Lew Jaschin: Der Löwe von Moskau
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Dietrich Schulze-Marmeling
Dietrich Schulze-Marmeling, geboren am 8. Dezember 1956 in Kamen/Westfalen, gehört zu den profiliertesten und produktivsten Fußballautoren- und historikern in Deutschland.Schulze-Marmelings erstes Fußballbuch erschien 1992 und trug den Titel „Der gezähmte Fußball. Zur Geschichte eines subversiven Sports.“ Christoph Biermann schwärmte damals in der „tageszeitung“: „Manchmal schlägt man ein Buch auf und fragt sich nach einer durchlesenen Nacht, warum es das nicht schon vorher gegeben hat. (...) Dieses Buch schafft nämlich den Durchbruch. Es ist der erste ernsthafte Versuch einer Fußballgeschichte in Deutschland, die auch die politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen des Spiels einbezieht. (...) Ein brillanter Steilpass aus defensiver Sprachlosigkeit und vagen Mittelfeldgeraune.“Es folgten u.a. Bücher über Borussia Dortmund und den FC Bayern München, denen der Charakter von „Standardwerken“ attestiert wurde. Ebenso erging es seinen Veröffentlichungen „Das goldene Buch der Fußballweltmeisterschaft“ und „Das goldene Buch des deutschen Fußballs“ (mit Hardy Grüne), die beide in mehreren Auflagen erschienen sind.Auch zur Geschichte großer internationaler Vereine hat Schulze-Marmeling erfolgreiche Bücher vorgelegt, so zum FC Barcelona, zu Manchester United, Celtic Glasgow und zuletzt zum FC Liverpool („Reds“).Für seine bislang wertvollste Veröffentlichung erachtet der Autor indes „Davidstern und Lederball. Die Geschichte der Juden im deutschen und internationalen Fußball“, die mit dazu beitrug, dass die Geschichte des deutschen Fußballs „umgeschrieben“ wurde. Der Literaturkritiker Helmut Böttiger urteilte in der „Zeit“: „Eine absolut herausragende Veröffentlichung. Hier liegt der Idealfall vor: Fußball als Kulturgeschichte.“Für das Buch „Der FC Bayern und seine Juden. Aufstieg und Zerschlagung einer liberalen Fußballkultur“ wurde Schulze-Marmeling mit dem Preis für das Fußballbuch des Jahres ausgezeichnet.Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Fußballkultur und lebt in Altenberge bei Münster.
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Lew Jaschin - Dietrich Schulze-Marmeling
Khomich.
KAPITEL 1
Russischer und sowjetischer Fußball vor Lew Jaschin
Lew Jaschin verbrachte seine Zeit als Vereinsfußballer komplett bei Dynamo Moskau, dem Klub des Geheimdienstes bzw. des Innenministeriums und bis in die 1970er Jahre einer der führenden Vereine des Landes. In Russland bzw. der Sowjetunion wurde die Entwicklung des Fußballs durch die Abfolge von Krieg, Revolution und Bürgerkrieg lange Zeit gebremst. Ligen besaßen zunächst nur lokalen Charakter, erst 1936 wurde eine nationale Liga gegründet. Erste Meister waren Dynamo und der Lokalrivale Spartak. Die Dynamik des sowjetischen Fußballs wurde nun vom Antagonismus zwischen diesen beiden Klubs angetrieben. Geheimdienstchef und Dynamo-Boss Lawrenti Beria versuchte dabei, das populärere Spartak auch mithilfe von Repression vom Thron zu stoßen.
Ende der 1930er / Anfang der 1940er sorgte Dynamo-Trainer Boris Arkadiew für eine taktische Modernisierung des sowjetischen Fußballs. Im September 1945 war Dynamo das erste sowjetische Team, das auf westeuropäischem Boden spielte. Eine Tour durch Großbritannien hinterließ auch im Westen nachhaltigen Eindruck. Star der Dynamo-Expedition war ihr Torhüter Alexander Khomich, später ein Mentor des jungen Lew Jaschin.
Britische Anfänge
Auch in Russland waren es Briten, die den Fußball ins Land brachten. In den 1860ern traten britische Seeleute im Hafen von Odessa vor den Ball. Zum Zentrum fußballerischer Aktivitäten avancierte bald St. Petersburg, wo das Fußballteam des 1888 gegründeten „Sankt Petersburger Kreises der Amateursportler" regelmäßig gegen die Besatzungen englischer Schiffe antrat.
