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Wenn es gegen den Satan Hitler geht ...
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eBook761 Seiten8 Stunden

Wenn es gegen den Satan Hitler geht ...

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Über dieses E-Book

Erwin von Witzlebens Widerstand begann bereits 1937: Sieben Jahre vor dem Attentat vom 20. Juli 1944 war er erstmals bereit, gewaltsam gegen den Diktator vorzugehen. Er war damit einer der frühesten und konsequentesten Gegner Hitlers innerhalb der Generalität. Während der Sudetenkrise 1938 plante Witzleben die Absetzung Hitlers durch einen Staatsstreich, der allerdings durch die Ergebnisse der Münchner Konferenz nicht mehr durchführbar war. In den folgenden Jahren wich Erwin von Witzleben nie von seiner Überzeugung ab, dass Hitlers Regime verbrecherisch sei, auch nicht nach den größten militärischen Erfolgen. Diese Überzeugung bezahlte er mit dem Leben. AUTORENPORTRÄT Georg von Witzleben, 1977 in München geboren, aufgewachsen in Berlin, ist ein entfernter Verwandter Erwin von Witzlebens. Nach Ausbildung zum Reserveoffizier studierte er Politikwissenschaften, Geschichte, Psychologie und BWL und promovierte zum Dr. phil. Er war mehrere Jahre Unternehmer, anschließend wechselte er in die Industrie. Zwischenzeitlich baute er ehrenamtlich die Hilfsorganisation ALEDURAS e.V. auf.
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum21. Jan. 2016
ISBN9788711449554
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    Buchvorschau

    Wenn es gegen den Satan Hitler geht ... - Georg von Witzleben

    können.

    1. Kapitel

    Die frühen Jahre

    Der Ursprung

    Erwin von Witzleben entstammte dem Rittergeschlecht von Witzleben, das zum historischen Uradel gehört.¹¹ Die Familie hat sich nach dem Ort Witzleben, nahe der Stadt Arnstadt benannt.¹² Frühe Spuren nennen das Jahr 1088,¹³ urkundlich erwähnt wurde die Familie erstmals im Jahre 1133.¹⁴ Die Witzlebens wurden mit vielen Orten und Gütern zunächst im heutigen Südthüringen, ab Mitte des 14. Jahrhunderts auch im heutigen Nordthüringen/südlichen Sachsen-Anhalt belehnt. Mitte des 15. Jahrhunderts hatte sich die Familie in die Linien »zu Wendelstein und Berka, zu Elgersburg, Liebenstein, Molschleben und Marlishausen«¹⁵ geteilt. Erwin von Witzleben entstammte der Elgersburger Linie, die sich nach der Elgersburg im südlichen Thüringen benannte.¹⁶

    Im 16. und 17. Jahrhundert schwand der Einfluss der Familie, und Anfang des 18. Jahrhunderts folgten zahlreiche Witzlebens dem Ruf der preußischen Könige und wurden Offiziere in der preußischen Armee. Mancher Witzleben ging auch in sächsische und oldenburgische Dienste.¹⁷ Im 18. und 19. Jahrhundert stellte die Familie rund ein Dutzend Generäle in Preußen und Sachsen.¹⁸ Der Soldatenberuf war der bevorzugte Berufswunsch bei den männlichen Familienmitgliedern, zusammen mit Landwirt (wenn eigener Boden vorhanden war), Forstwirt und Dienst in der Staatsverwaltung.¹⁹ Ein Cousin von Witzlebens Großvater, Job Wilhelm von Witzleben, 1818–1835 Generaladjutant von König Friedrich Wilhelm III. von Preußen und von 1832–1835 zusätzlich preußischer Staats- und Kriegsminister²⁰, gründete die Kadettenanstalt in Schlesien,²¹ die Erwin von Witzleben später besuchte.

    Die Familie von Witzleben betrachtete sich am Ende des 19. Jahrhunderts als Teil einer Elite: Sie sah auf eine jahrhundertelange Geschichte zurück, war vor allem im preußischen Staatsdienst verwurzelt und hatte in allen preußischen Kriegen seit Anfang des 18. Jahrhunderts ihren Beitrag geleistet. Hinzu kam, dass mit Pfalzgräfin Esther-Maria zu Birkenfeld-Gelnhausen geborene von Witzleben eine Angehörige der Familie die spätere Stammmutter der Herzöge in Bayern – einer Nebenlinie der bayerischen Könige – wurde. Hierzu schrieb der Chronist der 1880 erstmalig herausgegebenen Familiengeschichte, dass »[die] Ebenbürtigkeit mit einem deutschen Fürstenhause durch ein vom Kaiser sanctionirtes Urteil des Reichs-Hofraths in Wien vom 11. April 1715 anerkannt war.«²²

    Neben diesem Elitebewusstsein fehlte es nicht an Lebensfreude, die sich in einem humorvollen Familienspruch widerspiegelt: »Gott und dem König ergeben – Nur Gutes im Leben erstreben – Ab und zu mal einen heben – Das ist der Witz vom Leben.«²³

    Zahlreiche Güter waren einst in Witzleben’schem Besitz. Neben den bereits erwähnten Burgen waren dies unter anderem Angelroda (1363 bis ins 16. Jahrhundert, wieder 1651–1946), Berka, Bösleben, Molschleben (1351–1737) und außerhalb Thüringens unter anderem Hude in Oldenburg (seit 1678) und Liszkowo/Witzleben in Posen (Mitte 19. Jahrhundert bis 1945).²⁴

    Am 9. Mai 1869 kamen 21 männliche Angehörige der Familie von Witzleben in Berlin zum ersten Familientag und zur Gründung eines Familienverbandes zusammen. Auch Witzlebens Vater war dabei.²⁵ Die Gründung wurde am vierten Familientag am 27. April 1874 formal abgeschlossen. Seit 1869 finden alle zwei Jahre Witzleben’sche Familientage statt, zu denen die Angehörigen der Familie eingeladen sind.²⁶ Teil des Familientagrituals war zu Zeiten der Monarchie und noch bis in die 1930er Jahre auch die Verehrung und Huldigung des Kaisers.²⁷

    Klosterschule Roßleben

    Durch Luthers Reformation kam es zur Schließung zahlreicher Klöster in Kursachsen. Die damaligen Vögte des Klosters Roßleben waren die auf dem Wendelstein ansässigen Witzlebens.²⁸ Für den Vogt, Ritter Heinrich von Witzleben, stellte sich die Frage, wie er Gebäude und Gut des Klosters weiter nutzen könne. In Anlehnung an die Errichtung von Knabenschulen durch seinen Landesherrn, den sächsischen Kurfürsten, entschloss sich Heinrich von Witzleben, in Roßleben eine Internatsschule einzurichten. So gründete er 1554 die Klosterschule Roßleben mit dem Ziel, Schülern eine gute Ausbildung zu ermöglichen, möglichst unabhängig von deren sozialer Herkunft. Finanziert wurde die Schule durch das dazugehörende Klostergut sowie durch die von den Eltern zu zahlenden Schulgelder.

