte halten?

    Unter Tränen schaute Lehnhard auf und gestand mit bebenden Lippen, dass er schwer gesündigt habe und sich dafür gewaltig schäme, worauf ihn der Ältere dazu aufrief, diese Scham in Reue umzuwandeln und Gott um Gnade und Vergebung anzurufen. Lehnhard ging darauf ein. Er schien sich die Last der Sünde von der Seele wälzen zu wollen.

    Was der Kaplan beichtete, klang wie der Bericht eines Lebens das von Ausweglosigkeiten und schweren Schicksalsschlägen gezeichnet worden ist. Sabine kenne er seit seiner Kindheit, sagte er. Zusammen wären sie in einem kleinen Nest im Oberschlesischen aufgewachsen und hätten dort gemeinsam ihre Jugend verbracht, eine schöne Zeit zwischen dunklen Tannenwäldern, klaren Seen und grünen Auen, eine Zeit harter Arbeit zwar – schon als Kinder hätten sie fleißig in der Landwirtschaft mitgearbeitet –, aber auch eine glückliche mit reinen, edlen Idealen und Gesinnungen. Deutschnational und gottesfürchtig das ganze Dorf, jeder hätte klar gewusst, wo es langginge. Das Leben wäre einfach, übersichtlich, streng geordnet und deshalb schön gewesen – wochentags Schinderei, sonntags früh Kirche, sonntags abends im Dorfkrug Tanz, der erste Kuss von Sabine, das erste Liebeserlebnis, der gemeinsame Schwur, sich ewig die Treue zu halten – alles glich einem stets sich wiederholenden Lauf von Generation zu Generation. Nichts in Sicht, was diesen Lauf hätte gefährden können bis zum Beginn des Krieges. Der Krieg hätte dann alles radikal verändert, dieser verfluchte Krieg, ohne den er wahrscheinlich kein Geistlicher geworden wäre, sondern den Hof vom Vater übernommen, Sabine geheiratet und mit ihr Kinder gezeugt hätte. So aber hatte es Gott gewollt, dass er zwanzigjährig im Jahre 42 und nicht mal unbedingt gegen seinen Willen zur Waffen-SS gekommen wäre. Deutschnational von Gesinnung hätte er es sich sogar zur Ehre angerechnet, Mitglied dieser Elitegarde zu sein, und wäre dann auch mit einem gewissen Stolz in den Krieg gegangen, freiwillig und gegen Sabines schärfsten Protest. Schon damals habe sie sein Schicksal aufs Innigste mit dem ihren zu verbinden versucht und damit gedroht, sich umzubringen, wenn er nicht unversehrt zu ihr zurückkehren werde. Aber darüber habe er hinweggehört. Ja, er habe Sabine geliebt, aber seine patriotische Pflicht, dem Vaterland zu dienen, stets als vorrangig betrachtet, unterstützt von seinem Vater und fast allen Männern des Dorfes. Das Erwachen sei an der Ostfront gekommen, wo der Krieg äußerst hart geführt worden wäre und wo die Ehre seiner Elitegarde darin bestanden hätte, sich durch besondere Grausamkeiten an gefangenen Soldaten und Zivilisten auszuzeichnen. Da wär’s urplötzlich vorbeigewesen mit seiner nationalistischen Gesinnung, da habe sich endlich sein christliches Gewissen gemeldet und er damit begonnen, seine Kameraden zu verabscheuen, ja zu hassen und heimlich zu Gott zu beten, dass er ihn vor einer erzwungenen Beteiligung an diesen Verbrechen verschonen möge, was dann tatsächlich auch geschehen sei, denn fortan als Schreibkraft im Stab seiner Division eingesetzt, hätte er während seiner ganzen Kriegszeit niemals einen Menschen quälen oder töten müssen. Seiner festen Überzeugung nach habe ihn Gott erhört. Wenig später habe er das zum zweiten Mal geglaubt, da jedoch unter eigener, höchster Lebensgefahr. An jenem Tage im Spätherbst 44 sei seine Division in schwere Rückzugsgefechte verwickelt gewesen, und Granaten der Stalinorgeln seien, ein fürchterliches Blutbad anrichtend, nur so auf sie niedergeregnet, alle zehn Meter auf dem flachen, überschaubaren Gelände einen Krater aufreißend und zerrissene menschliche Körperteile hochwirbelnd. Ringsumher ein einziges Krachen, Jaulen, Pfeifen, Schreien, ein Brennen und Qualmen. Das Jüngste Gericht, habe er da gedacht und aus seiner größten Todesangst heraus Gott wieder um Verschonung angefleht, verbunden mit dem Schwur, Priester zu werden, falls er dieser Hölle entkäme. In diesem Moment habe er absolut nicht an Sabine gedacht. Und tatsächlich – als einer der wenigen aus seiner Division habe er das Inferno und auch die darauffolgende Gefangenschaft bei den Russen lebend überstanden. 1947 aus der Gefangenschaft entlassen, habe er zunächst nach seinen Angehörigen gesucht, aber sein Dorf, dem Erdboden gleichgemacht, nicht mehr betreten können und seine Angehörigen sowie seine Freundin seien verschollen gewesen. Das Rote Kreuz, über das er sie habe suchen lassen, habe sie irgendwann für tot erklärt und dies damit begründet, dass über ihre Heimaterde die allesvernichtende Front hinweggewalzt sei. Die offizielle Verlautbarung: „Daheim 45 umgekommen, in einem der letzten Gemetzel in Oberschlesien." Die Heimat, die Eltern, Sabine, alles verloren, was seinem Leben Sinn gegeben hätte. War das nur Schicksal, was das ein Gottesspruch? Ein Gottesspruch, der ihn frei mache zur Erfüllung seines Eids, sei es, hätte er schließlich geglaubt und sich darum zum Priester ausbilden und weihen lassen. Das Amt indessen wäre ihm im Laufe der Zeit immer mehr ans Herz gewachsen, bis er es dann – und das bis zum heutigen Tag – sogar zu lieben gelernt habe. Aber die Frage, ob ihn ein Gotteswort oder nur ein zufälliges Schicksal zum Priesteramt geführt hätte, wäre, urplötzlich in seinem Herzen unheimliche Verwirrung stiftend, wieder aufgetaucht – mit Sabine. Was nach Kriegsende, in der Zeit größten Durcheinanders, wo Millionen von Menschen mit Erfolg oder ohne gesucht und wo am Ende manche Totgeglaubten wiedergefunden wurden, so oft geschehen sei, das sei auch in ihrem Falle eingetreten. Was nun? Seit etwa 13 Monaten sei er Priester gewesen, er hätte Sabine wegschicken müssen, aber das hätte er nicht gekonnt, umso weniger, da sie beide schon in den ersten Minuten ihrer Wiederbegegnung, später immer stärker, hätten feststellen müssen, dass ihre Liebe weder an Kraft noch an Innigkeit auch nur das geringste eingebüßt habe. Im Gegenteil, jetzt, da es Probleme gäbe, die ihrem Glück im Wege stünden, schiene, der Herr Pfarrer möge das verstehen, ihre Zuneigung zueinander sogar noch zu wachsen – ein Gefühl, das stärker wäre als sämtliche Zwänge und das auch seine körperliche Erfüllung brauche. Dem hätten sie entsprochen, er allerdings mit allerstärksten Gewissensbissen. So sei seine Situation: er liebe sein Priesteramt und er liebe Sabine, aber leider hätte menschliche Willkür zwischen beidem eine unüberwindliche Trennung aufgebaut. Und diese Trennwand zerreiße sein Herz.

