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Ausgespielt?: Die Krise des deutschen Fußballs
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eBook289 Seiten4 Stunden

Ausgespielt?: Die Krise des deutschen Fußballs

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Über dieses E-Book

Es war ein tiefer Sturz: vom großen Triumph der Nationalmannschaft in Rio 2014 zum bitteren Vorrunden-Aus bei der WM 2018. Dietrich Schulze-Marmeling analysiert die Gründe, warum der deutsche Fußball an internationaler Konkurrenzfähigkeit verloren hat. Dabei widmet er sich nicht nur der Nationalmannschaft, sondern auch der Bundesliga und der Nachwuchs-Ausbildung. Seine Diagnose: Der deutsche Fußball benötigt einen neuen Reformschub.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum18. Jan. 2019
ISBN9783730704554
Ausgespielt?: Die Krise des deutschen Fußballs
Autor

Dietrich Schulze-Marmeling

Dietrich Schulze-Marmeling, geboren am 8. Dezember 1956 in Kamen/Westfalen, gehört zu den profiliertesten und produktivsten Fußballautoren- und historikern in Deutschland.Schulze-Marmelings erstes Fußballbuch erschien 1992 und trug den Titel „Der gezähmte Fußball. Zur Geschichte eines subversiven Sports.“ Christoph Biermann schwärmte damals in der „tageszeitung“: „Manchmal schlägt man ein Buch auf und fragt sich nach einer durchlesenen Nacht, warum es das nicht schon vorher gegeben hat. (...) Dieses Buch schafft nämlich den Durchbruch. Es ist der erste ernsthafte Versuch einer Fußballgeschichte in Deutschland, die auch die politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen des Spiels einbezieht. (...) Ein brillanter Steilpass aus defensiver Sprachlosigkeit und vagen Mittelfeldgeraune.“Es folgten u.a. Bücher über Borussia Dortmund und den FC Bayern München, denen der Charakter von „Standardwerken“ attestiert wurde. Ebenso erging es seinen Veröffentlichungen „Das goldene Buch der Fußballweltmeisterschaft“ und „Das goldene Buch des deutschen Fußballs“ (mit Hardy Grüne), die beide in mehreren Auflagen erschienen sind.Auch zur Geschichte großer internationaler Vereine hat Schulze-Marmeling erfolgreiche Bücher vorgelegt, so zum FC Barcelona, zu Manchester United, Celtic Glasgow und zuletzt zum FC Liverpool („Reds“).Für seine bislang wertvollste Veröffentlichung erachtet der Autor indes „Davidstern und Lederball. Die Geschichte der Juden im deutschen und internationalen Fußball“, die mit dazu beitrug, dass die Geschichte des deutschen Fußballs „umgeschrieben“ wurde. Der Literaturkritiker Helmut Böttiger urteilte in der „Zeit“: „Eine absolut herausragende Veröffentlichung. Hier liegt der Idealfall vor: Fußball als Kulturgeschichte.“Für das Buch „Der FC Bayern und seine Juden. Aufstieg und Zerschlagung einer liberalen Fußballkultur“ wurde Schulze-Marmeling mit dem Preis für das Fußballbuch des Jahres ausgezeichnet.Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Fußballkultur und lebt in Altenberge bei Münster.

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    Buchvorschau

    Ausgespielt? - Dietrich Schulze-Marmeling

    Schulze-Marmeling

    KAPITEL 1

    Die Europameisterschaft 2016:

    Schwächelnde Offensive

    Mitte der 2010er Jahre hatte der deutsche Fußball international den Gipfel erreicht. Zunächst war 2013 das Finale der Champions League zum ersten Mal eine rein deutsche Angelegenheit. Im Londoner Wembleystadion schlug Bayern München Borussia Dortmund mit 2:1 und holte damit zum fünften Mal den Henkelpott. Und ein Jahr später gewann die deutsche Nationalelf zum vierten Mal den WM-Titel.

