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Die böse Seite des Glücks: Ein Tatsachenroman
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Die böse Seite des Glücks: Ein Tatsachenroman
eBook434 Seiten5 Stunden

Die böse Seite des Glücks: Ein Tatsachenroman

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Über dieses E-Book

1989 verändern Glasnost und Perestroika die politische Lage in den ehemaligen Ostblock-Staaten. Eine deutsche Behörde entsendet für die Realisierung eines Programms 35 Lehrer nach Bulgarien. Aufgrund dort herrschender Mafia-Clans und horrender Korruption in der Politik wird die Unternehmung zum Himmelfahrtskommando. Verbrechen jeder Art und Ausbeutung der Bevölkerung eskalieren so sehr, dass sukzessive jeder um sein Leben fürchtet. Zudem schockiert es, wie stark mafiöse Politiker der USA und Russlands sowie kriminell handelnde Banken beim erlebten Fiasko eine Rolle spielen. Was in Bulgarien passierte und zur Rebellion führte, ereignet sich immer mehr auf der ganz großen Bühne. Philosophen, Psychologen und Wissenschaftler durchleuchten das Seelenleben von Menschen und befürchten eine ausufernde Gier nach Reichtum und Macht, die nicht nur Staaten instabil werden lässt, sondern auch die Welt ins Wanken bringt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum16. Jan. 2018
ISBN9783746905259
Die böse Seite des Glücks: Ein Tatsachenroman

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    Buchvorschau

    Die böse Seite des Glücks - Thomas Holberg

    Der Mazda 626 drohte unter seiner Last zusammenzubrechen, durfte aber nicht. PC, Bücher, Aktenordner, Kleidung und viel Kleinkram für meinen Umzug in eine neue Welt drückten seit 200 km das Heck enorm zu Boden, sodass es beim Überfahren von Bodenwellen leicht auf den Asphalt knallte. Die weiteren 2.300 km dürften irgendwann problematisch werden, doch wieder umzukehren, schied als Option aus. Ich hatte Essen am 24. August 1994 für einen Dienst in Bulgarien unabänderlich verlassen, trotz beunruhigender Meldungen. Zwar war es laut Reiseführern ein schönes Land mit sehr gastfreundlichen Bürgern und einer faszinierenden Natur, allerdings berichteten Reportagen im Fernsehen und etliche Artikel verschiedener Printmedien über dort agierende Mafiagruppen, korrupte Politiker und beträchtliche Armut infolge von „Glasnost. Grundsätzlich strahlte das russische Wort positive Werte aus, nämlich Offenheit in der Politik, Transparenz und generelle Informationsfreiheit. 1985 kritisierte Michail Gorbatschow, damals Generalsekretär der KPdSU, dass der sozialistische Staat die Wirtschaft ruiniere und eine Reformpolitik nötig sei. Um sie einzuleiten, mobilisierte er seine Gefolgschaft dafür, dass öffentlich über die marode Wirtschaft diskutiert werden konnte. Der Standpunkt für den notwendigen Umbau des politischen und wirtschaftlichen Systems nahm tatsächlich zu und 1987 schaffte es „Gorbi, die als Perestroika bekannt gewordene Reformpolitik einzuführen. Um den Menschen langfristig mehr Wohlstand zu verschaffen, sollte neben der Rückkehr zur Marktwirtschaft die Entspannungspolitik fortgesetzt und das Wettrüsten mit den USA beendet werden. Tatsächlich vereinbarten bald beide Supermächte konkrete Abrüstungsschritte, das Konfliktpotenzial zwischen Ost und West ebbte ab. Die Demokratisierung der UDSSR bedeutete 1990 das Ende der Einheitsparteiherrschaft. Infolge der zerbröselnden Breschnew-Doktrin gab die Regierung das Interventionsrecht in den Ostblock-Staaten auf, womit alle ehemals mit ihr verbündeten Länder eine eigene Staatsideologie wählen konnten. Es begann die Zeit der „Wende. In Polen führten Streiks zu Gesprächen zwischen der Gewerkschaft Solidarność (Solidarität) und der kommunistischen Regierung. Neue Parteien traten auf, von denen bei den Parlamentswahlen am 4. Juni 1989 das Bürgerkomitee mit Lech Walesa siegreich hervorging. Die Ungarn schafften Vergleichbares. In der Deutschen Demokratischen Republik verweigerten Politiker die Umgestaltungspolitik. Aus Unmut flohen im Sommer 1989 zunehmend DDR-Bürger über Ungarn nach Österreich. Die Daheimgebliebenen forderten bei Demonstrationen mit ihrem Ausruf „Wir sind das Volk eine Demokratisierung auch in ihrem Staat. Dem stand die SED letzten Endes machtlos gegenüber, da zur Bekämpfung der Protestler die Streitkräfte des Warschauer Paktes ausgefallen waren. Nach der Absetzung Honeckers stürmten viele DDR-Bürger spontan die Berliner Grenzübergänge, womit sie die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland zu Fall brachten. Während die politische Revolution in der Tschechoslowakei ebenfalls unblutig verlief, hatte in Rumänien der Geheimdienst Securitate eingegriffen und den Diktator Ceausescu und seine Frau standrechtlich erschossen.

