Mein Theater der Träume: Ein Blick hinter die Kulissen des Fußballs
Von Georg Pangl und Markus Geisler
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Mein Theater der Träume - Georg Pangl
KAPITEL 1
ÖFB
(1986–2002)
IM BETT
MIT BRUNO PEZZEY
EINE REISE ZUM MOND
„LKW Walter, Nordverkehr, Pangl – grüß Gott!"
„Ich grüße Sie, Herr Pangl, mein Name ist Palme vom Österreichischen Fußball-Bund. Ich rufe Sie an, um Sie zu fragen, ob Sie sich vorstellen können, für uns zu arbeiten."
„Herr Palme, wenn Sie einen LKW aus Schweden bestellen wollen, gerne, aber mit Fußball haben wir nichts zu tun. Ich glaube, Sie sind falsch verbunden."
Ich lege auf. Kann sich ja nur um eine Verwechselung handeln. Meine fußballerischen Erfahrungen beschränken sich bis dahin auf den Außendecker-Posten beim UFC Peppino Stotzing. Dass der ÖFB mehr zu tun hat, als alle paar Wochen ein Länderspiel auszutragen, ist mir zu dem Zeitpunkt nicht bewusst.
Es klingelt erneut. „Herr Pangl, warum legen Sie auf? Ich möchte Sie nochmal fragen: Würden Sie gerne beim Österreichischen Fußball-Bund arbeiten? Und legen Sie bitte nicht gleich wieder den Hörer auf die Gabel."
Okay, dass sich jemand zweimal nacheinander verwählt, ist dann doch unwahrscheinlich. Und ÖFB? Seit ich sechs Jahre alt bin und den Kurier von hinten lese, interessiere ich mich für Fußball. Blödsinn, ich liebe diesen Sport! Und jetzt ruft mich jemand mit einem schwedisch klingenden Namen an, will aber keinen Transport, sondern mir einen Job im Fußball anbieten. Ausgerechnet mir?
Obwohl ich noch immer von einer Verwechselung ausgehe, sage ich: „Na gut, Herr Palme. Ich glaube zwar nach wie vor, dass Sie falsch verbunden sind, aber wenn ich behaupten würde, dass mich das, was Sie sagen, nicht interessiert, müsste ich lügen."
„Folgendes, Herr Pangl: Der ÖFB veranstaltet am Freitag, dem 6. Dezember 1985, seine Weihnachtsfeier in der Eventpyramide in Vösendorf. Treffen wir uns doch vorher um 18 Uhr dort im El Dorado, dann erkläre ich Ihnen alles."
„Wenn Sie meinen – ich bin dort."
Auf dem Weg nach Hause schwirrt mir der Anruf im Kopf herum wie eine lästige Fliege. Mal angenommen, dieser Herr Palme meint es ernst – wie kommt er ausgerechnet auf mich? Beim Abendessen sage ich: „Mama, Papa, heute hat mich jemand vom ÖFB angerufen."
„Was, die ÖVP?", ruft meine Mutter.
„Nein, ÖFB, Österreichischer Fußball-Bund."
„Aha, und was wollen die von dir?" Das laute Klappern der Teller in der Abwasch signalisiert mir, dass meine Mutter das Unheil kommen ahnt.
„Ein Herr Palme hat mich gefragt, ob ich dort arbeiten will."
„Die verwechseln dich doch. Warum sollten sie ausgerechnet dich fragen?" Das Klappern in der Spüle wird lauter.
„Ich weiß es nicht, Mama. Ich habe eh gleich aufgelegt, aber dann hat er nochmal angerufen." Viel fehlt nicht und die Teller bekommen erste Sprünge.
„Ja, aber, Bub! Jetzt hast du so einen guten Job beim LKW Walter. Du wirst doch wohl nicht kündigen und dort hingehen?"
„Mama, ich gehe zumindest zu dem Gespräch. Selbst wenn sie mich verwechseln, habe ich ja nichts zu verlieren. Aber anhören möchte ich es mir schon."
„Also, ich würde nicht hingehen!" Rumms, landet das Besteck in der Spüle.
Dann schaltet sich mein Vater, selbst begeisterter Fußballer und Grün-Weißer durch und durch, in das Gespräch ein. „Naja, es ist Fußball. Schaust halt mal."