    Der Pfarrer, nach Lehnhards Beichte zwar menschlich berührt und – wie er bekannte – tief erschüttert über so viele schicksalhafte Verwicklungen, sah sich dennoch dazu gezwungen, seinen Bruder in Christo vor die Entscheidungsfrage zu stellen. Selbst wenn er es gewollt hätte, konnte er ja nichts anderes tun, das schien selbst dem Kaplan einzuleuchten, denn er sagte mit düsterer Miene: „Natürlich, Herr Pfarrer, entweder oder ... Was anderes darf’s nicht geben."

    Pfarrer Köhler, zu dessen Ehre noch gesagt werden muss, dass er Lehnhard mit seiner Entscheidung nicht unter Zeitdruck setzte, sprach seinen Amtsbruder frei. Welche Gedanken ihn dabei bewegten, bleibt ein Geheimnis.

    * * *

    Angezogen von einer Aufführung der Oper Turandot blieb Winkler an diesem Tag in Ost-Berlin. Es war jenes Werk Puccinis, das er zuletzt vor Ausbruch des Krieges in Königsberg gesehen hatte, damals ein unvergessliches Erlebnis, weil er die Baronin von Tannenstein in die Oper hatte begleiten dürfen. Götz’ Mutter hatte er einstmals sehr verehrt, eine stille, offenbar einseitig gehegte Zuneigung, die vielleicht darum unerfüllt geblieben war. Bei Frauen hatte der Kantianer nie richtig Glück gehabt.

    Es war so vieles möglich geworden mit dem Omnivisor. Winkler hasste, ja fürchtete ihn manchmal, aber meistens wusste er dessen Vorzüge zu schätzen. Die Aufführung dieser wunderbaren Oper beispielsweise miterleben zu dürfen, ein Kunstgenuss, den er mit einigen Freunden, die ihr Erscheinen am Gerät angesagt hatten, teilen würde, war für ihn eine wunderbare Erweiterung von Lebensqualität, aber natürlich trübte ihm dieser Vorzug nicht den Blick für die Ambivalenz dieser Erfindung. Auch jetzt wieder, wo Roberts Beichte ihm gerade zu Ohren gekommen war, erkannte er in diesem Vorgang ein schrecklich verurteilungswürdiges Eindringen in die Intimsphäre eines Menschen. Sicher, der intime Blick auf Robert hatte zu Erkenntnissen geführt, die diesem den Weg nach Atakorien öffnen könnten, aber reichte das als Legitimation aus für dieses Vorgehen? Winkler wusste es nicht.

    Wie sehr eine einzige wissenschaftlich-technische Erfindung sowohl im privaten als auch im gesellschaftlichen Bereich das Leben beeinflussen, die Lebensqualität verändern kann, das erlebten in diesen Tagen die Atakorier mit dem Gerät. Dabei geschah es, das sich dessen Anwendungsgebiet ständig erweiterte, dass dank großer Entfaltung von Phantasie immer mehr Möglichkeiten zu dessen Nutzung gefunden wurden.