1890 wurde in Moskau eine Liga der Fabrikvereine gegründet, doch die erste richtige Fußballliga Russlands konnte St. Petersburg für sich reklamieren. 1901 wurde hier die St. Petersburg Football League aus der Taufe gehoben, die zunächst von Teams dominiert wurde, die Engländer und andere ausländische Bürger gegründet hatten. 1908 konnte erstmals ein russisches Team den Titel gewinnen. Ein Jahr später verließen einige starke Ausländerteams die Football League und gründeten eine eigene Liga, die „Russische Gesellschaft der Amateurfußballer". Diese spielte ab 1910 um einen Pokal, den der britische Botschafter Alan Nicholson gestiftet hatte. 1911 kam es zur Wiedervereinigung der beiden Ligen, aber die Teams der Ausländer hatten sportlich den Anschluss verloren und zogen sich bald ganz vom Spielbetrieb zurück. Der russisch-englische Spielverkehr, der für die damalige Zeit viele Zuschauer mobilisierte, war damit beendet.
1911 startete auch eine gesamtrussische Liga, in der aber nur Stadtauswahlmannschaften spielten und die nur kurzlebig war. 1913 bekam auch Moskau eine eigene Stadtliga, die von 25 Klubs gebildet wurde. In der St. Petersburger Liga spielten zu dieser Zeit 23 Mannschaften.
Erste Länderspiele
1912 war mit dem Rossijski Fotbolny Sojus (RFS) ein nationaler Dachverband gegründet worden. Ebenfalls 1912 bestritt Russland beim olympischen Fußballturnier in Stockholm seine ersten Länderspiele. Die Ergebnisse waren ernüchternd. Gegen Finnland, das damals noch zum russischen Kaiserreich gehörte, verlor man am 30. Juni 1912 mit 1:2. Gegen Deutschland kassierte man einen Tag später eine 0:16-Klatsche, bei der der deutsche Stürmer Gottfried Fuchs mit zehn Toren einen noch heute gültigen Rekord aufstellte. Allerdings bestand die russische Elf vornehmlich aus Leichtathleten. Der Ball war nicht ihr Freund. Außerdem hatten beide Teams am Vorabend gemeinsam gesoffen – die Russen offensichtlich etwas mehr als die Deutschen.
Anschließend wurde es erst einmal nicht besser. Im Juli 1912 unterlag Russland Ungarn in Moskau mit 0:9 und 0:12. Allerdings gehörten die Ungarn bereits zu den besten Teams auf dem Kontinent und hatten zuvor auch Frankreich, Italien, Deutschland und Österreich geschlagen. In Imre Schlosser und Vilmos Kertesz besaßen sie bereits Starspieler von internationalem Ruf, die gegen die Russen 13 der 21 Tore schossen. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs spielte die russische Nationalelf noch viermal. Einer 1:4-Heimniederlage im Mai 1913 gegen Schweden folgten drei Remis. Von Norwegen trennte man sich in Moskau und Oslo jeweils 1:1, von Schweden in Stockholm 2:2.
Revolution kontra Fußball
Anschließend ruhte der Spielbetrieb der Nationalelf für gut zehn Jahre, bedingt durch den Ersten Weltkrieg, die Revolution und den anschließenden Bürgerkrieg.
Im Februar 1917 mündete eine Demonstrations- und Streikwelle in der Entmachtung der zaristischen Führung Russlands. Auf die Februarrevolution folgten die von Lenin initiierte Oktoberrevolution der Bolschewiki und die Ausrufung der „Russischen Sowjetrepublik. Der folgende Bürgerkrieg, den Lenins kommunistische Bolschewiken und ihre Rote Armee gegen Konservative, Reaktionäre, Demokraten, gemäßigte Nationalisten und die Weiße Armee ausfochten, zog sich bis 1921 hin. Robert Edelmann, Professor für russische Geschichte und Geschichte des Sports an der Universität of California in San Diego: „Der Bürgerkrieg war begleitet von Hunger, Seuchen, Chaos und Entvölkerung der Städte. Das spielerische Vergnügen eines so spontanen Spiels wie Fußball passte schlecht zu den Erfordernissen des bedrohten neuen Regimes. Die bestehenden Vereine und anderen Institutionen, die sich mit Fußball befasst hatten, wurden alleine gelassen. (…) Die Ausländerkolonie verflüchtigte sich, was die Verbindung zum Mutterland des Fußballs, Großbritannien, unterbrach.
