Vollgasfußball: Die Fußballphilosophie des Jürgen Klopp
Von Martin Rafelt
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Buchvorschau
Vollgasfußball - Martin Rafelt
1
Jürgen Klopp, Autodidakt
Jürgen Klopp ist ein Autodidakt. Diese Tatsache ist essenziell, um zu verstehen, was ihn so außergewöhnlich macht – und aus meiner eigenen Sicht das Wichtigste, was man von Klopp lernen kann: von sich selbst zu lernen.
Sein Fußballverständnis hat Klopp nicht aus den Lehrgängen des DFB. Auch sein Studium der Sportwissenschaften beschreibt Klopp als zweitrangig. Stattdessen betont er immer wieder die Bedeutung von autodidaktischer Videoanalyse. Er hat in seiner Zeit als Student stundenlang Videokassetten mit Fußballspielen vor- und zurückgespult. Er wollte die Gründe für Tore verstehen. Was hätte die Mannschaft besser machen können, wo stand ein Spieler falsch? Wer hätte sich wann besser bewegen können? Was war gut, was schlecht? Über diese penible analytische Leidenschaft hat er eine eigene Idee vom Fußball entwickelt. Dafür, was die tatsächlichen Gründe für Erfolg und Misserfolg sind, jenseits von Floskeln und emotionalem Stochern im Dunkel.
Klopp und das große „Wie"
Das Ergebnis dieser analytischen Herangehensweise und zugleich wichtigste Säule von Klopps Erfolg ist, dass er weiß, wie man gut Fußball spielt. In der öffentlichen Diskussion ist das ein Faktor, der normalerweise völlig unter den Tisch fällt. Es wird davon ausgegangen, dass jeder weiß, wie das grundsätzlich geht. Aber das ist eben nicht der Fall. Das Fußballverständnis der meisten Menschen – in beobachtender und aktiver Rolle – ist von simplen dogmatischen Heuristiken geprägt, die sich über Jahrzehnte verselbstständigt haben und die von Verständlichkeit leben, nicht von Qualität. Viele Leute verstehen eigentlich gar nicht, wie Fußball fundamental funktioniert und wie seine Facetten aussehen, sondern sie kennen eine bestimmte Spielweise.
Das beste Beispiel dafür ist die Manndeckung mit Libero, die in Deutschland jahrzehntelang praktiziert und nicht hinterfragt wurde – bis irgendwann am ausbleibenden Erfolg klar wurde, dass es Spielweisen gibt, die besser sind. Auch die 4-4-2-Raumdeckung, die aktuell den Welt- und vor allem Jugendfußball prägt, ist nur eine einzelne, einigermaßen simple Art und Weise, mit der Komplexität des Spiels fertig zu werden. Beide Varianten setzen auf anspruchslose Orientierungen, die selbst für den untalentierten Fußballer nicht zu schwierig sind: Bei der Manndeckung suche ich mir einen einzelnen Gegenspieler, verfolge ihn und ignoriere das restliche Spiel mehr oder weniger. Bei der Raumdeckung halte ich mich an meine Position und reagiere auf das Spielgeschehen mehr oder weniger erst dann, wenn es in meiner unmittelbaren Nähe ist. In beiden Fällen blende ich einen großen Teil des Spielgeschehens aus, um der Komplexität des Spiels Herr zu werden.
Auffällig dabei ist auch, dass die großen, festen Regeln des Fußballs meist die Defensive betreffen. Weil die Offensive so sehr von den individuellen Fähigkeiten der Spieler abhängt, ist sie taktisch weitestgehend „unerforscht. Offensive Maßnahmen beschränken sich meist auf die Betonung bestimmter individueller Mittel („mehr Flanken
) und unspezifische Rhythmusvorgaben („schneller spielen"). Genauere taktische Vorgaben lassen sich wegen der Dynamik und Komplexität des Spiels auch tatsächlich schwer so gestalten, dass sie anwendbar und effektiv sind. Trotzdem wird immer wieder von unterschiedlichsten Leuten betont, dass Fußball ein simples Spiel sei. Bei einem Spiel, in dem sich 22 Spieler völlig frei auf einem riesigen Feld bewegen, wodurch quasi unendlich viele Situationen entstehen können. Doch wenn das Spiel wirklich so einfach wäre, dann wäre Spielintelligenz sicherlich kein so seltenes Gut unter Fußballern. Spielern würde es auch viel leichter fallen, unbekannte Positionen zu spielen, und kreative Momente wären häufiger. So ist es aber nicht.
