Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Leonid Breschnew: Staatsmann und Schauspieler im Schatten Stalins. Eine Biographie
Leonid Breschnew: Staatsmann und Schauspieler im Schatten Stalins. Eine Biographie
Leonid Breschnew: Staatsmann und Schauspieler im Schatten Stalins. Eine Biographie
eBook1.077 Seiten13 Stunden

Leonid Breschnew: Staatsmann und Schauspieler im Schatten Stalins. Eine Biographie

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Leonid Breschnew war von 1964 bis 1982 Vorsitzender der KPdSU und prägte fast zwei Jahrzehnte lang die Entwicklung der Sowjetunion. Anders als im Westen lange behauptet, war Breschnew kein "Hardliner" oder "Restalinisierer", sondern hatte selbst unter Stalin gelitten und so viel Leid gesehen, dass er "Wohlstand für alle" zur Generallinie der Partei erklärte. Das Grauen, das er im Zweiten Weltkrieg erlebt hatte, ließ ihn den Ausgleich mit dem Westen suchen. Breschnew mimte den westlichen Staatsmann und wurde von seinen Partnern als einer der ihren akzeptiert. Doch als 1974 Georges Pompidou starb und Willy Brandt sowie Richard Nixon zurücktraten, sah sich Breschnew vor dem Trümmerhaufen seiner Entspannungspolitik. Denn, was im Westen niemand ahnte, im Kreml gab es keinen politischen Kurswechsel. Stress und Schlaflosigkeit führten Breschnew in eine Tablettensucht, die seine Friedensbemühungen weiter ruinierte: Den Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan 1979 entschied eine Politbüro-Troika ohne ihn. Ein "Mensch in seiner Zeit": Die Osteuropahistorikerin Susanne Schattenberg legt, basierend auf zahlreichen bislang nicht zugänglichen Quellen, die erste wissenschaftliche Biographie über Leonid Breschnew vor – zu seinem 35. Todestag im November 2017.
SpracheDeutsch
HerausgeberBöhlau Köln
Erscheinungsdatum11. Sept. 2017
ISBN9783412511753
Leonid Breschnew: Staatsmann und Schauspieler im Schatten Stalins. Eine Biographie
Autor

Susanne Schattenberg

Susanne Schattenberg ist Professorin für Zeitgeschichte und Kultur Osteuropas an der Universität Bremen.

Ähnlich wie Leonid Breschnew

Ähnliche E-Books

Moderne Geschichte für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Leonid Breschnew

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Leonid Breschnew - Susanne Schattenberg

    Drang nach Bildung und Bürgerlichkeit

    Ein solches Indiz für Breschnews unpolitische Haltung ist, dass in seinen „Memoiren die überschwängliche und konkrete Begeisterung für die Oktoberrevolution und die sich anschließenden Ereignisse fehlt. Es war in der Sowjetunion unter überzeugten Kommunisten üblich, den Sieg der Sowjetmacht in den eigenen Erinnerungen voller Überschwang zu schildern und die eigene Entwicklung ganz mit den Kämpfen und Siegen der Bolschewiki zu verflechten: die persönliche Befreiung von schlagenden Vätern oder ausbeuterischen Fabrikvorstehern; der Anschluss an die Roten Garden und der Kampf im Bürgerkrieg; die Arbeit in Partei oder Gewerkschaft in den 1920er Jahren, um den jungen Staat mit aufzubauen; der Eintritt in die Partei als der „schönste Tag im Leben; die Abordnung zum Studium und dann der Beginn der Karriere in der Wirtschaft und gegebenenfalls in der Politik. Nichts davon findet sich in Breschnews „Memoiren, und das ist umso erstaunlicher, als wir wissen, dass sie als „Idealbiographie verfasst wurden: Offenbar gab es aus Breschnews Leben so wenig Verwendbares, dass es die Ghostwriter bei sehr allgemeinen Phrasen beließen, mit denen Breschnews Begeisterung für die Bolschewiki und seine Identifizierung mit dem Proletariat „belegt" wurden, um die Erzählung nicht vollkommen unglaubwürdig zu machen.

    „Ich habe das Glück gehabt, in einer Arbeiterfamilie, in einer großen Arbeitersiedlung geboren, aufgewachsen zu sein und richtig arbeiten gelernt zu haben. Zu den frühesten, stärksten Eindrücken meiner Kindheit gehört die Werksirene. Ich erinnere mich: Der Morgen bricht gerade erst an, doch Vater ist schon in der Arbeitskluft, Mutter begleitet ihn bis an die Tür, so beginnen Breschnews „Erinnerungen „Leben nach der Werksirene".¹ Für die Legitimation als Parteisekretär war es von enormer Wichtigkeit, aus der Arbeiterschaft zu stammen. Aber da das Gemeinderegister von Breschnews Geburtsurkunde gesäubert wurde, gibt es diverse Spekulationen über seine wahre Herkunft.² Die Theorien reichen von der Behauptung, er sei in Wahrheit ein polnisches Adoptivkind, bis zu der Annahme, er stamme nicht aus einer Arbeiter-, sondern aus einer Mittelklassenfamilie. Die Leiterin des Geschichtsmuseums in Breschnews Heimatstadt Kamenskoje, Natalja Bulanowa, nimmt an, dass das Register gesäubert wurde, damit nicht ans Licht käme, dass Breschnew getauft war, was ein schwerer Makel in seiner reinen proletarischen Biographie gewesen wäre.

    Das zweite Gerücht entwickelte sich aufgrund der Tatsache, dass Breschnew seit 1915 das örtliche Gymnasium besuchte, das damals eigentlich den Söhnen von Fabrikdirektoren, Ingenieuren und Angestellten vorbehalten war. In Breschnews „Erinnerungen wird das wie folgt gerechtfertigt: Von den Arbeiterkindern sei nur jedes fünfzehnte aufgenommen worden und außer ihm hätten es in seinem Jahrgang sechs weitere Arbeitersöhne geschafft. „Wir wurden als ‚Staatsstipendiaten‘ bezeichnet. Dies bedeutete nicht, dass wir ein Stipendium erhielten, sondern lediglich – ausgezeichnete Leistungen vorausgesetzt – Befreiung vom Schulgeld. Letzteres aber war maßlos hoch – 64 Goldrubel. So viel verdiente nicht einmal der qualifizierteste Arbeiter, und Vater hätte diesen Betrag bei bestem Willen nicht aufbringen können.³

    Es scheint einigermaßen gesichert, dass Breschnews Vater zur Arbeiterintelligenz gehörte.⁴ Diese Arbeiter ersehnten nicht in erster Linie den Zerfall der herrschenden Ordnung, sondern wollten innerhalb dieser Gesellschaft aufsteigen, um selbst ein bürgerliches Leben zu führen; der Weg dahin hieß nicht Revolution, sondern Bildung. So wird nachvollziehbar, dass Breschnews Eltern vermutlich alles daransetzten, ihrem ältesten Sohn die bestmögliche Schulbildung zu ermöglichen.

    Für diese Zugehörigkeit zur Arbeiterintelligenz sprechen auch zwei weitere Indizien: Zum einen konnten sowohl Leonids Vater als auch seine Mutter lesen, was für einfache Arbeiter höchst ungewöhnlich war.⁵ Zum anderen gibt es ein frühes Foto der Familie Breschnew aus dem Jahr 1915, auf dem Leonid als Gymnasiast in Schuluniform abgebildet ist, während seine Schwester Vera ein weißes Kleid und auch der kleine Bruder Jakob ein weißes Hemd trägt; die beiden jüngeren Geschwister lehnen sich an den sitzenden Vater, der einen Anzug samt Weste und hochgeschlossenem weißem Hemd trägt; die Mutter steht in weißer Bluse und dunklem Rock dahinter. Sowohl die Art der Kleidung als auch die Aufnahme eines solchen Familienfotos an sich weisen darauf hin, dass die Breschnews ihre Welt nach bürgerlichen Werten gestalteten. Einfache Arbeiter konnten sich weder einen Sonntagsstaat noch einen Besuch im Fotostudio leisten.

    Kindheit in Kamenskoje 1906–1917

    Breschnews Vater Ilja Jakowlewitsch Breschnew (1880–1937) und die Eltern seiner Mutter Natalja Denissowna Masolowa (1886–1975) waren zur Jahrhundertwende auf der Suche nach Arbeit aus Russland in die Ukraine gekommen. Kamenskoje war eine kleine beschauliche Siedlung am Dnjepr, bis dort 1878 von Warschauer Ingenieuren eine Eisenhütten- und Schienenfabrik gegründet wurde, die 1886 in der Süd-Russland-Gesellschaft aufging, welche von Belgiern, Polen, Deutschen und Franzosen geleitet wurde. 1887 entstanden die ersten zwei Hochöfen, die 1889 in Betrieb gingen.⁶ Die Siedlung entwickelte sich in der Folge rasant um die Fabrik herum, die ebenfalls weiter wuchs und in erster Linie Eisenbahnschienen herstellte. 1897 lebten rund 26.000 Einwohner in Kamenskoje, 1917 waren es bereits 100.000.⁷ Es war die Hochzeit der Industrialisierung in Russland und durchaus typisch, dass die Investoren aus dem Ausland kamen. In der Fabrik arbeiteten um 1892 rund 3000 Arbeiter, die zum großen Teil aus den nordwestlichen Gouvernements des Zarenreichs eingewandert waren; ihr Russisch mischte sich mit dem Ukrainisch der Bauern aus der Gegend und dem Polnisch und Französisch der Ingenieure und der Fabrikleitung.⁸ Neben zwei orthodoxen, einer katholischen und einer protestantischen Kirche entstanden ein Fabrikkrankenhaus, ein Veranstaltungssaal für das gemeine Volk, in dem es Konzerte und Ausstellungen gab, eine Bibliothek, ein Ingenieursclub, ein Yachtclub, in dem auch Arbeiter zugelassen waren, eine Fabrikschule mit zwei Klassen für die Arbeiterkinder – und abends im Park spielte ein Blasorchester.⁹ Entgegen dem bolschewistischen Narrativ von den Ausbeuterfabriken kümmerte sich die Leitung der Süd-Russland-Gesellschaft in gewissem Maße um das Wohlergehen ihrer Arbeiter, auch wenn dies nur geschah, um Streiks zu vermeiden.¹⁰

    Abb. 2: Familienfoto der Breschnews: die Mutter stehend, der Vater sitzend mit den Geschwistern Jakob und Vera, Leonid rechts stehend in Gymnasiastenuniform, 1915.