    Der Triumph von Rio erschien als logischer Höhepunkt einer Entwicklung, die 2004 mit der Übernahme der DFB-Elf durch Jürgen Klinsmann und Joachim „Jogi" Löw begonnen hatte. Bei den WM-Turnieren 2006 und 2010 war man bereits Dritter geworden, und bei der EM 2008 Zweiter. Dem Turnier in Brasilien war eine enttäuschende EM 2012 vorausgegangen, als man im Halbfinale Italien mit 1:2 unterlag – zu wenig für die gewachsenen Ansprüche, zumal die Niederlage klarer ausgefallen war, als das Ergebnis es andeutete. Aus der Perspektive des WM-Gewinns 2014 erschien dies aber nur als vorübergehendes Zwischentief, verursacht durch einige personelle und taktische Fehlentscheidungen des Bundestrainers im Spiel gegen die Squadra Azzurra.

    Nach Rio 2014 genoss der deutsche Fußball weltweit Bewunderung. Im Ausland erzählte man von der „deutschen Fußballschule". Fast so, wie über 40 Jahre früher (und noch lange danach) von der niederländischen Fußballschule geschwärmt wurde.

    Nach dem Gewinn des WM-Titels sollte die Nationalmannschaft auch noch Europameister werden – so, wie es Frankreich 2000 und Spanien 2012 gelungen war. Doch daraus wurde nichts. Vielmehr begann bei der EM 2016 der Abstieg vom Fußballgipfel, der in Russland mit einem Crash endete.

    Um dies besser zu verstehen, soll zunächst der Titelgewinn von Rio näher betrachtet werden.

    Überschätzt: der Triumph von Rio

    2014 wurde die deutsche Nationalelf verdient Weltmeister. Aber ein Durchmarsch war es nicht. In der Vorrunde startete man mit einem furiosen 4:0 gegen Portugal, aber anschließend stotterte der Motor erst einmal: Einem 2:2-Remis gegen Ghana (nach 1:2-Rückstand) folgte ein knappes (aber verdientes) 1:0 gegen die USA. Gegen Algerien drohte im Achtelfinale das Aus, das letztendlich ein überragender Manuel Neuer verhinderte (2:1 n.V.). Im Viertelfinale wurde Frankreich mit 1:0 besiegt, woran Deutschlands Nummer eins erneut einen entscheidenden Anteil hatte. Trotzdem ging das Ergebnis in Ordnung.

    Im Halbfinale folgte das legendäre 7:1 über Gastgeber Brasilien. Die damalige Seleção besaß allerdings weniger individuelle Klasse als viele ihrer Vorgänger, zumal gegen Deutschland auch noch „Superstar Neymar und mit Thiago Silva der wichtigste Abwehrspieler ausfielen. Im Finale schließlich behielt die DFB-Elf gegen Argentinien nach 120 Minuten mit 1:0 die Oberhand, hätte aber auch verlieren können, wie Philipp Lahm später gegenüber dem Magazin „11 Freunde gestand: „Argentinien hatte drei Riesenmöglichkeiten, in Führung zu gehen, und wir in der regulären Spielzeit eine."

    Aus dem Turnier konnte man also nicht den Schluss ziehen: Deutschland wird den Weltfußball über die nächsten Jahre dominieren. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde die Kampagne auf das zauberhafte 7:1 gegen Brasilien reduziert. Ein Spiel, in dem aus deutscher Sicht alles stimmte, auch und gerade die Dramaturgie. Nach weniger als einer halben Stunde stand es bereits 5:0, weil fast jeder Schuss ein Treffer war. Ein Spiel, wie es in 100 Jahren halt nur einmal passiert.