    Roßleben war zunächst eine regional anerkannte Bildungseinrichtung, die im Laufe der Zeit immer mehr auch überregional an Bedeutung gewann. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war sie eine der bedeutendsten Bildungseinrichtungen in Preußen. Zu ihren Absolventen zählten zahlreiche hohe Beamte, Minister und Generäle, später auch Unternehmer. Die Schule wird seit dem 19. Jahrhundert in Form einer Familienstiftung geführt und ist heute die älteste familiengeführte Schule Deutschlands.²⁹

    Die Witzleben’sche Familie hat sich – unabhängig von der jeweiligen Abstammung bestimmter Linien – mit ihrer Schule in den letzten Jahrhunderten stark identifiziert. Die Witzlebens schickten spätestens seit dem beginnenden 18. Jahrhundert häufig auch ihre eigenen Söhne auf die Klosterschule.³⁰ Erbadministrator Heinrich Graf von Witzleben-Altdöbern führte Anfang des 20. Jahrhunderts die Befreiung vom Schulgeld für Angehörige der Familie ein.³¹ Erwin von Witzleben ist in Roßleben nicht zur Schule gegangen, aber zahlreiche Onkel, Cousins sowie sein Sohn Job Wilhelm.³²

    Roßleben sollte im Widerstand gegen den Nationalsozialismus noch eine Rolle spielen. So war die Traditionsschule der Entstehungsort für viele Freundschaften, die später zu Keimzellen der Netzwerke des Widerstands werden sollten;³³ keine andere zivile Bildungseinrichtung in Deutschland brachte mehr Widerstandskämpfer gegen Hitler hervor als Roßleben.³⁴ Auch zwei spätere Mitarbeiter von Witzleben waren frühere Klosterschüler.³⁵ Manche lernten sich dort schon kennen, andere erst nach der Schulzeit, einige gingen auch mit Witzlebens Sohn Job Wilhelm in Roßleben zur Schule. In Roßleben gewesen zu sein schuf seit jeher eine Bindung, und der gemeinsame »Stallgeruch« erleichterte das gegenseitige Vertrauen. Traf man auf einen »Alten Roßleber«, so entstand unwillkürlich eine gewisse Nähe, hatte man doch gemeinsame Werte und teilte viele Erlebnisse. Noch heute sprechen ehemalige Klosterschüler von ihrer »Alma Mater Rhodoscia«³⁶.

    Jugendzeit und Kadettenausbildung

    Nach drei Kriegen und jahrzehntelangem Ringen wurde am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles das Deutsche Reich proklamiert. Fast elf Jahre später, am 4. Dezember 1881, wurde in Breslau, der Hauptstadt der preußischen Provinz Schlesien, Job Wilhelm Georg Erdmann Erwin von Witzleben geboren.³⁷

    Erwin von Witzlebens Vater, Georg von Witzleben, war zuletzt Platzmajor im kleinen schlesischen Städtchen Glogau.³⁸ Er war im Deutsch-Französischen Krieg (1870/1871) mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse ausgezeichnet worden und hatte die Armee 1874 als Hauptmann verlassen.³⁹ Nach seiner Dienstzeit kaufte er 1876 ein Gut in Schlesien, das er aber schon im selben Jahr wieder veräußerte.⁴⁰ Später erwarb er das kleine Gut Ober-Poppschütz (Landkreis Freystadt) in Oberschlesien.⁴¹ Erwin von Witzlebens Mutter, Therese Brandenburg, stammte aus einer schlesischen Kaufmannsfamilie. Witzleben hatte einen Bruder, der kurz nach der Geburt starb.⁴² Er selbst wurde am 6. Februar 1882 getauft.⁴³ In seinem evangelischen Elternhaus wuchs er ganz selbstverständlich im christlichen Glauben auf⁴⁴, die ersten Jahre wohl zunächst in Breslau und dann in Ober-Poppschütz.⁴⁵ Witzlebens gesellschaftliche und mehr noch seine menschliche Prägung hatte naturgemäß ihre Grundlage in seinem Elternhaus. Die finanzielle Ausstattung der Familie war bescheiden; das vom Vater bewirtschaftete Gut ergab nur wenig oder gar keine Erträge und wurde spätestens nach dessen Tod veräußert. Geld für eine gute Ausbildung des Sohnes war nicht vorhanden.⁴⁶

    Bei der Frage, welchen Beruf der junge Erwin ergreifen sollte, kam der Familie ein Umstand zur Hilfe. Es gab die Möglichkeit – vor allem für adelige Familien, die dem preußischen Staat schon länger als Offiziere dienten –, Knaben im Rahmen einer vormilitärischen Ausbildung auf den Soldatenberuf vorbereiten zu lassen.⁴⁷ Im Kadettenkorps der preußischen Armee war die Ausbildung abhängig vom Einkommen der Eltern und wurde im Bedarfsfall vollständig vom preußischen König übernommen, ab 1871 durch die sogenannte »Kaiserzulage«⁴⁸. Deshalb nannte man die jungen Kadetten auch »Kaisers Söhne«.⁴⁹

    Die Kadettenausbildung war so organisiert, dass es in den preußischen Provinzen acht Vorkorps gab⁵⁰, in denen die Erziehung der jüngsten Kadetten entsprechend den Schulklassen Sexta (5. Klasse) bis Untertertia (8. Klasse) begann. Von der Obertertia (9. Klasse) an wurden sie in der Hauptkadettenanstalt in Groß-Lichterfelde bei Berlin zusammengezogen. Die dortige Ausbildung enthielt alle Lehrabschnitte, die notwendig waren, um Offizier zu werden. Neben Fächern wie Taktik, Reiten, Schießen, Schwimmen und militärischer Führung sollte auch die Allgemeinbildung und der gesellschaftliche Umgang geschult werden, außerdem wurde Englisch und Französisch unterrichtet.⁵¹ Der Sohn sollte dem Vater in der Berufswahl folgen. Mit Eintritt in das Kadettenkorps in seinem 11. Lebensjahr waren die Versorgung und die berufliche Zukunft des Jungen gesichert.⁵² Aber nicht nur die finanziellen Verhältnisse der Familie spielten bei diesem Schritt eine Rolle: Immerhin galt die Ausbildung im preußischen Kadettenkorps auch als gute Grundlage für eine spätere militärische Karriere.⁵³

    Witzleben setzte damit auch eine lange familiäre Tradition fort.⁵⁴ Sein Ururgroßvater Albrecht von Witzleben⁵⁵, noch im Stammland Thüringen geboren, trat in preußische Dienste und nahm als Offizier an allen Schlachten Friedrichs des Großen teil, was dieser bei seinem Abschied dankbar feststellte. Nach den Worten des Königs war Albrecht von Witzleben ein mutiger und tapferer Offizier.⁵⁶ Dessen zweiter Sohn und Erbe⁵⁷, Witzlebens Urgroßvater Job Wilhelm von Witzleben, von 1766 bis 1771 Schüler der Klosterschule Roßleben, folgte dem Vater in den preußischen Dienst.⁵⁸ Er kämpfte gegen Napoleon I., erlebte die bitteren Niederlagen gegen die Franzosen und 1807 die französische Gefangenschaft. Schließlich kämpfte er in den Befreiungskriegen und wurde 1817 als preußischer Oberstleutnant verabschiedet.⁵⁹ Witzlebens Großvater, Heinrich von Witzleben, diente über dreißig Jahre im herausragenden preußischen Garderegiment »Gardes du Corps«⁶⁰ und brachte es anschließend zum Oberst und Kommandeur des 1. Garde-Ulanen-Regimentes in Potsdam.⁶¹ Er hatte die Tochter eines preußischen Spitzendiplomaten geheiratet und war Ritter des Johanniterordens.⁶² Witzlebens Vater war, wie bereits erwähnt, preußischer Hauptmann.⁶³