Der Bürgerkrieg endete mit einem Sieg der Bolschewiken. Am 31. Dezember 1922 wurden große Teile des auseinandergefallenen Russischen Reiches als Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, kurz UdSSR, wiedervereint.
Das kommunistische Regime hatte den Charakter einer „Entwicklungsdiktatur" und betrieb nun eine zentral gesteuerte nachholende Industrialisierung des Landes. Innerhalb von 20 Jahren wollte man die vielerorts noch mittelalterlichen, feudalen Produktionsverhältnisse beseitigen und das rückständige Land in eine industrielle Großmacht verwandeln.
Am 21. Januar 1924 starb Revolutionsführer Lenin. Kurz vor seinem Tod hatte er vor Stalin gewarnt: „Genosse Stalin hat dadurch, dass er Generalsekretär geworden ist, eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, dass er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig Gebrauch zu machen. (…) Stalin ist zu grob." Doch Stalin gewann den Kampf um Lenins Nachfolge, und an die Stelle der Diktatur einer Partei trat nun die Diktatur einer Person. 1928 begann die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die ohne Rücksicht auf Menschenleben betrieben wurde und allein in der Ukraine 3,5 Millionen Todesopfer forderte.
Die Kommunisten standen dem Sport und dem Fußball zunächst skeptisch bis ablehnend gegenüber. Ihre Argumente waren teilweise deckungsgleich mit denen konservativer Turnideologen in Deutschland, die die englische Herkunft des Spiels und seinen mit der kapitalistischen Leistungsgesellschaft kompatiblen „übertriebenen Wettkampfcharakter ablehnten. Aber es gab auch wesentliche Unterschiede. Die Linken betrachteten Leibesübungen im Kontext mit Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Lage der Massen. Die Rechten sahen sie vor allem im Kontext mit der „Wehrhaftmachung
des Volkes. Jim Riordan, ein 2012 verstorbener englischer Schriftsteller und Sporthistoriker, Verfasser vieler wissenschaftlicher Arbeiten zum sowjetischen Sport: „Der sportliche Wettkampf, so meinten nun viele Kommunisten, desavouiere die ‚ewigen Ideale’ der Leibesübungen. Statt den Körper umfassend zu bilden, führe er zur ungesunden Spezialisierung; er begünstige Krämergeist, Habgier und Sittenverfall, und statt die Massen zur aktiven Erholung zu führen, wie es ein sozialistisches Grundziel forderte, dränge er sie in die Rolle passiver Zuschauer."
Aber Fußball entwickelte sich zu einer „dermaßen attraktiven Unterhaltung, dass er in den 20er Jahren schließlich ein Bestandteil der kommerzialisierten Freizeitkultur wurde" (Robert Edelmann). Bereits Ende der 1920er florierte ein informeller Professionalismus mit Spielertransfers und lukrativen Schaukämpfen.
Weltfußball ohne Sowjets
Nach der Gründung der UdSSR kam es zu heftigen Verstimmungen zwischen der FIFA und dem neuen Staat, der nicht Mitglied des Weltverbandes war. Die FIFA verbot ihren Mitgliedsländern Spiele gegen die UdSSR. Das einzige FIFA-Mitglied, das sich dem widersetzte, war die Türkei. Am 16. November 1924 empfing die sowjetische Nationalmannschaft in Moskau die Türkei zum ersten Nachkriegsländerspiel. Die Sbornaja, wie die sowjetische Nationalelf genannt wurde, gewann glatt mit 3:0.
Zwischen der Sowjetunion und der Türkei existierten besondere Beziehungen. Im März 1921 hatte die UdSSR mit der in Ankara ansässigen nationalen türkischen Regierung ein Friedens- und Freundschaftsabkommen unterzeichnet. Es war der erste international ratifizierte Vertrag eines Staates mit der antiimperialistischen Widerstandsbewegung von Mustafa Kemal Pascha (ab 1934 Mustafa Kemal Atatürk), die am 29. Oktober 1923 die Republik ausrief.