Beginnend vor etwa zehn Jahren hat sich das Fußballverständnis zwar rapide weiterentwickelt und verändert, und so werden zum Beispiel die Lehrinhalte des DFB ständig überarbeitet. Trotzdem wird immer noch wenig Augenmerk darauf gelegt, was die handwerklichen Umstände von Sieg und Niederlage sind. Das ist innerhalb des Fußballs teilweise so und im öffentlichen Verständnis ganz extrem. „Die können es doch eigentlich!", wird gerne gesagt. Es wird also angenommen, dass die Frage, was auf dem Feld zu tun ist, wie man gut spielt, keine Frage ist. So, als ginge es nur darum, die Lösungen umzusetzen, und nicht darum, die Lösungen zu finden. Diese Herangehensweise ist falsch und führt immer wieder zu Ratlosigkeit bei der Erklärung von unerwarteten Erfolgen oder Misserfolgen.
Ich beginne dieses Buch mit diesem Verriss der Zustände im Fußball, weil dies fundamental für das Verständnis ist, was herausragende Trainer ausmacht. Wer eine Mannschaft formen will, die guten Fußball spielt, braucht eine genaue Vorstellung davon, was diesen guten Fußball ausmacht. Er muss genau wissen, wie es geht. Er muss nach schlechten Spielen herausfinden können, was die Mannschaft genau falsch gemacht hat. Er darf sich nicht hinter einer emotionalen Ursachenforschung verstecken, wenn es konkrete handwerkliche Defizite bei seiner Mannschaft gibt. Es gibt zahlreiche weitere Faktoren, die die Qualität eines Trainers bestimmen, doch das Verständnis für das Spiel ist das Fundament. Und um die Qualität eines Trainers zu verstehen und zu beurteilen, muss man dementsprechend ebenfalls auf diesen Faktor blicken.
Aktivität
Ein zweites Missverständnis von der taktischen Ebene des Fußballs ist die, dass „taktische Disziplin" sich auf passives Verteidigen bezieht. Klopp ist die Personifizierung des Gegenteils. Seine Philosophie ist überall aktiv. Seine taktische Disziplin ist nicht die Disziplin, nichts zu tun und Fehler zu vermeiden. Seine taktische Disziplin ist vielmehr, die Lösungen auf dem Feld zu finden und zu perfektionieren. Eine Taktik zu haben, bedeutet also, eine Lösungsmöglichkeit zu haben. Es gibt eine Problemstellung, und man erarbeitet einen Plan, um dieses Problem zu lösen. Auf diese Weise erarbeitet man eine Taktik. Fußball ist ein Spiel, und Spiele bestehen aus der Herausforderung, Probleme zu lösen. Im Fußball sind diese Probleme die Kontrolle des Raumes, die Kontrolle des Balles, die Kontrolle des Gegners und damit letztlich die Kontrolle des Spiels.
„Fußball ist kein Fehlervermeidungsspiel."
Jürgen Klopp über ein Gegentor durch einen individuellen Fehler
Dementsprechend ist es auch kein taktisches Spiel, die Kontrolle dem Gegner zu überlassen. Wenn man selbst nicht in der Lage ist, Kontrolle auszuüben, dann kann das zwar eine strategische Entscheidung sein, die Sinn ergibt. Aber sie wird immer nur darauf basieren, dass man nicht in der Lage ist, mehr Kontrolle auszuüben – also taktisch hochwertiger zu spielen. Klopps Philosophie ist die, so viel wie möglich richtig zu machen – und nicht, so wenig wie möglich falsch zu machen. Bei seinen Iden geht es um Aktivität. Das Pressing ist die Umkehr der Logik, dass die verteidigende Mannschaft reagiert. Bei einem guten Pressing agiert die Mannschaft ohne Ball, sie bestimmt das Spiel. Das Gegenpressing ermöglicht ein aktiveres, risikoreicheres Spiel mit dem Ball und entwertet die reaktiven Möglichkeiten des gegnerischen Konters.