Meine Mutter hat natürlich recht. Nach meiner Matura an der BHAK Eisenstadt und dem Präsenzdienst beim Bundesheer habe ich mich bei drei Firmen beworben. Beim Hofer als Einzelhandelskaufmann und Leiter für sechs Filialen. Bei der Lauda Air als Flugbegleiter, obwohl ich in meinem bisherigen Leben noch nie ein Flugzeug von innen gesehen habe. Und bei LKW Walter, einem international agierenden Transportunternehmen aus Wiener Neudorf, direkt an der Südautobahn. Für einen kleinen Buben aus Stotzing, dessen spektakulärste Reisen Wallfahrten nach Maria Taferl oder Maria Dreieichen waren und der das Ausland nur aus den Erzählungen anderer kennt, war das das Tor in die große, weite Welt. Zehn Monate ist es gerade einmal her, dass mich Diplomkaufmann Franz Krauter mit dem Satz packte: „Willkommen in unserer Familie!" Ich habe einen riesigen Spaß, Transporter zwischen Schweden und Österreich hin und her zu dirigieren und für die richtige Beladung und die nötige Auslastung zu sorgen. Das ist kein Job, den man leichtfertig in den Wind schießt. Doch wenn der Fußball ruft, ist es unmöglich, sich taub zu stellen.
Also investiere ich. In einen neuen Haarschnitt, ein pastellgrünes Hemd, eine dazu passende Krawatte und ein dunkles Sakko. Ganz nach dem Motto: Es gibt keine zweite Chance für einen ersten Eindruck. Mit einer Klarsichtfolie unter dem Arm, in der mein Maturazeugnis steckt, betrete ich um kurz vor 18 Uhr das El Dorado. Und spiele in meinem Kopf immer noch die Möglichkeit durch, wie ich gesichtswahrend aus der Nummer herauskomme, wenn die ganze Geschichte doch auf einem Irrtum basiert.
Ich werde von einem schlanken Mann mit dünnen, blonden Haaren begrüßt. „Herr Pangl, schön, dass Sie da sind. Heinz Palme mein Name. Ich habe Herrn Professor Gerhard Hitzel mitgebracht, das ist unser U18-Teamchef."
Nett, dass er ihn vorstellt, aber als eifriger Leser des Sportteils sind mir Name und Gesicht natürlich bekannt. Womöglich doch kein Missverständnis? Palme legt gleich los: „Wir suchen einen Mann für einen Job im Nachwuchs des ÖFB: Sitzungen, Administration, Protokolle, das volle Programm. Andererseits müssen Sie viel unterwegs sein, U-Nationalteams im Ausland betreuen, Reisen organisieren. Wäre das etwas für Sie?"
Genauso gut hätte er mich fragen können, ob ich mich für einen Lottosechser erwärmen kann.
„Wir müssen aber noch eins ergänzen …"
„Aha, jetzt kommt der Haken", denke ich. Es wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein.
„… es ist ein unglaublich zeitintensiver Job. Sie sind auch an Wochenenden im Einsatz, es gibt keinen fixen Büroschluss. Wir müssen voraussetzen, dass Sie damit leben können."
Er will anscheinend auf Nummer sicher gehen. Falls er sich dachte, damit ein Ausschlusskriterium ins Feld zu führen, liegt er falsch. Viel Arbeit hat mich noch nie abgeschreckt, im Gegenteil. Mein Vater hat immer 40 Stunden auf dem Bau geschuftet und sich am Abend und an den Wochenenden um unsere Nebenerwerbslandwirtschaft gekümmert. Meine Mutter arbeitete stets von früh bis spät in der Bäckerei meines Großvaters. Ich habe da wie dort oft mitgeholfen, war bei der Weinlese genauso dabei wie beim Brotausfahren. Ich sage also aus voller Überzeugung: „Arbeit und Zeitaufwand sind bei mir nie ein Problem."
Die beiden Männer schauen sich mein Zeugnis an, stolpern kurz über den Vierer in Mathe und freuen sich über meine guten Noten in Englisch und Französisch. „Fremdsprachen werden Sie brauchen. Langsam dämmert mir, dass es ernst werden könnte. Und tatsächlich sagt Palme: „Gut, dann kommen Sie nächste Woche mal zu uns in die Mariahilfer Straße. Wir haben einen neuen Generalsekretär, den Herrn Ludwig, der muss auch noch sein Okay geben. Aber das wird wohl nur Formsache, von unserer Warte aus passt das.
