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Antisemitismus reloaded: Die Linke, der Staat und der 7. Oktober
Antisemitismus reloaded: Die Linke, der Staat und der 7. Oktober
Antisemitismus reloaded: Die Linke, der Staat und der 7. Oktober
eBook336 Seiten4 Stunden

Antisemitismus reloaded: Die Linke, der Staat und der 7. Oktober

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Über dieses E-Book

Das Massaker vom 7. Oktober, bei dem 1.200 Israelis von der Terrororganisation Hamas brutal ermordet und geschändet wurden, fand auch in Deutschland seinen Widerhall in heftigen Diskussionen um Antisemitismus und Islamismus. Blieb in den Tagen nach dem Massaker die Empathie mit den jüdischen Opfern seltsam begrenzt, so formierte sich im Zuge der israelischen Militäraktion immer lautstärker eine Bewegung, die Israel als Kolonialmacht anprangerte und die Ziele der Hamas unterstützte. Juden in Deutschland dagegen sahen sich verstärkt antisemitischen Angriffen ausgesetzt. Dieses erschreckende Missverhältnis in den öffentlichen Reaktionen hat den Autor Dietrich Schulze-Marmeling veranlasst, die Koordinaten in der Diskussion zu überprüfen.
Die Unversöhnlichkeit, mit der sich pro-israelische und pro-palästinensische Positionen gegenüberstehen, sieht Schulze-Marmeling weniger in der Sache selbst begründet. Dass im Nahen Osten auf beiden Seiten politischer Starrsinn in der Führung und großes Leid in der Bevölkerung herrscht, ist unverkennbar. Auf der bundesdeutschen Linken wie der Rechten geht es aber laut Schulze-Marmeling vielfach weniger um die eigentlichen Probleme, sondern darum, die eigene Identität zu füttern. Jüdische Israelis und Palästinenser würden zu diesem Zweck instrumentalisiert.
Sein höchst lesenswertes und stringent verfasstes Buch liefert einen wichtigen Kompass, um die Hintergründe eines aufgeregten Diskurses zu verstehen und manche moralischen Verrenkungen zurechtzurücken.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum26. Apr. 2024
ISBN9783896847140
Antisemitismus reloaded: Die Linke, der Staat und der 7. Oktober
Autor

Dietrich Schulze-Marmeling

Dietrich Schulze-Marmeling ist freier Publizist. Er hat zu friedenspolitischen Themen und zum Nordirlandkonflikt geschrieben; bekannt geworden ist er vor allem als einer der produktivsten deutschen Autoren zur Geschichte und Gegenwart des Fußballs. U.a. hat er sich um die Rekonstruktion der jüdischen Fußballgeschichte verdient gemacht, die nahezu vollständig verdrängt war.

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    Buchvorschau

    Antisemitismus reloaded - Dietrich Schulze-Marmeling

    „Moralisch und intellektuell versagt"

    Die Linke und der 7. Oktober

    Am Samstag, dem 7. Oktober 2023, gegen 06:30 Uhr Ortszeit (05:30 Uhr MEZ) verkündet die islamistische und antisemitische Terrororganisation Hamas den Beginn der „Operation al-Aqsa-Flut".

    Zunächst werden der Süden und das Zentrum Israels stundenlang unter massiven Raketenbeschuss genommen. Der oberste Befehlshaber des militärischen Flügels der Hamas, Mohammed Deif, spricht von 5.000 Raketen, die auf Israel abgefeuert worden seien.

    Raketen aus Gaza sind für die israelische Bevölkerung nichts Neues. Schon gar nicht für die Israelis, die nahe der Grenze zu Gaza leben. Aber einige Stunden später überwinden etwa 3.000 Hamas-Terroristen an 29 Stellen die Sperranlagen um den Gazastreifen, dringen bis zu 18 Kilometer tief auf israelisches Staatsgebiet vor und verüben Massaker an der Zivilbevölkerung. Mehr als 1.200 Israelis werden auf bestialische Weise ermordet, davon allein 364 Besucher des Psytrance-Festivals Supernova Sukkot Gathering in Re‘im, einem säkularen Kibbuz.