    Die Bedeutung des Triumphes von Rio wurde überschätzt – wie schon 24 Jahre zuvor der Triumph von Rom 1990, dem eine magere Europameisterschaft und ein fast schon peinlicher Auftritt bei der WM 1994 in den USA folgten. Die DFB-Elf beendete die EM 1992 zwar als Vize-Europameister, wurde aber in der Gruppenphase von den Niederländern vorgeführt und unterlag im Finale dem Underdog Dänemark, der ohne Vorbereitung in das Turnier eingestiegen war. Bei der WM scheiterte man im Viertelfinale an Bulgarien. Mit einer Mannschaft, die im Vor-Turnier-Vergleich mit ihren Konkurrenten besser abschnitt als die von 2018. Anders als die WM 2018 war das Turnier von 1994 tatsächlich eine vertane Chance.

    Mehmet Scholl, ein Kritiker von Jogi Löw, behauptete später, Deutschland sei 2014 nur Weltmeister geworden, weil der Bundestrainer nach dem Achtelfinale seinem Beraterstab nicht mehr vertraut und das unsinnige Spiel mit vier Innenverteidigern aufgegeben habe. Tatsächlich war Löw ein exzellenter Manager seines Personals. Was Löw bis einschließlich des Achtelfinals spielen ließ, war nicht zuletzt den personellen Umständen geschuldet. Er besaß bis auf Philipp Lahm keinen Außenverteidiger von internationaler Klasse. Lahm wurde aber zunächst im defensiven Mittelfeld benötigt, da weder Sami Khedira noch Bastian Schweinsteiger zu Beginn des Turniers fit waren. (Lahms Einsatz auf der „Sechs wurde vielfach kritisiert. Allerdings war dies seine Lieblingsposition. Außerdem hatte ihn dort bereits sein Klubtrainer Pep Guardiola spielen lassen, der Lahms Potenzial auf der Position des Außenverteidigers verschwendet sah. Beim FC Bayern hatte Lahm bewiesen, dass er alle Voraussetzungen für die Position des „Sechsers mitbrachte: Spielintelligenz, strategisches Geschick, sauberes Passspiel und Pressingresistenz.) Wären Khedira und Schweinsteiger gemeinsam aufgelaufen, hätte im Verlauf der ersten Spiele eine Doppel-Auswechselung gedroht.

    Der Bundestrainer spielte auf Zeit. Beim Auftakt gegen Portugal begann die DFB-Elf mit nur einem „Sechser – oder einem echten und zwei „halben. Die „echte Sechs" war Lahm, Khedira und Toni Kroos spielten rechts bzw. links davor. So sollte vermieden werden, dass Khedira zu viel und in entscheidende Zweikämpfe geriet. Die Konsequenz war, dass die Abwehrkette nun aus vier Innenverteidigern bestand: In der Mitte verteidigten Mats Hummels und Per Mertesacker, auf den Außenpositionen Jérome Boateng (rechts) und Benedikt Höwedes (links). Als gelernter Innenverteidiger konnte Höwedes kaum für Angriffsschwung sorgen. Worunter insbesondere Mesut Özils Spiel litt, der gerne zentral gespielt hätte, wo Löw aber ausreichend Alternativen hatte. So musste Özil auf der linken Seite stürmen, wo ihm – aufgrund der fehlenden Unterstützung von Höwedes – häufig nur die Aufgabe blieb, den Ball zu halten. Erst im Viertelfinale gegen Frankreich konnte Löw sowohl Khedira wie Schweinsteiger von Beginn an aufbieten. Lahm rückte nun auf die Position des rechten Außenverteidigers, Boateng von dort nach innen.

    Taktik besteht nicht nur darin, die Stärken des Gegners zu eliminieren und seine eigenen Stärken zum Tragen zu bringen. Taktik besteht auch darin, die eigenen Schwächen zu kaschieren. Dies war Löw in den ersten vier Spielen der WM 2014 gelungen.