Im Mai 1925 tourte eine sowjetische Auswahl durch die Türkei. Am 15. Mai 1925 besiegte die UdSSR die Türkei in Ankara mit 2:1.
Aber die Sbornaja kickte nicht nur gegen die offizielle Nationalmannschaft, sondern auch gegen Teams der türkischen Arbeitersportverbände. Die FIFA verdächtigte die UdSSR, den Ausbau ihrer 1921 gegründeten Roten Sportinternationale (RSI) zu betreiben und Arbeitersportorganisationen anderer Länder zum Austritt aus den neutralen Verbänden zu bewegen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, spielten die Sowjets nun nur noch gegen politisch befreundete Teams der internationalen Arbeitersportbewegung – so u. a. 1927 zweimal gegen Mannschaften des deutschen Arbeiter-Turn- und Sportbundes (ATSB). Zwischen 20.000 und 30.000 Zuschauer wollten jeweils in Leipzig und Hamburg die Sbornaja sehen. Beide Begegnungen, die als „Russenspiele" in die Annalen eingingen, endeten mit klaren Siegen – 8:2 und 4:1 – für die Sowjets.
Fußball-Ballett
Ende der 1920er begann die kommunistische Partei ihre kritische bis ablehnende Haltung zum Sport und zum Fußball zu überdenken. Zu groß war die Begeisterung für das Spiel, das bis zu 70.000 Menschen in die Stadien lockte. Allerdings waren Stalin-Porträts am Eingang der Stadien Pflicht.
Vor allem Mannschaftsportarten wurden nun gefördert. „Es entstand ein gesellschaftliches Subsystem der Fußball-Ligen, Stadien, Pokale, Meisterschaften, der Paraden und Festzüge, der Beliebtheitswahlen und des Heldenkults. All dies sollte ein Gemeinschaftsgefühl des Sowjetmenschen erzeugen und dem Ausland demonstrieren, wie glücklich und sorgenfrei es sich ‚unter der Sonne der stalinistischen Verfassung‘ (so ein Slogan von 1936) leben ließ. Wichtige Fußballspiele wurden nun vorzugsweise auf politische Feiertage gelegt (1. Mai, Tag der Verfassung, Jahrestag der Oktoberrevolution). Auf diese Weise sollte die Öffentlichkeit mit der Regierung, der Partei und natürlich mit Stalin selbst versöhnt werden, mit dessen Porträt auch im Sport Kult getrieben wurde." (Jim Riordan)
Auch der Fußballer änderte sich: „Gegen Ende der 1920er hatten (…) viele ‚Gentlemen-Amateure‘, wie auch jene Ausländer (Briten, Franzosen, Deutsche usw.), die die Revolution überlebt und weiterhin Fußball gespielt hatten, ihre aktive Laufbahn beendet. Die neuen Spieler kamen fast durchweg aus der Industriearbeiterschaft." (Riordan)
Der Komponist und der Ball
Ein glühender Fan des Spiels war der Pianist und Komponist Dimitri Schostakowitsch, der aus einer bürgerlich-liberalen Familie stammte. Die Eltern engagierten sich für die Bewegung der Narodniki, die für die Befreiung der Bauern kämpfte. Die Bemühungen der Narodniki, den Bauern Schulbildung zu vermitteln, stieß auf den heftigen Widerstand der orthodoxen Kirche.
Dimitri Schostakowitsch ließ kaum ein Spiel seines Klubs Zenit St. Petersburg aus. Die Publizistin, Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Katja Petrowskaja, 2013 Gewinnerin des Ingeborg-Bachmann-Preises, hat sich eingehender mit Schostakowitschs Fußballleidenschaft beschäftigt: „Es gibt eine Reihe von Fotos, wo Schostakowitsch am Fußballfeld sitzt. Er ist wie ein Kind, die Augen leuchten. Man hat wirklich das Gefühl, dass sich Schostakowitsch im Fußballstadion ausgetobt hat. Er fuhr buchstäblich zu fast allen Spielen. Nicht nur die in Leningrad stattfanden, sondern auch in Moskau. Ein paar Mal kam er nach Tblissi, um Spiele seiner Lieblingsmannschaft zu sehen." Als seine Frau mal auf Reisen war, nutzte er die Sturmfreiheit, um die Mannschaft von Zenit zum Abendessen einzuladen und mit einem Privatkonzert zu beehren.