    Neben seinen direkten Vorfahren waren auch zahlreiche weitere Familienangehörige Offiziere. Ein Bruder seines Urgroßvaters, Heinrich von Witzleben⁶⁴, kämpfte zusammen mit seinem Vorgesetzten, dem späteren Generalfeldmarschall Johann David Ludwig Graf Yorck von Wartenburg, gegen die napoleonische Armee. Heinrich von Witzleben sagte man Entschlossenheit und Furchtlosigkeit nach. Während des Monarchenkongresses in Erfurt 1808 wurde er deshalb von preußischen Patrioten aufgefordert, sich Napoleons I. lebend oder tot zu bemächtigen. Dies lehnte er ab mit den Worten, »wie er im ehrlichen Kampfe sein Leben für den König gern hingeben, zu einem Unternehmen aber, das mit einem Morde endigen könne, sich niemals verstehen werde«.⁶⁵

    Die Neigungen des jungen Erwin von Witzleben gingen aber noch in eine andere Richtung. Zeit seines Lebens war er ein begeisterter Jäger. Seitdem er offensichtlich schon während seiner Jugend die Ausbildung zum Jäger absolviert hatte, begab er sich, wo er konnte, auf die Jagd. Wenn er die Wahl gehabt hätte, wäre Witzleben eher Förster als Soldat geworden.⁶⁶

    Bereits im zarten Alter von 10 Jahren trat er also in das Kadettenkorps ein. Wahlstatt in Schlesien sollte zunächst seine Ausbildungsheimat werden. Ein Jahr später, am 9. September 1892, starb der Bruder des Vaters, Heinrich von Witzleben, auf seinem Besitz Collm bei Niesky in Schlesien. Er hatte 1874 seine Großcousine Auguste von Witzleben, genannt Gutta, geheiratet. Diese erbte Collm von ihrem Vater, der den Besitz 1856 erworben hatte. Heinrich und Auguste von Witzleben hatten keine Kinder. Warum Witzleben Collm nach dem Tod seiner Tante 1917 nicht erbte – was üblich gewesen wäre und für ihn auf lange Sicht ein Leben außerhalb der Armee hätte bedeuten können ist unklar.⁶⁷ Auguste von Witzleben hatte zu ihrem Neffen ein gutes Verhältnis.⁶⁸ Offenbar war aber die finanzielle Belastung des Gutes der Grund für einen späteren Verkauf durch die Tante.⁶⁹

    Vier Jahre später – am 5. Mai 1896 – starb Georg von Witzleben in seinem 58. Lebensjahr. Erwin verlor damit seinen Vater bereits im Alter von 14 Jahren.⁷⁰ Er blieb auch nach dessen Tod in Wahlstatt, wo die religiöse Erziehung fortgeführt und er am 31. März 1898 konfirmiert wurde: »Denn Gott der Herr ist Sonne und Schild; der Herr gibt Gnade und Ehre: er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen«⁷¹, lautete der von seinem Lehrer Frielinghaus ausgewählte Konfirmationsspruch, der Witzleben fortan begleiten sollte. Im selben Jahr wechselte der Kadett in die Hauptkadettenanstalt nach Groß-Lichterfelde bei Berlin, wo er zahlreiche Kameraden fand, die später Teil eines großen Netzwerkes wurden. Dazu kamen Freundschaften, die in Lichterfelde ihren Anfang nahmen. Ähnlich wie in Roßleben war das Zusammengehörigkeitsgefühl groß. Diese Netzwerke konnten später die Basis für vertrauensvolle Beziehungen werden.⁷²

    Die Ausbildung im Kadettenkorps wurde nicht nur von Offizieren, sondern auch von älteren Kadetten durchgeführt. Dadurch sollte erreicht werden, dass die angehenden Offiziere früh lernten, Menschen zu führen. Einer seiner Ausbilder war der elf Jahre ältere Cousin Georg von Witzleben aus Dornheim.⁷³ So wuchs das Einzelkind Erwin von Witzleben auch ganz natürlich in dem Bewusstsein auf, Angehöriger einer großen und weitverzweigten Soldatenfamilie zu sein. Die Ausbildung war hart, die Lebensbedingungen sehr bescheiden und die Ernährung alles andere als feudal. Die jungen Offiziersanwärter sollten preußisch bescheiden und leidensfähig erzogen werden, wobei die physische und psychische Disziplin eine große Rolle spielte. Daneben heckten die jungen Kameraden aber auch den einen oder anderen Streich aus und genossen diese Form der Kameradschaft.⁷⁴

    Anfangs war Witzleben nicht gerade ein begnadeter Schüler, und so musste er die Quarta (7. Klasse) wiederholen.⁷⁵ Dann führte er sich bis zum vorletzten Jahr so gut, dass er eine Fleißprämie⁷⁶ bekam und Selektaner wurde.⁷⁷ Selektaner hatten das besondere Privileg, nach Abschluss ihrer Kadettenausbildung direkt als Offiziere (Leutnant) in ein Regiment einzutreten.⁷⁸ Nun übernahm auch er Führungsaufgaben, wurde als Stubenältester ganz praktisch auf die Aufgaben als Zugführer in einem Regiment vorbereitet und bildete jüngere Kameraden aus.⁷⁹ Selektaner aus adeligen Familien wurden auch als Pagen am kaiserlichen Hof in Berlin eingesetzt. Page zu sein, war damals eine große Ehre. Man nahm an Essen der regierenden Häupter Deutschlands bei Hofe teil und war verantwortlich für die Versorgung »seines« jeweiligen Landesherrn. Die Pagen standen bei Festessen hinter den Plätzen ihrer Fürsten und wichen diesen nicht von der Seite. Oft sind hieraus später langjährige Beziehungen entstanden.⁸⁰ Witzleben wurde Page des Fürsten Heinrich XIV. Reuß jüngerer Linie.⁸¹

    Anfang 1901 musste sich sein Jahrgang den Abschlussprüfungen stellen. In der Theorie waren Witzlebens Leistungen zum Teil nur durchschnittlich. Am 5. Februar 1901 wurde er geprüft. Nur mit einem »Befriedigend« wurde der Kadett Erwin von Witzleben mit Datum vom 22. März 1901 die Befähigung zum Offizier zugesprochen.⁸² Seit dieser Zeit hatte er den Wahlspruch: »Treue ist das Mark der Ehre!«⁸³ für sich gewählt.

    Dienst am Vaterland in der schlesischen Heimat

    Nach bestandener Offiziersprüfung kehrte Witzleben sogleich in seine Heimat Schlesien zurück und trat in das Grenadierregiment König Wilhelm I. (2. Westpreußisches) Nr. 7 in Liegnitz ein.⁸⁴ Die sogenannten Königsgrenadiere waren ein Traditionsregiment, das von König Friedrich Wilhelm II. von Preußen am 20. Februar 1797 gegründet worden war.⁸⁵ Das Regiment hatte einen ausgezeichneten Ruf.⁸⁶ Der Dienst bedeutete für den jungen Offizier eine klare Positionierung im Staatsgefüge und dessen Gesellschaftsordnung.⁸⁷ Das Offizierkorps bestand ausschließlich aus Angehörigen adeliger Familien⁸⁸, was in der preußischen Armee des beginnenden 20. Jahrhunderts nicht mehr für alle alten Regimenter galt.⁸⁹ Durch den Kaisersohn Prinz Oskar von Preußen, der dem Regiment beigeordnet war, bestand zudem eine direkte Verbindung zur Herrscherfamilie.⁹⁰ Witzleben machte als Kadett und junger Offizier vergleichbare, zeittypische Erfahrungen, wie sie auch aus den Biografien anderer späterer Feldmarschälle hervorgehen.⁹¹