    Taktisch gut durch die EM 2016

    Wenn man die Taktik bei Turnieren betrachtet, muss man die Ansprüche niedriger setzen als beim hochkarätigen Klubfußball. Die Taktikwechsel, die bei einem WM- oder EM-Turnier durch die Nationaltrainer vorgenommen werden, sind begrenzt. Veränderungen erfolgen durch Spielerwechsel, weniger durch grundsätzliche Eingriffe in die Statik des Spiels. Taktische Flexibilität à la Guardiola lässt sich mit einer Nationalelf nur praktizieren, wenn das Gros des Teams aus Spielern eines Vereins besteht, der einen mit der Auswahl (die dann eigentlich keine Auswahl mehr ist …) identischen Fußball spielt. Taktische Flexibilität bedeutet hier nicht nur einen Systemwechsel von Spiel zu Spiel – je nach Gegner, wie es Löw in Frankreich praktizierte (s. u.) –, sondern auch während eines Spiels. Bundesligatrainer Julian Nagelsmann: „Das ist für mich der Unterschied zwischen einem guten und einem sehr guten Trainer. Wenn er im Spiel unter größtem Erfolgsund Zeitdruck reagieren kann und die Veränderung funktioniert. Vor dem Spiel einen Plan zu entwickeln ist einfach. Aber wenn es nicht funktioniert, schnell Stellschrauben zu finden, das Spiel lesen und in Lösungen zu übersetzen, das ist die Kunst."

    Deutschland war taktisch und spielerisch die überzeugendste Elf des Turniers in Frankreich. Nach zwei Siegen und einem Remis in der Vorrunde traf die DFB-Elf im Viertelfinale auf Italien. In der 65. Minute schoss Mesut Özil sein Team in Führung, 13 Minuten später konnte Leonardo Bonucci für die Squadra Azzurra vom Elfmeterpunkt ausgleichen. Weitere Tore fielen auch in der Verlängerung nicht. Im anschließenden Elfmeterschießen behielt Deutschland die Oberhand.

    Jogi Löw und sein Stab wurden anschließend vom ARD-Experten Mehmet Scholl heftig kritisiert. Die Entscheidung, gegen die Italiener mit einer Dreierkette zu spielen, sei falsch gewesen. Löw höre zu viel auf seinen Scouting-Experten Urs Siegenthaler, der lieber morgens im Bett bleiben solle. Deutschland habe sich dem Spiel der Italiener zu sehr angepasst. Als Weltmeister habe die DFB-Elf geradezu die Verpflichtung, den anderen Teams ihr Spiel aufzuzwingen und deren Stärken zu ignorieren.

    Dass Scholl seinen Feldzug gegen taktische Finessen und taktische Flexibilität ausgerechnet anlässlich eines Spiels der deutschen Mannschaft gegen Italien intensivierte, war ein bisschen absurd. Denn Italiens beeindruckende Erfolgsbilanz beruhte nicht zuletzt darauf, dass in dieser Fußballnation die Taktik schon immer groß geschrieben wurde. Das EM-Viertelfinale hatte gezeigt, dass Deutschland hier an Boden gewonnen hatte. Jogi Löw hatte analysiert, warum die Spanier gegen die Italiener verloren hatten. Sie hatten ihr Spiel dem der Italiener taktisch nicht angepasst. Sie hatten die Stärken des Gegners ignoriert und ausschließlich auf ihre eigenen vertraut. Die nach den ersten beiden Spielen hochgelobte Selección, die zum Kreis der Titelanwärter zählte, konnte ihr Spiel nicht durchziehen.

    Dem Gegner das eigene Spiel aufzwingen hört sich immer groß an. Gegen einen Underdog funktioniert dies auch häufig. Gegen ein Team, das mit dem eigenen auf Augenhöhe operiert, ist dies schon etwas schwieriger. Wenn ein Trainer immer und wieder erzählt, „Der Gegner muss sich nach uns richten!", ist der Grund hierfür manchmal schlicht und einfach, dass er in taktischer Hinsicht ziemlich nackt ist. Es funktioniert nicht, wenn der Gegner nicht das geringste Interesse daran hat, sich nach dem eigenen Team zu richten.