    Wissenschaft und Technik als Faktoren der Erleichterung der Arbeit und Verbesserung der Lebensqualität, als Hilfsmittel der Bewusstseinsentwicklung und Selbstverwirklichung – schien das ausgerechnet hier im Zentrum der Wüste Wirklichkeit zu werden? Schien sich in Atakorien zu erfüllen, was anderswo längst als unerfüllbare Hoffnung, als illusionistischer Menschheitstraum abgetan worden war? Auch diese Fragen wusste sich der Philosoph noch nicht beantworten. Manchmal glaubte er, dass es so sei, manchmal nicht. Er fürchtete, dass mit der Anwendung dieses Geräts in zunehmendem Maß Verletzungen althergebrachter ethischer Normen und verbrecherischer Missbrauch einhergehen würden, aber das fürchtete er nun dann, wenn ihn Zweifel darüber anfielen, ob Atakorien jemals seine hochgesteckten Ziele erreichen werde.

    Obwohl eigentlich nichts darauf hindeutete, dass eines Tages hierzulande die Macht kippen, die Idee des Friedensreiches von der eines Gewaltsystems abgelöst werden könnte, dass also alle zu beinahe omnipotenter Machtfülle verhelfende Hochtechnik Atakoriens in falsche Hände geriete, hatte der Philosoph diese Gefahr immer vor Augen, und niemand konnte ihm das nehmen. Diese Furcht lastete schwer auf ihm, weil er nicht glauben konnte, dass sich die Entwicklung Atakoriens getreu der Prophetie immer so friedlich vollziehen würde wie bisher, dass die Bestie Mensch hier nicht zum Zuge käme und dass das Böse beherrscht würde.

    Die unbestreitbaren Vorzüge des Omnivisors erweckten natürlich große Begeisterung. Winkler mochte diesen Gefühlsausbruch nicht. Für ihn war Begeisterung ein das Denken zuschüttender Gefühlsausbruch, der jeden kritischen Abstand zu dessen Ursache verhinderte. Die Atakorier bauten seiner Meinung nach nicht die nötige Skepsis zu dieser Hochtechnik auf. Gleichzeitig erkannte er jedoch die ungeheure Anziehungskraft, die von dem Omnivisor ausging, denn in der Tat, die bisher verschlossenen Türen vor streng geheimem Wissen plötzlich aufgestoßen zu finden, jedes nur erdenkliche Ziel auf Erden anzusteuern, das waren schon Erlebnisse ganz besonderer Art, und dazu gehörte für ihn, den Kunstbeflissenen, auch der heutige Abend.

    Freilich blieb die Nutzung des Gerätes zu diesen Zwecken vorerst noch eine Seltenheit, weil natürlich die weit wichtigeren Dinge, für die es beinahe ständig gebraucht wurde, den Vorrang besaßen. Leider hatte man nur dieses eine Gerät, das nachzubauen ohne praktische Hilfe seines Konstrukteurs unmöglich war. Selbst Gansel musste hier passen.

    Die Aufführung der Oper erfüllte voll und ganz die Erwartungen, die die kunstbeflissenen Atakorier in sie gesetzt hatten. Während der Pause gab es für Winkler eine freudige Überraschung. Unter den Zuschauern, die sich im Foyer die Beine vertraten, entdeckte er nämlich einen alten Freund aus früheren Tagen.

    „Schau mal, mein König, rief er plötzlich aus, auf eine bestimmte Person weisend, „ist das nicht Eilhard?

    Auch Götz erkannte den Mann sofort. „Jawohl, bestätigte er, „das ist unser Eilhard aus Königsberg.

    „Der hat atakorisches Bewusstsein, meinte Winkler, schaute auf die Messskala und ergänzte, „da, seht, ich habe richtig getippt!

    Der Zeiger war in den extremen linken Bereich ausgeschlagen.

    „Eilhard müssen wir zu uns holen", sagte der König.

    „Jawohl, meinte Winkler, „den könnten wir sehr gut bei uns gebrauchen. Denen, die es nicht wussten, erklärte er, dass er und Eilhard Alfred einst gemeinsam an der Universität in Königsberg gelehrt hätten und in dieser Zeit gute Freunde geworden seien. Eilhard sei ein bedeutender Agrikulturchemiker und ein hochgebildeter Mensch mit ausgezeichneten Charaktereigenschaften. Leider habe man sich während des Krieges aus den Augen verloren. Wenn Winkler eine Person in so hohen Tönen lobte, dann hatte das schon was zu bedeuten.

    Nach der Oper behielt der Philosoph den Wiedergefundenen noch eine Zeitlang im Visier und konnte so dessen Wohnsitz ausfindig machen. Er wohnte in einer Kleinstadt südwestlich Berlins.

    In den nächsten Tagen, in denen Winkler seinen Freund weiter im Omnivisor beobachtete, stellte sich heraus, dass jener als Professor für Chemie an der Humboldt-Universität lehrte und auf einer landwirtschaftlichen Forschungsstätte in der Nähe seines Wohnsitzes hochinteressante Entdeckungen auf den Gebieten Bodenkunde, Pflanzenphysiologie und Düngung gemacht hatte. Igor, den Winkler natürlich auch über den Agrikulturchemiker in Kenntnis setzte, ahnte sofort, dass dessen Forschungsergebnisse auf den Gebieten Bodenkunde und Düngung für Atakorien außerordentlich wichtig sein könnten, und wollte sich mit dem Omnivisor die entsprechenden Informationen aus Paulinenaue beschaffen.