Das geht mir jetzt doch etwas zu schnell. „Moment, sage ich. „Ich habe noch zwei Anmerkungen. Erstens: Sie haben gesagt, ich muss fliegen. Ich weiß zwar, wo der Flughafen ist, war aber noch nie jenseits der Passkontrolle.
„Kein Problem! Beim ersten Mal wird jemand dabei sein, der Ihnen zeigt, wie das funktioniert. Und zweitens?"
„Warum ich, Herr Palme? Warum haben Sie ausgerechnet mich angerufen?"
„Das kann ich Ihnen erklären."
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man im Leben oft für Dinge belohnt wird, bei denen man es sich zu dem Zeitpunkt, an dem sie sich ereignen, beim allerbesten Willen nicht vorstellen kann. Es gilt das Gesetz von Ursache und Wirkung. Zum Beispiel, als ich in der 3. Klasse der Handelsakademie in Eisenstadt war. Wir brauchten einen Klassensprecher, und der Job war ungefähr so begehrt, wie einen Austria-Fanshop in Hütteldorf zu führen. Keiner erbarmte sich. Auch als der Klassenvorstand zum dritten Mal fragte, starrten alle nur auf den Boden. Ich war bis dahin eher eine graue Maus, stand oft im Schatten von Stärkeren, Größeren, Besseren. Doch als die Klassengemeinschaft auseinanderzubrechen drohte, stand ich zum ersten Mal in meinem Leben auf und stellte mich der Verantwortung. Nicht gerade ein Traumjob, den Mitschülern wegen der 12,50 Schilling für die Busfahrt am Wandertag hinterherzurennen, aber einer muss ihn ja machen. Also ließ ich mich aufstellen und wählen. Eine Entscheidung, die mein ganzes Leben maßgeblich beeinflussen sollte.
Kurz vor der Matura wollte mein Sitznachbar Rudi Nagelreiter die Schule hinschmeißen. Wochenlang führten wir mit ihm Gespräche, ich vermittelte als Klassensprecher ständig zwischen ihm und Klassenvorstand Professor Horst Marek. Schließlich gab es ein Happy End, er schaffte die Matura und unterrichtet heute sogar selbst an der HAK. Und ich hatte den Ruf, ein ganz brauchbarer Brückenbauer zu sein, nachdem ich eine Zeit lang fast täglich in der Direktion ein- und ausgegangen war.
„Wie wir auf Sie kamen? Das ist ganz einfach, sagt Heinz Palme. „Es soll ja das Phänomen der Protektion geben. Aber Gerhard Hitzel und ich haben keine Lust, dass wir von diversen Präsidenten oder Bundesvorstandsmitgliedern einen Sohn, Neffen oder sonst wen für den Posten politisch aufs Auge gedrückt bekommen. Sie verstehen?
Ich nicke, warte aber noch auf die Pointe.
„Wir möchten aber auch kein Inserat aufgeben, auf das sich Hunderte Bewerber melden, wo man erst einmal langwierig aussieben muss."
„Sehr interessant, denke ich. „Und weiter?
„Also meinte Gerhard Hitzel zu mir: ‚Du, Heinz, ich hab ja an der HAK in Eisenstadt als Lehrer gearbeitet. Ich frag dort mal bei einem befreundeten Lehrer nach. Vielleicht weiß der jemanden, der sich im Fußball auskennt und durch Engagement und Geschick aufgefallen ist.‘ Und als er das tat, lautete die Antwort meines Klassenvorstands: ‚Da gibt es bei uns nur einen: den Pangl Schurl! Der war Klassensprecher und hat in der Schulauswahl gespielt. Soweit ich weiß, arbeitet er bei LKW Walter.‘"
Durch diesen puren Zufall beginnt meine Karriere beim ÖFB, die bis dahin in etwa so wahrscheinlich war wie eine Reise zum Mond. Oder ist es Fügung?
Egal, was es ist, mir steht jedenfalls noch ein Gang nach Canossa bevor. Schließlich muss ich zeitgerecht vor meinem ersten ÖFB-Arbeitstag am 5. Februar 1986 Walter-Boss Franz Krauter die Nachricht überbringen, dass ich sein geschätztes Unternehmen nach nicht einmal einem Jahr schon wieder zu verlassen gedenke. Die Tage vor meinem Termin werden zur Zerreißprobe für meine Nerven, ich drehe und wende meine Worte wie einen Teig in der Backstube. Als ich Krauters stilvolles Büro in Wiener Neudorf betrete, in dem ich auch meinen Vertrag unterschrieben habe, fühlen sich meine Beine wie Gummi an.