    Für Julian Nagelsmann war die von Scholl kritisierte „Anpassung an das Spiel des Gegners alles andere als eine Schwäche: „Wenn ich erfolgreich sein kann, wenn ich mich an den Gegner anpasse, mache ich das. Das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke. Selbst Pep Guardiola richtet sich nach dem Gegner aus, obwohl er mit die besten Spieler hat. Um eben seine Idee vom Fußball besser aufs Feld zu bekommen. Ich nutze die Gegnerorientierung, um unsere Spielidee durchzudrücken. In der Saison 2015/16 ließ Guardiola den FC Bayern gegen Ingolstadt und Darmstadt das Spiel zelebrieren, das man gemeinhin unter einem Bayern-Guardiola-Spiel verstand. Gegen den stärkeren BVB agierte er wiederholt anders – das erste Mal (zur Überraschung vieler „Experten) im Pokalfinale 2014, als er mit einer Dreier- bzw. Fünfer-Kette operierte: Bei Ballbesitz spielten die Bayern mit der Dreier-Kette Boateng, Martinez, Dante. (Dante war gelernter Innenverteidiger, Martinez’ Zuhause war bis dahin die „Sechs gewesen, Boateng war vom Außenverteidiger zu einem der weltbesten Innenverteidiger mutiert. Wenn man so will, war dies der Anfang des „Drei-Innenverteidiger-Modells.) Lahm und Kroos bildeten eine Doppelsechs, davor spielten Müller und Götze als „Halbstürmer. Die Außen wurden von Rafinha (links) und Pierre-Emile Höjbjerg (rechts) besetzt, die bei Ballverlust die Dreier-Kette zu einer Fünfer-Kette ausbauten und die Offensivaktionen der BVB-Außenverteidiger eindämmten. Guardiola zog so Jürgen Klopps „Umschalt-Monster" erfolgreich die Zähne.

    Löws Entscheidung, gegen Italiens Doppelspitze und die hochstehenden Außen eine Dreierkette aufzubieten, hatte sich als goldrichtig erwiesen. Die Dreierkette aus drei Innenverteidigern verdichtete das Zentrum. Bei gegnerischem Ballbesitz verstärkten Hector und Kimmich diese zu einer Fünferkette. So hatten die Deutschen sowohl die Doppelspitze wie die Außen im Griff, die Hector und Kimmich immer wieder in die Tiefe der italienischen Hälfte drängten. Beim Angriff fehlte dann allerdings ein antrittsschneller Dribbler wie Draxler (oder ein weniger antrittsschneller wie Götze). Da die Zahl der Spieler auf elf begrenzt bleibt, kann man halt nicht alles zur gleichen Zeit haben. Aber alle vorausgegangenen Erfahrungen mit der Squadra Azzurra sprachen für Löws Taktik. Aus dem Spiel heraus ließ man kaum etwas zu. Jan-Christian Müller schrieb in der „Frankfurter Rundschau: „Es war gut ersichtlich, dass die defensive Stabilität von Höwedes dringend benötigt wurde. Es gab also Gründe, sich so zu entscheiden, wie sich Löw am Samstagabend entschieden hat. (…) Die Abwehr stand stabil gegen umtriebige italienische Angreifer, die Abstände stimmten, jeder im DFB-Team wusste, anders als vor vier Jahren, was gegen den Ball zu tun ist. Ohne den auch vom Spieler selbst schwer zu erklärenden Blackout von Jérome Boateng, ohne den die Italiener wohl nicht mehr ins Spiel zurückgekommen wären, hätte es keine einzige ernst zu nehmende Gegentorchance gegeben.