    Unter den Opfern des Massakers befinden sich auch viele, die sich für eine Versöhnung zwischen Juden und Palästinensern eingesetzt haben. So u. a. die 74-jährige Friedensaktivistin Vivian Silver, die wiederholt palästinensische Kinder aus Gaza in israelische Krankenhäuser gebracht hatte. Ihre verbrannte Leiche wird in einem Haus im Kibbuz Be’eri gefunden.

    Am 7. Oktober 2023 werden des Weiteren etwa 240 Juden und Jüdinnen von der Hamas als Geiseln genommen und nach Gaza verschleppt.

    Erinnerung an Babyn Jar

    Seit der Shoah hat es keinen anderen Tag gegeben, an dem so viele Juden ermordet wurden. Viele Juden und Jüdinnen fühlen sich deshalb an das Massaker von Babyn Jar erinnert. Im September 1941 wurden Tausende von Jüdinnen und Juden aus Kiew von den Deutschen und mit Hilfe der ukrainischen Miliz zusammengetrieben und nach Babyn Jar gebracht. Dort wurden sie gezwungen, sich zu entkleiden. Anschließend wurden die über 30.000 Jüdinnen und Juden von Mitgliedern der berüchtigten Einsatzgruppe C erschossen.

    Die Hamas-Terroristen filmen ihre Taten mit Bodycams. Einige nehmen ihre Morde mit den Mobiltelefonen ihrer Opfer auf und senden die Aufnahmen an Angehörige oder Bekannte der Opfer oder laden sie auf die Facebook-Profilseiten der Getöteten hoch. Normalerweise bestreiten Armeen und Terroristen ihre Untaten an der Zivilbevölkerung. Nicht so die Hamas, die mit diesen prahlt. Die Message der Islamisten lässt an genozidaler Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Es gibt keinen Ort auf der Welt, wo ihr, die Juden, sicher seid. Nicht einmal in Eurer Festung Israel. Jüdisches Leben hat hier nichts zu suchen."

    Am 23. Oktober 2023, 16 Tage nach dem Massaker, lädt das israelische Militär die internationale Presse ein, um ihr einen Zusammenschnitt von Videos zu zeigen, die die Hamas-Schlächter mit ihren Bodycams aufgenommen haben.

    In Die Zeit berichtet Malin Schulz über die Präsentation: „Was in Tel Aviv gezeigt wird, ist schwer erträglich, die Bilder sind so schlimm, dass Journalistinnen aufstöhnen oder sich entsetzt die Hand vor den Mund halten. (…) Eines der in Tel Aviv vorgeführten Videos zeigt, wie jemand einer am Boden liegenden Person mit einer Gartenhacke den Kopf abtrennen will. Es mag ihm nicht recht gelingen. Auf einem anderen Video wirft ein Hamas-Kämpfer eine Granate in einen Luftschutzbunker. Ein Vater stirbt, beide Söhne taumeln aus dem Bunker, eines der Kinder scheint ein Auge verloren zu haben. ‚Papa, Papa‘, ruft es. Der Terrorist nimmt seelenruhig eine Cola aus dem Kühlschrank."

    Einige Wochen nach dem Massaker besucht der Politikwissenschaftler und Antisemitismusforscher Remko Leemhuis die Tatorte. Gegenüber der Frankfurter Rundschau berichtet Leemhuis: „Bei 300 Menschen –vor allem Mädchen und Jungen – ist die Identifizierung bislang nicht gelungen. Ihr Zustand lässt das nicht zu. Sie sind nach ihrer Ermordung so zugerichtet worden, dass man sie nicht identifizieren kann. In den betroffenen Gebieten werden bis heute noch Leichenteile gefunden. Einige Tage bevor wir in einem Kibbuz waren, wurde dort in einem Backofen ein Baby gefunden, das dort verbrannt worden ist. (…) Ich arbeite jetzt schon einige Jahre auf diesem Feld und habe schon einige Konflikte miterlebt. Aber das übertrifft alles. (…) Ich persönlich habe mich immer dagegen gewehrt, Parallelen zum Holocaust zu ziehen. Aber fast jeder Israeli, mit dem wir gesprochen haben, hat einen Vergleich aufgestellt."