    Nichtsdestoweniger gab es klare soziale Hierarchien und Elend: Die Fabrikleitung, Ingenieure, höhere Angestellte, Ladenbesitzer, Priester und Akademiker residierten in der „Oberen Siedlung, einem Viertel aus Villen und Herrenhäusern oberhalb der Fabrik, wohin der Rauch der Schlote nicht zog. In der „Unteren Siedlung wohnten die Verwaltungsangestellten der Fabrik sowie Vorarbeiter in kleineren Stein- und Holzhäusern mit eigenem Garten, die alle mit elektrischem Strom und fließend Wasser versorgt waren,¹¹ während für die Arbeiter Baracken errichtet wurden, in denen 16 bis 20 Menschen ohne Kanalisation hausten. Im Winter war es hier so feucht, dass das Wasser von den Wänden lief und die Arbeiter ihre Bleibe „Durchgangsgefängnis" nannten. Darüber hinaus gab es auch Arbeiter, die mangels Alternative in Lehm- und Erdhütten vor sich hin vegetierten.¹² In der Fabrik war es beengt und dreckig, wie ein Inspektor 1892 beanstandete. Arbeitsunfälle waren an der Tagesordnung: Rund 20 Prozent der Arbeiter verletzten sich. Sie hatten einen Zwölfstundentag zu absolvieren; eine Kantine gab es nicht, so dass Angehörige den Männern das Essen in die Fabrik brachten.¹³

    So lernte Breschnews Vater seine Frau kennen. Er war 1894 aus dem Gouvernement Kursk nach Kamenskoje gekommen und arbeitete seit 1900 als Gehilfe an der Eisenwalzstraße, wohin die junge Natalja Denissowna ihrem Vater Denis Masolow das Mittagessen brachte, der aus Belgorod zugezogen war.¹⁴ Nach einem Jahr heirateten die beiden. Ihre erste, 1905 geborene Tochter Feoktista starb gleich nach der Geburt;¹⁵ 1906 kam Leonid zur Welt, 1910 und 1912 folgten Vera und Jakob.¹⁶ Die Spekulationen über die soziale Herkunft von Breschnew lassen sich einhegen, wenn man sich die berufliche Entwicklung seines Vaters anschaut. Richtig ist, dass Ilja Breschnew als ungelernter Gehilfe begann, aber 1917, als das Werk den Achtstundentag und ein Drei-Schicht-System einführte, zum Schichtleiter aufstieg und nun als qualifizierter Arbeiter galt.¹⁷ Als solcher starb er 1937 relativ jung mit Mitte 50 an Krebs.¹⁸ Zu der Wohnsituation heißt es tatsächlich in Breschnews „Erinnerungen", dass er in der Unteren Siedlung in der Aksjonow-Gasse Nr. 5 geboren wurde.¹⁹ Allerdings wohnten seine Eltern zusammen mit den Großeltern hier nur zur Untermiete in einem Zimmer bei einem Hochofenmeister.²⁰ Sie gehörten zu diesem Zeitpunkt also keineswegs bereits selbst zu den Privilegierten in der Wohnhierarchie, sondern hatten hier nur eine Bleibe gefunden. Erst 1910 mietete sich die junge Familie eine eigene Wohnung in der Tupoi-Gasse, die später in Piwowarow-Straße umbenannt wurde, wo die Familie bis 1921 blieb. In den 1930er Jahren wohnten die Breschnews in einem neuen, werkseigenen Haus in der Pelin-Straße Nr. 40, wo Breschnews Mutter Natalja Denissowna blieb, bis sie 1966 ihrem Sohn nach Moskau folgte.²¹ Aber auch diese Zweizimmerwohnung im Erdgeschoss eines zweistöckigen Hauses, an dem heute eine Gedenktafel hängt, war sehr bescheiden, zumal eins der zwei Zimmer an die Familie des Onkels abgetreten wurde.²²

    Die Wahrheit ist also, wie so oft, in der Mitte zu finden: Weder stammte Breschnew aus einer einfachen Arbeiterfamilie, wie es seine „Erinnerungen immer wieder glauben machen wollen, noch war er ein „Kleinbürger, wie es in Polemiken gern heißt. Seine Großeltern und Eltern waren nach Kamenskoje gekommen, um Geld zu verdienen und sich in der Gesellschaft hochzuarbeiten, was ihnen ganz offensichtlich gelang: Sie hausten nicht in den Baracken, sie konnten lesen und schreiben, sie trugen Sonntagsstaat und gingen ins Fotostudio, sie schickten ihren ältesten Sohn aufs Gymnasium, und die Mutter träumte davon, ihren Ältesten als Ingenieur zu sehen.²³ Während in Breschnews „Erinnerungen einerseits suggeriert wird, dass die Verhältnisse in der Unteren Siedlung im Vergleich zu denen in der Oberen entsetzlich waren („Das war gleichsam ein anderer Menschenschlag – satt, gepflegt arrogant²⁴), klingt an anderer Stelle an, dass Breschnew vermutlich eine recht sorglose Kindheit hatte: „Kindheit ist Kindheit. Hier am Dnepr ist uns alles eitel Freude gewesen: Wir rannten den Steilhang hinunter, badeten, schwammen zur Insel hinüber."²⁵ Der Biograph John Dornberg vermutete, dass Fußball wohl eins der Hauptvergnügen von Leonid gewesen sei, da dies ein für Arbeiter erschwinglicher Sport war. Auch das eine Automobil, das es in der Stadt gab und das dem Notar gehörte, habe vermutlich gehörigen Eindruck auf Leonid gemacht, der später selbst ein Autonarr werden sollte.²⁶

    Während Leonids Vater tagsüber im Werk war, kümmerte sich die Mutter ganz um die Familie und den Haushalt. In die Untergrundaktivitäten der Bolschewiki und die 1905er Revolution in Kamenskoje scheint Leonids Vater nicht verwickelt gewesen zu sein. Breschnews „Erinnerungen suggerieren zwar, dass Kamenskoje ein Zentrum der Bolschewiki gewesen sei, müssen aber selbst eingestehen, dass Breschnews Vater nichts mit ihnen zu tun hatte: „Mein Vater z.B. gehörte weder der Partei der Bolschewiki noch einer anderen an, unterstützte jedoch seit den ersten Tagen der Revolution aktiv die Bolschewiki.²⁷ Breschnews Eltern standen nicht nur den Revolutionären nicht nahe, sie waren offenbar auch gläubig, ließen ihre Kinder, wie es damals üblich war, taufen, und hängten in der Wohnung mehrere Ikonen auf.²⁸

    Wir wissen nicht genau, wie Leonid auf das Gymnasium vorbereitet wurde: ob er die Fabrikschule besuchte, von einem Hauslehrer unterrichtet wurde – was sich die Breschnews mutmaßlich nicht leisten konnten – oder von seiner Mutter angeleitet wurde. Seine Nichte Ljubow Breschnewa schreibt, er habe ab 1913 die Gemeindeschule besucht.²⁹ Um im Gymnasium aufgenommen zu werden, mussten die Jungen lesen, schreiben und rechnen können, ein Diktat bestehen und ein Gedicht aufsagen. Die Anforderungen auf dem Gymnasium waren hoch: Unterrichtet wurden Latein, Deutsch, Französisch, Russische Literatur und Grammatik, Geschichte der Antike, der Neuzeit und Russlands, Biologie, Chemie, Physik, Mathematik, Geographie und Kunst.³⁰ Zum Mythos des Generalsekretärs – wie überhaupt jedes Kommunisten – gehört es, ein sehr guter, wissbegieriger, unersättlicher Schüler gewesen zu sein. In Breschnews „Erinnerungen heißt es lapidar: „Ich lernte gut (…).³¹ Eine wahre Eloge hat dagegen sein ehemaliger Lehrer Josef Sacharowitsch Schtakalo geschrieben, der Breschnew 1980 nicht nur als besten Schüler lobte, sondern auch behauptete, Breschnew habe bei der Entwicklung des Lehrplans und von Lektürelisten mitgewirkt, für ihn sei das Prädikat „mit Auszeichnung" wieder eingeführt worden und er habe als Schüler seinem Lehrer vorausgesagt, dass dieser seinen Weg als Wissenschaftler machen werde.³²

    Eher glaubwürdig erscheinen da die Angaben des jüdischen Emigranten Natan Krugljak, der berichtet, Leonid sei kein guter Schüler gewesen und habe sich mit dem Lernen sehr schwergetan. Einzig Mathematik scheine ihm gelegen zu haben, während er besonders mit den Fremdsprachen gehadert habe. Er sei zudem ein ruhiger Junge gewesen, der seine Gedanken für sich behalten habe.³³ An den üblichen Hänseleien und Schikanen gegenüber den jüdischen Mitschülern habe er sich nicht beteiligt, habe sich aber auch nicht für Letztere eingesetzt.³⁴ Von Breschnews Vater berichtete dagegen der Jude Abram Grigorjewitsch Tschernjak, dass dieser ihm und seinen drei Brüdern in den Jahren des Bürgerkriegs mehrfach Unterschlupf gewährte, damit sie sich vor Pogromen retten konnten.³⁵ Dies scheint eine der politischsten Handlungen von Ilja Breschnew gewesen zu sein. Außerdem soll er sich an den Fabrikstreiks für höhere Löhne im Juli 1915 sowie im Januar und März 1916 beteiligt haben:³⁶ Es sieht so aus, als habe er beide Male eher aus einem Gerechtigkeitsempfinden oder auch christlicher Nächstenliebe heraus gehandelt, als um etwas Revolutionäres zu tun.

    Nach allem, was wir wissen, wuchs Leonid Breschnew also in einem bescheidenen Arbeiterhaushalt auf, der von der liebevollen Fürsorge der Mutter und der Vorstellung, durch Bildung den sozialen Aufstieg zu schaffen, geprägt war. Seine Eltern erzogen ihn offenbar als braven, gläubigen Untertanen, der es zu einem bürgerlichen Dasein bringen sollte. Breschnew wäre wahrscheinlich ein durchschnittlicher, vollkommen unpolitischer Ingenieur geworden, der es vielleicht zu einer kleinen Villa in der Oberen Siedlung gebracht hätte. Doch das selbstgenügsame Streben nach Bildung und Bürgerlichkeit fand 1917 ein abruptes Ende.

    Die Welt aus den Fugen: Revolution und Bürgerkrieg 1917–1920

    Das Narrativ eines überzeugten Bolschewiken verlangt, dass die Oktoberrevolution 1917 nicht nur als historische Zäsur dargestellt wird, sondern auch als entscheidende Wende im eigenen Leben: weg von Elend, Ausbeutung und Gewalt, hin zu Kampf, Befreiung und einer lichten Zukunft. Es ist sehr auffällig, dass diese entscheidenden Momente in Breschnews „Erinnerungen fehlen und sein literarisches Ich sich nur sehr allgemein zum Sieg der Bolschewiki äußert: „Ich möchte es noch einmal betonen: unsere Stadt war eine Arbeiterstadt; ihre Einwohner waren in der Mehrheit Arbeiter. Daher betrachteten wir die proletarische Revolution als die unsrige, ebenso die Partei der Bolschewiki und die Sowjetmacht!³⁷ Diese Sätze klingen bereits so, als müssten sie Zweifel zerstreuen; üblicherweise muss nämlich nicht erst abgeleitet bzw. erläutert werden, dass Proletarier natürlich die Bolschewiki begrüßten.