    Noch am 22. März 1901 wurde er mit Patent vom 22. Juni 1901 Leutnant und am selben Tag Zugführer in der 12. Kompanie. In den nächsten Jahren sollte er mehrere Kompanien des Regimentes durchlaufen, Jahre, die wohl zu den unbeschwertesten seines Lebens gehörten.⁹² Witzleben verrichtete seinen Dienst gern und nutzte die freie Zeit, um sich seiner Passion, der Jagd, zu widmen.⁹³ Anfang des 20. Jahrhunderts war auch die Zeit der fortschreitenden technischen Entwicklung in der Armee. Witzleben konnte die Innovationen gerade bei der Entwicklung von Luftstreitkräften während einer Vorführung in Liegnitz selber beobachten.⁹⁴


    1905 war er zusammen mit seiner Mutter, die mittlerweile auch in Liegnitz lebte, zur Hochzeit von Paul Kleeberg, einem Bekannten der Familie, eingeladen.⁹⁵ Die Schwester des Bräutigams war die am 10. März 1885 in Chemnitz geborene Alma Elsa Margaretha Kleeberg.⁹⁶ Die Neunzehnjährige entging Witzlebens Aufmerksamkeit keineswegs, und er fasste Zuneigung zu ihr. Elsa Kleeberg, die in der Familie immer nur Else gerufen wurde, war eine sehr aufgeweckte und temperamentvolle junge Frau, die mit drei älteren Brüdern aufgewachsen war.⁹⁷ Sie war klug und gebildet und hatte ein gesundes Selbstbewusstsein. Zuweilen konnte sie sich über etwas aufregen und auch laut werden, war dabei aber nie nachtragend.⁹⁸ Elsa Kleeberg interessierte sich sehr für Politik und setzte sich mit aktuellen politischen Fragen auseinander. Wenn sie von einer Sache überzeugt war, blieb sie konsequent.⁹⁹ Sie war nicht nur ein wacher Geist, sondern auch sehr beliebt.¹⁰⁰

    Die evangelische Kirche und der Glaube an Gott spielten in Elsa Kleebergs Leben eine große Rolle; sie besaß auch eine umfangreiche Bibliothek, in der sich zahlreiche religiöse Schriften befanden.¹⁰¹ Gleichwohl wuchs sie in einem sehr liberalen Elternhaus auf. Ihr Vater, Stadtrat Friedrich Richard Kleeberg, war Freimaurer und Meister vom Stuhl.¹⁰² Auch ein Treuegefühl gegenüber dem sächsischen König bestand im Hause Kleeberg. Elsa Kleeberg liebte das Reiten und das Spielen am Klavier,¹⁰³ auch war sie eine begeisterte Schützin und der Jagd zugetan.¹⁰⁴

    Das junge Paar fühlte sich sehr zueinander hingezogen¹⁰⁵, und die beiden entschieden sich schnell, ihr zukünftiges Leben miteinander zu teilen. Bereits 1906 verlobten sie sich, konnten jedoch nicht gleich heiraten.¹⁰⁶

    Leutnante und Oberleutnante bezogen nur ein sehr bescheidenes Gehalt, mit dem sich keine Familie ernähren ließ. Andererseits war die Stellung eines Offiziers in der Gesellschaft jedoch so bedeutend, dass auf solide finanzielle und familiäre Verhältnisse größten Wert gelegt wurde. Somit war es Offizieren unter dem Rang eines Hauptmanns verboten, zu heiraten. Allerdings konnten Ausnahmen genehmigt werden, wenn der heiratswillige Offizier nachwies, dass er aus anderen – moralisch vertretbaren und legalen Mitteln – über ausreichende Ressourcen verfügte, um eine Familie ernähren zu können.¹⁰⁷ Da seine zukünftige Frau vermögend war, wurde die Heirat des Leutnants gestattet.¹⁰⁸ Am 21. Mai 1907 heiratete Witzleben Elsa Kleeberg in der Kirche zu St. Jakobi in ihrer sächsischen Heimat Chemnitz.¹⁰⁹

    Das Paar zog zusammen und lebte gemeinsam in Liegnitz. Als Tochter eines erfolgreichen Seidenfärbereibesitzers bekam die junge Frau eine große Aussteuer mit in die Ehe. Dazu gehörten neben zahlreichem Mobiliar auch größere finanzielle Mittel.

    Die Eheleute ergänzten sich in vielfältiger Hinsicht. Witzleben bestand in seiner Ehe nicht auf einer einseitigen, patriarchalischen Führung. So war beispielsweise seine Frau diejenige, die fortan im Witzleben’schen Haushalt für die Verwaltung der Finanzen zuständig war, ungewöhnlich für die damalige Zeit.¹¹⁰ Dank der finanziellen Ausstattung war es Witzleben möglich, eine eigene Jagd zu pachten.¹¹¹ Gemeinsam teilten beide die Freude am Klavierspielen; ein großes schwarzes Piano blieb jahrzehntelang gern genutztes Inventar.¹¹² In dieser Zeit wurde Witzleben von einem Kameraden als jemand beschrieben, der »klar, gerade, immer verbindlich kameradschaftlich« war und sich »nie in den Vordergrund« drängte.¹¹³

    Am 8. März 1908 kam in Liegnitz das erste Kind, Eva Maria Edelgarde Charlotte Amalie, zur Welt.¹¹⁴ Die Kleine wurde fortan »Edel« gerufen.¹¹⁵ Einige Monate später wurde Witzleben in das Bezirkskommando nach Hirschberg kommandiert, blieb aber formal Angehöriger seines Regimentes.¹¹⁶ Die Bezirkskommandos waren den jeweiligen Generalkommandos unterstellte Militärbehörden, vor allem zuständig für die Überwachung der Wehrpflicht und Rekrutierungsfragen.¹¹⁷ Hier kümmerte sich Witzleben auch um die Veteranen seines Regiments.¹¹⁸

    Die Familie siedelte von Liegnitz nach Hirschberg über. Dort wurde am 3. Juli 1909 das zweite Kind geboren, Job Wilhelm Georg Richard Erwin.¹¹⁹ Und nach neun Jahren als Leutnant erfolgte schließlich am 26. Juni 1910 mit 28 Jahren Witzlebens Beförderung zum Oberleutnant.¹²⁰

    Am 6. November 1911 wurde er in Hirschberg verabschiedet, um anschließend wieder zu seinem Regiment zurückzukehren. Die Familie zog nach Liegnitz zurück.¹²¹ In den folgenden Jahren diente Witzleben in sechs Kompanien seines Regiments.¹²² 1913 wurde der Oberleutnant dort so sehr gefordert, dass er auch seine Teilnahme am 23. Familientag – der am 22. November 1913 in Berlin stattfand – aus »dienstlichen Gründen«¹²³ absagen musste. Witzleben war bereits 1908 dem Witzleben’schen Familienverband beigetreten.¹²⁴

    Sein Privatleben war in dieser Zeit nicht ohne Probleme: Nach der Heirat kam es immer wieder zu Konflikten zwischen Mutter und Schwiegertochter, die bis zum Tode der Mutter 1925 anhielten. Witzlebens Tochter vermutete später, dass sich die Schwiegermutter in die Familienführung der jungen Schwiegertochter einmischte. Erschwerend kam hinzu, dass sie alle in der Kleinstadt Liegnitz lebten. Witzleben war das einzige lebende Kind seiner verwitweten Mutter, und Elsa von Witzleben besaß einen ebenso starken Charakter wie ihre Schwiegermutter. Witzleben hat unter den Auseinandersetzungen, zu denen es zwischen den beiden kam, sehr gelitten, war jedoch nicht imstande, sie zu beenden.¹²⁵