    „Ist das nicht Wissenschaftsspionage?" fragte der Kantianer befremdet.

    „Natürlich, antwortete der Chemiker lachend, „aber der Zweck heiligt die Mittel.

    Wieder so eine Schattenseite des Geräts, sagte sich Winkler, der auf einmal erkannte, wie leicht es einem damit gemacht wurde, alle möglichen Erfindungen und Entdeckungen auszuspionieren und diese dann skrupellos nachzubauen.

    Vorerst konnte Igor seine Absicht nicht realisieren, denn ständig war der Omnivisor besetzt. Jeder wollte ihn benutzen, auch Judith, die seinen Einsatz im Bildungs- und Erziehungsprozess für sehr begrüßenswert hielt.

    „Stell dir vor, Gansel, was man den Kindern mit der Zauberkugel alles zeigen könnte: sämtliche Schönheiten, Wunder und Kulturstätten dieser Welt, fremde Länder, Sitten und Gebräuche, die ganze, bunte Vielfalt des Lebens, seine Gemeinsamkeiten und Unterschiede – besser kann man überhaupt nicht lehren!" schwärmte Judith ihrem Freund vor und forderte ihn dann mit Nachdruck dazu auf, den Nachbau des Gerätes als absolute Hauptaufgabe anzusehen.

    Gansel konnte das Thema schon nicht mehr hören. Mit einiger Verbitterung erklärte er, dass es für ihn endgültig abgeschlossen sei, dass er trotz redlichster Bemühungen diese „Zauberkugel nicht nachbauen könne. „Offenbar bin ich zu dumm dazu! krächzte er.

    „Zu dumm? Das glaube ich nicht", erwiderte Judith.

    „Ach, ihr könnt mich allemal", schrie der Gelehrte tief verletzt und entfloh in seine Forschungsstätte, wo er ein paar Tage lang für niemand zu sprechen war.

    Roberts Wandlung

    Dieser Kaplan wirke so zerspalten wie ein vom Blitz getroffener Baum, sagte Setho zu Winkler, während sie den Geistlichen, der möglichst initiiert werden sollte, kurz vor ihrem Abflug nach Deutschland noch einmal beobachteten.

    In Sabines Schlafzimmer brannte nur eine Kerze. Lehnhards große, fast klobige Hand glitt, weiche Linien zwischen Licht und Schatten nachzeichnend, langsam und leicht über den nackten Rücken seiner schlafenden Geliebten, während er seltsame Worte vor sich hin murmelte. „Immer, wenn ich neben dir liege, denke ich an Gott, und in der Kirche, wenn ich die Messe zelebriere, denke ich an dich, das macht mich fertig, Sabinchen, das bringt mich um." Der große, starre Blick seiner Augen verriet den Ernst der Lage.

    Ärgerlich schüttelte Setho den Kopf und meinte, dieser Mensch sei verrückt. Der Philosoph sagte sogar, dass Lehnhard weiterhin suizidgefährdet bleibe, während sie sein düsteres Selbstgespräch belauschten.

    „Wenn ich nur wüsste, was mich in diese Zwickmühle gebracht hat: der Zufall oder der Wille Gottes? Je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer werde ich mir, dass es ein Zufall war. Es gibt keinen Gott. Ich habe meine Liebe an das Nichts vergeudet ..."

    Ruckartig sprang er aus dem Bett und zog sich an.

    Sabine erwachte und fragte erschrocken: „Was machst du da?"

    „Ich muss weg, sagte er kurz, ohne sie anzublicken, „dringend weg!

    „Mitten in der Nacht, sag mal, spinnst du?!" Die junge Frau stand nun ebenfalls auf und versuchte, ihm in die Augen zu schauen.

    „Ich spinne nicht. Außerdem ist es erst zehn Uhr, und ich muss was Wichtiges erledigen."

    „Du lügst, Robert!" sagte sie, setzte sich auf die Bettkante und beklagte laut den jähen Absturz seiner Gefühle. Eben sei er noch so zärtlich und liebevoll zu ihr gewesen und auf einmal so eiskalt. Wie passe das zusammen?

    Lehnhard schwieg. Als er sich angezogen hatte, verließ er Sabine, ohne sie noch eines Blickes zu würdigen. Für ihn begann jetzt erneut der verzweifelte Versuch einer Flucht vor seiner Geliebten.

    Wie unter einem inneren Zwang steuerte er eine der zahllosen kleinen Kneipen an, eine ihm neuerdings vertraut gewordene Oase des Vergessens.

    „Was is’n los mit dir, biste krank oder besoffen?" Der Mann, mit dem Lehnhard vor seiner Kneipe zusammengerempelt war und der ihm diese Frage gestellt hatte, zeigte keine Spur von Unmut, statt dessen jenes charmant-sympathische Lächeln, dem man sich nur sehr schwer zu entziehen vermag.

    „Entschuldigung!" murmelnd, musterte der Kaplan den Mann und war sofort irgendwie von ihm angetan.

    „Schon gut, meinte der Fremde und klopfte ihm, als wäre er ein alter Freund, auf die Schulter, eine Vertraulichkeit, durch die sich Lehnhard zu einer unbedachten Äußerung verleiten ließ. „Ich wollt’, ich wär’ besoffen, platzte er heraus.