    Was Leonid Breschnew selbst 1917 machte, wird in seinen Erinnerungen nicht erwähnt. Das kann zwar damit erklärt werden, dass er im Oktober 1917 erst kurz vor seinem elften Geburtstag stand und zu jung für revolutionäre Aktivitäten war; doch gibt es andererseits genügend Berichte von Jugendlichen in diesem Alter, die von zu Hause wegliefen, zu den Bolschewiki gingen und mit diesen im Bürgerkrieg kämpften. Breschnew tat das nicht und erwog offenbar auch zu keinem Zeitpunkt, sich den Bolschewiki anzuschließen, denn sonst hätten uns das seine Biographen unbedingt wissen lassen. Tatsächlich deutet alles darauf hin, dass er nicht nur kein begeisterter Bolschewik war, sondern dass deren Sieg seine kleine, relativ heile Welt zerstörte und ihn mit Armut, Gewalt, Hunger und Krankheit konfrontierte. Diese neue Lage machte eher seinen frühen Tod wahrscheinlicher, als dass sie ihm Gelegenheit gegeben hätte, aus ihr als siegreicher, für die neue Ordnung kämpfender Bolschewik hervorzugehen.

    Die Zeit von 1917 bis zum Beginn seines Studiums am Landwirtschaftlichen Technikum in Kursk 1923 erscheint als eher traumatische Phase, mit einem Tiefpunkt im Jahr 1921, als die gesamte Familie Breschnew offenbar erkannte, dass sie in Kamenskoje kein Auskommen mehr haben würde, und daher die Stadt verließ, um in die Heimat von Vater Ilja Breschnew zurückzukehren. Immerhin wird in Breschnews Erinnerungen angedeutet, dass die Periode des Bürgerkriegs 1918–1920 und die darauf folgende Hungersnot eine schwere Zeit war. Doch die Not kann nur in dem Maße überhaupt eingeräumt werden, wie Feinde von außen und innen für sie verantwortlich gemacht werden können: „Die Arbeiter des Dnepr-Werkes hatten es damals nicht leicht: Die Macht der Zentralrada wurde von den deutschen Truppen abgelöst, nach ihnen erschien Petljura. Im Januar 1919 vertrieb ihn die Reiterei der Roten Armee aus Kamenskoje, doch ein halbes Jahr später kamen die Weißen und danach die Machno- und Grigorjew-Banden. Allerlei Pack kroch ans Tageslicht."³⁸ Tatsächlich brachten die Roten Garden der Bolschewiki nicht weniger Schrecken und Gewalt als die oppositionellen „weißen Truppen und die Bauernanführer mit ihren Banden. Für die Einwohner von Kamenskoje war kaum zu unterscheiden, wer gerade die Stadt beherrschte, wer plünderte, vergewaltigte, Juden mordete und „Strafaktionen durchführte: Zwischen Januar 1918 und Dezember 1920 wechselte die Macht in der Stadt mehr als 20 Mal.³⁹

    Entgegen der Darstellung in Breschnews Erinnerungen war die Zeit unter deutscher Besatzung von April bis November 1918 vermutlich sogar die ruhigste. Bereits im Juni 1917 hatte sich die Ukraine unter der Zentralrada, dem aus verschiedenen, hauptsächlich revolutionären Parteien gebildeten Zentralrat, für unabhängig erklärt. Doch Ende 1917 musste dieser den vorrückenden Truppen der Bolschewiki weichen, die ihren Sieg zum Anlass nahmen, ein erstes Mal Kamenskoje zu plündern und ihre politischen Gegner zu exekutieren.⁴⁰ Nach dem Friedensschluss von Brest-Litowsk am 3. März 1918 mussten die Bolschewiki die Ukraine aufgeben; die deutschen und österreichisch-ungarischen Truppen setzten die Zentralrada wieder ein und zogen erst nach der Kapitulation im November 1918 ab. Während Dornberg davon spricht, die Okkupanten hätten die Revolutionäre massenhaft hingerichtet, schreibt der Kamenskojer Arbeiter M.A. Morosow, es sei zu keinen Ausschreitungen gekommen.⁴¹

    Doch auch dieses erste Jahr nach der Revolution war schwer; Morosow nennt es das „Jahr des Grauens und der Not": Das Dneprhochwasser überflutete die Straßen, die Lebensmittelpreise stiegen von einst wenigen Kopeken auf mehrere Rubel und im April wurde der letzte Hochofen stillgelegt und alle Arbeiter der Fabrik nach Hause geschickt; Elektrizität und fließend Wasser gab es nirgends mehr.⁴² Aber die volle Wucht seines Schreckens entfaltete der Bürgerkrieg in Kamenskoje erst zwischen Mai und Dezember 1919. Am 11. Mai floh der Kamenskojer Sowjet in Panik, als der einst für die Bolschewiki kämpfende, nun abtrünnige und als besonders gewalttätig berüchtigte Nikifor Alexandrowitsch Grigorjew mit seinen 16.000 Mann in die Stadt einfiel und sowohl Bolschewiki als auch Juden wahllos ermordete.⁴³ Der Kampf um Kamenskoje, den Grigorjew auch mit einem von ihm erbeuteten Panzerzug führte, endete erst am 19. Mai. Zu diesem Zeitpunkt war das Brot auf anderthalb Pfund für zwei Tage pro Person rationiert worden; auf dem Markt kostete es bis zu zehn Rubel.⁴⁴ Die Bolschewiki kehrten nach Kamenskoje zurück und verfügten eine erste Mobilmachung unter den Arbeitern, die in den Kampf gegen den General der Weißen Armee, Anton Iwanowitsch Denikin, nach Jekaterinoslaw geschickt wurden, aber sofort flohen bzw. aufgerieben wurden.⁴⁵

    Am 5. Juni rückten weiße Kuban-Kosaken in Kamenskoje ein, plünderten die jüdischen Läden, ermordeten Juden und erschossen mehrere Vertreter der Sowjetmacht, darunter auch den Vorsitzenden des Kamenskojer Sowjets Michail Arssenitschew, nach dem später das Institut benannt werden sollte, an dem Breschnew studierte.⁴⁶ Kaum hatten die Bolschewiki die Stadt zurückerobert, fiel am 6. Juli Denikin mit seinen Truppen ein, konnte aber am 12. wieder von den prosowjetischen Truppen unter Pawel Jefimowitsch Dybenko und Nestor Machno vertrieben werden. Rote Truppen plünderten die Obere Siedlung, durchsuchten Tag und Nacht Häuser und richteten mehrere Ingenieure der Fabrik hin. Die Bolschewiki verfügten eine Zwangsrekrutierung der Arbeiter; die Fabrik, die eine Notproduktion eingerichtet und auch mehrere Panzerzüge Trotzkis ausgestattet hatte,⁴⁷ sollte endgültig geschlossen, demontiert und hinter den Ural gebracht werden. Die Zeitungen verkündeten, der „Rote Terror werde umgesetzt; jeder, der sich weigere, die Fabrik zu demontieren und zu verladen, werde erschossen. Damit provozierten die Bolschewiki fast einen Aufstand unter den Arbeitern, die weder ihre Fabrik aufgeben noch kämpfen wollten; 20 Arbeiter wurden als „Konterrevolutionäre exekutiert.⁴⁸

    Nur 20 Tage später, am 26. Juli, eroberten Denikins Truppen erneut Kamenskoje und nahmen ihrerseits Arbeiter als „Kollaborateure" fest, um sie zu foltern.⁴⁹ Denikin konnte sich diesmal bis Ende Dezember in der Stadt halten, aber es gab immer wieder Überfälle insbesondere der inzwischen abtrünnigen Truppen Machnos, der Grigorjew umgebracht und dessen Männer in seine Armee eingegliedert hatte.⁵⁰ Sein Hauptquartier war Jekaterinoslaw, von wo aus er häufig in Kamenskoje einfiel, plünderte, mordete und wieder verschwand.⁵¹ Im Oktober 1919 kam die Fabrik endgültig zum Stillstand; die Arbeiter bekamen keinen Lohn mehr und mussten ihren Hausstand gegen Lebensmittel eintauschen, wollten sie überleben. Eine Flasche Milch kostete nun 170 Rubel, das Pfund Brot bald 500 Rubel.⁵² Am 18. Dezember gaben die Weißen Truppen angesichts der Übermacht der Roten Armee Kamenskoje auf und flohen.⁵³

    Wir wissen nicht, was genau die Breschnews in dieser Zeit machten, nur dass sie in der Stadt waren und all das miterlebten. Wir wissen nicht, ob Breschnews Vater zu den Zwangsrekrutierten gehörte, wie er sich zur Evakuierung der Fabrik verhielt, ob er in Verdacht geriet, mit Denikins Leuten zu kooperieren, oder von diesen für einen Kollaborateur gehalten wurde. Wir wissen nur, dass er und seine Familie den Bürgerkrieg überlebten, er 1917 Schichtleiter wurde und vermutlich an der Montage zweier Panzerzüge mitarbeitete.⁵⁴

    Das Jungengymnasium wurde unter den Bolschewiki 1919 in Erste Werktätigenschule umbenannt, die Zarenporträts waren bereits vorher verschwunden und 1919 folgten auch die Ikonen.⁵⁵ Aber die Veränderungen blieben nicht nur äußerlich: Wenn ein Angriff auf die Stadt durch Truppenverbände oder Bauernbanden drohte, läuteten die Glocken zur Warnung und die Schule fiel aus.⁵⁶ Anders als Breschnew schlossen sich einige Klassenkameraden den Roten oder Weißen Garden an und kehrten zurück, um mit ihren ehemaligen Lehrern abzurechnen: Der orthodoxe Priester Konstantin, der auch im Hause Breschnew ein und aus gegangen war und Leonid am Gymnasium unterrichtet hatte, wurde Anfang 1918 von den Bolschewiki erschossen; seinen Nachfolger exekutierte Ende Dezember 1918 ein Klassenkamerad Breschnews, der sich den Weißen angeschlossen hatte.⁵⁷ Ein weiterer Mitschüler, der unter Denikin kämpfte, ritt im Juli 1919 mit diesem in Kamenskoje ein, schleifte seinen ehemaligen Russischlehrer zum Fluss und erschoss ihn dort.⁵⁸ Ähnliche Exzesse, die Leonid wahrscheinlich mitbekam, gab es auch an der Mädchenschule: Die ehemalige Schülerin Sjonka Mischuk hatte sich den Bolschewiki angeschlossen und arbeitete als Henkerin für die Tscheka. In einer Nacht erschoss sie rund 50 Menschen; ihren ehemaligen Schulleiter Spiridon Moros und seine Frau Anna exekutierte sie in aller Öffentlichkeit auf dem Marktplatz.⁵⁹