Exkurs
Bedeutung der Taktik
Für dieses Buch ist es wichtig, frühzeitig die Bedeutung des Begriffes „Taktik" zu erklären. Im fußballerischen Volksmund nämlich wird die allgemeine Marschroute als Taktik bezeichnet; die strategische Vorgabe also. Die Strategie ist aber eben das übergeordnete Leitmotiv, welches man verfolgt. Die Strategie wird in diesem Buch dementsprechend nicht als Taktik bezeichnet. Die Taktik bezeichnet hier die konkrete Umsetzung der Strategie: Wann bewege ich mich wohin, welchen Pass spiele ich in welcher Situation, wann gehe ich ins Dribbling, über welche Räume versuche ich anzugreifen und so weiter. Auch die taktischen Hintergründe für Aufstellungen werden als Taktik bezeichnet, ebenso wie die Art und Weise, in der Mannschaften sich auf dem Feld organisieren.
Wichtig ist zudem, dass nicht nur geplante Dinge taktisch betrachtet werden. Die Feststellung eines taktischen Sachverhaltes bedeutet nicht, dass dies eine konkrete Vorgabe oder Planung des Trainers war. Wenn sich aus den Wechselwirkungen zwischen zwei Teams organisch ein bestimmtes Muster ergibt, so ist dieses ebenfalls taktisch zu betrachten. Weil Fußball zu einem großen Teil intuitiv und gefühlsmäßig gespielt wird, ist es auch die besondere Herausforderung an den Trainer, systematische Dinge so zu planen, dass sie sich mit den intuitiven Voraussetzungen und den Zufällen vertragen, die so im Laufe von 90 Minuten auf dem Feld passieren.
Wenn die taktische Analyse an der ein oder anderen Stelle ungewöhnlich komplex wirkt, liegt das also an der Komplexität des Spiels, nicht an einer übertrieben verwissenschaftlichten Herangehensweise der handelnden Personen. Ebenfalls negiert die taktische Erklärung keine anderen Erklärungen. Wenn eine Mannschaft schlecht spielt, kann das beispielsweise durchaus psychologische Gründe haben. Bevor diese in Tore umgemünzt werden, müssen sie sich jedoch erst einmal auf die Verhaltensweise auf dem Feld auswirken – und sind dementsprechend taktisch zu beobachten. Insofern kann jede Art von Begründung im weiteren Sinne taktisch „übersetzt" werden, das ist kein Widerspruch.
Klopp, Pressing und Gegenpressing
Der elementarste Bestandteil von Klopps Fußball ist die aktive Arbeit gegen den Ball. Er hat sie nicht erfunden, ist aber einer der größten Pioniere, hat sie perfektioniert wie vielleicht kein anderer Trainer und sie der großen, weiten Fußballwelt erklärt und vorgeführt. Das Pressing und das Gegenpressing sind die Kernstücke, die es zu verstehen und zu diskutieren gilt, wenn man Klopp als Trainer verstehen will. „Pressing bezeichnet das organisierte Attackieren des gegnerischen Aufbauspiels. Im Klartext: In der Defensivformation zieht man sich nicht nur zurück und wartet vor dem eigenen Strafraum auf den Gegner, sondern attackiert ab einer bestimmten Höhe auf dem Spielfeld den Ballführenden. Man betreibt also Balleroberung, statt sich auf Torverteidigung zu beschränken. Optimalerweise „presst
man mit mehreren Spielern, die sich stabil im Raum organisieren, um so viele Angriffsmöglichkeiten wie möglich abzudecken.
Abb. 1: Pressing nach außen im 4-2-3-1, Überzahl in Ballnähe durch kollektives Verschieben
„Gegenpressing" bezeichnet die Balleroberung direkt nach einem Ballverlust. Der wichtigste Unterschied ist der, dass man sich nun nicht in seiner Defensivformation befindet. Die Spieler stehen weiter auseinander, da sie gerade noch im Angriff waren. Die Gegenspieler stehen dafür enger beisammen. Letzteres kann man nutzen, um sofort Druck aufzubauen. Damit wird im besten Falle verhindert, dass der Gegner einen Konter führen kann. Pressing wird also gegen den Angriff durchgeführt und Gegenpressing gegen den Gegenangriff. In anderen Sprachen werden teilweise auch Begriffe genutzt, die eher in Richtung „Konterpressing" gehen.
Abb. 2: Gegenpressing nach einem Ballverlust, aus einer geordneten Spielaufbau-Staffelung wird von allen Seiten sofort Druck gemacht
„Der günstigste Moment, den Ball zu erobern, ist direkt nach eigenem Ballverlust. Der Gegner muss sich erst orientieren, schauen, wo er den Ball hinspielen könnte. Und zack, ist man schon da."