Krauter hört sich an, was ich zu sagen habe, und setzt danach ein fast schon väterliches Lächeln auf. „Herr Pangl, ich lasse Sie ungern gehen, aber wenn Sie im Herzen Fußballer sind und Ihnen ein interessanter Job in dem Metier angeboten wird, dann verstehe ich Ihre Entscheidung. Ich wünsche Ihnen auf Ihrem weiteren Weg alles Gute." Wow, große Worte, die mir einen nicht für möglich gehaltenen Energieschub verpassen. Als ich das Büro verlasse, fühle ich mich leicht wie eine Feder.
Kein Vorteil ohne Nachteil: Nach einem Jahr in der Firma wäre ich am Betriebsergebnis beteiligt worden und hätte mehr verdient als die 14.000 Schilling brutto im Monat, die ich aktuell bekomme. Und nun geht es ja auch noch darum, zu verhandeln, in welcher Form der ÖFB mich entlohnt.
Ich fahre also nach Wien, um die letzten Formalitäten zu klären. „Hallo, Herr Pangl, wie war der Verkehr?, begrüßt mich Generalsekretär Alfred Ludwig, den alle nur Gigi nennen, als ich das erste Mal das Büro in der Mariahilfer Straße betrete. „Ganz okay
, greife ich zu einer kleinen Notlüge. Ich will nicht zugeben, dass mir als Landei der Wiener Verkehr suspekt ist und ich sicherheitshalber nur bis Favoriten mit dem Auto gefahren und dort in die U-Bahn gestiegen bin. Dann beginnen wir, über meinen Job und die Bezahlung zu reden.
Ich sage mal so: Alfred Ludwig erinnert beim Geldausgeben ein wenig an Dagobert Duck – man muss ihm jeden Schilling einzeln aus der Tasche ziehen. Eine Erfahrung, die ich wohl nicht exklusiv besitze. Immerhin ist er so fair und zahlt mir das gleiche Gehalt, das ich bei LKW Walter bekam, zuzüglich einiger Bonuszahlungen laut der damals gültigen Betriebsvereinbarung. Sozusagen als Entgelt für die unzähligen Überstunden, die auf mich zukommen sollten. Hinzu kommt die Möglichkeit, eine kleine Garçonnière im Haus des ÖFB in der Mariahilfer Straße 99 günstig zu nutzen.
Ich hätte mir etwas mehr gewünscht, aber die Aussicht auf meine neue Aufgabe lässt mich dieses Thema vorerst vergessen. Im Anschluss lädt mich Gigi noch auf einen Kaffee ins geschichtsträchtige Café Goal ein, um mir ein paar Einblicke in den Arbeitsalltag zu gewähren. Als wir unter einem Bild des „Wunderteams" sitzen und plaudern, kommen auch Teamchef Branko Elsner und sein Co-Trainer Gustl Starek kurz dazu – erst jetzt wird mir im Angesicht dieser Prominenz die Tragweite meiner Entscheidung so richtig bewusst.
Ich bekomme eine unglaubliche Vorfreude auf den Job, konnte aber damals das Privileg, im Fußball hauptamtlich arbeiten zu dürfen, all diese unbezahlbaren Erfahrungen und spektakulären Begegnungen, die auf mich zukommen würden, nicht im Ansatz einschätzen.
Landesmeister 1983 mit der Schaulauswahl der HAK Eisenstadt, meinem ungeplanten Sprungbrett zum ÖFB
IRISCHE NÄCHTE SIND LANG
Meine erste Reise – ich bin gerade sechs Wochen im Amt – führt mich ins polnische Bydgoszcz, es geht um die Qualifikation für die U16-Europameisterschaft in Griechenland. Von den etablierten Herrschaften im ÖFB hatte dann doch niemand Zeit, mich zu begleiten und mir alles zu zeigen. Und ja, was das Fliegen angeht, habe ich nach wie vor so viel Erfahrung wie eine Kuh mit dem Eierlegen. Dumm nur, dass ich derjenige bin, der einer Gruppe von Teenagern inklusive Betreuerteam erklären soll, wo es langgeht. „Wo müssen wir hin, Herr Pangl? „Haben wir noch Zeit, etwas zu essen, Herr Pangl?