    Eine Orgie sexualisierter und antisemitischer Gewalt

    Wenige Tage nach dem Massaker von Re’im zitiert der Tagesspiegel einen Gast des Festivals: „Frauen wurden auf dem Gelände des Raves vergewaltigt, neben den Leichen ihrer Freunde. (…) In dem Video ist eine nackte Frau mit dem Gesicht nach unten auf der Ladefläche eines Pick-up-Trucks zu sehen. Vier Kämpfer der Hamas führen sie einer jubelnden Menge in Gaza vor. Einer hält sie an den Haaren, während ein anderer ein Gewehr in die Luft hält und ‚Allahu akbar‘ (‚Gott ist groß‘) brüllt. Ein Junge spuckt auf sie. Ob sie in diesem Moment noch am Leben ist, ist unklar. Sie liegt regungslos da."

    Bis Mitte Dezember 2023 tragen israelische Ermittler mehr als 1.500 Belege für Gräueltaten zusammen. Häufig geht es um sexualisierte Gewalt an Frauen. Am 7. Oktober wurden Jüdinnen massenhaft vergewaltigt. Der Spiegel: „In einem Video sieht man die junge Soldatin Naama Levy, die in Gaza aus einem Hamas-Truck stolpert, den Schritt ihre Jogginghose rot gefärbt. Eine Überlebende des Nova-Musikfestivals berichtet, dass mehrere Männer eine Frau vergewaltigten. Noch bevor der letzte ejakuliert habe, habe er der Frau in den Kopf geschossen. Ersthelfer an den Orten des Massakers berichten von Leichen mit heruntergezogenen Hosen und Spuren von Sperma an den Beinen. Eine Freiwillige, die auf der Schura-Militärbasis bei der Identifikation toter Frauen half, erzählt von gebrochenen Beinen und Becken."

    Haim Otmazgin arbeitet ehrenamtlich für die Organisation Zaka, die nach Unfällen und anderen Katastrophen die Leichen und Körperteile birgt. Otmazgin hat 2.800 Bilder vom Massaker gemacht. Der Spiegel: „Die Bilder auf seinem Handy sind eine Galerie des Grauens. Erstes Foto: Eine Frau mit hochgeschobenem Rock, sie trägt keine Unterwäsche. An ihren Oberschenkeln klebt geronnenes Blut. Zweites Foto: Eine blonde Frau liegt auf dem Rücken, ihre Augen starren ins Leere. Ihr weißes Hemd ist zerrissen. Drittes Foto: rot gefärbte Hotpants. Man habe der Frau zwischen die Beine geschossen."

    Ein Massaker wird gefeiert

    Als das Blut der Opfer noch warm ist und die militärische Antwort der israelischen Regierung noch aussteht, wird das Massaker auf der Berliner Sonnenallee als antikolonialistische Tat gefeiert. Die Besucher des Festes werden kostenfrei mit Baklava verköstigt. Aufgerufen hat die Organisation Samidoun, die sich selbst als „Solidaritätsnetzwerk für palästinensische Gefangene bezeichnet. Samidoun steht der vermeintlich linken Popular Front for the Liberation of Palestine / Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) nahe und negiert mit Parolen wie „From the River to the Sea, Palestine will be free ein Existenzrecht Israels. Remko Leemhuis: „Was in Neukölln passierte, war Verherrlichung von Terror und Verfälschung von einem antisemitischen Massenmord."