Klopp 2012 an der Sporthochschule Köln über Gegenpressing
Der große Vorteil von Pressing und Gegenpressing ist, dass man weniger „klassisch" verteidigen muss. Früher wurden die Abwehrspieler für Gegentore kritisiert. Bei Klopp werden eher die Mittelfeldspieler dafür kritisiert, dass die Abwehrspieler überhaupt eingreifen mussten. Das Spiel wird im Grunde nicht mehr qualitativ gewonnen, sondern quantitativ: also nicht dadurch, dass ich meinen Strafraum besser verteidige, sondern dadurch, dass ich meinen Strafraum seltener verteidige. Bei dieser Art Fußball löst sich das Spielergebnis auch etwas von der individuellen Ebene der Spieler. Deshalb konnte Klopp mit unterlegenem Personal überlegen sein. Seine Spieler konnten sich nicht unbedingt besser durchsetzen als ihre Gegenspieler, aber wenn sie sich durchsetzten, kamen sie öfter in die Situationen, in denen das gefährlich wurde.
Klopp und Organisation
Dass man den Gegner früh unter Druck setzt, ist dabei eigentlich ein sehr altes Element des Fußballs. Zumindest in bestimmten Spielphasen wurde das immer wieder praktiziert. Es galt allerdings als riskant, was es auch ist: Wenn ich nach vorne rücke und den Ballführenden attackiere, aber ausgespielt werde, hinterlasse ich Lücken. Entscheidend ist deshalb, wie das Pressing organisiert ist. Welche Spieler verteidigen wann welchen Raum? Wie groß wähle ich die Abstände zwischen den Spielern und den Mannschaftsteilen? Ab welcher Höhe attackiere ich den Gegner? Wohin will ich den Gegner leiten, wie laufe ich ihn an? Woran orientiere ich mich in meiner Positionierung auf dem Feld – an der Position, meinen Mitspielern, den Gegenspielern, dem Raum, dem Ball? Wie stark verschiebe ich zum Ball?
Aus heutiger Sicht ist der strategische Vorsprung Klopps auf die restliche Fußballwelt geschrumpft. In England kann er noch auftrumpfen, doch in Deutschland gehört aktives Verteidigen mittlerweile zum guten Ton. Was Klopp aber immer noch von vielen Trainern unterscheidet, ist sein taktischer Perfektionismus bei der Umsetzung seiner Strategien. Den meisten Trainern, die mittlerweile aggressiv pressen und umschalten lassen, geht diese Feinarbeit und die Balance in der Vermittlung ihrer Ideen ab. Alexander Zorniger zum Beispiel scheiterte in der Bundesliga mit einem Vollgasfußball, der zwar hochintensiv war, aber nicht stabil genug organisiert.
Perfektionismus
Klopps Ambition, sein Anspruch an sich selbst, ist die zweite Säule neben seiner Selbstbildung, die ihn zu so einem außergewöhnlichen Trainer macht. Andere Trainer geben sich mit weniger zufrieden als er. Sie geben einer Mannschaft einen gewissen Input und hoffen, dass dieser genügt. Taktische Aspekte werden normalerweise bis zu einem Level entwickelt, auf dem sie stabil funktionieren und alle Spieler damit zurechtkommen. Sie werden nicht perfektioniert; weder von der Idee noch von der Umsetzung her.
Klopp hingegen gibt sich nicht damit zufrieden, irgendein System zu haben – es soll das perfekte System sein. So formulierte er öffentlich, an seine Dortmunder Mannschaft den Anspruch zu haben, die kompakteste Mannschaft der Welt zu sein. Samuel Ipoua, 2000/01 Klopps Mitspieler in Mainz, berichtete einmal aus der gemeinsamen Zeit, dass ihm Klopp seinerzeit gesagt habe, eines Tages der beste Trainer Deutschlands zu sein. Auch nach seinem Aus beim BVB erneuerte Klopp seinen Anspruch an sich selbst:
„Ich bilde mich weiter, ich lese viel, ich treffe viele Leute. (…) Ich habe mir eine Auszeit genommen. Ich möchte nach der Auszeit nach Möglichkeit ein besserer Mensch, vor allem aber ein besserer Trainer sein."