1929 erhielt Schostakowitsch, der sein Leben lang die Rolle des führenden sowjetischen Komponisten spielte, den Auftrag, die Musik für ein Fußball-Ballett zu schreiben. Schostakowitsch-Biograf Krzysztof Meyer: „Man rechnete damit, dass Schostakowitsch an dem sportlichen Thema der Handlung Gefallen finden würde. Er war in der Tat über den prestigeträchtigen Auftrag sehr erfreut, aber das primitive und naive Libretto dämpfte seine Begeisterung. (…) Zunächst wehrte sich Schostakowitsch gegen ein solches Libretto, aber nachdem ihm Nikolai Smolitsch und Iwan Sollertinski gut zugeredet hatten, gab er nach und machte sich an die Arbeit. (Smolitsch war Regisseur, Sollertinski Wissenschaftler und Kulturpolitiker und als solcher maßgeblich am Aufbau eines sowjetischen Musiklebens beteiligt.) Das Stück spielt in einer nicht näher definierten Stadt Westeuropas, in der eine Industrieausstellung mit dem Namen „Das goldene Zeitalter
– so auch der Titel des Balletts – stattfindet. Im Zentrum des Geschehens stehen zwei Fußballmannschaften – eine westliche (faschistische) und eine sowjetische (sozialistische). Für das Spiel der kapitalistischen Kicker wählte Schostakowitsch Musik und Tanz aus der westlichen Kultur (Foxtrott und Can-Can), der sozialistische Gegner spielte zu Klängen aus der slawischen. Das sowjetische Team gewinnt natürlich. Das Finale bildet ein Solidaritätstanz der sowjetischen Sportler mit westlichen Arbeitern.*
Das Spiel wurde zunehmend ideologisiert. Sowjetunion-Experte Thomas Heidbrink schreibt: „Spätestens mit Beginn der 1930er Jahre versuchte die sowjetische Regierung, die Prinzipien des Sozialismus auch im Fußballsport umzusetzen. Besonders mit Hilfe des Kollektivismus sollte ein Spielsystem entwickelt werden, das genauso gut beziehungsweise besser sein sollte als das der westlichen Teams aus den kapitalistischen Ländern." Aufgrund der Isolation und Selbstisolation der UdSSR gestaltete sich dies aber schwierig.
1934 reiste eine Stadtauswahl Moskaus auf Einladung der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei nach Prag, um gegen Teams der Roten Sportinternationale anzutreten. Die Sowjets liebäugelten auch mit einem Spiel gegen eines der Prager Profiteams, Slavia oder Sparta, und besaßen hierfür die Zusage des tschechoslowakischen Verbands. Doch nach sechs hohen Siegen der Moskauer Stadtauswahl gegen Gewerkschaftsteams zog der Verband mit der Begründung zurück, die UdSSR sei kein Mitglied der FIFA. Offensichtlich fürchtete man die Stärke der Fußballer aus Moskau, denn die FIFA hatte dem Verband für diese Begegnung eine Ausnahmegenehmigung erteilt. Die Stadtauswahl spielte nun stattdessen in Brünn, wo sie im ersten Spiel einer sowjetischen Mannschaft gegen ein (tschechoslowakisches) Profiteam mit 3:2 die Oberhand behielt.
Spartak und Dynamo
1922 gründete Nikolai Starostin den Moskowski kruschok sporta Krasnopresnenskowo rajona, kurz MKS. Das Team wurde nach einem Arbeiterviertel benannt. Starostin war in der Zwischenkriegszeit einer der besten Fußballer in der Sowjetunion und hatte u. a. bei den „Russenspielen" in Leipzig und Hamburg mitgewirkt. Im folgenden Jahr, am 18. April 1923, wurde Dynamo Moskau aus der Taufe gehoben, wo später Lew Jaschin seine komplette Spielerkarriere verbrachte. Die Keimzelle des Klubs war eine 1894 entstandene Mannschaft der Morosow-Textilfabrik. Deren englischer Generaldirektor Harry Charnock stammte aus Blackburn, einem weltweiten Zentrum der Baumwollspinnerei. Charnock sah im Fußball eine Möglichkeit, seine Arbeiter vom Wodkatrinken abzuhalten. Der fußballverrückte Engländer war ein Fan seines Heimatvereins Blackburn Rovers. Von den Rovers übernahm das Team die Farben Blau und Weiß, die auch die Farben Dynamos wurden.