    Das schien den Fremden zu erfreuen. „Ja, sieh mal einer an, wie gut sich das trifft, ich habe nämlich auch Durst, behauptete der mit fröhlicher Ungezwungenheit, eine den Berlinern durchaus geläufige Art. Los, Kumpel, wir beide gehen jetzt in die Kneipe, einen saufen!"

    Noch vor kurzem wäre Lehnhard über so viel pöbelhafte Vertraulichkeit empört gewesen, doch seit er dem Alkohol mehr und mehr zusprach, besaß auch er diese gewisse Distanzlosigkeit, diesen Hang zu rascher, unkritischer Verbrüderung, die Trinkern eigen ist. Hatte der Fremde darauf gesetzt?

    Jedenfalls hakte er sich nun bei ihm ein, sagte, er heiße Heinrich, und schob ihn mit sanfter Gewalt in die Kneipe rein. Der Kaplan stellte sich ebenfalls mit seinem Vornamen vor und war plötzlich auf seine Reputation bedacht. Er, Heinrich, solle um Gottes willen nicht glauben, einen Säufer vor sich zu haben, nur weil ihm da mal eben eine bestimmte Bemerkung herausgerutscht sei, beteuerte Robert inständig. Heinrich entgegnete abwinkend, er wisse sehr wohl, dass es tausend Gründe gebe, manchmal einen „drauf zu machen", beispielsweise den, irgendwas einfach zu vergessen.

    „Manchmal säuft man auch, wenn man etwas verloren hat", sagte Lehnhard.

    Heinrich lächelte schwach. „Ich sehe, du kennst das Leben."

    Lehnhard nickte. „Ich kenne Menschen, ihre guten, ihre schlechten Seiten."

    „Und du, du bist ein guter Mensch, nicht wahr?"

    „Nein, ein schlechter", antworte der Geistliche betrübt.

    „Säufst du deshalb?"

    Lehnhard runzelte die Stirn. „Ich hab’ doch gesagt, ich bin kein Trinker."

    „Na klar. Aber heute säufst du, weil du dir schlecht vorkommst?"

    „Ja."

    „Tröste dich. Wer sich schlecht vorkommt, der ist meistens gar nicht so schlecht. Viel schlimmer sind die, die sich niemals schlecht vorkommen, die ewig Guten."

    Als sie die Eckkneipe betraten, war es gegen 22 Uhr 30 und der verräucherte, große Gastraum bis auf einen runden Tisch, an dem Männer in Arbeitskleidung angeheitert und laut Skat spielten, leer. Der Wirt, auch nicht mehr ganz nüchtern, begrüßte sie wie alte Freunde.

    „Grüß Gott, die Herrschaften! Bitte dort hinten Platz zu nehmen, an unserem schönsten Tisch!" Eilfertig lief er ihnen voran, um den für sie bestimmten Tisch mit einem schmutzigen Handtuch zu polieren.

    „Ja, Gott zum Gruße, lieber Herr Wirt! grüßte Lehnhard mit einer gewissen Würde zurück, und der Wirt, in Tonfall und Worten eine bestimmte Herablassung erkennen lassend, fragte: „Was darf’s denn sein, Herr Kaplan, so, wie immer?

    „Gewiss, mein Lieber", erhielt er zur Antwort.

    „Und der Herr?"

    „Ein kleines Bierchen, wenn ich bitten darf", sagte Winkler. Als der Wirt sich entfernt hatte, mimte er den Erstaunten.

    „Mensch, Robert, ich wird' verrückt, du bist Kaplan?"

    „Fasse dich, Heinrich, forderte der Geistliche, nach schwerem Seufzer hinzufügend, „leider bin ich es ...

    „Wieso leider? fragte Heinrich gespannt, doch Lehnhard winkte mit einem vagen: „Ach, wenn du wüsstest, ab.

    Der Wirt brachte die Getränke – für den Kaplan zwei große Klare, für Heinrich das bestellte Bier – wünschte: „Zum Wohle die Herren" und verschwand. Etwas zu hastig ergriff Lehnhard eins der Gläser, führte es an den Mund und kippte, ruckartig den Kopf in den Nacken werfend, dessen Inhalt in einem Zug in sich hinein. Nach dem zweiten Schnaps fuhr er sich mit dem rechten Handrücken über die Lippen und bekam glänzende Augen.

    „Ein Kaplan in der Kneipe, das hat man auch nicht alle Tage", sagte Heinrich mit ausdruckslosem Gesicht.

    „Verdammte Scheiße! brüllte jemand bei den Spielern. Lehnhard zuckte zusammen und starrte verlegen vor sich hin. „Das ist so, ich, äh, ich ... Er brach ab, glutrot im Gesicht.

    „Du nimmst dich der verlorenen Schafe hier an, wolltest du sagen", halt Heinrich ihm.

    „Richtig", meinte Robert erleichtert.

    Heinrich lächelte ein wenig.

    „Und du predigst gern. Du möchtest die Welt verbessern, wenn's sein muss, auch in der Kneipe."

    „Vielleicht."

    „Hosen runter!" brüllte einer am Spieltisch.

    Zur Theke hinüberblickend, hob der Kaplan die Hand, dann wandte er sich wieder Heinrich zu und ergänzte: „Wer nichts zu sagen hat, ich meine damit, wer keine Botschaft in sich trägt, der wird auch nicht Priester."