Klopp im September 2015
Am aufschlussreichsten ist aber vielleicht ein Satz aus seiner ersten Saison beim BVB. Damals sagte Klopp, dass er sich als Trainer endlich nicht mehr limitiert fühle; anders als in seiner Zeit als Spieler. So ist also das Selbstbild von Klopp: Er hat in seinen Trainerfähigkeiten kein Limit. Das heißt, es kann für ihn immer Weiterentwicklung geben. Folglich strebt er diese auch immer an.
Autodidaktischer Perfektionismus ist Klopps Lernmethode. Diese Herangehensweise ist elementar für das Verstehen von Klopps Arbeit. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass seine Arbeit visionär sein konnte. Dafür, dass Klopp seiner Zeit voraus sein und einen eigenen Stil entwickeln konnte. Ein Trainer, der nur gelernte Dinge umsetzt, kann immer nur mit etablierten Werkzeugen arbeiten und läuft damit grundsätzlich der Zeit hinterher. Um einen Vorsprung zu haben, muss man sich seine Werkzeuge selber konstruieren. Man muss Dinge tun, die die anderen noch nicht lernen konnten. Man muss eigenständig, kreativ und in gewissem Maße visionär sein.
Auch Klopps Mindset dabei ist außergewöhnlich. Er ist reflektiert, rational und differenziert in seinen Einschätzungen. Besonders bemerkenswert ist die Reflektiertheit bezüglich der eigenen Emotionalität. Er nutzt diese zwar, wann immer es Sinn ergibt und sich daraus Energie ziehen lässt, reflektiert aber dennoch stark genug, um emotional begründete Denkfehler zu erkennen. Beispielsweise erklärte er einmal auf einer Pressekonferenz, es gäbe zwei Ansätze, mit den erzieherischen Erfahrungen umzugehen, die man im Laufe seines Lebens macht: „Das hat mir nicht geschadet, das mache ich auch so und „Das fand ich fürchterlich, das werde ich niemals machen
. Seine Schlussfolgerung: Beide Ansätze sind Unsinn. Er reagiert also auf Erfahrungen nicht emotional schwarz-weiß, sondern versucht sie differenziert zu bewerten und mit einer gewissen Distanz einzuordnen.
Das ist eine Erkenntnisstrategie: die rationale Überprüfung und Verarbeitung von emotionaler Reaktion. Diese Fähigkeit führt auch dazu, dass Klopp so gut mit eigenen und fremden Emotionen hantieren kann. Dass er auf Pressekonferenzen häufig ganz explizit thematisiert, wie sich eine Situation anfühlt, und daraus dann Schlussfolgerungen zieht. Zwar hat er seine Emotionen nicht in jeder Situation im Griff – seine Ausraster am Spielfeldrand sind berüchtigt. Allerdings kann er im Allgemeinen seine Emotionalität gut für sich nutzen und besonders im langfristigen Prozess recht gezielt steuern. Die Brücke zwischen Rationalität, Emotionalität und Intuition schlagen zu können, ist eine herausragend wertvolle Fähigkeit für einen Fußballtrainer. Sie ist die Grundlage für eine passende Menschenführung, für eine wirkungsvolle Ansprache und eine taktische Analyse und Planung, die ins Gesamtgefüge passt.
Das kongeniale Trainertrio 2008 vor der ersten Saison in Dortmund: Peter Krawietz, Jürgen Klopp und Željko Buvač (v.l.)
Klopp, Krawietz, Buvač – das Triumvirat
Was bei dem Fokus auf Jürgen Klopp stets zu kurz kommt, ist die Bedeutung seiner beiden Mitstreiter Peter Krawietz und Željko Buvač. Jede Aussage, die man über den Trainer Klopp trifft, müsste man eigentlich als Aussage über das Trainerteam formulieren. Klopp ist weniger ein Trainer mit zwei Zuarbeitern als vielmehr das mediale Gesicht eines Triumvirats. Er formulierte selber einmal, dass die drei der Ansicht wären, „gemeinsam einen guten Bundesliga-Trainer abzugeben. Dieser „dreiköpfige Trainer
arbeitete schon in Mainz zusammen und ging über Dortmund auch gemeinsam nach Liverpool.
Krawietz wird intern „das Auge" genannt und ist für den analytischen Teil der Trainerarbeit zuständig. Er sitzt bei Spielen zuweilen auf der Tribüne und bereitet Videomaterial für die Halbzeitansprache vor, in der Klopp gerne Videoanalysen nutzt. Auch in der Gegneranalyse ist er die federführende Instanz.