Dynamos Gründung erfolgte auf Geheiß von Felix Edmundowitsch Dserschinski, dem Chef der Tscheka, der ersten Geheimpolizei Sowjetrusslands. Dynamo war keine Fabrik- oder Stadtteilmannschaft, sondern eine Gründung „von oben. Die Geheimpolizei übernahm auch die Schirmherrschaft über den Klub. (Später ging diese auf das Innenministerium über.) Dynamo Moskau war Teil einer landesweiten Dynamo-Sportorganisation, die sich nicht nur dem Fußball widmete und dazu gedacht war, die physische Gesundheit der nationalen Ordnungskräfte zu stärken. Dynamo-Klubs gab es deshalb auch andernorts. „Bis zum Ende des Jahrzehnts sollte Dynamo der am besten ausgestattete Sportverein der Sowjetunion werden, und seine Unterstützung durch den Staatshaushalt war substanzieller als für jede andere sportliche Vereinigung.
(Robert Edelmann) Die Verbindung Dynamos mit den Sicherheitsbehörden des Landes blieb über die gesamte Lebensdauer der Sowjetunion erhalten.*
1928 wurde nordöstlich der Innenstadt, am Leningradski Prospekt, einer der Hauptverkehrsadern Moskaus, das Dynamo-Stadion eröffnet. Anlass war die von der RSI veranstaltete internationale Spartakiade, ein Konkurrenzprojekt sowohl zu den „bürgerlichen Olympischen Spielen wie zu den Arbeiterolympiaden der sozialdemokratischen Luzerner Sportinternationalen (LSI). Das größte Interesse mobilisierte der Fußballwettbewerb der Spartakiade, der sowohl eine Endrunde um die sowjetische Meisterschaft als auch ein internationales Turnier war. Die neue Arena trug dazu bei, dass sich der Fußball in Moskau zu einem Zuschauersport entwickelte. Das Dynamo-Stadion konnte zunächst 55.000 Zuschauer aufnehmen – 35.000 saßen, 20.000 standen. Mit der Zeit wurde das Fassungsvermögen auf 90.000 ausgebaut. Die Spielstätte avancierte zum Nationalstadion der UdSSR, in dem auch viele wichtige Länderspiele angepfiffen wurden. In den 1940ern und 1950ern war die Arena, die eine eigene Metro-Station („Dynamo
) bekam, regelmäßig Austragungsort der Endrunde um die sowjetische Eishockeymeisterschaft.
1936 wurde aus MKS Spartak Moskau. Auch Nikolai Starostins Brüder Alexander, Petr und Andrei spielten für den Klub, dessen Farben Rot und Weiß waren. Nikolai Starostin wollte mit Spartak ein Gegengewicht zu Dynamo aufbauen. Spartak genoss die Unterstützung der Promkooperatsija, einer gewerkschaftlichen Organisation der Angestellten im Dienstleistungs- und Handelssektor, die im Handelsministerium angesiedelt war. Laut Starostin gingen 15 Prozent ihrer Einnahmen an Spartak.
Liga und Professionalisierung
Spartak war ambitioniert und suchte das Kräftemessen mit ausländischen Gegnern. Ende 1935 fuhr eine Kombination aus Spielern von Spartak und des Lokalrivalen Dynamo nach Paris, wo sie am Neujahrstag 1936 gegen den renommierten Racing Club de Paris spielte und mit 1:2 unterlag. Zurück in Moskau, forderte Starostin eine radikale Neustrukturierung des sowjetischen Fußballs, den Professionalismus inbegriffen: „In den letzten zwei oder drei Jahren hat der sowjetische Fußball gezeigt, daß er auf derselben Ebene mit den besten europäischen Mannschaften steht. (…) Gleichzeitig zeigt uns eine bessere Bekanntschaft mit den Arbeitsbedingungen für ausländische Berufsfußballer – und sämtliche der besten Mannschaften in Europa bestehen aus Berufsfußballern –, daß der Berufsfußball eine Reihe von Vorteilen gegenüber den Amateuren hat."