    Abgesehen davon war seine Ehe nach dem Zeugnis der Tochter und dem von Freunden sehr glücklich.¹²⁶ Witzleben liebte seinen Beruf und darin die Ausbildung von jungen Soldaten, aber nicht minder genoss er auch das Leben mit der Familie. Mehrere Urlaubsaufenthalte, sowohl an der Ostsee in Bansin als auch im Thüringer Wald, der alten Heimat der Großfamilie, erlebte er in diesen Jahren. Das Paar reiste auch nach Berlin und verbrachte dort einen vergnügten Urlaub.¹²⁷

    Es war die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in der Deutschland – zur Großmacht aufgestiegen – prosperierte und der Wohlstand in Frieden von der jungen Familie genossen werden konnte. In diesen Jahren wuchsen die beiden Kinder heran. Elsa von Witzleben war in der für diese Zeit selbstverständlichen Rollenverteilung für ihre Erziehung verantwortlich. So war sie diejenige, die mit den Kleinen abends vor dem Schlafengehen betete und sang. Allerdings war sie strenger mit den Kindern als ihr Mann,¹²⁸ achtete aber auch auf liebevolle Fürsorge, sodass sie bis zu ihrem Tod 1942 zu Tochter und Sohn ein gutes Verhältnis bewahren konnte. Wenn es sich zeitlich ergab, dann brachte auch der Vater die Kinder abends zu Bett und betete mit ihnen.¹²⁹ Solange sie noch nicht erwachsen waren, blieb der Sonntag »Elterntag«. Die Eltern spielten mit Tochter und Sohn und gingen mit ihnen spazieren.¹³⁰

    2. Kapitel

    Der Erste Weltkrieg

    Der Krieg bricht aus – 1914

    Am 1. August 1914, kurz vor acht Uhr abends, überbrachte der deutsche Botschafter in Moskau, Friedrich Graf von Pourtalès, dem russischen Außenminister Sergei Dmitrijewitsch Sasonow eine Note seines Kaisers. Sie enthielt die Botschaft, dass sich das Deutsche Reich mit Russland im Kriegszustand betrachte. Wenige Stunden später überschritten erste russische Truppen die ostpreußische Grenze.¹³¹ Den Mittelmächten (Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und Türkei) mit rund 9,8 Millionen Soldaten standen die Alliierten (Großbritannien, Frankreich, Italien, Montenegro, Serbien, Rumänien und Russland) mit rund 13 Millionen Soldaten gegenüber.¹³²

    Am 11. August 1914 zog Witzleben ins Feld und mit ihm dreißig weitere Angehörige der Witzleben’schen Familie.¹³³ Der Oberleutnant hatte sich zu Beginn des Krieges entschieden, fortlaufend ein Tagebuch für seine Kinder zu führen, denn ihm war bewusst, dass der Krieg ein besonderes Erlebnis sein würde.¹³⁴

    Als er ins Feld rückte, war seine Kriegsbegeisterung im Vergleich zur Stimmung anderer etwas gedämpfter, trotzdem wird aus seinen Worten in diesen Tagen deutlich, mit welch positiven Gefühlen der Offizier an die Front zog.¹³⁵ Witzleben sah sich in einer Reihe mit seinen Vorfahren, die im Krieg gewesen waren. Die Bewährung im Kampf mit der Waffe, das Beweisen von Mut und Tapferkeit und das Siegen waren die Bezugspunkte in seinem Fühlen und Denken.¹³⁶ Witzleben hinterfragte die Notwendigkeit des Krieges nicht, sondern er akzeptierte sie.¹³⁷ Zwar ging er davon aus, bald wieder zu Hause zu sein, aber der Abschied von seiner 29 Jahre jungen Frau und seinen zwei kleinen Kindern fiel ihm sehr schwer.¹³⁸

    Im Eisenbahntransport ging es in den nächsten zwei Tagen direkt an die Westfront. Witzlebens Mobilmachungsbestimmung sah ihn als Adjutant der 19. Reserve-Infanterie-Brigade vor, die noch in Liegnitz aufgestellt worden war.¹³⁹ In seiner Funktion sollte der Offizier das erste Mal eine größere Übersicht über die Aufgaben, die Herausforderungen und das Wirken auf Brigade- und Divisionsebene erhalten. Im Laufe des Krieges steigerten sich diese Lernmöglichkeiten noch in anderen Verwendungen.


    Witzleben war bei den kleinen Dingen des täglichen Lebens unselbständig und umso dankbarer für die Unterstützung seiner Burschen.¹⁴⁰ Den ganzen Krieg über und noch darüber hinaus sollte er von seinem Burschen Paul Beier, der elf Jahre jünger war als Witzleben, begleitet werden.¹⁴¹ Beier war oft bei seinem Vorgesetzten zu Hause und spielte mit den Kindern, die ihn sehr ins Herz geschlossen hatten. Zwischen Witzleben und seinem Burschen entwickelte sich eine Freundschaft, die auch lange nach ihrer gemeinsamen Dienstzeit andauern sollte. Noch Jahrzehnte später besuchte Beier seinen alten Vorgesetzten in Berlin, und es kam sogar vor, dass die beiden zusammen durch den Zoologischen Garten spazierten.¹⁴²


    Am 20. August 1914 überschritt Witzlebens Brigade gegen zwei Uhr mittags die luxemburgische Grenze. Er war angetan von dem freundlichen Verhalten der Bevölkerung gegenüber den deutschen Truppen.¹⁴³ Zwei Tage später geriet Witzleben in seine ersten Kämpfe: die Schlacht bei Longwy und dabei zuerst das Gefecht bei Fillières.¹⁴⁴ Noch war es sein Wunsch, möglichst schnell an den Feind zu kommen. Ein Armeebefehl des Deutschen Kronprinzen, in dem dieser erklärte, »uns heute zum ersten Male an den Feind«¹⁴⁵ zu führen, motivierte den Brigadeadjutanten. Eine uneingeschränkte Siegeszuversicht beherrschte den Liegnitzer Offizier so wie die ganze Armee. Man wollte beim Sieg dabei sein und seinen Beitrag dazu leisten. In dieser ersten Phase hatte Witzleben ein positives Kriegsbild, das sich aber im Laufe des Krieges wandelte.

    Als er kurz hinter der Front die ersten verwundeten deutschen Soldaten sah, wurde ihm nach eigenen Angaben doch »sehr mulmig«¹⁴⁶. Danach stand er zum ersten Mal auf dem Schlachtfeld und erlebte, wie ihm die Geschosse regelrecht »um die Ohren flogen«. Er lernte das Gefecht der verbundenen Waffen kennen, bei dem zunächst die eigene Artillerie dem Gegner möglichst großen Schaden zufügt, um ein schnelles und erfolgreiches Vorgehen der eigenen Infanterie zu ermöglichen. Witzleben sah die ersten gefallenen Franzosen:

    »Ein eigentümliches Gefühl, beschlich einen doch ich kann aber nicht sagen, daß ich ein eigentliches Grauen empfunden habe. Immerhin die schrecklichen Verwundungen und Stellungen waren erschütternd.«¹⁴⁷