Buvač gilt als „das Gehirn" des Trios. Er ist hauptverantwortlich bei den meisten Trainingseinheiten, konzipiert die Übungen und leitet sie häufig auch. Er spielte von 1992 bis 1995 mit Klopp zusammen bei Mainz und war dort der spielmachende Sechser – die Rolle, die wohl die meisten Toptrainer hervorbringt, so wie beispielsweise Pep Guardiola oder Carlo Ancelotti. Klopp schwärmt von seinem Wissen über Fußball, und so dürfte der zurückhaltende Bosnier vielleicht sogar der wichtigste Mann hinter den meisten taktischen Ideen des Teams sein.
Konkrete Dinge über „Gehirn Buvač dringen derweil kaum an die Öffentlichkeit. Für die ist Klopp im Alleingang zuständig. Seine Aufgabe ist, all das zu verkörpern, zu transportieren und zu vermarkten, was den Fußball des Triumvirates ausmachen soll. Mit seinem Charisma, seiner Energie und geschickter Psychologie fördert er die Intensität im Trainingsalltag, nimmt sich aber auch Auszeiten. Hauptsächlich fokussiert er sich auf den Spieltag und das „Drumherum
. Von außen ist allerdings schwer zu entschlüsseln, welche Prozesse hinter den Entscheidungen des Trainerteams stehen. Das meiste von dem, was Klopp am Ende vor der Öffentlichkeit verantwortet, dürfte aber der Schluss einer zwei- bis dreiköpfigen Diskussion sein und nicht die spontane Idee einer Einzelperson. So ist dieses Buch hier auch so zu interpretieren, dass „Klopp" eher der Code für die gemeinsame Arbeit von Klopp, Krawietz und Buvač ist.
„Meistens arbeiten wir telepathisch zusammen."
Klopp über die Zusammenarbeit mit Buvač
Exkurs
Konzeptfußball: Explizite Bewusstheit
Neben Jürgen Klopp kam in den Jahren nach dem deutschen „Sommermärchen eine Reihe weiterer junger und taktisch ambitionierter Trainer in das Bundesliga-Oberhaus. Ralf Rangnick, Thomas Tuchel, Christian Streich und andere wurden schon bald unter dem Stempel der „Konzepttrainer
zusammengefasst. Dieser Begriff wurde häufig kritisiert; schließlich habe auch ein Trainer der alten Riege ein Konzept. Doch das Wort beinhaltet mindestens eine Wahrheit: Die jungen Trainer legten mehr Wert darauf, ihre Ideen vom Fußball zu konzeptionalisieren. Und sie taten das zielgerichtet, strukturiert und auf eine neue Art und Weise.
Der Fußball gilt als einfache Sportart, weil er intuitiv ist. Jeder Zuschauer erkennt ein gutes Dribbling oder einen tödlichen Pass. Aus dieser intuitiven Natur hat sich ergeben, dass die Sprache des Fußballs nicht wissenschaftlich oder handwerklich strukturiert ist, sondern ein historisch gewachsenes Sammelsurium von bildlichen Schlagwörtern. Diese sind oftmals emotional gebunden. Der „tödliche Pass war eine emotionalere Bezeichnung als der „Vertikalpass
oder der „Schnittstellenpass. Ebenso ist „Druck machen
intuitiver als „Pressing spielen. Es ist jedoch auch ungenauer: Wenn ich Druck machen will, kann das nicht nur bedeuten, dass ich den gegnerischen Spielaufbau intelligent störe. Es kann auch heißen, viel zu schießen oder riskant aufzurücken. Außerdem lässt sich nicht ablesen, wie genau die Umsetzung erfolgen soll. Im Pressing wird gerne zwischen Angriffs-, Mittelfeld- und Abwehrpressing unterschieden; je nach der Zone, in der man den Ball gewinnen will. In der klassischen Fußballsprache wird im Grunde nur zwischen „tief stehen
und „Druck machen" unterschieden, in verschiedenen emotionalen Bezeichnungen; kein Wunder also, dass es Mittelfeldpressing früher kaum gab. Passenderweise ist Mittelfeldpressing eine sehr rationale und ausgewogene Form der Balleroberung – die Form übrigens, die auch von Klopp präferiert wird.
Die Sprache formt das Denken. Um also Spieler mit besserem Denken auszustatten, muss man eine bessere Sprache anwenden. Die weniger intuitive, aber konkretere Sprache von Klopp und Co. führt dazu, dass