    Nicht nur Menschen mit einem palästinensischen oder anderweitig arabischen Migrationshintergrund sind auf der Sonnenallee und ähnlichen Festen präsent. Auch deutsche Linke sind euphorisiert und tragen dazu bei, dass eine Welle des Antisemitismus‘ durch Deutschland und Europa fegt. Jüdische Einrichtungen werden angegriffen. In Deutschland ist Berlin die urbane Hochburg antisemitischer Kampagnen. In Berlin-Mitte werfen Unbekannte Molotow-Cocktails auf ein Gebäude der jüdischen Gemeinde Kahal Adass Jisroel, in dem neben einer Synagoge auch eine Kindertagesstätte untergebracht ist. Juden trauen sich nicht mehr mit der Kippa auf die Straße. Das Abonnement der Jüdischen Allgemeine ist bei Zusendung bitte so zu verpacken, dass man die Zeitung nicht sieht. Jüdische Schulen und Kitas in Deutschland sind leer, weil die Eltern der Kinder Angst haben. An Mauern wird „Kill Juden!" geschmiert. Stolpersteine, die an die ermordeten Berliner Juden erinnern, werden verätzt. Häuser, in denen die real existierenden Juden und Jüdinnen leben, werden mit einem Davidstern markiert. Der jüdische Sportverein Makkabi Berlin sieht sich zur vorübergehenden Einstellung seines Spielbetriebs genötigt.

    „Man kriegt das Kotzen"

    Feine Sahne Fischfilet (FSF) ist eine antifaschistische Punkband. Es sind Antifaschisten aus dem Osten, genauer: aus der Provinz in Mecklenburg-Vorpommern. FSF ist eine Band, die den Nazis die Stirn bietet und auch dorthin geht, wo es weh tut, wo die Rechten die Hegemonie ausüben und Demokraten und Linke auch physisch bedrängen.

    2017 produzierten der Schauspieler Charly Hübner und Sebastian Schultz einen Dokumentarfilm über den Leadsänger der Band, Jan „Monchi Gorko. Der Film heißt „Wildes Herz und wurde mehrfach ausgezeichnet. Er erzählt viel über die besondere Situation von jungen Menschen in der ostdeutschen Provinz sowie über die Entwicklung von „Monchi und Co. zu Antifaschisten. Gerade dem westdeutschen Publikum ist „Wildes Herz ans Herz zu legen.

    Als am 25. Juni 2023 in Sonneberg im Bundesland Thüringen erstmals ein AfD-Mann zum Landrat gewählt wurde, schrieb Stefanie P. über Instagram eine Nachricht an „Monchi: „Meint ihr, ihr könntet evtl. noch ein Garagenkonzert dazwischenschieben?! Ich glaube, es ist nicht gerade ungefährlich, aber ein riesiges Zeichen für die Leute, die hier täglich gegen den braunen Müll ankämpfen. Dies war nur eine von über 100 Anfragen, die die Band aus Sonneberg erhielt. Die Band sagte zu, Ort des Konzerts war eine Kellerbar. „Monchi: „Wir spielen seit Jahren Konzerte gegen Rechts, immer als Feuerwehr und ständig brennt es irgendwo. Deswegen seien sie auch in Sonneberg, „um den Menschen hier Kraft zu geben, dass sie bei dem Scheiß auch mal abschalten können. Und um zu zeigen, es leben auch viele coole Menschen hier."

    Am 8. Oktober 2023, einen Tag nach dem Massaker der Hamas, veröffentlicht FSF eine Erklärung, in der sie nicht nur zum von den Islamisten verübten Blutbad Stellung beziehen, sondern auch zu den Jubelfeiern auf der Berliner Sonnenallee. Das Statement ist klar in seiner Sprache, geprägt von authentischer Empathie und folgt einem funktionierenden politischen und ethisch-moralischen Kompass:

    „Man kriegt das Kotzen.

    Da stehen irgendwelche Wichser auf den Straßen und feiern es, dass Kinder, Frauen und Männer in Israel verschleppt oder ermordet werden. Da siehst du Videos, wo Menschen, man weiß nicht, ob sie tot oder am Sterben sind, auf Pick-Ups liegen und von Leuten angespuckt werden. Da werden Leichen geschändet und irgendwelche Freaks feiern das als Widerstand‘, ‚revolutionär‘ oder sonstwas für einen Müll.

    (…)

    Wir schwanken andauernd zwischen Wut, Hilf- und Fassungslosigkeit und der Frage, was diese ständige Online-Empörung am Ende den Menschen wirklich hilft. Wir sind keine krassen Politfreaks, die jeden Konflikt bis aufs kleinste erklären können oder wollen. Aber eins wissen wir:

    Scheissegal, wo die Leute herkommen, welcher Religion sie angehören, welchen Gott sie anbeten: Wir denken an all die Menschen, die unter diesem räudigen faschistischen bzw. islamistischen Terror leiden!