    Heinrich nickte. Der Wirt kam herbeigeeilt, stellte dem Kaplan schweigend zwei weitere Schnäpse vor die Nase und eilte davon. Die Flüssigkeit schwabberte noch im Glase, da hatte sich Lehnhard schon den dritten Schnaps hinter die Binde gekippt. Erst zehn Minuten saßen sie an ihrem Tisch.

    „Du trinkst zu viel, Kaplan, meinte Heinrich besorgt. „ich denk’ es wäre schade um dich.

    Lehnhard lachte verächtlich auf.

    „Schade um mich? Ach, Unsinn, Heinrich, schade ist’s um die verlorene Schöpfung ... Trauere über dich und deine Kinder, trauere über die ganze Welt ... Abbrechend stierte er ein paar Sekunden lang auf den vierten Schnaps, ehe er auch diesen in sich hineinschüttete und dann dumpf ergänzte: „Denn Gott ist tot.

    Vorsichtig fragte Heinrich: „Glaubst du das wirklich?"

    „Ja."

    „Dann musst du dir reichlich überflüssig vorkommen."

    „Richtig, gestand Lehnhard müde, „es gibt keinen überflüssigeren Menschen als mich. Dann rief er schrill. „Wirt, noch mal vom heiligen Geist!"

    „Amen!" rief der Wirt. Die Skatspieler lachten.

    „Das war sehr zynisch, Kaplan", meinte Heinrich ernst.

    „Warum nicht? erhielt er zur Antwort. „‘ne Blasphemie war’s jedenfalls nicht.

    „Doch. Das war sogar eine gewaltige Gotteslästerung."

    „Quatsch, wo nichts ist, da gibt’s auch nichts zu lästern."

    Wieder kam das Bestellte an den Tisch. Zufrieden rülpsend stierte Lehnhard auf die imposante Menge geistvernebelnder Flüssigkeiten, ehe er sich, nunmehr schon fast ein Held im Kampf gegen imaginäre Drachenköpfe, ein Glas schnappte, um seiner Kehle Genugtuung zu verschaffen. Als er gleich darauf das andere Glas ergreifen wollte, griff er ins Leere. Winkler hatte es inzwischen ausgetrunken. „Damit du halbwegs nüchtern bleibst, mein Sohn", begründete dieser sein Tun.

    „Warum soll ich das?"

    „Damit du uns eine Predigt halten kannst, antwortete Heinrich, plötzlich die Stimme anhebend, „hört mal her, Männer, der Kaplan will uns eine Predigt halten, eine Predigt über das Friedensreich!

    „Was zum Teufel soll das, Heinrich?" regte Lehnhard sich auf.

    Die Leute lachten, aber dann unterbrachen sie ihr Spiel, blickten den Geistlichen erwartungsvoll an, und einer sagte: „Also los, Kaplan, versuch uns zu bekehren."

    „Warum von einem Reiche reden, das es niemals geben wird? Welchen Sinn hätte es, euch eine Utopie vorzugaukeln", versuchte Robert ein wenig verlegen abzulehnen. Es gelang nicht.

    „Wie kannst du wissen, ob es dieses Reich nicht einst doch bei uns geben wird?" hielt ihm Heinrich entgegen.

    „So ist es, Kaplan, meinte einer der Arbeiter, den sie Kutte nannten, „die Zukunft liegt in Gottes Hand.

    „Nun mach schon, Robert, drängte ein vierschrötiger Kerl, Hotta mit Spitznamen, „lass ein schönes Märchen hören! Wir lieben Märchen!

    „Tut mir leid, Männer, eine Predigt übers Friedensreich kann ich euch nicht halten, sagte Lehnhard müde, „denn Gott, der dieses Reich hätte erschaffen können, ist tot – umgekommen auf den Schlachtfeldern, vergast in den KZs, ermordet von den Kommunisten, getötet von all den vielfältigen Spielarten täglich sich vollziehender Gewalt ... Er brach ab, Tränen in den Augen und plötzlich nüchtern.

    Hätte Lehnhard über das Friedensreich gepredigt, man hätte ihm nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie nach diesen Worten. Selbst Heinrich war ergriffen. Dass Gott tot sei, glaube er nicht, meinte er ... Entweder existiere Gott noch heute, oder es habe ihn nie gegeben.

    „Nie gegeben, stimmt nicht, konterte Lehnhard. Gott habe es gegeben in Gestalt Jesu Christi vor fast zweitausend Jahren. „Jesus Christus, rief er leidenschaftlich aus, nun wieder ganz Priester, „Jesus Christus, das Licht, die Wahrheit und das Leben! Der Sieger über den Tod und Verkünder des wahren Friedensreiches! Den Gott hat es leibhaftig einmal gegeben! Seine Stimme senkte sich. „Aber er ist längst tot. Schweigen. Die Leute starrten ihn an, als trauerten sie mit ihm zusammen über den toten Jesus.

    „Sprich weiter, Kaplan, drängte Hotta, „auch ich habe Gott im Felde verloren.

    Mit glasigen Augen über die Männer hinwegsehend, verstieg sich nun der Kaplan in reinste apokalyptische Prophetie:

    „Und Gottes Tod wird auch der Menschheit Tod sein, mit der gewaltsamen Auslöschung des Lichts in der Seele, mit der Erstickung von Glaube, Hoffnung, Liebe, mit der zynischen Verwehrung der Grundrechte auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden, mit der verlorengegangenen Freude, ein Ebenbild Gottes zu sein, mit der Befriedigung dunkler Sehnsüchte, mit dem ekstatischen Tanz ums Goldene Kalb, mit Egozentrik, Narzissmus, Verherrlichung von Gewalt, mit Rassismus, Krieg und Zerstörung der Natur ... Ich sage euch, wir alle sind verloren!"