    Wie Biograph Paul Murphy vermutet, lebten die Breschnews wahrscheinlich ständig in Angst vor Überfällen, Exekutionen und Willkür.⁶⁰ Doch das Schlimmste stand ihnen noch bevor. Nach dem Ende des Bürgerkriegs der Roten Armee gegen die Weißen Truppen Ende 1920 setzten die Bolschewiki den Kampf gegen die aufständischen Bauern fort. Er endete 1921/22 in einer Hungerkatastrophe, die ca. fünf Millionen Tote forderte. Die Lehrer bekamen vom Staat kein Gehalt mehr und forderten als Bezahlung für den Unterricht von den Eltern Essen und Kleidung. Es gab weder Schreibpapier noch Heizmaterial. Im Winter 1920/21 standen die Schüler während des Unterrichts und stampften mit den Füßen auf, um sich ein wenig aufzuwärmen. Unter diesen Bedingungen breitete sich eine Typhusepidemie aus, die neun von zehn Schülern erfasste. Während viele Schüler an der Krankheit starben, überlebte Breschnew und kehrte nach langer Fehlzeit vollkommen abgemagert in die Schule zurück. Im Frühjahr 1921 erlaubte die Schulleitung Lehrern und Schülern, barfuß zu erscheinen, da die wenigsten noch Schuhe besaßen. Nicht nur Breschnew, auch der Schulleiter Schtakalo ging nun barfuß zum Unterricht.⁶¹ Im Sommer 1921 erhielt Breschnew nach sechs Jahren Gymnasium bzw. Werktätigenschule sein Abschlusszeugnis. Höhepunkt der Feier soll gewesen sein, dass die Schüler zur Tasse heißen Wassers ein Stück Zucker erhielten.⁶²

    Auch in Breschnews „Erinnerungen" wird geschildert, wie entbehrungsreich diese Zeit war:

    Gerade in diesen Jahren, also 1921/22, brachen Dürre und Hungersnot auch über die Ukraine herein. Im gesamten Raum Jekaterinoslaw verdorrten die Saaten. Der Arbeiter erhielt pro Tag ein halbes Pfund Brot, jedoch nicht immer. (…) Die Menschen fuhren in die umliegenden Dörfer, tauschten alles, was sie konnten, gegen Lebensmittel ein. (…) Unsere Familie zeichnete sich nicht durch derartigen Unternehmungsgeist aus, überdies hatten wir, wie es sich herausstellte, nichts, was zum Tausch dienen konnte.⁶³

    Glaubt man allerdings den Erzählungen von Breschnews Klassenkameradem Krugljak, dann gehörte Breschnews Mutter durchaus zu den meschokniki, denjenigen, die in einen Sack (russ. meschok) etwas von ihrem Hausstand einpackten und sich damit auf eine lange, beschwerliche, nicht ungefährliche Reise mit dem Zug bis nach Kiew machten, um dort Lebensmittel für die Familie einzutauschen.⁶⁴ Bedenkt man, dass die Breschnews vor 1917 in bescheidenem Maße versucht hatten, ein kleinbürgerliches Leben zu führen, dann ist es wahrscheinlich, dass es ein paar Gegenstände – und sei es nur den Sonntagsstaat – gab, welche die Mutter tauschen konnte. Es ist zudem denkbar, dass Breschnews Vater, nachdem die Fabrik endgültig stillgelegt war, Werkzeug und Material mitgehen ließ, um das Überleben seiner Familie zu sichern. Die Plünderung des eigenen Werks geschah aus der nackten Not heraus und war durchaus eine weitverbreitete Praxis, wie es selbst in Breschnews „Erinnerungen" heißt, auch wenn dort abgestritten wird, dass sich Breschnew senior daran beteiligt hat.⁶⁵ Rettung kam letztlich aus dem Ausland: Die Hoover Relief Administration, die US-amerikanische Hungerhilfe, erreichte mit ihren Hilfslieferungen schließlich auch Kamenskoje.⁶⁶

    Flucht aus Kamenskoje 1921

    Während kein Zweifel daran besteht, dass Leonid im Sommer 1921 die Schule beendete, gibt es gleich drei Versionen darüber, was sich daran anschloss: der Einstieg ins Arbeitsleben als Metallarbeiter in der Fabrik; die Teilnahme an dem improvisierten polytechnischen Unterricht, den ein zurückgekehrter, arbeitsloser Ingenieur im stillliegenden Werk organisierte; oder die Flucht nach Kursk und die Aufnahme einer Aushilfstätigkeit als Packer, um irgendwie ein Auskommen zu finden. Für den „idealen sowjetischen Lebenslauf war es entscheidend, nicht nur einen Arbeiter als Vater zu haben, sondern auch selbst schnell ein waschechter Proletarier zu werden. Und so wird in Breschnews „Erinnerungen behauptet, gleich nach dem Schulabschluss sei er – so wie sein Vater – Arbeiter in der Fabrik geworden:

    „Ein denkwürdiger Tag in meinem Leben brach an. Ich wurde mit 15 Jahren Arbeiter. (…) Jetzt galt es zu arbeiten, der Familie zu helfen; ich wurde im Werk als Heizer eingestellt, dann als Schlosser eingesetzt und eignete mir ziemlich rasch die Kenntnisse für beide Berufe an."⁶⁷

    Das jedoch kann nicht stimmen, denn das große Metallwerk stand seit 1919 mangels Nachschub an Kohle und Eisenerz bis 1925 still.⁶⁸ Dagegen wird von Schulkamerad Krugljak und anderen bezeugt, dass in dieser tristen Zeit der nach dem Bürgerkrieg zurückgekehrte Ingenieur Petrow im verödeten Werk eine Art polytechnische Schule für die arbeitslose Jugend improvisierte. Der Unterricht habe in dem Verwaltungsgebäude der Fabrik stattgefunden; als Material hätten die Zeichnungen und Blaupausen der Fabrik gedient; den praktischen Teil hätte man auf dem Fabrikgelände absolviert, indem Petrow z.B. mit seinen Zöglingen durch die erkalteten Hochöfen gekrochen sei.⁶⁹ Allerdings stützt sich diese Aussage offenbar allein auf die Erinnerung Krugljaks, der angibt, diesen selbstorganisierten Kurs zusammen mit Breschnew besucht zu haben.

    In verschiedenen Personalbögen dagegen, die Breschnew 1929 und 1949 eigenhändig ausfüllte, gab er an, von September 1921 bis Juni 1926 als Lastenträger in einer Speiseölfabrik in Kursk gearbeitet und beim Abladen von Holz und Getreide geholfen zu haben.⁷⁰ Neben diesen tabellarischen Darstellungen gibt noch einen ausformulierten Lebenslauf, in dem Breschnew schreibt: „Mein Arbeitsleben beginnt 1921 mit der Anstellung in der Kursker Speiseölfabrik in der Eigenschaft als Arbeiter und Lastenträger (…)."⁷¹ Die Museumsleiterin von Kamenskoje, Natalja Bulanowa, gibt sogar an, Ilja Breschnew habe seine Familie schon 1920 nach Kursk evakuiert, um sie vor dem Hunger zu retten. Danach wäre Leonid bis zum Abschluss der Schule allein in Kamenskoje geblieben und seiner Familie im Sommer 1921 gefolgt.⁷²

    Noch eine weitere Version gab Breschnew später selbst im Parteipräsidium zum Besten: Er sei nach Abschluss der Schule nach Moskau geflohen, habe aber die Stadt sofort wieder „aufgegeben" und sei in eine Fabrik zum Arbeiten gefahren.⁷³ Auch dem indischen Diplomaten T.N. Kaul erzählte er 1962 scherzend, er sei 1921 von zu Hause abgehauen; allerdings nicht nach Moskau, vielmehr habe er nach Indien gewollt. Doch sein Vater habe ihn zurückgeholt und ihn auf der Diplomatenschule unterbringen wollen, er aber habe sich für das Ingenieurswesen entschieden.⁷⁴ Das klingt einigermaßen abenteuerlich, aber immerhin hat Breschnew verbürgt an zwei Stellen geäußert, er sei mit 15 weggelaufen und sein Vater habe ihn, offenbar nach Kursk, zur Familie geholt. Allem Anschein nach entspricht es also nicht der Wahrheit, wenn Krugljak berichtet, er habe zusammen mit Breschnew die polytechnischen Kurse des Ingenieurs Petrow besucht, und die Behauptung, der spätere Generalsekretär sei im Alter von 15 Jahren Stahlarbeiter geworden, kann mit großer Sicherheit in das Reich der Mythen verwiesen werden.

    Es ist kaum erstaunlich, dass Breschnews immerhin fast fünfjährige Tätigkeit als Packer in keiner offiziellen Biographie erscheint: Dies war eine Hilfsarbeit, der nichts Heroisches für die Biographie eines echten Bolschewiken abgewonnen werden konnte. Packer durfte man vor der Revolution in einem ausbeuterischen Verhältnis sein, von dessen Fesseln man sich 1917 befreite; aber in den 1920er Jahren war „man echter Proletarier, Funktionär oder Student. Bei der Tätigkeit als Lastenträger war nicht zu kaschieren, was sie wirklich war: ein aus der Not geborener Job, den Breschnew brauchte, um sich und wahrscheinlich auch seine Familie zu ernähren, und den er auch dann noch beibehielt, als er 1923 sein Studium an der „Fachschule für Flurneuordnung und Melioration in Kursk aufnahm. Seine Geschwister wurden in Kursk eingeschult; für den Unterhalt der Familie sorgten vermutlich Leonid und sein Vater, der hier eine Anstellung in der Kabelfabrik fand, bevor er 1925 nach Kamenskoje in das wieder in Betrieb genommene Metallwerk zurückkehrte.⁷⁵

    Breschnews „Memoiren verschweigen nicht, dass die Familie wegen der Hungersnot Kamenskoje verlassen hatte, aber der Zeitpunkt wurde von den Ghostwritern um ein Jahr nach hinten verlegt, damit Leonid noch Arbeiter werden konnte: „Krankheiten brachen aus, die Menschen hungerten, jeden Tag starb jemand in der Nachbarschaft. Die Stadt verödete, auch wir mußten fort.⁷⁶ Was in Breschnews Memoiren als der Beginn „seiner Achtung vor der Landarbeit" motiviert wird,⁷⁷ war aus der schieren Not geboren. Bedenkt man, dass Leonid im Sommer 1921 in Kursk eintraf und erst 1923 sein Studium aufnahm, dann vergingen zwei Jahre, in denen er als Packer arbeitete und entweder nicht wusste, was er sonst machen sollte, oder keine andere Betätigung bzw. keinen Studienplatz fand – wir wissen es nicht. Offenbar stand nach wie vor das nackte Überleben an erster Stelle.