    Wir verachten Menschenfeinde und Überzeugungsarschlöcher. Egal, ob nun weiss, schwarz, braun, gelb …! Fahrt zur Hölle!

    Eins bleibt bestehen und das ist gefühlt oftmals der große Unterschied:

    Sie lieben den Tod und wir lieben das Leben!"

    Aber wie kommentiert ein altlinker Bekannter das Statement von FSF? „‘Wir schwanken andauernd zwischen Wut, Hilf- und Fassungslosigkeit und der Frage, was diese ständige Online-Empörung am Ende den Menschen wirklich hilft.‘ Bei dem Satz hätte es Feine Sahne Fischfilet bleiben lassen sollen."

    Was dem Kommentator nicht gefiel, bleibt ein Rätsel. War es die unmissverständliche Verurteilung des antiwestlichen Islamismus als Faschismus? Störte ihn, dass FSF im Massaker nichts Widerständiges, antiimperialistisches oder antikolonialistisches entdecken mochte? Fehlte ihm, dass die Politik der israelischen Regierung gegenüber Gaza und den dort lebenden Palästinensern nicht erwähnt wurde – und damit der eigentlich Schuldige für das Massaker? Oder war es einfach nur eine Sprache, die insofern unangenehm war, als dass sie in ihrer Klarheit alle Kontextualisierer des Massakers als empathielos und ethisch-moralisch verirrt entlarvte?

    Dschihadismus als Antikolonialismus

    Im Interview mit der taz unterscheidet der israelische Historiker Moshe Zimmermann zwischen der israelischen und deutschen Linken: „Die Linke in Israel ist sich im Klaren darüber, dass mit der Hamas nichts anzufangen ist, mit einer Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, uns zu zerstören. Ob man gegen sie so vorgehen sollte wie im Moment das israelische Militär, ist eine Frage, über die man in Israel diskutiert. Aber die Hamas ist kein Partner für irgendeine Regelung. Es wäre suizidal, mit einer Organisation zu einem Arrangement zu kommen, die zum Ziel hat, die andere Seite zu vernichten."

    Von dieser Klarheit sind Teile der deutschen Linken aber weit entfernt. Vielmehr bieten diese ein verheerendes Bild – nicht nur politisch und ideologisch, sondern auch und gerade ethisch-moralisch.

    Auf der Webseite der trotzkistischen Gruppe Klasse gegen Klasse lesen wir: „Hamas, der Islamische Jihad und weitere palästinensische Gruppen des Widerstandes haben eine großangelegte militärische Operation gestartet, die die israelische Armee und Gesellschaft vollkommen überrascht hat. Wie von israelischen Medien ebenfalls bestätigt, hat Hamas 5 Orte in der Nähe von Gaza unter ihre Kontrolle gebracht. Zum ersten Mal seit 1948 verliert Israel also die Kontrolle über Teile ‚ihrer‘ Territorien. (…) Als Vergeltung fängt Israel an, die palästinensische Bevölkerung wieder einmal kollektiv zu bestrafen. […] Der palästinensische Widerstand steht einer gewaltigen Militärmacht gegenüber. Zudem ist Israel, nach Angaben der Arms Control Association, die achtgrößte Atommacht der Welt. Daher ist es schlichtweg lächerlich, Israel als Opfer darzustellen. Das ist auch großen Teilen der unterdrückten Jugend weltweit klar. […] Lang lebe der palästinensische Widerstand!"