    Müde und überspielte Stars

    Im Halbfinale traf Deutschland auf Frankreich und unterlag dem Gastgeber mit 0:2. Die verletzungsbedingten Ausfälle von Mario Gomez, Hummels und Khedira – und während des Halbfinals auch noch Boateng – waren einfach zu viele. Hinzu kam eine höchst unglückliche Dramaturgie. Nach einer starken französischen Anfangsphase hatten die Deutschen das Spiel komplett dominiert, aber ohne ein Tor zu erzielen, was eine Schwäche des deutschen Auftritts war. Ein Tor fiel stattdessen auf der Gegenseite – durch einen Strafstoß in der Nachspielzeit der ersten Halbzeit. Den Elfer hatte Schweinsteiger mit einem seltsamen Handspiel verursacht. Strafstöße, die wegen Handspiels ausgesprochen werden, sind besonders ärgerlich, denn oft liegt ihnen nicht einmal die Verhinderung einer Torchance zugrunde. Schweinsteigers Handspiel gehörte in diese Kategorie. Mit der Führung im Rücken war der Rest des Halbfinals für die Franzosen leichter, wenngleich die DFB-Elf auch in diesem Spiel über weite Strecken die bessere war. Aber Frankreich war auch kein unverdienter Sieger.

    Welt- und Europameisterschaften sind keine Bühne, auf der die Teilnehmer neue spielphilosophische und taktische Trends präsentieren. Bestenfalls wird wiedergegeben, was man zuvor schon im Klubfußball beobachten konnte. Häufig in einer schlechteren Version. Keine Abhandlung über die WM 1974 ohne die Erwähnung des „Totaalvoetbal" der Niederländer. Aber bevor die Elftal ihn in Deutschland zelebrierte, wurde er bereits bei Ajax Amsterdam gespielt. Eingeführt von Rinus Michels, der bei der WM auch das Nationalteam betreute – mit Cruyff und anderen Ajax-Akteuren im Team. Spanien spielte beim WM-Sieg 2010 eine von Trainer Vincente del Bosque etwas veränderte Form des Barca-Fußballs – gestützt durch einige Akteure des FC Barcelona. Das 4:2:4-System, mit dem Brasilien 1958 die Welt überraschte, spielten dort bereits seit einigen Jahren Klubs wie Flamengo und Sao Paulo.

    Großartige neue taktische Erkenntnisse kann man bei Länderturnieren nicht erwarten. Hierfür sind die Teams in der Regel einfach viel zu wenig eingespielt. Hinzu kommt, dass diese Turniere am Ende einer extrem strapaziösen Saison stattfinden. Thomas Müller bestritt in der Saison 2015/16 einschließlich des EM-Halbfinals 63 Einsätze, was man ihm anmerkte. Es mangelte an mentaler Frische. Als Spieler von Bayern München, das in der Champions League in der Regel das Halbfinale erreicht, und Teilnehmer der WMs 2010 und 2014 sowie EM 2012 absolvierte Müller ein solches Pensum bereits seit Jahren. In den sieben Spielzeiten 2009/10 bis 2015/16 kam Müller auf 429 Pflichtspiele – das macht 61,28 pro Saison. Nicht mitgezählt: die Touren mit dem FC Bayern nach Asien und in die USA, um deren Märkte zu erobern.

    Die Zeiten, in denen in der Saisonvorbereitung vorwiegend über die umliegenden Dörfer getingelt wurde, waren vorbei. Franz Beckenbauer spielte in 13 ½ Jahren (erste BL-Saison der Bayern bis Karriereende beim Hamburger SV) 679 Pflichtspiele bzw. 50,29 pro Spielzeit. Dabei muss man noch berücksichtigen, dass die Laufleistung eines Spielers seit Beckenbauers Tagen enorm zugenommen hat und das Spiel schneller und intensiver – also mental und physisch anstrengender – geworden ist. Ewald Lienen: „Unser Fußballbetrieb ist völlig aufgebauscht, die Spitzenspieler sind für mich völlig überlastet. (…) Es geht eben nicht, dass du 60 oder 70 Spiele auf hohem Niveau spielen kannst. Und noch mal und noch mal und noch mal …" Nicht nur die Zahl der Spiele war ein Problem, sondern auch die damit verbundenen Reisestrapazen (insbesondere Auswärtsspiele in der Champions League und mit der Nationalelf). Wenn der Kopf weitgehend leer ist, bleiben nur noch die Beine. Es dominiert der letzte Rest an Physis. Für kreative Momente reicht es hingegen nicht mehr.