    Laienschauspieler, Hobbydichter, Student 1923–1927

    Die Lage besserte sich im Sommer 1922, die Handelsfreigabe im Zuge der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) zeigte ihre Wirkung, Märkte entfalteten erneut ein buntes Treiben, Läden und Cafés öffneten wieder, und viele Menschen schöpften Hoffnung und glaubten, die Katastrophen seien vorbei und das Leben werde wieder wie vor Weltkrieg, Revolution und Bürgerkrieg seinen Gang nehmen. Es ist daher nicht auszuschließen, dass auch der junge Breschnew mit seinen 17 Jahren von einem anderen Leben träumte, in dem sein Traum, Schauspieler zu werden, in Erfüllung gegangen wäre.⁷⁸

    Das Foto, das ihn als Laiendarsteller zeigt, stammt aus dem Jahr 1924, aber ab wann er Theater spielte, ist nicht bekannt. Von seiner Begeisterung für Drama und Poesie wissen wir nur durch seine späteren Mitarbeiter, denen er erzählte, dass er in seiner Jugend in der „Blauen Bluse" spielte, einer Agitationstheater-Bewegung, die 1923 in Moskau entstanden war. Seinem Assistenten Anatoli Tschernjaew vertraute er später an, er habe sich sein Studium in Kursk u.a. als Statist am örtlichen Theater finanziert.⁷⁹ Mit seinem Schauspieltalent unterhielt er auch in den 1960er und 1970er Jahren noch seine Mitarbeiter, wenn er auf dem Jagdsitz Sawidowo auf einem Stuhl stehend das Gedicht „Anna Snegina seines Lieblingsdichters Sergei Jessenin oder Dmitri Mereschkowskis Ballade „Sakja Muni auswendig rezitierte.⁸⁰ In den 1960er Jahren umgab er sich auch gern mit Schauspielern. Wenige Tage vor dem Sturz Chruschtschows sagte er in solch einer Runde: „Nein, wozu auf mich trinken, wir trinken auf die Künstler. Was sind Politiker schon, heute sind wir da und morgen schon verschwunden. Aber die Kunst ist ewig. Trinken wir auf die Künstler!"⁸¹

    Breschnew dichtete in seinen jungen Jahren auch selbst. Von einem Journalisten, dem im Jahr 2001 Zugang zu Breschnews Nachlass im Präsidentenarchiv gewährt wurde, wissen wir, dass sich dort eins seiner Gedichte aus dem Jahr 1927 befindet. Interessanterweise wird es in Breschnews „Erinnerungen „Heimatliebe einer Kommilitonin zugeschrieben.⁸² Breschnew verfasste es anlässlich der Ermordung des sowjetischen Botschafters Waclaw Worowski, der 1923 in Lausanne von einem Weißgardisten erschossen worden war. Biograph Leonid Mletschin, der uneingeschränkten Zugang zu Breschnews Bestand hatte, zitiert in seinem Buch das Gedicht in voller Länge, mit allen orthographischen Fehlern. Die Verse wirken linkisch und holprig, sind gleichwohl voller Pathos, das den gewaltsamen Tod des sowjetischen Botschafters, der ohne Frack und Blendwerk für die gerechte Sache der jungen Sowjetunion eintrat, zum Heldentod verklärt:

    (…) In den Saal trat im Lärm der Gespräche Worowski

    Delegierter der U.S.S.R.

    Shockling! [gemeint ist wohl: Shocking!] Kulturverfall, kein Lack

    In der herausgeputzten Gesellschaft Getuschel und Lärm

    Wie konnten Sie hier ohne Frack erscheinen

    Ohne Zylinder ist er ein ‚Bauer‘ [muschik]

    (…) Am Morgen im Hotel der Firma Astria [richtig: „mit dem Namen Astoria"]

    Ist unser Botschafter ermordet von des Mörders Hand

    Und im Buch der großen rusländischen [sic!] Geschichte

    Ist noch ein Opfer hinzugekommen!!!⁸³

    Immerhin streitet Breschnews literarisches Ich keineswegs ab, dass er sich für Poesie begeisterte; allerdings wird diese Leidenschaft in politisches Engagement verpackt:

    Die Belange des Landes waren unsere Belange, wir träumten von der hellen Zukunft für die ganze Menschheit, lärmten, diskutierten, verliebten uns, rezitierten Gedichte und dichteten selbst. Wir hielten uns nicht für Kenner der Poesie, sondern uns ging bei den Gedichten die Aktualität, die politische Aussage über alles. Und wir hatten unsere eigenen Dichter, Dichter des Komsomol.⁸⁴

    Vermutlich war Breschnew selbst einer dieser Jugenddichter, aber seine Biographen hielten es nicht für opportun, den Generalsekretär als jugendlichen Schwärmer mit dilettierender Feder darzustellen; weder ungelenke Verse noch Schauspielversuche zeichneten in der Sowjetunion einen ernstzunehmenden Parteiführer aus. Immerhin wissen wir von Breschnews Ghostwritern, dass er in Kursk einer Lesung des gefeierten Revolutionsdichters Wladimir Majakowski beiwohnte und womöglich genauso begeistert war, wie es hier beschrieben wird, wenn auch vielleicht weniger wegen der politischen Botschaften als aus Leidenschaft für diesen Mann und seine Kunst.⁸⁵

    Es ist nicht bekannt, warum sich Breschnew letztlich im Jahr 1923 zu einem landwirtschaftlichen Studium entschloss. Aus dem Jahr 1927, als er das Technikum abschloss, existiert ein Foto, das ihn in der Studentenuniform mit Kittel und Schirmmütze zeigt.

    Seine Memoiren behaupten, dass die Studienwahl aus Achtung vor der Landarbeit und dem Brot erfolgte. Tatsächlich wurde es später in seiner Karriere für ihn zu einem eindeutigen Pluspunkt, dass er sowohl Experte für die Landwirtschaft als auch Industrie-Ingenieur war und damit beide für die Sowjetunion entscheidenden Sparten abdeckte. Im Jahr 1923 stand hinter der Entscheidung aber vermutlich einfach der Mangel an Alternativen oder auch die Erfahrung des Bürgerkriegs, dass es das Überleben sichern konnte, wenn man sich mit dem Ackerbau auskannte.

    Gleichzeitig trat Breschnew in den Komsomol, die Jugendorganisation der Bolschewiki, ein.⁸⁶ Er war bereits 17 Jahre alt und damit eigentlich zu alt. Außerdem widerspricht das relativ hohe Alter seiner angeblichen Begeisterung für die Bolschewiki: Als überzeugter Kommunist hätte er bereits mit 14 Jahren Komsomolze werden müssen.⁸⁷ Biograph Murphy urteilte daher auch, dass Breschnew aus reinen Karrieregründen der Organisation beitrat.⁸⁸ Man muss Breschnew nicht Opportunismus unterstellen, aber eine pragmatische Entscheidung war es wohl in jedem Fall, denn ohne Mitgliedschaft im Komsomol oder der Partei bestand nur eine geringe Chance, einen Studienplatz zu bekommen. Rätsel gibt auch die Frage auf, warum Breschnew 1924 nicht wie viele andere junge Kommunisten dem „Lenin’schen Aufruf " folgte, zu Ehren des verstorbenen Parteiführers in die Partei einzutreten.⁸⁹

    Anlass zu Spekulationen bot darüber hinaus, dass Breschnew, als er endlich am 9. Oktober 1929, im Alter von fast 23 Jahren, den Antrag auf Parteimitgliedschaft stellte,⁹⁰ in seine Kaderakte als sozialen Status „Angestellter eintrug. Als solcher musste er nun zwei Jahre lang Kandidat sein und konnte nicht wie ein Arbeiter bereits nach einem halben Jahr Vollmitglied werden.⁹¹ Biograph Awtorchanow geht daher so weit zu behaupten, Breschnew und auch sein Vater hätten „als Angestellte nie körperliche Arbeit geleistet.⁹² Das ist aufgrund der oben angeführten Fakten eindeutig falsch. Auch 1949 gab Breschnew in seinem Personalbogen als sozialen Status „Angestellter an, als Herkunft seiner Eltern jedoch „Arbeiter.⁹³ Die Erklärung der Statusangabe ist relativ simpel, denn 1929 arbeitete Breschnew bereits als Landneuordner und war daher „Angestellter.⁹⁴ So steht es denn auch im Protokoll der Sitzung des Parteibüros der Stadt Bissert: „Breschnew Leonid Iljitsch (Sowjet-Zelle) aufnehmen mit einem zweijährigen Kandidatenstatus als Angestellten-Spezialisten, der an der Gesellschaftsarbeit aktiv teilnimmt.95

    Es bleibt also festzuhalten, dass Breschnew offenbar ein relativ instrumentelles Verhältnis zu Komsomol und Partei hatte. Anders als politisch engagierte Kommilitonen bemühte er sich während seiner Zeit am Technikum in Kursk offenbar nicht um Ämter in den Hochschulgremien oder fiel sonst irgendwie durch politische Aktivitäten auf. Sein Leben scheint aus Studium, Jobben als Packer und Freizeitvergnügen wie Schauspielern und Dichten bestanden zu haben.

    In dieser Zeit (1923–1927) lernte er auch seine Frau Viktorija Petrowna Denissowa kennen, die in Kursk als eins von fünf Kindern eines Lokführers zur Welt gekommen und entgegen allen Spekulationen keine Jüdin war.⁹⁶ Er forderte sie 1925 im Studentenwohnheim zum Tanz auf:

    Wie hätte er mir nicht gefallen können?! Schlank, mit schwarzen Augenbrauen, die Haare wie Teer so dick. Man konnte ihn an den Augenbrauen aus der Ferne erkennen. Seine Augen waren groß, braun, leuchtend. Damals kamen Tänze in Mode. Aber Leonid Iljitsch konnte nicht tanzen, und ich habe es ihm beigebracht: Walzer, Pas d’Espagne, Polka … Ich tanzte gut. Wir gingen zusammen ins Theater, immer in den letzten Rang und immer mit Freunden. Ins Kino zur letzten Vorstellung, weil da die Karten günstiger waren. Und samstags unbedingt in den Club, zum Tanzen.⁹⁷

    Abb. 3: Breschnew, 5. v. l., im hellen Hemd, Bildmitte, als Student des Technikums in Kursk in Studentenuniform mit Studentenschirmmütze, 1927.