„Wann geben wir unser Gepäck auf, Herr Pangl?" Am Anfang bewege ich mich wie auf rohen Eiern, dann schlägt mein Improvisationstalent durch.
„Mir nach, wir müssen in diese Richtung", sage ich ahnungslos, aber so selbstsicher, dass alle mir folgen. Und tatsächlich, es funktioniert. Seit diesem Tag im März 1986 weiß ich, dass es auf Flughäfen immer irgendwo ein Schild gibt, das dir den Weg weist. Wenn man nicht ganz blind ist, findet man sich überall zurecht. Ich gehe voran, die Gruppe vertraut mir – eine neue und faszinierende Erfahrung. Ich lerne, über die Grenzen der mir bekannten Welt hinauszugehen.
Und auch sportlich wird es ein Trip in die Glückseligkeit. Das Hinspiel gegen die Polen endete 2:2, wir egalisieren das Ergebnis und kommen ins Elfmeterschießen. Als nach Manfred Wachter und Hans Kleer ein gewisser Christian Dürnbeck aus dem Leistungszentrum Südstadt den entscheidenden Schuss ins Netz versenkt, kennt der Jubel keine Grenzen. Wir fahren zum ersten Mal überhaupt zu einer EURO und ich bin mittendrin statt nur dabei.
Die persönliche Aufstiegsfeier mit Teamchef Paul Gludovatz endet in einer Bar mit einer kleinen Flasche Wyborowa Wodka, die uns die Kellnerin nach der Sperrstunde um das Zehnfache verrechnen will. Der übliche Aufschlag für Ausländer aus dem Westen. Uns vergeht der Durst nach einer zweiten Runde, die Stimmung droht zu kippen. Als wir die Springmesser der dubiosen Türsteher sehen, bleibt uns nichts anderes übrig, als durch die Fenster auf der Toilette filmreif und im Sprint das Weite zu suchen. Wir fürchten tatsächlich um unser Leben und sind erleichtert, als wir in unserem kasernenähnlichen Teamquartier mit Herzklopfen ins Bett fallen.
Der Anfang ist gemacht, in den kommenden zwölf Jahren darf ich die verschiedensten Nachwuchs-Auswahlen zu neun europäischen Endrunden und einer Weltmeisterschaft in Ägypten begleiten. Allein die kleinen Anekdoten, die ich bei diesen Turnieren erlebe, würden ein ganzes Buch füllen. Ich organisiere Reisen, fliege zu Sitzungen und Meetings in ganz Europa und werde zwischen Lissabon und Moskau zu einem der Gesichter des österreichischen Nachwuchs-Fußballs. Dabei lerne ich Menschen kennen, die nicht nur den österreichischen Fußball geprägt haben, sondern auch mein Leben bereichern sollten, allen voran Paul Gludovatz, der nicht ganz zu Unrecht einmal sagte: „Meine Frau Susi ist hoffentlich nicht eifersüchtig, aber in manchen Phasen verbringe ich mehr Zeit mit Georg im Doppelbett als mit ihr." Und das nicht nur, weil es in den Sportschulen der damaligen DDR oder in Polen oft keine Einzelbetten gab.
Paul und ich gehen in dieser Zeit gemeinsam durch dick und dünn, wir lernen einander im Laufe der Jahre lieben und schätzen. Von ihm schaue ich mir viel ab, er wird eine Art Vorbild für mich. Vor allem seine akribische Arbeit, aber auch seine unglaublich lockere Art, wie er einen Raum betritt und offen auf Menschen zugeht und sie anspricht, beeindrucken mich. Er weiß alles über seine Spieler, ob die Mutter krank ist oder es in der Schule nicht so läuft. Als der Rapidler Prvoslav Jovanovic einmal keine Freistellung bekommen sollte, schickt mich Paul mit einem Strauß Blumen zur Direktorin. „Frau Huber, ich verspreche Ihnen, dass wir jeden Tag mit dem Buben lernen. Sagen Sie nur, welche Fächer es sein sollen." Es hat tatsächlich funktioniert.