    Im Vergleich mit Müller wirkte Jonas Hector in Frankreich körperlich und mental frisch – wohl auch, weil dem „Spätentwickler vom 1. FC Köln der europäische Fußball erspart blieb. Das Problem der Übermüdung von Spitzenspielern konnte man erstmals bei der WM 2002 beobachten, als ein überstrapaziertes französisches Starensemble in den drei Vorrundenspielen kein Tor schoss und nur einen Punkt gewann. Damals rannte das „starlose Südkorea erst Portugal, dann Italien und schließlich Spanien nieder. Erst im Halbfinale war auch der Akku der Asiaten leer. Um den Verlust an Physis aufzufangen, mangelte es dem Team nun an Technik. Trotzdem lässt sich bei Turnieren beobachten, dass „Underdog"-Teams ihre spielerischen Mängel und das Fehlen individueller Qualität teilweise dadurch kompensieren können, dass viele ihre Spieler weniger strapaziert in die Veranstaltung gehen – was ihrem lauffreudigen und kampflustigen Fußball entgegenkommt.

    Wenn Löw nun vorgeworfen wurde, er habe zu viele Spieler mitgenommen, die vor der WM verletzt und beim Start in die Vorbereitung noch nicht wirklich fit waren, folglich in der Endphase zu wenig Spielpraxis gesammelt hatten, muss man berücksichtigen, dass das bei WM 2014 nicht viel anders gewesen war. Khedira hatte sich ein halbes Jahr vor der WM einen Kreuzbandriss zugezogen. Erst am 11. Mai 2014 wirkte Khedira wieder in einem Punktspiel seines Arbeitgebers Real Madrid mit. Schweinsteiger hatte in der Endphase der Saison mit der Patellasehne zu kämpfen und verpasste dadurch das DFB-Pokalfinale gegen Borussia Dortmund. Khedira und Schweinsteiger waren nicht nur Stammkräfte im defensiven Mittelfeld, sondern auch Führungskräfte des Teams. Die Lazarettliste komplettierten Keeper Manuel Neuer sowie Kapitän Philipp Lahm, die sich im Pokalfinale verletzt hatten. Besonders Neuers WM-Einsatz stand einige Wochen in Frage. Richtig fit wurden die drei Bayern-Akteure erst nach dem Eintreffen in Brasilien.

    Damals ging Löws Strategie voll auf: Schweinsteiger war im ersten Spiel nicht dabei, im zweiten erst ab der 70. Minute, im dritten nur bis zu 70. Minute – und war später einer der Finalhelden. Auch Khedira wurde zunächst nicht voll belastet. Manchmal gewinnt man den Eindruck, als würden Spieler Zwangspausen in der Saison vor einem Turnier ganz guttun. Bei der EM 2016 galt dies für Jérome Boateng, der in der Saison 2015/16 nur 17 Bundesliga- und sieben Champions-League-Spiele absolvierte. Christoph Metzelder gelang es immer wieder auf wundersame Weise, bei Testspielen verletzt zu fehlen, um dann bei Turnieren voll dabei zu sein. Er bestritt 47 Länderspiele, davon waren aber 28 Pflichtspiele (knapp 60 Prozent) und 19 (gut 40 Prozent) WM-bzw. EM-Endrundenspiele.

    Das Mauern der „Kleinen"

    Die EM ist keine Meisterschaft, sondern ein auf vier Wochen beschränktes Turnier, bei dem man sich – wie bei einer WM – lieber auf Gewohntes und Simples verlässt. Dass 2016 auch die vier besten Gruppendritten ins Achtelfinale durften, verstärkte dies noch. Die Folgen dieses Modus konnte man erstmals bei der WM 1990 in Italien beobachten, einem schwachen und torarmen Turnier, bei dem beispielsweise in der Gruppe F von sechs Spielen fünf unentschieden endeten. Ein Team dieser Gruppe, Irland, erreichte mit vier Unentschieden plus einem Elfmeterschießen das Viertelfinale.