    Schnellen Geländegewinnen der eigenen Truppen folgten bald zügige Gegenangriffe, sodass es letztlich keinen echten Erfolg gab. Witzleben machte nun die ersten Erfahrungen mit den französischen Schrapnells¹⁴⁸, die ihn in den nächsten Jahre dauernd verfolgen sollten. An seine Feuertaufe erinnerte er sich später immer wieder.¹⁴⁹ Bei diesem Gefecht wie auch bei vielen weiteren war er dem Tode oft sehr nahe. Nicht selten verfehlte ihn ein Geschoss nur um Haaresbreite. Am Abend war das Gefecht beendet und Witzleben musste in der Nähe von vielen toten Franzosen kampieren. In dieser Lage und aufgrund der hohen Verluste – »leider auch unserer braven Jungen«¹⁵⁰ – verbrachten er und seine Kameraden dort »die furchtbarste Nacht unseres Lebens«¹⁵¹. Zwei Tage später ertappte er deutsche Sanitäter auf frischer Tat bei dem Versuch, ein Haus zu plündern. In seinem Kriegstagebuch beschreibt er, wie er sie mit seiner Reitpeitsche aus dem Haus vertrieb, während er ihnen die Vorschriften zum Plünderungsverbot hinterherrief.¹⁵²

    Diese Erlebnisse bewegten ihn, vor allem der Soldatentod eines Freundes ging ihm sehr nahe.¹⁵³

    Ende August 1914 litt Witzleben zum ersten Mal an starken Magenbeschwerden; es quälten ihn lang anhaltende Krämpfe und tagelange Blockaden – ein gesundheitliches Problem, das ihn nunmehr sein Leben lang begleiten würde.¹⁵⁴ Auch Herzprobleme traten im Laufe des Krieges auf, sollten aber später wieder abklingen.¹⁵⁵ Außerhalb der militärischen Lage war für Witzleben – ganz typisch für einen Frontsoldaten – die tägliche Versorgung ein Schwerpunkt im Alltag. Die Qualität der Verpflegung und der Unterbringung sowie ausreichend Schlaf gehörten für ihn zu den entscheidenden Fragen seines Überlebens als Soldat. Die Herausforderung, vor allem diesen drei Bedürfnissen möglichst häufig und ausreichend nachzukommen, zieht sich wie ein roter Faden durch Witzlebens privates Kriegstagebuch. Sonst nutzte der Oberleutnant jede freie Minute, um auf die Jagd zu gehen. Fast immer jagte er mit Kameraden; Mahlzeiten wurden mit ihnen aus dem eigenen oder aus anderen Truppenteilen eingenommen. Witzleben fand in seiner Freizeit neben der Jagd auch die Zeit auszureiten und auch immer freie Minuten, zum Briefeschreiben und für sein Tagebuch.¹⁵⁶

    Viele praktische Fragen um die Führung und die Organisation der zu seinem Verantwortungsbereich gehörenden Truppen beschäftigten den Offizier. Er erlebte den Krieg als eine vielschichtige, mehrdimensionale Erfahrung: »Ernst und Scherz, Leid und Freud’ sind oft eng beieinander gewesen«¹⁵⁷, reflektierte er rückblickend. So war auch manch Kurioses Teil seiner Kriegserlebnisse. Beispielsweise kam es im sogenannten Sitzkrieg vor, dass sich Deutsche und Franzosen in den Schützengräben nur auf wenige Meter gegenüberlagen. Wollte nun einer austreten, galt die stillschweigende Vereinbarung, den Spaten zu heben und bei entsprechender Erwiderung der Gegenseite konnte der Betreffende den Schützengraben verlassen, ohne dass auf ihn geschossen wurde.¹⁵⁸

    Als Adjutant der 19. Reserve-Infanterie-Brigade lernte Witzleben im September 1914 viele Seiten Frankreichs kennen. Er kam mit der Zivilbevölkerung in Berührung und fand zum Beispiel bei Einquartierungen sehr herzliche Aufnahme. Auch besuchten einheimische Katholiken den deutschen evangelischen Militärgottesdienst. Witzleben erlebte, dass ihm immer wieder Franzosen offen und herzlich begegneten, was er anerkennend und dankbar feststellte. Auch hatte er Gelegenheit, bei der Befragung französischer Kriegsgefangener die Mentalität von Franzosen näher kennenzulernen.¹⁵⁹


    Am 14. September 1914 – nach fünf Wochen Krieg – wurde Witzleben mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse ausgezeichnet.¹⁶⁰ Dieser rund 100 Jahre zuvor erstmalig gestiftete Tapferkeitsorden bedeutete ihm sehr viel. Er fühlte sich verbunden mit seinen Vorfahren und als lebendiger Teil einer alten Tradition.¹⁶¹ Noch hoffte der frischdekorierte Offizier in den Ruhepausen, schnell wieder an den Feind zu kommen, und war ganz begeistert vom »tiefe[n] Baß unserer Mörser«¹⁶². Aber das Grauen des Krieges erlebte er auch immer wieder und hautnah. Ein toter Soldat, den er im Zustand mehrwöchiger Verwesung am 7. Oktober 1914 auffand, schockierte ihn: »Alle bisher gesehenen fürchterlichen Sachen waren nichts gegen diesen Anblick.«¹⁶³

    Mittlerweile hatte Witzleben ungeduldig darauf gewartet, zum Hauptmann befördert zu werden – am 13. Oktober 1914 war es endlich soweit.¹⁶⁴ Überglücklich feierte er mit seinen Kameraden bis in den nächsten Morgen.¹⁶⁵

    Nach den anfänglichen deutschen Erfolgen musste der frischbeförderte Offizier konstatieren, dass Deutschland keinesfalls auf einen Materialkrieg modernen Ausmaßes vorbereitet war: ein deutlicher Mangel an Munition machte sich an der Front bemerkbar.¹⁶⁶ Auch erlebte er schon früh, dass die deutschen Armeen nicht nur aus Millionen kampffähiger Soldaten bestanden, sondern sah »eine Unzahl marschkranker Reservisten«¹⁶⁷. Noch aber nahm Witzleben dies hin und kommentierte es nicht. Sein Vertrauen in die militärische Führung – »unser[en] Moltke [der Generalstabschef; Anm. des Verf.]«¹⁶⁸ – war noch ungetrübt. Trotzdem machte sich Witzleben Ende Oktober erstmals Sorgen, dass der erhoffte schnelle Sieg nicht zu erringen sei, und richtete sich darauf ein, noch bis Weihnachten an der Front zu bleiben.¹⁶⁹

    Anfang November wurde Witzlebens Brigade aus der Front gelöst. Der Brigadeadjutant befürchtete, dass sein Verband nach Russland verlegt würde, sie wurde jedoch in den belgischen Ort Iseghem verbracht.¹⁷⁰

    Wenige Tage später nahm die Brigade an einer Großoffensive teil, die typisch sein sollte für viele von Witzlebens Kriegserlebnissen. Mit 10 Armeekorps (AKs) wurde auf breiter Front am 10. November 1914 mit großer Zuversicht angegriffen. Der Angriff blieb jedoch schnell stecken. Er konnte über die gut gesicherten, verdrahteten und stark verteidigten Stellungen des Feindes nicht erfolgreich geführt werden. Vielmehr gab es auf deutscher Seite massive Verluste, und ganze Bataillone wurden vernichtet. Regimenter, die mit einer Stärke von 2700 Mann angetreten waren, hatten nach dem Kampf nur noch Stärken von knapp 1600.¹⁷¹ Witzleben musste den Tod von weiteren Kameraden bei diesem Angriff hinnehmen und zeigte sich »tief erschüttert, gerade diese [...] beiden lieben Freunde verloren zu haben«¹⁷². Aufgrund der starken gegnerischen Sicherung und der hohen Verluste wurde der Angriff zunächst eingestellt. Eine große Anzahl Verwundeter konnte aus der Frontlinie nur geborgen werden, indem man flache Gräben zu ihnen vortrieb. Die medizinische Versorgung war nach Witzlebens Beobachtung nicht ausreichend, erst am Hauptverbandsplatz – weit hinter der Front – war sie besser.¹⁷³ Und nachdem der erste Schnee gefallen war, resümierte der Frontoffizier besorgt: »Wenn wir doch nur unsere kolossalen Opfer nicht umsonst gebracht haben.«¹⁷⁴ Nur wenige Tage später gestand er sich selber ein, kriegsmüde zu werden.¹⁷⁵ Die Brigade wurde schließlich wieder aus der Front gezogen und in Bouligny, östlich von Verdun, untergebracht.¹⁷⁶