    Sie studierte am medizinischen Technikum in Kursk, das sie als Hebamme abschloss. Im März 1928, als Leonid in den Ural versetzt wurde, hielt er endlich um ihre Hand an, ganz umstandslos, wie es damals in der profanen Sowjetunion üblich war: „Lass uns doch heiraten".⁹⁸ Die Behauptung Wladimir Semitschastnys, des später von Breschnew abgesetzten KGB-Chefs, Breschnew habe schon in seinen Studentenjahren „keinen Rock ausgelassen" und Viktorija Petrowna nur deshalb geheiratet, weil ihre Mutter mit einem Skandal drohte,⁹⁹ ist schwer zu überprüfen. Vermutlich ist es nur böse Nachrede, vielleicht wohnt ihr auch ein wahrer Kern inne. Immerhin wurde aus der Ehe eine verlässliche Beziehung: Am 26. März 1978 feierten Leonid und Viktorija Goldene Hochzeit.¹⁰⁰

    Viktorija arbeitete nur anfangs als Hebamme und beschränkte sich bald, um Leonid den Rücken freizuhalten, auf den Haushalt und die zwei Kinder Galina und Juri, die 1929 bzw. 1933 zur Welt kamen. Sie kreierte seine Frisur, stellte ihm seine Kleidung zusammen und kümmerte sich vor allem um die Beschaffung von Lebensmitteln auf den Märkten sowie das Backen und Kochen, das sie erst lernen musste.¹⁰¹ In den schwierigen Zeiten der Kollektivierung war es von Vorteil, dass Breschnew leidenschaftlich gern jagte. Er schoss Auerhähne, Birkhühner, Hasen und Enten.¹⁰² Er soll gesagt haben: „Es ist gut, Wild zu essen, weil darin viele Mikroelemente enthalten sind."¹⁰³ Das junge Paar mietete sich anfangs in der Ortschaft Schemy im Landkreis Michailowsk unweit von Swerdlowsk ein Zimmer in einem Haus, wo auch zwei Freunde unterkamen.¹⁰⁴ Ein Jahr später, im März 1929, zogen sie nach Bissert um und ein weiteres Jahr später, im Februar 1930, nach Swerdlowsk.¹⁰⁵ In Bissert kauften sie ein Pferd, das Breschnew brauchte, um zur Arbeit zu kommen, das sie aber auch für Schlittenpartien nutzten.¹⁰⁶

    Ganz offenbar genossen die Breschnews nach dem Elend des Bürgerkriegs und der Hungersnot einen minimalen Wohlstand, die relative Ruhe und Sicherheit, die sich in den Jahren der NÖP einstellte, und ihr privates Glück. Seine Eltern waren 1925 nach Kamenskoje zurückgekehrt, so dass er, erst im Studentenwohnheim und dann im eigenen Zimmer, ein unbefangenes Leben führen konnte. Und so gibt es einige Indizien dafür, dass Breschnew hier erstmals die Züge zeigte, die später für ihn charakteristisch werden sollten: die Freude an der Jagd, den Hang zum guten Leben, die Tendenz zum „Lebemann" und die Schwäche für Frauen. Eine wie auch immer geartete herausragende politische Karriere war zu diesem Zeitpunkt in keiner Weise abzusehen.

    Flurneuordner in unruhigen Zeiten 1927–1930

    Laut Personalbogen von 1929 und 1949 arbeitete Leonid Breschnew von Juni bis Oktober 1926 als Praktikant im Bezirkskatasteramt der Stadt Orscha in Weißrussland. Sein Studium schloss er ein Jahr später im Mai 1927 ab und im selben Monat trat er eine Stelle als Landneuordner im Amtsbezirk Graiworon an, der dem Gouvernementskatasteramt von Kursk unterstellt war. Hier arbeitete er ein Jahr, bis er im April 1928 dem Bezirkskatasteramt von Swerdlowsk unterstellt und in den Landkreis Michailowsk in den Ural versetzt wurde. Auch hier blieb er nur ein Jahr, denn schon im März 1929 wurde Breschnew in den Landkreissowjet der Werktätigendeputierten gewählt und zum Vorsitzenden der Katasterabteilung des Gebietsexekutivkomitees der Stadt Bissert im Bezirk Swerdlowsk ernannt. Kein Jahr später, im Februar 1930, bestimmte ihn die Swerdlowsker Stadtregierung zum Vorsitzenden des Katasteramts der Stadt Swerdlowsk.¹⁰⁷ Innerhalb von drei Jahren hatte er damit auf vier verschiedenen Posten eine rasante Karriere gemacht. Im September 1930 brach er sie dann plötzlich ab – doch dazu später.

    Zunächst zu der Situation, in der Breschnew seine Laufbahn begann: Das Jahr 1927 markiert den Übergang von der NÖP zur Kollektivierung der Landwirtschaft, der Gründung von kollektiven Großwirtschaften, den Sowchosen und Kolchosen, in denen das Eigentum der Bauern, die oft nur unter Zwang und Gewaltandrohung beitraten, vergemeinschaftet wurde. Es war ein noch verhältnismäßig ruhiges Jahr und Landneuordner war noch ein weitgehend „unschuldiger, unpolitischer Beruf, wohl weder besonders aufregend noch besonders gefährlich. Das änderte sich schlagartig, nachdem Stalin sich im Dezember 1927 auf dem XV. Parteitag mit der Auffassung durchgesetzt hatte, der Übertritt der Bauern zur Kollektivwirtschaft sei nicht mehr als deren freie Wahl zu betrachten, sondern müsse als notwendige Umgestaltung des Dorfes forciert werden. Im selben Monat noch sandte er Männer aus seinem „Innersten Kreis in die Getreideregionen des Landes, damit sie dort persönlich überwachten, dass die staatlich festgesetzten Abgabequoten für Getreide mit Nachdruck durchgesetzt würden. Stalin schickte Wjatscheslaw Molotow in die Ukraine, erklärte ihn Anfang 1928 aber auch für den Ural zuständig.¹⁰⁸ Damit entfesselten Stalin und seine Gefolgsleute einen Kampf und bald regulären Krieg gegen die Bauern, die sie als Verkörperung der Rückständigkeit verachteten und pauschal verdächtigten, Spekulanten und „Kulaken", also wohlhabende, der Sowjetmacht feindlich gesonnene Großbauern, zu sein, die ihr Getreide nicht abliefern wollten.

    Breschnew fand sich somit Anfang 1928 im Alter von 22 Jahren erneut in einem beginnenden Bürgerkrieg wieder. Diesmal war er nicht Opfer, sondern Täter, zumindest Akteur, denn seine Aufgabe war es, das kollektivierte Land neu zu vermessen und als Eigentum der Kollektivwirtschaften einzutragen. Auch in Kursk hatte die Geheimpolizei OGPU bereits zwischen Dezember 1927 und Februar 1928 drei „Massenoperationen" zur Beschlagnahmung von Getreide und anderen Handelswaren durchgeführt, bei denen 149 Personen verhaftet wurden.¹⁰⁹ Ob Breschnew in den Ural versetzt wurde, weil er sich im Gebiet Kursk bewährt hatte, und seine Abkommandierung eine Folge der Inspektionsreise Molotows in den Ural und seines Berichts über die nachlässige Arbeit der dortigen Organe war, wissen wir nicht.¹¹⁰ Aber dank des Berichts eines Revisors, der im September 1928 das Dorf Schemach im Landkreis Michailowsk überprüfte, ist bekannt, das dieser mit der dort – von Breschnew – geleisteten Arbeit zufrieden war: Das Land war vermessen, mit Pfählen abgesteckt und 39.000 Hektar kartiert. Der Revisor Oserskoi hatte an Verwaltung und Abrechnung nur wenig zu monieren und sprach als einzige Empfehlung aus, das Tempo der Arbeiten noch stärker anzuziehen und enger mit den Parteiorganisationen zusammenzuarbeiten.¹¹¹

    Breschnews literarisches Alter Ego schreibt über seine Arbeit:

    Früher wurden Angehörige meines Berufes häufiger Landmesser genannt. Nun hatte sich die Bezeichnung geändert. Wir wurden Fachleute für Flurneuordnung im wahrsten Sinne des Wortes. Bei der Bildung landwirtschaftlicher Artels [Genossenschaften] brachten die Mitglieder Grund und Boden, Vieh, Wirtschaftsgebäude und Inventar ein. Und für uns Fachleute für Flurneuordnung kam es darauf an, nicht einfach die Feldraine zu beseitigen und auf den Karten die auseinander liegenden einzelbäuerlichen Ackerflächen zu einem großen, dem Kollektiv gehörenden Feld zu vereinigen.¹¹²

    Mit wie viel Widerstand und Gewalt Breschnews Arbeit 1928 in Michailowsk verbunden war, wissen wir nicht. In einem weiteren Bericht vom März 1929 heißt es über Michailowsk, die Landneuordnung sei nur dort durchgeführt worden, wo das Land ohnehin von der Gemeinschaft bestellt werde. „Die Registrierung verlief unter erheblicher Passivität der unteren Organe des örtlichen Exekutivkomitees und bei vollkommener Gleichgültigkeit der Bevölkerung selbst. Fälle von kategorischem Widerspruch gegen die Registrierung hat es nicht gegeben."¹¹³ Das klingt nach noch weitgehend friedlichen Zeiten. Dies scheint auch ein Vortrag über den Zustand in Michailowsk auf der Bürositzung des Swerdlowsker Kreiskomitees vom April 1929 zu bestätigen: Die Zahl der Bauern sei in den Kollektiven von 200 auf 460 und in den Kooperativen von 235 auf 1085 gestiegen. Jeder Kommunist sei aufgefordert worden, in die Kolchoswirtschaften einzutreten, man habe Versammlungen abgehalten, doch das reiche offenbar nicht aus.¹¹⁴

    In der Tat war 1929 das Jahr, in dem sich Ton und Vorgehen bei der Kollektivierung entscheidend veränderten. Breschnew trat im März 1929 seine neue Stelle als Landneuordner der Stadt Bissert an, wo er die Aufgabe erhielt, im Sommer die landwirtschaftliche Nutzfläche vollständig neu zu ordnen, also unter Ignorierung aller bisherigen Nutzungen und ehemaligen Eigentumsverhältnisse das Land in fünf Sektionen zu unterteilen und an die einzurichtenden Kolchosen zu verteilen. Breschnew wurde die volle Verantwortung übertragen und ein Mitarbeiterstab von Landneuordnern, Technikern, Schreibern etc. zugeordnet. Über den Fortschritt der Arbeit hatte er permanent Swerdlowsk zu informieren.¹¹⁵ Gleichzeitig wurden in Bissert im Mai 1929 der Komsomol und im Juli 1929 die Parteiorganisation „gesäubert".¹¹⁶

    Im Mai 1929 hielt Breschnew auf der Parteiversammlung des Landkreises eine Rede über den Zustand der Landneuordnung. Ihr Text ist nicht überliefert, dafür aber der Inhalt der Resolution, die auf sie folgte: Darin beschlossen die Versammelten die endgültige „Vernichtung der veralteten Formen der Landnutzung und die Einführung von Kollektivwirtschaften. Die Landverteilung sollte streng nach „Klassenprinzip erfolgen, d.h., das beste Land sollte den Kolchosen zugesprochen werden, das weniger gute den Kooperativen und nur der schlechteste und entlegenste Ackerboden den verbleibenden Einzelbauern. Das Ganze sollte von politischen Versammlungen und einer verstärkten Massenarbeit begleitet werden.¹¹⁷ Einerseits wird deutlich, dass sich Breschnew der verschärften Klassenkampfrhetorik anschloss. Andererseits machte er im Juli 1929 eine Eingabe in Swerdlowsk, in der er darlegt, dass das angeordnete Neuaufmaß des Ackerlands in Bissert nicht durchgeführt werden könne, da die Ländereien bereits vermessen seien und eine Neuregistrierung den Prozess der Landzuteilung erheblich verzögern würde.¹¹⁸ Die Kreisverwaltung antwortete ihm umgehend aus Swerdlowsk, dass ihre Vorgaben bedingungslos durchzusetzen seien.¹¹⁹ Dies mag als Indiz dafür gelten, dass Breschnew offenbar immer noch nach Sinn und Zweckmäßigkeit suchte und nicht blind jeden Befehl befolgte.