    „Ihrer Territorien. „Ihrer in Anführungszeichen. Klasse gegen Klasse verweigert dem Staat Israel die Anerkennung. Für ein Land der Größe Israels ist dessen Militär in der Tat gewaltig. Aber wer will dies dem Land nicht zugestehen nach drei arabischen Überfällen 1948, 1967 und 1973? Und außerdem stehen dieser gewaltigen Militärmacht in der Region nicht nur die offiziellen arabischen Armeen und der Iran gegenüber, sondern auch hoch motivierte Armeen von Dschihadisten. Oder sollen wir diese „Genossen" nennen? Israel wird von seinen Feinden mehr oder weniger in die Zange genommen. Aus dem Süden wird das Land von der Hamas mit Raketen beschossen, aus dem Norden von der Hisbollah, und mittlerweile sind auch die Huthi-Rebellen dabei, die aus dem Jemen auf Israel zielen. Der Jemen liegt über 2.000 Kilometer von Israel entfernt; Juden leben dort schon lange nicht mehr. Aber auf der Flagge der Huthi steht „Allahuh Akbar", „Tod Amerika, „Tod Israel, und „Fluch den Juden. Hamas, Hisbollah und Huthi werden in unterschiedlichem Ausmaß vom Iran unterstützt, der ein Existenzrecht Israels abstreitet. Der Iran hat im Nahen Osten ein Netzwerk verbündeter Gruppen aufgebaut, eine „Achse des Widerstands, deren gemeinsamer Gegner die USA und Israel sind. Antisemitische Vernichtungsfantasien gehören zur DNA des Regimes in Teheran. Was viele Linke nicht kapieren: Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern ist nur ein kleinerer (und instrumentalisierter) innerhalb eines größeren. Der größere Konflikt tobt zwischen dem jüdischen Staat Israel und dem islamistischen und kolonialistischen Dschihadismus, der sich nicht auf die Region beschränkt. Dschihadismus ist keine Bewegung, die dem Nationalstaat huldigt – vielleicht ist es ja das, was einige Linke fasziniert. Für das Hamas-Führungsmitglied Mahmoud a-Zahar wäre der Kampf mit der Vernichtung Israels noch nicht beendet: „Wir wollen nicht nur unser Land befreien. Der ganze Planet wird unter unserem Gesetz stehen. (…) Es wird keinen Zionismus und kein betrügerisches Christentum mehr geben." Dschihadismus ist keine nationalstaatlich beschränkte Ideologie.

    Was haben Dschihadismus und eliminatorischer Antisemitismus mit einem antikolonialen Widerstand zu tun? Lew Bronstein alias Leo Trotzki, als dessen Erben sich Gruppen wie Klasse gegen Klasse verstehen, dürfte sich im Grabe umdrehen. Der Jude Trotzki war Atheist und ein Gegner des radikalen Zionismus. Nur: Was Marx, Luxemburg und Trotzki, allesamt Juden, zur „Judenfrage" schrieben, das schrieben sie in einem anderen Kontext – im Falle von Marx noch vor den großen antisemitischen Pogromen im russischen Zarenreich, im Falle von Trotzki und Luxemburg vor der Shoah, einem Zivilisationsbruch, wie ihn Europa noch nie gesehen hatte und durch den so manche Hoffnung hinfällig wurde. Was sich aber mit Sicherheit sagen lässt: Das Ausbleiben der Weltrevolution hätte Trotzki kaum an die Seite antisemitischer Dschihadisten getrieben. Er hätte zwischen deren Idee von Weltrevolution, der Errichtung eines globalen Kalifats und seiner eigenen zu unterscheiden gewusst.

    Noch eine Spur wilder als Klasse gegen Klasse treibt es das autonome Berliner Hausprojekt Rigaer 94, das ein Statement veröffentlicht, in dem das Massaker als „Ausbruch aus dem größten Gefängnis der Welt gepriesen wird. Was die Medien über das Massaker erzählen würden, seien „konstruierte Schreckensgeschichten. Rigaer 94 wirft den Medien einen „orientalistischen Diskurs vor, in dem „das Bild des Arabers als das ultimativ Böse konstruiert werde. Das Massaker wird zum „Weg zur Befreiung verklärt, die israelischen Opfer werden nicht direkt benannt. Das Statement der Rigaer 94 wird unter anderem auch vom „Revolutionärer 1. Mai-Bündnis auf der Plattform „X" verbreitet.