    Immer wieder nutzte der preußische Offizier die Möglichkeit, in Ruhepausen das Hinterland kennenzulernen. So besichtigte er Ende November eine französische Erzgrube und fühlte sich »im Innern Frankreichs«¹⁷⁷. Die Führung übernahm ein jüdischer Ingenieur namens Frank. Ein paar Tage später zeigte der Ingenieur ein Verhalten, das Witzleben missbilligte. Witzleben erzürnte es, dass sich Frank, der im Kameradenkreis nicht gut gelitten war, ungefragt zu seiner Gruppe gesellte, und schrieb über ihn in seinem privaten Kriegstagebuch: »Ein ekliger, aufdringlicher Judenbengel.«¹⁷⁸ Frank seinerseits beschwerte sich bei Witzleben über das unfreundliche Verhalten der Kameraden und schikanierte Witzlebens Gruppe. Aber am Ende »raufte« man sich doch zusammen: Frank nahm an der Weihnachtsfeier der Gruppe teil und wurde von ihr aufgenommen.¹⁷⁹ Anfang Januar 1915 schenkte er Witzleben sogar einige Ansichtskarten für sein Fotoalbum.¹⁸⁰ Ob Frank aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Judentum unbeliebt war oder ob er einfach nur nicht in die Gruppe passte, bleibt spekulativ. Die scheinbar vorhandenen Vorurteile gegen Juden können hier gegebenenfalls verstärkend gewirkt haben. Sollte dies so sein, haben sie aber nicht dazu geführt, dass Frank vollständig ausgeschlossen wurde. Eine unreflektierte, von anderen kopierte, antisemitische Rhetorik war zu dieser Zeit üblich und machte auch vor Witzleben nicht halt.¹⁸¹ Manches ist hierbei nicht hinterfragt, sondern einfach tradiert worden. Witzleben scheint hier, in seinen frühen Jahren, zu dem zur damaligen Zeit verbreiteten »Oberschichten-Antisemitismus«¹⁸² geneigt zu haben, eine Einstellung, die er später gänzlich ablegte.

    Das Jahresende im Krieg sollte der schlesische Hauptmann 1914 wie all die anderen Kriegsjahre danach in Gedanken an seine Familie begehen und mit dem Dank gegen Gott schließen, dass er ihn bisher behütet durch den Krieg getragen habe.¹⁸³ Am Neujahrstag 1915 wurde auf den Frieden getrunken, den er bald erhoffte.¹⁸⁴

    Die zum Teil sehr heftigen Kämpfe, die Witzleben im Laufe des Weltkrieges erlebte, versuchte er wie andere Kameraden psychisch zu verarbeiten. Neben der bereits erwähnten Jagd und dem Schreiben von Briefen und Tagebuch waren es vor allem die Gespräche mit Kameraden, die ihm dabei halfen. Die Gespräche wurden meist abgerundet durch Kartenspiel und – wann immer möglich – durch den Genuss von alkoholischen Getränken, je nachdem, was gerade verfügbar war.¹⁸⁵ Hinzu kam seine Fähigkeit, auch kleinere und größere Freuden genießen zu können, wie etwa als er sich einen Hund zulegte.¹⁸⁶

    Ein weiterer Eckpfeiler war Witzlebens christlicher Glaube, in dem er Halt fand. Zum einen gab es zahlreiche Gespräche mit den Militärpfarrern, die Witzleben wohltaten und ihn aufbauten, zum anderen setzte er sich theologisch mit Bibeltexten aus den Predigten auseinander.¹⁸⁷

    Zudem holte sich Witzleben Kraft aus zahlreichen Briefen aus der Heimat, vor allem von seiner Frau. Wenn die Feldpost zu lange auf sich warten ließ, dann war er ebenso niedergeschlagen wie seine Kameraden. Hingegen stimmte ihn jeder Brief, jedes Zeichen von ihr fröhlich.¹⁸⁸ Ganz besonders freute er sich über ein kleines Medaillon mit den Bildern seiner Familie, das ihm seine Schwiegermutter zu seinem ersten Kriegsgeburtstag am 4. Dezember 1914 geschenkt hatte. Dieses trug er fortan immer bei sich. Am Abend dieses Geburtstages saß er vor dem Bild und dachte mit starken Gefühlen an Frau und Kinder und konstatierte die Bedeutung des Momentes: »Das kann nur der ermessen der selbst in Gefahr und Krieg plötzlich die lebenswahren Gesichter vor sich sieht.«¹⁸⁹

    Witzleben hat es den gesamten Krieg über abgelehnt, seine Frau in das rückwärtige Frontgebiet kommen zu lassen, was ihm von seinen Vorgesetzten immer wieder angeboten wurde. Zu groß fand er den Aufwand für sie, vor allem aber war ihm der Abschied von ihr direkt an der Front gefühlsmäßig nicht geheuer.¹⁹⁰

    Im zweiten Kriegsjahr – 1915

    Anfang Februar erkrankte Witzleben an Influenza, er sollte sich aber bald wieder erholen. Mittlerweile hatte er sich auch gegen die Gefahren aus Gasangriffen impfen lassen, doch litt er an den starken Nebenwirkungen.¹⁹¹ Am 14. Februar übernahm er schließlich ein eigenes Frontkommando. Er wurde Führer der 2. Kompanie des Reserve-Infanterie-Regimentes (IR) Nr. 6. Diese von ihm gewünschte Verwendung – zum ersten Mal verantwortlich für die Führung einer Kompanie – füllte ihn ganz aus. So verschmolz er schnell mit seinen Männern zur kameradschaftlichen Kampfgemeinschaft, die manche Bewährungsprobe zu bestehen hatte.¹⁹² Witzleben hatte ein enges, ganz natürliches und herzliches Verhältnis zu seinen Männern, die er in seinem Tagebuch oft einfach nur seine »Kerls« nannte.¹⁹³

    Mit seiner Kompanie erlebte er den Krieg nunmehr in seiner ganzen Unerbittlichkeit. Seine Gefechtsstände staken oft in einem Erdloch, wo Regen, Kälte und Schlamm seine Begleiter waren: »von unten durchnäßt und von oben durchfroren«.¹⁹⁴ Am 1. März resümierte er: »Sieben Monate Krieg!« und fragte: »Wie lange noch?«¹⁹⁵ Diese Frage sollte er in Zukunft immer wieder in seinem Tagebuch stellen, zum Ende des Krieges hin in jedem Monat.

    Witzlebens Kompanie, der die Brigade mittlerweile ihren Zug Feldartillerie unterstellt hatte, lag am Vauxbach, in der Nähe des später berühmt gewordenen Forts Vaux bei Verdun. Hier sollte Witzleben zum ersten Mal einem Befehl widersprechen. Er hatte den Auftrag, zwei Doppelposten über den Bach vorzuschieben. Nach Prüfung der Lage vor Ort – der Bach war an der vorgesehenen Stelle sehr tief und breit und von Feindesseite einsehbar – war für den Kompanieführer jedoch klar, dass es sich um ein Himmelfahrtskommando handelte, das er nicht verantworten wollte.