    Dass die Situation in dem Bereich des Landes, für den er verantwortlich zeichnete, chaotisch war, lässt sich aus einer anderen Anweisung ablesen, die er kurz darauf im August 1929 erhielt: Die Arbeit in einer der fünf Sektionen, in der bisher keine Kolchosen gebildet worden waren, solle eingestellt und die dortigen Genossen unverzüglich abberufen werden. Weiter hieß es, da in den anderen Siedlungsgebieten noch eine „starke Verwirrung bei der Landnutzung herrsche, dürfe dort nicht nachgelassen werden: „Die Sache muss zu Ende gebracht werden.¹²⁰ Wir ahnen nur, welche Gewaltmaßnahmen sich dahinter verbargen. Auf solche Einsätze beziehen sich mutmaßlich die Sätze von Breschnews literarischem Alter Ego:

    „Gemeinsam mit anderen Komsomolzen hatte ich auf den Feldern Zusammenstöße mit Kulaken und setzte mich mit ihnen auf Dorfversammlungen auseinander. Man drohte uns mit Knüppeln, Forken und mit gehässigen Zuschriften, Steine wurden durch Fenster geworfen."¹²¹

    Im Sommer 1929 wurde Breschnew zum stellvertretenden Vorsitzenden der Landkreisverwaltung gewählt.¹²² Damit war er immer noch nicht der erste Mann in der Regierungsverantwortung im Landkreis, die ohnehin in erster Instanz bei der Partei und nicht bei der Administration lag. Wenn Biograph Murphy Breschnew die Initiative für Getreidekonfiskationen und Strafmaßnahmen zuschreibt, ist das also zu kurz gegriffen: In der Regel gingen solche Kampagnen von der örtlichen Parteileitung aus und alle anderen stimmten dann zwangsläufig zu. Die Direktiven, welche Mengen Getreide wann einzutreiben und welche Maßnahmen dabei anzuwenden seien, kamen ohnehin von der OGPU-Zentrale in Moskau.¹²³ Vor diesem Hintergrund erscheint Breschnews Parteieintritt am 9. Oktober 1929 aber in einem neuen Licht: Breschnew trug jetzt politische Verantwortung, und damit war es höchste Zeit, sich der Partei anzuschließen. Das war nicht nur aus Karrieregründen geboten, sondern auch, um nicht in Verdacht zu geraten, auf der falschen Seite zu stehen.

    Gleichwohl blieb Breschnew Ausführender: Auf der gleichen Parteibürositzung wurde er zusammen mit einem Kollegen in den Landwirtschaftssowjet von Sujew abkommandiert, um sich dort für die Partei zu bewähren. Sein Auftrag lautete, die dortigen Landwirtschaftssowjets einer Rechenschafts-Kontrollkampagne zu unterwerfen, um die Steuerabgaben, die Einrichtung eines Reservefonds von Flurstücken, die Durchführung der Neuwahlen und den Parteiunterricht zu überprüfen.¹²⁴ Dieser Auftrag stand mutmaßlich in direktem Zusammenhang mit einer Reihe von Beschlüssen des Moskauer Politbüros im August 1929, die „repressiven Methoden der Getreidebeschaffung zu verstärken.¹²⁵ Der Bericht, den Breschnew am 28. Oktober dem Büro des Parteikomitees des Landkreises vortrug, wurde mit Wohlwollen aufgenommen, die Flurneuordnung werde korrekt durchgeführt und komme voran.¹²⁶ Breschnews Kompetenzen wurden geschätzt und ausgeweitet: Einen Tag später übertrug ihm die Landverwaltung in Swerdlowsk die Aufgabe, auch über die Neuverteilung der Waldflächen zu wachen.¹²⁷ Anfang November schickte ihn das Parteikomitee erneut auf eine Kontrollmission, diesmal um in den ländlichen Sowjets von Nakorjakowsk und Waskinsk die „Arbeiten bei der Bereitstellung von Heu und Kartoffeln zu verbessern.¹²⁸

    Flucht vor der „totalen Kollektivierung" 1930

    Nachdem ursprünglich bis 1934 nur 15 Prozent aller Bauernhaushalte hatten kollektiviert werden sollen, entschied das ZK der Bolschewiki auf dem November-Plenum 1929, dass man nun zu einer totalen Kollektivierung übergehen würde. Stalin gab die Devise aus, das Land müsse geplündert werden.¹²⁹ Am 4. Dezember 1929 versammelte sich das Parteiaktiv von Bissert, um die Beschlüsse des November-Plenums zu diskutieren. Auch Breschnew begrüßte die neuen Direktiven: „Die Strategie der Rechten ist gescheitert, sie sind vor den Schwierigkeiten eingeknickt. Das erste Jahr des Fünfjahrplans hat die Richtigkeit der Generallinie der Partei bestätigt. Der Kampf gegen die Rechten muss bei unserer Arbeit an erster Stelle stehen."¹³⁰ Das Parteiaktiv beschloss, mit voller Entschlossenheit die Kollektivierung von 50 Prozent aller Bauernhöfe voranzutreiben, dort, wo es noch keine Kolchosen gab, diese durchzusetzen, und dort, wo sie bereits existierten, alle verbliebenen armen und Mittelbauern zum Eintritt zu bewegen.¹³¹

    Zeigte Breschnew einerseits, dass er den Parteijargon beherrschte, kamen von ihm andererseits auch immer wieder mahnende Worte: Auf dem am 5. und 6. Dezember in Bissert tagenden Parteiplenum warnte Breschnew davor, dass man für die anstehenden Arbeiten bei der Landneuordnung und die Frühjahrsaussaat nicht über die erforderlichen landwirtschaftlichen Maschinen verfüge; die Lage sei daher sehr angespannt. Die Übergabe des besten Ackerbodens an die armen und Mittelbauern sei zwar erfolgt, aber nun müsse alles dafür getan werden, dass diese ihr Land auch bestellen könnten.

    Hierbei ist unbedingt mit Sabotageakten der Kulaken zu rechnen. (…) Ich halte es für einen großen Mangel bei der Kollektivierung, dass es keine Pläne für diese Arbeit gibt, und die Dorfsowjets haben sie nicht planmäßig geleistet. Die Paten, die zu uns kamen [die rekrutierten Studenten und Aktivisten, die auf dem Dorf den Klassenkampf entfachen sollten], haben die Fragen der Kollektivierung im Dorf nicht mit Nachdruck gestellt …¹³²

    Breschnew benutzte die Klassenkampfrhetorik, wenn er davon sprach, dass „Widerstand der Kulaken" zu erwarten sei. Tatsächlich wurden im Landkreis Bissert wiederholt Getreidespeicher der Kolchosen in Brand gesteckt;¹³³ im Nachbargebiet hätten Kulaken einen Traktoristen mit Petroleum übergossen und angezündet.¹³⁴ Breschnew soll zur Selbstverteidigung bereits 1927 einen Browning gefordert haben und darüber in Konflikt mit der OGPU geraten sein.¹³⁵ Dennoch hielt er auf dem Plenum keine Hassrede, sondern die eines Organisators, der Ernteerträge sehen wollte. Für ihn bezeichnend und für diese Zeit typisch ist auch seine Klage darüber, dass es kein Regelwerk gebe, an dem sie sich orientieren könnten. Ob er sich wirklich mehr Aktivismus wünschte, muss dahingestellt bleiben. Kurz, wir wissen nicht, was in Breschnew vorging. Seine Nichtе Ljubow Breschnewa behauptet, ihr Onkel habe anfangs an die Richtigkeit der Kollektivierung geglaubt, sei aber schnell desillusioniert worden, als er sah, dass Entkulakisierung nichts anderes als gemeiner Raub an einfachen Leuten und den eigenen Nachbarn bedeutete.¹³⁶ Auch einer seiner späteren Redenschreiber aus dem ZK-Apparat, Wadim Petschenew, berichtet, Breschnew habe seinen Mitarbeitern in Sawidowo Anfang 1981 anvertraut:

    Ja, an all das glaubten wir damals. Und wie wäre es auch ohne Glauben gegangen … Du kommst in ein Bauernhaus, um die Getreideüberschüsse einzuziehen, und siehst selbst, den Kindern tränen die Augen von den Roten Beten, denn etwas anderes zu essen haben sie nicht mehr … Und dennoch haben wir mitgenommen, was wir an Lebensmitteln fanden. Ja, an alles haben wir sehr fest geglaubt, ohne das war es unmöglich, zu leben und zu arbeiten …¹³⁷

    Am 29. Dezember 1929 trat Breschnew seinen Jahresurlaub für 1928 und 1929 an, vorher hatte er nicht freinehmen dürfen – ein weiteres Indiz dafür, dass diese beiden Jahre sehr angespannt waren. Er blieb zwei volle Monate bis zum 29. Februar 1930 beurlaubt.¹³⁸ Bereits am 4. Dezember 1929 hatte das Parteibüro von Bissert über Breschnews Arbeit diskutiert und beschieden, man werde nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub über seine weitere Tätigkeit entscheiden.¹³⁹ Vielleicht hatte Breschnew also einen Antrag auf Versetzung gestellt; darüber ist nichts bekannt. Am 13. Februar 1930 jedoch ernannte ihn das Parteikomitee des Ural-Bezirks in Swerdlowsk zum Vorsitzenden der Abteilung für Landneuordnung, was bedeutet, dass er Leiter des Bezirkskatasteramts von Swerdlowsk wurde.¹⁴⁰ Als Breschnew Bissert verließ, waren dort 95 Prozent aller Bauernwirtschaften kollektiviert; damit hatte er als Landneuordner alle anderen Regionen im Swerdlowsker Bezirk übertroffen.¹⁴¹