    Wenn der Feminismus pausieren muss

    Ein weiterer Akteur im Kabinett der politisch und moralisch Verkommenen ist die Gruppe Young Struggle, die stolz konstatiert, dass der „Widerstand des palästinensischen Volkes mit der Al-Aqsa-Flut Offensive (gemeint ist das Massaker, d. A.) eine neue Stufe erreicht habe. Zwar sei das Massaker von der „reaktionären Hamas angeführt worden, „aber unterstützt durch alle revolutionären und fortschrittlichen Organisationen Palästinas. Die „unnötige Ermordung von Zivilist:innen sei zwar bedauerlich, ändere aber „nichts an der Legitimität des Befreiungsschlags. Nur „unnötig, nur „bedauerlich – aber nicht zu verurteilen. Auf Instagram attestiert Neonazi-Funktionär Patrick Wieschke von der Partei Die Heimat (ehemals NPD) Young Struggle, sich von der Israel-freundlichen Position der „gleichgeschalteten Linken „emanzipiert" zu haben.

    Das ganze Ausmaß der ideologischen Verstrahlung wird offensichtlich, wenn mensch auf der Internetseite des „Jungen Kampfes surft. Die Gruppe schreibt sich den Kampf gegen das Patriarchat („Feuer und Flamme dem Patriarchat), gegen Sexismus und LGBTQ-Feindlichkeit auf ihre Fahnen. Was sie aber nicht am Schulterschluss mit extrem patriarchalischen und schwulenfeindlichen Islamisten hindert, die an Jüdinnen ihre unterdrückten sadistischen Männerfantasien ungehemmt ausleben, die Jüdinnen vergewaltigen, bis denen die Beckenknochen brechen, ihnen die Vagina aufschlitzen, die Brüste abschneiden, ihnen innere Organe herausreißen. Mit einer „Befreiungsbewegung, die im Art. 17 ihrer Charta die Rolle der Frau im „Befreiungskampf auf die einer Gebärmaschine reduziert. Deren Aufgabe sei es, neue Kämpfer zu liefern und diese zu Männern zu erziehen. Der „Feind glaube, den Kampf gewinnen zu können, wenn es ihm „gelingt, die Frauen so zu lenken und zu formen, wie sie es wollen, nämlich (sie) dem Islam entfremdet. Und wie macht „der Feind das? „Durch Medien, Filme und Lehrpläne mithilfe ihrer Marionetten in zionistischen Organisationen und Foren, darunter „Freimaurerlogen, Rotary-Clubs, Spionagegruppen. Der palästinensische Befreiungskampf würde durch eine kulturelle Beeinflussung, etwa eine mögliche Säkularisierung, „Verwestlichung und stärkere Emanzipation der Frauen, bedroht. „Das Wort von der Frauen-Emanzipation ist nur ein vom jüdischen Intellekt erfundenes Wort. Der Mann müsse Heldenmut auf dem Schlachtfeld zeigen, die Frau kämpfe an der „Geburtenfront. Diese beiden Aussagen stammen nicht von der Hamas, sondern vom „Führer" persönlich.

    Jüdinnen werden am 7. Oktober auch deshalb vergewaltigt, weil „die Israelin als emanzipierte, kämpfende Frau alle Werte verkörpert, die der Islamismus verachtet", schreibt der Psychologe Louis Lewitan in Die Zeit. „Ob sie Armeedienst leistet, studiert oder arbeitet, stets wird sie als Infragestellung des patriarchalischen Herrschaftsmodells empfunden. Zugleich ist die Israelin eine sexuelle Projektionsfläche. Weil sie als unrein und unmoralisch gilt, ist es für Hamas-Kämpfer rechtens, sie zu vergewaltigen und zu ermorden. Dieser frauenverachtende Wahn sei keineswegs neu. „Wir kennen den Topos der sündhaften, bedrohlichen, emanzipierten Jüdin bereits aus dem antisemitischen Geschlechterbild der Nationalsozialisten.