    Die Bataillonsführung schloss sich Witzlebens Einschätzung an, doch die Regiments- und Divisionsführung kritisierte diese Ansicht scharf. Witzleben musste eine schriftliche Begründung seiner Auffassung anfertigen. Die übergeordnete Führung bestand jedoch schließlich auf ihrem Befehl, den Witzleben dann auch ausführte. Umso erleichterter war er, als das Unternehmen ohne Verluste zu Ende gebracht werden konnte. Er blieb aber nach wie vor davon überzeugt, dass der Befehl falsch war.¹⁹⁶

    Am 22. März übernahm er die 14. Kompanie des Regimentes – wieder als Kompanieführer¹⁹⁷ –, in der ihm zunächst 197, später 287 Mann unterstanden. Sie kamen aus Norddeutschland und wuchsen ihm schnell ans Herz.¹⁹⁸ Zunächst musste er intensiv Ausbildung betreiben und war verantwortlich für manchen Stellungsbau.¹⁹⁹ Die Kompanie lag an der Front zur Belagerung von Verdun immer wieder ganz vorne.²⁰⁰

    Im Sommer 1915 erhielt er endlich nach einem Jahr Frontdienst für wenige Wochen Urlaub, was ihn unvorstellbar freute, denn ein Jahr lang hatte er seine Familie nicht gesehen. Zu Hause sammelte er Kraft und genoss diese Oase außerhalb des Krieges.²⁰¹ Das tat ihm auch deshalb gut, weil ihn – an der Front weit weg von der Familie – die Spannungen zwischen seiner Frau und seiner Mutter zusätzlich belasteten.²⁰²

    Am 11. August war er zurück an der Front und damit auch wieder inmitten von andauerndem Artilleriebeschuss.²⁰³ Den Franzosen bescheinigte er in diesem Herbst, dass sie ihre Verwundeten »wie immer meisterhaft abtransportiert«²⁰⁴ hätten. So ging das Jahr in den Schützengräben an der Front zu Ende. Inmitten der Gräben, die mit einem großen Christbaum geschmückt waren, hielt der Kompanieführer eine Weihnachtsansprache an seine Männer. Die Waffen schwiegen an diesem Heiligen Abend.²⁰⁵

    Im Ersten Weltkrieg war der Glaube Witzleben ständiger Begleiter. In seinem privaten Kriegstagebuch wird sein tiefes inneres Verhältnis zu Glauben und Gott besonders deutlich. Es fallen besonders zwei Dinge auf: Zum einen die zahlreichen Eintragungen zu Gottesdienstbesuchen, zum anderen Äußerungen zu Gott im Alltag.²⁰⁶ Der ganz selbstverständliche Glaube an die übergeordnete göttliche Fügung spricht sehr deutlich aus seinen Worten. Und daraus schöpfte er viel Kraft für das tägliche Leben und Überleben. Häufig nannte er die vom schlesischen Pfarrer Pflanz vorgetragenen Predigten »erbaulich« oder auch »erhebend«²⁰⁷. Mit Pflanz, zu dem er während seiner Liegnitzer Zeit schon Beziehungen gepflegt hatte, hielt er während des Krieges weiter enge Verbindung. Oft saßen sie bis in die Nacht zusammen und sprachen über religiöse Fragen. Die Predigten führten bei Witzleben auch zur Auseinandersetzung mit manchen theologischen Themen. So setzte er sich zum Beispiel mit Luthers Einstellung zum Krieg ebenso auseinander, wie mit göttlichen Geboten und Fragen zur Dankbarkeit gegenüber dem Schöpfer.²⁰⁸ Im Alltag bat er Gott immer wieder um Schutz für seine Familie und eine glückliche Heimkehr. Aus seinen Worten ist deutlich zu spüren, dass es für ihn »ohne den Herrgott«²⁰⁹ nicht ging, wie er auch nach dem Krieg immer wieder sagte. Im Krieg fühlte er sich dann in vielen Bedrohungen beschützt.²¹⁰ Auch im Verlauf seiner weiteren Karriere lag ihm daran, zu den Militärgeistlichen seiner Verbände gute Beziehungen zu unterhalten.²¹¹

    Drittes Kriegsjahr – 1916

    Zum Jahresbeginn beherrschte Witzleben die Hoffnung, dass die geplanten Angriffe auf Verdun erfolgreich durchgeführt würden. Ende Februar griff auch seine Kompanie ein. Am 8. März hatte sie den Auftrag, beim geplanten Sturm auf Fort Vaux die Spitze der Angriffstruppe zu bilden. Jedoch wurde das stark befestigte Fort zäh verteidigt, Mondlicht und der Schnee erhellten zudem das Gelände: der Sturm schlug fehl.²¹² Witzlebens Kompanie hatte sich aber so gut geschlagen, dass ihr Kompanieführer von allen Vorgesetzten bis hin zum Divisionskommandeur gelobt wurde. Und am 11. März 1916 erhielt er für die »heldenhafte Tapferkeit«²¹³ seiner Kompanie das Eiserne Kreuz 1. Klasse.²¹⁴

    Kurz darauf, am 25. März, übernahm Witzleben die neu aufgestellte 6. Kompanie seines Regimentes als Kompanieführer. Am 7. April wurde er bei einem Granatenangriff verwundet: Ein Splitter drang in die Stirn, ein weiterer traf ihn über dem linken Auge und ein dritter verletzte sein linkes Ohr.²¹⁵ Im Lazarett angekommen, setzten für kurze Zeit seine Nerven aus, und er bemerkte auch einen Tag später – schon wieder auf seinem Posten, in einem neuen, aus Stein gebauten Unterstand –, als die Granaten wieder flogen, dass »meine Nerven doch gelitten hatten, durch die gemeine Angst, die ich hatte.«²¹⁶ Monatelange Anspannung und psychisch belastende Situationen forderten auch von Witzleben ihren Tribut. Aber er verharrte auf seinem Posten und wurde auch von seinem Vorgesetzten als weiter einsatzfähig eingeschätzt. Schon zwei Wochen später übernahm er kurzzeitig als stellvertretender Kommandeur die Führung eines Bataillons des Regimentes.²¹⁷

    Am 30. April schließlich zum verdienten Fronturlaub entlassen, kam er Ende Mai zurück und freute sich Anfang Juni über die Nachricht, dass Fort Vaux nunmehr gefallen sei.²¹⁸ Erste Kritik an der frontfremden militärischen Gesamtführung schimmert allmählich bei Witzleben durch: Bei einem Reitturnier begegnete er zahlreichen Herren der Obersten Heeresleitung (OHL) und konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie wohl noch nie einen Franzosen zu Gesicht bekommen hatten.²¹⁹

    Mitte August übernahm er schließlich – wieder als Kompanieführer – die Maschinengewehrkompanie des Regimentes mit 18 Maschinengewehren und zwei 5,7-cm-Kanonen und wurde immer wieder an vorderster Front in den Kampf geschickt.²²⁰ Ende August hielt sich Witzleben für drei Tage zu einem Gaslehrgang in Köln auf.²²¹ Im September führte er kurzzeitig zwei Bataillone seines Regimentes²²², um dann am 19. September zum Stab der 9. Reserve-Infanterie-Division versetzt zu werden. Sein Vorgesetzter war der Erste Generalstabsoffizier (Ia) der Division, Hauptmann im Generalstab (i.G.) Ernst Hesterberg, dem Witzleben nun zuarbeiten sollte.²²³ Er begann, seinen Vorgesetzten zu schätzen, und es entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen ihnen.²²⁴ Am 16. Dezember

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