    Doch welche Entwicklung vollzog sich in Bulgarien? Bis zur Wendezeit herrschte hier ein Despot namens Todor Schiwkow. Seine Loyalität gegenüber dem damaligen Sowjet-Regime beschrieb Schriftsteller Markow wie folgt: „...er dient der UdSSR mit mehr Inbrunst als die sowjetischen Führer selbst". Regimekritiker standen auf der Todesliste. Obwohl Markow seit 1969 zu seinem Schutz in Westeuropa lebte, spürten ihn Agenten des bulgarischen Geheimdienstes am 7. September 1978 in London auf und eliminierten den für Menschenrechte kämpfenden Mann mit einer perfiden Methode. Sie stachen ihn mit einer präparierten Regenschirmspitze ins Bein, woraufhin Rizin in den Blutkreislauf eindrang. Das toxische Enzym aus den Samen des Rizinusstrauchs unterbricht die Eiweißsynthese aller Körperzellen und lässt sie dadurch sterben. Krämpfe, blutige Koliken, Fieber und Nierenversagen leiteten den Tod durch Atem- und Herzlähmung ein. Als sich die politische Wende in der UDSSR und im Ostblock abzeichnete, bildeten sich ab 1988 oppositionelle Gruppen. Schiwkow leistete üble Gegenwehr. Eine Miliz löste ganze Universitätsinstitute auf, verhaftete friedliche Rebellen, vernichtete deren Archive und attackierte Demonstranten mit roher Gewalt. Doch Reformer innerhalb der BKP (Bulgarische Kommunistische Partei) versuchten dann, ihre Version von Glasnost und Perestroika einzuführen. Eine Fraktion innerhalb des Politbüros erzwang schließlich am 10.11.1989 Schiwkows Rücktritt. Zwei Jahre später wurde er wegen Plünderung der Staatskassen und Korruption verurteilt. Weggesperrt kämpfte der Unmensch bald danach gegen eine Armee von Bakterien in seiner Lunge und verstarb. Ein Witz über sein Ableben dokumentierte, welche Wertschätzung ihm durch die Bevölkerung blieb:

    Die BKP schickt dem Staatoberhaupt der „Russischen Föderation" (Folgestaat der UDSSR) ein Telegramm:

    „Todor Schiwkow ist verstorben. Sorgt bitte für das Begräbnis des Mannes, der euch wie ein Bruder zur Seite stand."

    Moskau:

    Wir haben uns vom ehemaligen Genossen losgesagt. Setzt euren Staatschef selber bei.

    Es kommt zum Disput, in den sich schließlich die israelische Regierung einmischt:

    Während des Faschismus hat das bulgarische Volk seine Juden gerettet. Aus Dankbarkeit übernimmt der israelische Staat die Beisetzung!

    Die BKP erwidert entsetzt:

    Auf keinen Fall! Ihr habt Jesus Christus beerdigt, und der ist aus dem Grab wiederauferstanden!

    Mit der neuen Regierung setzte sich der wirtschaftliche Absturz jedoch fort, da Unfähigkeit und Korruption den Staatsapparat dirigierten, Banken überwiegend ziemlich pleite waren und Mafiaorganisationen in allen möglichen Verwaltungen ihr Unwesen treiben konnten. Die BSP (Bulgarische Sozialistische Partei), ehemals BKP, bewies ihre Unfähigkeit in der Wirtschaftspolitik unter anderem damit, dass sie für viele Waren, die zwischenzeitlich je nach Angebot und Nachfrage unterschiedlich teuer sein durften, wieder feste Preise einführte.

    Friedrich August von Hayek, Ökonom und Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, sagte diesbezüglich den Untergang des Ostblocks voraus: Die freie Preisbildung bahne Wege, um Informationen über Wünsche, Bedürfnisse und Prioritäten auszutauschen. Dadurch entstehe spontan eine Ordnung, die jeder Planung überlegen sei. Interventionen des Staates lähme die Wirtschaft drastisch und führe am Ende zum Debakel. Bulgarien hatte nach dem Zerfall des Ostblocks seinen ehemaligen Bruderstaat UDSSR verloren, der früher wirtschaftliche Hilfe leistete. Die BSP ging zwar nach dem Sturz des Diktators aus frei wählbaren Parteien hervor, stellte aber die alten Strategen aus dem sozialistischen Lager auf und mit ihrem Kurs steuerte das Land unverkennbar auf ein Fiasko zu. Verzweiflung durch Armut und Angst vor Verbrechen kennzeichneten mehr und mehr das gesellschaftliche Leben.