    Auch 2016 in Frankreich agierte man abwartend; vor allem galt dies für die Vorrunde und Begegnungen mit technisch limitierten Teams. Schließlich konnten schon drei Punkte ein Weiterkommen bedeuten. EM-Finalist Portugal zog sieglos ins Achtelfinale ein – drei Remis reichten. Nordirland musste gegen Deutschland nur aufpassen, dass man nicht zu hoch verlor. Bei der nordirischen 0:1-Niederlage war der „Man of the Match" ein technisch höchstens durchschnittlicher Torwart.

    Dass Portugal das Finale erreichte und dieses gegen Frankreich auch noch gewann, mutete wie ein schlechter Witz an. Die Seleção verbuchte ihren ersten Sieg innerhalb der regulären Spielzeit erst im sechsten Spiel, dem Halbfinale. Auch dies war allerdings nicht neu, sondern passiert manchmal bei Turnieren, da sie eben keine Meisterschaften sind. Bei der WM 1990 kam Vize-Weltmeister Argentinien in sieben Spielen nur auf zwei Siege innerhalb der regulären Spielzeit. Allerdings stand die 2016er Finalpaarung Portugal gegen Frankreich auch für einen neuen Trend, der ebenso bei der folgenden WM zu beobachten war. Das Finale bestritten Teams, die keinen aufregenden Fußball spielten, sondern zurückhaltend, phasenweise gar langweilig agierten, aber einige absolute Topakteure in ihren Reihen hatten.

    Die Kleinen waren unbequem und manchmal schwer zu bezwingen, weil sie sich auf die Defensivarbeit konzentrierten, um dann bei Gelegenheit zu kontern. Ein derartiges Konzept lässt sich auch mit einer Nationalmannschaft einüben, weil es wenig komplex ist. Auf dem Programm stehen dann Kettenbildung, Mannorientierung, Strafraumverteidigung – also eher sehr konventionelles Verteidigen. Nicht aber Abwehrpressing und Balleroberung. In Frankreich wurde somit vornehmlich reagiert und kaum agiert. Einige Teams standen nur tief und praktizierten Mannorientierung bis hin zur Bildung einer Sechser-Kette. Spannende Defensivkonzepte gab es kaum zu besichtigen. Solche Truppen machen es auch überlegenen Gegnern schwer. Mario Gomez: „Auffällig ist, dass es bei einer Endrunde nicht mehr diesen Gegner gibt, den man mit 5:0 aus dem Stadion schießt. Auch alle Außenseiter können diszipliniert verteidigen – und tun dies auch. Das erfordert Geduld bei den Favoriten."

    Dieser Eindruck wurde durch die Statistik bestätigt. Mehr „Kleine im Turnier bedeutete nicht, dass auch mehr Tore (geschossen von den „Großen) fielen. In den 36 Vorrundenspielen gab es 69 Tore – macht 1,9 pro Spiel. 2012, als nur 16 Mannschaften qualifiziert waren (und damit auch weniger „Kleine als 2016), wurden 2,5 pro Spiel erzielt. Die „torschwächste Gruppe war im Übrigen die der Deutschen: In den sechs Spielen fielen nur sieben Tore – also 1,16 pro Spiel. Deutschland wurde mit 3:0 Toren Gruppensieger, gefolgt von Polen (2:0).

    Die EM in Frankreich demonstrierte eindrucksvoll, wie sich die „Kleinen gegen die „Großen wehren können: Mit viel Defensive, meist höchst konventioneller Art. Das ist nicht schön, aber es gibt auch kein Gesetz, das schönen und offensivfreudigen Fußball vorschreibt. Für die „Kleinen" geht es stets ums Überleben – und da ist jedes Mittel recht. Sich hinten

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