Gludovatz bringt Zund in jede Mannschaft, für ihn gehen die Spieler durchs Feuer. Das wird zum Beispiel bei der Endrunde der U16-EM 1994 in Irland deutlich. Wir sind mit Weißrussland, Spanien und Albanien in einer Gruppe und ich denke: In sechs Tagen sind wir wieder daheim, da werden die Reiter-Schuhe des wunderbaren wie legendären ÖFB-Partners und Ex-Teamspielers Franz Wunderl, der bei solchen Anlässen immer die gesamte Delegation damit ausstattet, und zwei weiße Hemden im Gepäck wohl reichen. Und dann holt unsere No-Name-Truppe fünf Punkte und steigt vor Spanien ins Viertelfinale auf. Die Frau vom Wäscheservice im Hotel muss glauben, dass ich mit ihr flirten will, so oft, wie ich mit meinen Hemden bei ihr auftauche.
Bei diesem Turnier hilft uns auch eine gewisse Bauernschläue, die, gepaart mit Erfahrung, Gefühl und Glück, das Unmögliche wahr werden lässt. Die Konstellation will es, dass die favorisierten Spanier nur im Rennen bleiben, wenn es im letzten Gruppenspiel zwischen Österreich und Belarus einen Verlierer gibt. Das Spiel selbst erinnert keineswegs an Gijon, das Remis entspricht den gezeigten Leistungen, sodass beide Teams für die K.-o.-Phase qualifiziert sind. Da zudem die Resultate exakt identisch sind, werden die Platzierungen in einem Penaltyschießen ermittelt.
Während Paul im United Park in Drogheda die Elfmeterschützen bestimmt, ist Assistenztrainer Werner Gregoritsch gleichzeitig in geheimer 007-Mission in Cork beim Spiel Deutschland gegen Dänemark. Ausgestattet mit einem Mobiltelefon der ersten Generation, das mit seinem Gewicht das Hanteltraining ersetzt, hält er uns permanent auf dem Laufenden.
In der Parallelgruppe C fährt Russland den erwarteten Sieg gegen die Schweiz ein und qualifiziert sich fix für den Aufstieg, die Frage ist lediglich, ob als Erster oder Zweiter. Wenige Minuten vor Spielende steht es in Cork 3:3, was bedeutet: Die Dänen gewinnen die Gruppe, und die Russen sind als Zweiter unser Gegner. Was uns total entgegenkommt. Denn nach unseren Spielbeobachtungen werden die Dänen als schier unbesiegbar eingestuft. Die Russen dagegen haben zwei unbewegliche Innenverteidiger, an einem guten Tag könnten wir sie durchaus schlagen. Ergo müssen wir das Elfmeterschießen gewinnen.
Unser letzter Schütze heißt Jürgen Saler. Genau in dem Moment, als er sich den Ball auflegt, ruft Werner an und brüllt entgeistert ins Telefon: „Schurl, wir müssen verlieren! Deutschland hat gerade das 4:3 geschossen, die Dänen sind doch nur Gruppenzweiter."
Mit dem Handy am Ohr rufe ich wie ein Verrückter ins Spielfeld: „Jürgen, du musst verschießen! Unbedingt!"
Saler schaut mich an, als ob ich geisteskrank wäre. „Herr Pangl, san Se verruckt, i verschiaß doch net absichtlich an Elfer!"
In dem Moment sagt mir Gregerl am Telefon: „Abpfiff, die Dänen sind Zweiter."
Uns bleibt keine Zeit für Diskussionen. Fast flehentlich rufe ich: „Jürgen, bitte verschieß, ich erkläre es dir später – vertrau mir einfach."
Jürgen Saler schiebt einen Edelroller Richtung Tor, den der Keeper mühelos hält, die Weißrussen gewinnen 4:3. Wir bekommen unseren Wunschgegner, schlagen die Russen tatsächlich und kommen ins Halbfinale. Dort unterliegen wir sehr unglücklich dem späteren Europameister Türkei knapp mit 0:1.
Nur um unseren Zusammenhalt zu verdeutlichen: Ein Spieler, der später Profi und Nationalspieler wurde, bekommt in diesen Tagen Heimweh und will abreisen. Ich kümmere mich um ihn, biete ihm an, bei mir im Zimmer zu schlafen, und schaffe es, ihn zum Bleiben zu bewegen. Egal ob als Motivator, Seelsorger oder einmal sogar als Tormann-Trainer, weil