Nikolai Starostin gehörte auch zu den Vätern der 1936 gegründeten sowjetischen Fußballliga. Thomas Heidbrink: „Sportpolitisch sollte die sowjetische Liga zu einem neuen völkerverbindenden Element innerhalb des Vielvölkerstaates UdSSR heranreifen. Manfred Zeller, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen, weist darauf hin, dass im Fußball anders verfahren wurde als im Eishockey, der zweiten populären Sportart in der Sowjetunion: „Speziell in den 1960er und 1970er Jahren war die Situation im Fußball eine andere als im Eishockey. Während der sowjetische Sport im Eishockey alle Mittel in Moskau konzentriert hat, ist dies im Fußball dezentraler vonstattengegangen. Alle großen Republiken bzw. deren Hauptstädte sollten mit einer Mannschaft in der höchsten sowjetischen Liga vertreten sein, sodass auf der Ebene darunter, beispielweise von den Parteioder Staatsoffiziellen in Kiew, in Eriwan oder in Tiflis, die Mittel einem bestimmten Klub zugewiesen wurden.
Die politischen Vorbehalte gegenüber einem professionell betriebenen Spitzenfußball schwanden. Die Gründung der Liga korrespondierte mit einem politischen Kurswechsel gegen Ende des ersten Fünfjahresplanes (1928–33). „Stalin (hatte) sich scharf von sozialer Gleichmacherei und Lohngleichheit verabschiedet. Er hatte realisiert, dass die Fähigkeiten und Fertigkeiten der so genannten Spezialisten, die vor der Revolution ausgebildet worden waren, für zukünftige Fortschritte unabdingbar waren. Menschen mit diesen Begabungen erwarteten, angemessen entlohnt zu werden. Das Ziel der sozialen Gleichheit der vorrevolutionären Linken wurde aufgegeben zugunsten sozialer Hierarchie. Die Führung war nun der Auffassung, dass das momentan ‚bessere und fröhlichere‘ Leben professioneller Unterhaltung bedurfte, die rund um die Welt junge Arbeiter begeisterte. Fußball war der moderne Sport par excellence. Er schuf eine gemeinsame Sprache für die männlichen Angehörigen des höchst disparaten neuen sowjetischen Proletariats. Fußball stellte eine neue Form von Männerbund dar, nicht zuletzt für die vielen jungen Bauern, die in die Städte gezogen waren und traditionellere Formen von Maskulinität hinter sich gelassen hatten – ein ‚männliches‘ Spiel für den ‚Neuen sowjetischen Menschen‘." (Robert Edelmann)
Sowjetische Profis
Im Gründungsjahr der Liga wurden noch zwei Meisterschaften ausgespielt, eine Frühjahrs- und eine Herbstmeisterschaft. Erster Meister wurde Dynamo Moskau, die Herbstmeisterschaft gewann Rivale Spartak. Anschließend wurde auf eine Ganzjahresmeisterschaft umgestellt.
Offiziell waren die sowjetischen Fußballer keine Profis, denn dies hätte der offiziellen Sportideologie widersprochen. Profifußball war kapitalistisch, Amateurismus folglich ein antikapitalistisches Prinzip. (Die Arbeitersportorganisationen im Westen sahen dies ebenso, weshalb im Deutschland der Weimarer Jahre einige ihrer Spitzenfußballer ins Lager des „bürgerlichen Fußballs überliefen.) Aber de facto waren die Spieler von Spartak, Dynamo und anderen Klubs sehr wohl Berufsfußballer. Starostin und seine Brüder sollen monatlich 2.000 Rubel kassiert haben, was in etwa dem Zehnfachen eines durchschnittlichen Industriearbeitergehalts entsprach. Alle Teams waren mit Unternehmen oder Behörden assoziiert. „Entgegen der offiziellen Sportideologie, die den Amateurismus zum antikapitalistischen Prinzip erklärte, waren sie formell Angestellte großer Betriebe, des Militärs und der Behörden, faktisch jedoch Berufsspieler.
(Riordan) Dynamo-Sportler wie Lew Jaschin waren formell Beschäftigte des Innenministeriums und bezogen ein entsprechendes Gehalt.