    Er unterbrach sich, um Luft zu holen, das Gesicht schmerzverzerrt. Unter seinen Worten schien er mehr zu leiden als all die Männer hier, die mit ihren Augen wie gebannt an seinen Lippen hingen. Dennoch malte er weiter mit schonungsloser Härte den Untergang der Welt aus.

    „... Der Menschheit Tod wird ebenso schmerzhaft wie langwierig vor sich gehen, sprach Lehnhard mit seiner dunklen, effektvollen Stimme weiter, „und was immer der Mensch bisher an Erduldungen von Folterung und Qualen unterirdischen Regionen der Hölle zugewiesen hat, wird es dann bereits zu seinen Lebzeiten auf Erden geben, verbunden mit der Entwicklung eines neuen Menschenschlags, der, gewissenlos, eiskalt und zu jedem Verbrechen fähig, die Menschheit in tiefste Barbarei und gnadenloseste Diktatur stürzen und sich am Ende – dem endgültigen Ende allen irdischen Menschseins – mit den Mächten der Finsternis verbinden wird! ...

    „Von welchem Geist wirst du beherrscht?" schnitt ihm Heinrich energisch das Wort ab. Aber Lehnhard schien diese Frage nicht gehört zu haben und irgendwie abwesend zu sein. Wie einer, der tranceartig einer inneren Stimme das Wort gegeben und darüber hinaus total abgeschaltet hatte, blickte er Heinrich an – langsam erwachend, ein wenig verwirrt.

    „Du kannst einem aber Muffengang machen, Pfaffe", stöhnte Hotta.

    „Bald ist Pfingsten, Robert, mahnte Heinrich ruhig, den Kaplan mit stahlhartem Blick in die Zange nehmend, „denk an deine Predigt.

    Robert schüttelte nur leicht den Kopf.

    Plötzlich lachte Heinrich auf und rief: „Da schau mal einer diesen Priester an! Angst wollte der uns machen, aber wir sind doch nicht dumm. Nein, Männer, diese Welt wird nicht vergehen, solange sich Menschen noch für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit einsetzen, mag die politische Lage auch noch so schlecht sein."

    „Und die Lage im ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat ist wirklich beschissen", warf Kutte ein.

    „Trotzdem könnte eines Tages auch hier ein Friedensreich entstehen, behauptete Heinrich. „Stellt euch das mal vor: ein Reich, wo’s keine Diktatur und Ausbeutung gibt, wo’s nur noch friedlich, frei und gerecht zugeht ... Na, wäre das was?

    Die Arbeiter nickten und blickten nachdenklich vor sich hin.

    „Nur, dieses Reich fällt nicht vom Himmel. Ihr müsst es euch schaffen mit euren eigenen Köpfen und Händen", ergänzte Heinrich.

    „Natürlich müssen wir das, bestätigte Paule, der dritte, der bisher geschwiegen hatte, „und die ganze Scheiße hier muss verschwinden.

    Der Wirt war längst hellhörig geworden. „Keine Staatshetze in meinem Lokal, sonst muss ich Anzeige erstatten!" drohte er jetzt.

    Das war zu viel für Hotta. Der kräftige Kerl erhob sich und fragte drohend: „Willst du uns etwa anscheißen, Ede?"

    Mit gesenktem Kopf Gläser spülend, brummte der Wirt Unverständliches vor sich hin.

    „Wat quatschte da, Freundchen? Soll 'n wir vielleicht deine Bude zu Bruch schlagen?" fragte Paule mit sanfter Stimme.

    Hilfesuchend blickte Ede sich um. Umsonst. Da lenkte er eiligst ein.

    „Wo denkt ihr hin, Männer, ich scheiß’ doch keinen an! Ich schmeiß’ noch ‘ne Lage, aber dann ist Schluss."

    Das schien sie alle zu besänftigen.

    Während der Wirt sich darum bemühte, sein Versprechen einzulösen, hielt Heinrich die Zeit für gekommen, die Kneipe zu verlassen. Er bezahlte seine Zeche, gab jedem zum Abschied die Hand, zuletzt dem düster vor sich hin starrenden Kaplan, der ihm dabei leise bekannte, von einem bösen Geist beherrscht zu sein, dem zu entfliehen sich ihm nur eine einzige Möglichkeit anbiete.

    Heinrich verstand. „Nein, Kaplan, mach keine Dummheit, raunte er zurück, „es gibt noch eine andere, du wirst es erleben.

    Bevor Lehnhard noch was sagen konnte, war Heinrich verschwunden.

    * * *

    Zwei Uhr nachts. In seinem Wohnzimmer auf dem Sofa schlief angezogen der Kaplan, röchelte, wälzte sich hin und her. Auf dem Teppich lagen ein Rosenkranz, ein leerer Flachmann, das vergilbte Foto seiner Geliebten – Utensilien zerstörter Konventionen und seelischen Zusammenbruchs. Auf dem Tisch neben Lehnhard ein Glas, zur Hälfte gefüllt mit milchig-trüber Flüssigkeit. Der heimliche Gast nippte daran, murmelte „Schlaftabletten" und bereitete dann dem Kaplan ein unsanftes Erwachen.