    Nachdem Breschnew also drei Jahre lang in Landkreisen und Dörfern gearbeitet hatte, wo er unmittelbar in die Umverteilung der Ackerböden involviert war, hatte er jetzt als Behördenvorsteher tendenziell eine Schreibtischtätigkeit. Nun war er es, dem die Landneuordner und Kontrolleure aus dem ganzen Bezirk ihre Berichte schickten, und er hatte zu entscheiden, was geschehen sollte.¹⁴² Zu entscheiden war dabei auch über zahlreiche Klagen und Beschwerden sowohl von Privatpersonen als auch von Kolchosen, sie hätten nicht das ihnen zustehende Land zugeteilt bekommen.¹⁴³ Breschnew leitete jetzt die „administrativtechnischen Beratungen des Katasteramts, hatte einen Stellvertreter und zwei Inspektoren, die ihm zur Seite gestellt waren.¹⁴⁴ Sollte Breschnew allerdings als Leiter des Katasteramts auf ein ruhigeres Arbeitsleben mit weniger Stress und Gewalt gehofft haben, so wurde er schnell eines Besseren belehrt. Noch während er im Urlaub gewesen war, hatte im Januar 1930 eine von Molotow geleitete Kommission die Entkulakisierung in drei Kategorien nach Kontingenten beschlossen. Dementsprechend hatte auch das Bezirkskomitee der Partei im Ural festgelegt, dass aus dem Ural 5000 Bauern nach Kategorie 1 als „Konterrevolutionäre zu verhaften und an den ordentlichen Gerichten vorbei von der OGPU zu „behandeln, d.h. bei Widerstand zu erschießen, ansonsten in Konzentrationslager zu verbringen seien, dass 15.000 nach Kategorie 2 als „einflussreiche Kulaken in wenig besiedelte Gebiete zu deportieren seien und dass nach Kategorie 3 alle „übrigen Kulaken" innerhalb der jeweiligen Amtsbezirke auf die schlechtesten und entferntesten Ländereien umzusiedeln seien.¹⁴⁵ Diese Operationen veröffentlichte die Partei nicht, aber die Rhetorik verschärfte sich entsprechend.

    So begann Breschnews Tätigkeit im Katasteramt von Swerdlowsk mit dem V. Plenum des Swerdlowsker Parteikomitees am 15. Februar 1930, auf dem er, obwohl offiziell noch im Urlaub, die neuen Kampfparolen zu hören bekam: Der massenhafte Übergang ganzer Landkreise und Gebiete zur Kollektivwirtschaft stehe bevor, zum Ende des Jahres solle die Kollektivierung zu 95 Prozent abgeschlossen sein, die Kulaken gehörten als Klasse liquidiert.¹⁴⁶ Was folgte, war die endgültige Entfesselung des Klassenkampfs im Dorf: Am 1. März 1930 beschloss das Politbüro in Moskau, die ins Dorf entsandten „25.000er – junge Aktivisten aus den Städten, die aufs Land geschickt wurden, um dort mit der Waffe in der Hand die Bauern zu zwingen, das versteckte Getreide abzuliefern und ihren Hof der Kollektivwirtschaft zu übergeben – nicht nur bei der Entkulakisierung, sondern auch bei der Aussaat einzusetzen und sie auf die Kolchosen und Regionen zu verteilen.¹⁴⁷ Doch nur zwei Tage später, am 3. März, erschien in der „Prawda Stalins Artikel „Vor Erfolgen von Schwindel befallen, in dem er vor Exzessen und Ausschreitungen bei der Kollektivierung warnte, die er selbst Anfang des Jahres ins Werk gesetzt hatte. Es folgte am 10. März eine Anweisung an die Regional- und Gebietskomitees, gegen „Regelverstöße bei der Kollektivierung vorzugehen.¹⁴⁸ Dementsprechend wies Breschnew seine Mitarbeiter auf einer Versammlung am 11. März darauf hin, dass auch denjenigen, die als Kulaken ihr Wahlrecht, aber nicht das Recht auf Land verloren hätten, weiterhin Flurstücke, wenn auch nur die schlechtesten und entferntesten, zugewiesen werden müssten. ¹⁴⁹ Um die regelkonforme Landzuteilung zu überwachen, schickte die Landverwaltungsbehörde Breschnew im März gleich zwei Mal in den Landkreis Baschenowsk und im Mai nach Jegorschino und Reschewsk.¹⁵⁰ Er musste also weiterhin in die Verteilungskämpfe vor Ort eingreifen, bekam für solche Dienstreisen aber jetzt immerhin 60 Prozent Gehaltszuschlag.¹⁵¹

    Stalins Artikel und die neuen Anweisungen führten zu Chaos in den Dörfern sowie Verwirrung und Unverständnis in den Parteiorganisationen. Auf der Versammlung des Swerdlowsker Parteiaktivs Ende März gestanden sich die Anwesenden zwar ein, die massenhaften Austritte aus den Kolchosen von bis zu 40 Prozent der Bauern hätten sie sich selbst zuzuschreiben, weil sie „dem Volk furchtbare Angst" eingejagt hätten, so dass ganze Kommunen eingetreten, aber bald auch geschlossen aus der Kolchose wieder ausgetreten seien.¹⁵² Doch viele Genossen zeigten sich empört über Stalins Artikel und berichteten, erst sei sechs Tage lang diese „Prawda-Ausgabe vergriffen gewesen und dann hätten sie den Text für einen schlechten Scherz gehalten.¹⁵³ In vielen Redebeiträgen wurde der Ruf nach klaren Anweisungen laut. Es gehe nicht an, ständig den Kurs wechseln zu müssen; die Parteiaktivisten seien in Panik.¹⁵⁴ „Jetzt schläft niemand mehr im Dorf: weder die, die in der Kolchose geblieben sind, noch die, die aus der Kolchose ausgetreten sind, noch wir.¹⁵⁵ Tatsächlich berichtete Breschnew am 13. Mai von seiner Dienstreise in Jegorschino und Reschewsk, dass es dort grobe Verstöße bei der Landzuteilung gegeben habe: Die Normen für die Kolchosen seien künstlich erhöht worden, während die Einzelbauern, die das Recht auf Landbewirtschaftung hatten, gar kein Land mehr bekommen hätten. Die Flurverwaltung beschloss, die Landverteilung weiterhin genau auf ihre Korrektheit zu prüfen. Gleichzeitig wurde aber auch beschlossen, dass das Land der entkulakisierten und deportierten Bauern pauschal den Kolchosen zugeschlagen werden sollte.¹⁵⁶

    Während die OGPU und ihre Helfer aus den Städten Bauern verhafteten und zwangsumsiedelten, war es also Breschnews Aufgabe, das beschlagnahmte Land zu vermessen, den Kolchosen zuzuweisen und dafür zu sorgen, dass die „übrigen Kulaken nach der Vertreibung einen Flecken Land am Rande der Gemeinde zugewiesen bekamen. Besonders brisant war, dass die Partei von oben zwar vorgab, wie viele Bauern zu verhaften und zu deportieren wären, die Festlegung der „Kategorie 3 aber den Amtsbezirksverwaltungen überließ.¹⁵⁷ Es ist zu vermuten, dass Breschnew als Leiter des Katasteramts mit einbezogen wurde, als es darum ging festzulegen, wie viele und welche Bauern umzusiedeln seien, weil deren Böden für die Kolchosen gebraucht wurden. Nach nicht einmal vier sehr aufreibenden Monaten auf seinem neuen Posten wurde Breschnew von der Flurverwaltungsbehörde Urlaub vom 7. Juni bis zum 1. August 1930 gewährt.¹⁵⁸

    Der Karrieresprung zum Leiter des Katasteramts war enorm, und umso erstaunlicher wirkt es – so auch der Dissident und Historiker Roy Medwedew –, dass Breschnew diesen Posten nach nur einem halben Jahr aufgab, den Ural geradezu fluchtartig verließ und nach Moskau übersiedelte, um hier im September ein Studium am Kalinin-Institut für Landwirtschaftsmaschinenbau aufzunehmen.¹⁵⁹ L.S. Klimenko, der Direktor des Abendinstituts war, an dem Breschnew später in Kamenskoje studierte, berichtet, Breschnew habe den Antrag gestellt, für ein Studium freigestellt zu werden.¹⁶⁰ Das bestätigt auch seine Frau Viktorija: Zusammen mit seinem Kumpel habe Breschnew entschieden, sich für ein Studium in Moskau zu bewerben.¹⁶¹ Doch warum? Es scheint, als sei er vor der eskalierenden Entkulakisierung, die ab 1930 mit Einführung der Verhaftungs-, Deportations- und Umsiedlungskontingente gerade im Ural zu Exzessen führte, nach Moskau geflohen. Mit der Erntesaison im Spätsommer 1930 setzte die nächste große Gewaltwelle von Getreidekonfiskationen und Bauerndeportationen ein.¹⁶² Am 24. Juli 1931 dekretierte das Politbüro, alle nach Swerdlowsk gerufenen Angestellten seien in die Dörfer zu entsenden, um dort die penible Erfüllung der Getreidebeschaffung durchzusetzen.¹⁶³ Ob Breschnew davon betroffen gewesen wäre, ob er Skrupel hatte, ob er dem Stress der Kampagnen und Hetzreden nicht mehr gewachsen war – wir wissen es nicht. Seine Abreise gibt jedenfalls solche Rätsel auf, dass in Swerdlowsk (heute wieder Jekaterinburg) bis in die Gegenwart Legenden existieren, Breschnew sei hier aus der Partei ausgeschlossen worden und habe sich in seinem ganzen späteren Leben konsequent geweigert, wieder einen Fuß in diese Stadt zu setzen.¹⁶⁴

    Breschnew wurde mit der Kollektivierung der Landwirtschaft politisiert. Als „Fachmann für Landneuordnung war es nicht nur seine Aufgabe, die enteigneten Ländereien zu Kollektivwirtschaften zu arrondieren. Als Deputierter eines Kreissowjets und Leiter einer Landabteilung musste er auch das Vorgehen von Staat und Partei vertreten und in Reden propagieren. Vermutlich trifft im Positiven wie im Negativen zu, was sein literarisches Alter Ego schreibt: „Bei der Arbeit als Fachmann für Flurneuordnung fühlte ich mich zum ersten Mal als bevollmächtigter Vertreter der Sowjetmacht, auf den Hunderte von Menschen blickten.¹⁶⁵

    Flucht aus Moskau: Arbeiter 1930/31

    Doch auch in Moskau blieb Breschnew nicht lange. Breschnews Frau Viktorija berichtet: „Wo sollte ich hin? Wo sollten wir leben? Wovon sollten wir leben? [Unsere Tochter] Galja hatte ich bei meiner Mutter in Belgorod gelassen. Trotzdem sahen wir, dass wir in Moskau kein Auskommen fanden."¹⁶⁶ Die Stadt war vollkommen überfüllt mit Landflüchtlingen, die

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1