    Die Soziologin Julia Bernstein wurde in Charkiw, heute Ukraine, geboren. Mit 18 floh sie vor dem grassierenden Antisemitismus nach Israel. Als Forscherin interessierte sich Bernstein immer dafür, warum Juden nach der Shoah nach Deutschland ausgewandert sind. Bernstein treibt die ausbleibende Solidarität aus Kreisen um, „die sich sonst für Frauen und Minderheiten einsetzen. Auch die sexualisierte Gewalt der Hamas gegen israelische Frauen, Misshandlungen und Vergewaltigungen scheint einige weniger zu empören, als ein mögliches Verbot des Genderns in Hessen. Jüdinnen und Juden machen darauf gerade mit der Losung aufmerksam: ‚Me too unless you are a Jew.‘"

    Deutsche Linke sind offenbar der Meinung: Wenn’s gegen den „zionistischen Kolonialismus geht, dann muss der Kampf gegen das Patriarchat eine Pause einlegen. Denn ein Anspruch auf Feminismus ist in diesem Kontext „westlich und somit konterrevolutionär. So muss die Linke auch bei einem phallischen Machtrausch beide Augen zudrücken.

    Und ist die Hamas nur „reaktionär"? Reaktionär wie, sagen wir mal, Philipp Amthor oder Friedrich Merz von der CDU? Nicht antisemitisch, nicht islamistisch?

    „Die Welt wird den Juden auch dieses Massaker nicht verzeihen"

    Die Reaktion der Linken wird u. a. auch vom Wiener Autor Richard Schuberth genauer beobachtet. Im Blog faust-kultur.de, 2010 als „Weltbühne für Autoren und Künstler in Frankfurt/M. gegründet, stellt er zunächst einige Fragen: Warum drehten die Linken „den Lautstärkeregler ihrer Israelschelte just in dem Moment auf Anschlag hoch, als in den Kibbuzim Südwestisraels „das Knattern der Schnellfeuerwaffen und die Allahu-akbar-Rufe noch nicht verhallt waren? Wieso öffneten sie dem genozidalen Islamistenterror sofort die Tore in die palästinensische Widerstandserzählung, indem sie diesen als dritte Intifada ausriefen? Wieso stellten sie das schlimmste Judenpogrom des Jahrhunderts als Torsturm im Match zweier Mannschaften hin, dessen Stürmern man wegen Foulplay zwar die Gelbe Karte zeigte, aber die Rote schon im Ärmel hatte fürs Revanchespiel der Gefoulten?"

    Drei Aspekte würden die Fulltime-Kritiker israelischer Palästinenserpolitik, deren Argumenten man sich bei notwendiger Distanz zur Bewegung Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) und unreflektierten Apartheidvorwürfen, nie verschließen sollte, verdächtig machen: „Warum sind sie so auf diesen Zwergenstaat am Mittelmeer eingeschossen, an dessen Verfehlungen sich alle ‚moralischen Kompasse‘ dieser Welt auszurichten scheinen? Warum werten sie die Hamas, den bösesten Feind, den die Palästinenser je hatten und gegen den sich die Fatah geradezu als palästinensische Interessenvertretung ausnimmt, zu deren legitimem Vertreter auf? Und wieso konnten sie die Beerdigung der jüdischen Opfer nicht abwarten, sondern stürmten schon am Tag der Tat die Kibbuzim, um die letzten dort Verblutenden nicht ohne Wissen um ihre Schuld an den Lebensverhältnissen der Leute im Westjordanland sterben zu lassen?"

    Die schwierige Frage, wo linke Kritik an israelischer Politik in linken Antisemitismus hinübergleitet, habe am 7. Oktober einen weiteren Teststreifen erhalten: „In den sozialen Medien unterzogen sich Millionen unwissentlich diesem Test. Schon am Abend zeichnete sich das Ergebnis ab. Das Abschlachten von ca. 1.400 Zivilisten und Zivilistinnen, ihre Folterungen, Vergewaltigungen, Verstümmelungen (Frauen wurden die Brüste abgeschnitten), das Köpfen von Menschen aller Alter, das Töten von Juden, Arabern, Touristen, Arbeitsmigranten aus Asien, sowie die Entführung Lebender und Schändung Toter zeitigten spontanes Entsetzen und Trauer. Entsetzen und Trauer über die realen Opfer bei den einen, daneben aber auch ein „antizipatives Entsetzen und Trauer über die Opfer der zu erwartenden israelischen Vergeltungsmaßnahmen bei den anderen – also noch bevor das israelische

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