    Plötzlich drang eine Stimme, so laut wie die Posaunen von Jericho, an Roberts Ohr: „Von welchem Geist wirst du beherrscht!"

    Erschrocken hochfahrend, wurde Lehnhard von grellem Licht geblendet und stammelte: „Was, wie, von welchem Geist! Um Gottes willen, was soll das?" In der Meinung, sein letztes Stündlein habe geschlagen, rutschte er vom Sofa auf den Teppich hinunter, jene für seinen ungewöhnlichen Lebenswandel so symbolträchtigen Dinge unter seinem massigen Leib begrabend.

    Setho, unsichtbar inmitten der Feuersäule, versuchte, den entsetzten Kaplan zu beruhigen. „Fürchte dich nicht, ich will dir nichts Böses", sprach er sanft auf Lehnhard ein und sandte dabei die bekannten Strahlen aus dem Strahlengürtel auf ihn aus. Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Unter dem wunderbaren Gefühl von Wärme auf Kopf und Brust verschwand Lehnhards Angst sehr schnell. Er stand auf, setzte sich in einen Sessel und erwartete nun das Kommende mit absoluter Ergebenheit, fest davon überzeugt, es mit überirdischen Kräften zu tun zu haben. In die Feuersäule blinzelnd, wobei er sich an gewisse Texte aus der Bibel erinnerte, wagte er es sogar, das geheimnisvolle Wesen dahinter als Engel anzusprechen.

    „Nein, ich bin kein Engel, sondern ein Mensch. Wenn es einen Unterschied zwischen uns gibt, dann den, dass ich dir um einiges voraus bin. Vielleicht denke ich über vieles anders als du, aber das ist ja eigentlich vollkommen normal, sagte Setho leichthin, doch den Kaplan überzeugte er nicht, und deshalb behauptete jener: „Was hier geschieht, das kann nicht mit rechten Dingen zugehen.

    Plötzlich neugierig geworden, fügte Robert die Frage hinzu, was es denn sein, dass der unheimliche Eindringling ihm voraus habe?

    „Lebenserfahrung und Menschenkenntnis, eventuell auch ein wenig mehr Wissen über Gott und die Kräfte, die in der Natur walten. Das ist schon alles", antwortete Setho schlicht.

    „Du glaubst, es gibt einen Gott?"

    „Das muss ich korrigieren, Kaplan. Ich glaube nicht, ich weiß, dass es Gott gibt."

    „Hm, feste Gewissheiten, meinte Lehnhard stirnrunzelnd. „Du tust so, als wenn das gar nichts wäre. Ich meine, es ist sehr viel.

    „Das meine ich auch."

    „Deine Selbstsicherheit stört mich ... Du scheinst dich für perfekt zu halten ... Irrst du dich manchmal?"

    Lachend entgegnete Setho: „Natürlich irrt man sich mitunter. Jeder Mensch irrt sich. Irrtümer entstehen durch Spekulationen im Bereich des Unbekannten, aber das ist ein äußerst reizvolles Elixier des Lebens, ob heute oder in tausend Jahren."

    „Du meinst, wir alle spekulieren mal ins Dunkle hinein?"

    „Treffend gesagt. Nur dass für die einen dort Licht, wo für die anderen noch Dunkelheit, ich meine Unwissen, herrscht."

    „Oh, das ist kühn! ... Du weißt, was du damit behauptest?"

    „Gewiss."

    „Welche Überheblichkeit!"

    „Entschuldige! Mit unserem Bewusstsein sind wir euch eben um einiges voraus."

    „Um wieviel voraus?"

    „Um etwa tausend Jahre."

    „Donnerwetter, das ist viel!"

    „Ach was. Du weißt doch, für Gott sind tausend Jahre wie ein Tag."

    „Großartig, bibelfest bist du also auch noch!"

    „Lassen wir mich aus dem Spiel und kommen jetzt zu dir, sprach Setho. „Ich hatte dir vorhin eine Frage gestellt. Wie lautet deine Antwort?

    „Es ist ein böser, lebensfeindlicher Geist, der mich beherrscht", antwortete Lehnhard bereitwillig.

    „Wie kommst du darauf?"

    „Er lähmt meine Entschlusskraft, verdunkelt meine Seele mit Verzweiflung und Todessehnsucht."

    „Ja, ich weiß, sagte Setho, „dieser Geist hat dich zwischen Liebe und Tod gestellt. Du hast dich im Glauben verbissen, dass nur der Tod dich aus deinem Konflikt befreien könnte.

    „Wie gut du über mich informiert bist, staunte der Kaplan. „Wie kommt das?

    „Frage mich lieber, ob es einen anderen Weg gibt, aus dem Konflikt herauszukommen", mahnte es aus der Feuersäule.

    „Es gibt keinen. Der Konflikt ist unlösbar."

    „Das ist er nicht, sagte Setho bestimmt, „aber dein böser Geist gaukelt es dir vor, indem er dich mit unsinnigen Selbstvorwürfen geißelt und dir ein falsches Bild davon zeichnet, was vor Gott Pflicht, Schuld und Gerechtigkeit ist.

    „Du scheinst diesen Geist gut zu kennen."

    „O ja, ich kenne diesen

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