Bereits vor der Gründung der Liga war das Zuschauerinteresse an Fußballspielen stark gestiegen. Die neue Liga verursachte einen weiteren Popularitätsschub. Drei Jahre nach ihrer Gründung kamen im Schnitt 19.000 Zuschauer zu den Begegnungen. Die Zentren bildeten Moskau, Odessa, Leningrad, Kiew und Tiflis. Schon Mitte der 1930er besaßen fast alle größeren Städte der UdSSR Stadien, in denen mindestens 20.000 Zuschauer Platz fanden.
In der sowjetischen Hauptstadt mobilisierte insbesondere die Rivalität zwischen Spartak und Dynamo große Massen. „Die führenden Moskauer Vereine Spartak und Dynamo standen an der Spitze dieser Entwicklung, durch welche sich Fußball als massenkulturelles Phänomen dem Kino annäherte. (Robert Edelmann). Selbst das große Dynamo-Stadion konnte häufig nicht das Interesse am Derby zwischen Moskaus „großen zwei
decken.
Fußball auf dem Roten Platz
1936 wollten Spartak und Dynamo am „Tag des Sportlers auf dem Roten Platz einen Schaukampf veranstalten – vor den Augen des Diktators Josef Stalin. Fußball stand bei Stalin nicht hoch im Kurs. Aber vielleicht könnte man mit einem Spiel sein Interesse wecken. Wenn der Diktator nicht zum Spiel kam, musste das Spiel zum Diktator kommen. Auf dem Roten Platz wurde ein 9.000 Quadratmeter großer grüner Filzteppich ausgerollt. Aber Dynamo sagte ab. Die Geheimpolizei befürchtete, der Ball könnte die Kremlmauern oder sogar Stalin treffen. So spielte Spartaks 1. Mannschaft gegen die Spartak-Reserve. Der Journalist Simon Kuper: „Man ging davon aus, dass dies das erste Spiel sei, das ‚Der Größte Freund des Sports‘ je gesehen hatte, und das Ziel war, eine großartige Vorstellung abzuliefern. Die Mannschaften hatten ein Feuerwerk an verschiedenen Toren geplant – Kopfballtore, Hackentricks, ein Tor nach einem Eckstoß, durch einen Strafstoß et cetera.
Spartak I schlug Spartak II mit 4:3, aber das Ergebnis war nur Nebensache. Wichtiger war, dass Stalin das Spiel offensichtlich gefallen hatte. Um den Diktator nicht zu langweilen, war als Spielzeit zunächst nur eine halbe Stunde geplant. Neben Stalin war ein Funktionär postiert, der den Mannschaften mit einem weißen Taschentuch winken sollte, wenn dem Chef die Lust am Zuschauen verging. Aber Stalin gefiel das Gekicke so gut, dass er erst nach 43 Minuten genug davon hatte.
Baskische Lehrstunden
Ende Juni 1937 besuchte eine baskische Auswahlmannschaft die Sowjetunion. Das Team Euskadi tingelte durch Europa, um Geld und Solidarität für die republikanische Sache im spanischen Bürgerkrieg zu mobilisieren. In die UdSSR kam es, um sich für die sowjetische Unterstützung im Bürgerkrieg zu bedanken. Sechs baskische Akteure hatten zum spanischen Team für die WM 1934 in Italien gezählt. Ihr Star war Mittelstürmer Isidro Lángara, der in diesen Jahren zu den Besten seines Fachs in Europa zählte. In den Spielzeiten 1933/34 bis 1935/36 war Lángara dreimal in Folge Torschützenkönig der spanischen Liga geworden. Für die spanische Nationalelf hatte er in zwölf Spielen 17-mal getroffen. In der Sowjetunion sollten die Basken zunächst sechsmal auftreten – zweimal in Moskau mit Lokomotive und Dynamo als Gegner und je einmal in Leningrad, Kiew, Tiflis und Minsk. Die Spiele gegen Lokomotive und in Kiew, Tiflis und Minsk wurden locker gewonnen. Gegen Dynamo ging es knapper zu. Hier siegten die Basken vor 90.000 Zuschauern mit 2:1. Die Leningrader Mannschaft konnte sogar ein Remis