    Mich zermürbte es, nach meiner Lehrerausbildung keine Perspektive zu haben. Die Wiedervereinigung mit der wirtschaftlich kollabierten DDR war astronomisch teuer und tilgte quasi sämtliche Gelder für neu zu beschäftigende Pädagogen im Schuldienst. Um nicht arbeitslos zu bleiben, erwog ich auszureisen. Die reformierten Oststaaten suchten politisch und wirtschaftlich Beziehungen zum Westen, was auch für Deutschland größere Absatzmärkte versprach. Folglich sandte ein Kölner Amt verstärkt Lehrer ins Ausland, um bei künftigen Partnern die deutsche Sprache zu fördern. Das mir offerierte Angebot lautete: Einsatz als Bundesprogrammlehrer am Lowetscher Sprachengymnasium in Nordbulgarien. Alternativen wollte man wegen komplexer Arbeitsverfahren nicht geben. Im Vertrauen auf angekündigte Hilfen und gute Vorbereitungen verpflichtete ich mich schließlich trotz der heiklen Lage in diesem Balkanland und trotz meiner privaten Situation für mehrere Jahre.

    Leider bedeutete dies auch den Abschied von Nadine. Lange Zeit konnte ich mir das nicht vorstellen, da uns eine wunderbare Fügung des Schicksals zusammengeführt hatte. Ihre und meine Mutter wuchsen nach dem verlorenen „Zweiten Weltkrieg in der Ex-DDR heran und waren schon früh beste Freundinnen. Relativ schnell beeinträchtigten Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, Zurückdrängung des privaten Handwerks und Versorgungsschwierigkeiten die normalen Arbeits- und Lebensbedingungen. Konsterniert türmten immer mehr Menschen. Ab 1952 schotteten Sperrzonen, Schutzstreifen, Zäune, Bewachungseinrichtungen und Alarmvorrichtungen das Staatsgebiet ab. Lediglich die Sektorengrenze zwischen West- und Ostberlin konnte anfangs kaum kontrolliert werden und wirkte wie ein Schlupfloch. Hierdurch flohen zwischen 1949 und 1961 etwa 2,6 Millionen Menschen in die BRD. 1956 nutzte meine Mutter einen günstigen Moment für die Flucht in das Land der Freiheit. Um das DDR-Volk vor dem Ausbluten zu bewahren, bauten die Machthaber 1961 in Berlin eine Mauer. Das SED-Regime nannte dieses Bollwerk im Anfall von Schizophrenie, eine Psychose mit Realitätsverlust, „antifaschistischer Schutzwall. Eigentlich gelten nur solche Staaten als faschistisch, wenn in ihnen eine einzige Partei als Diktatur höchst aggressiv Nationalismus betreibt und antidemokratische beziehungsweise totalitäre Ziele verfolgt. Westdeutschland fiel nun wahrlich nicht mehr in dieses Raster. Die DDR-Führung sah aber bereits gemäß der Marxistischen Theorie Herrschaftsformen des Kapitals als Faschismus an. Und die Mauer sollte nun vor gefährlicher Infiltration schützen, dabei sehnte sich kein einziger Westler nach einer Umsiedlung ins große Staatsgefängnis. Verwandte und Freunde wollten sie natürlich trotzdem besuchen, wofür der DDR-Staatsapparat reichlich Devisen verlangte und damit die prekäre Staatskasse aufbesserte. Meine Eltern fuhren mit mir regelmäßig zur befreundeten Familie nach Dresden. So lernte ich Nadine kennen. Nachdem die Grenze im November

    1989 von den Ostdeutschen überrannt wurde und die Diktatur wie über Nacht zerbrach, feierten wir gemeinsam dieses Wunder. Da begann die Liebe zwischen Nadine und mir. Fantastische Gefühle verzauberten die nächsten Jahre. Ein Umstand jedoch betrübte alles: Nadine hatte beruflich in ihrer Stadt mit Glück Fuß gefasst und konnte nicht nach Essen wechseln. Ich wiederum fand keine Arbeit im Osten und lebte von Nebenjobs. Deshalb pendelten wir hin und her. Ergo stellte sich die Frage, ob das ewig so weitergehen kann. Ende `93 las ich das Inserat vom Kölner Vermittlungsamt in der Zeitung:

    „Bundesprogrammlehrer gesucht, freie Stellen in Osteuropa… Schicken Sie uns Ihre Bewerbungsunterlagen..."

    Das tat ich, absolvierte einige Prüfungen und unterschrieb im Mai `94 den Vertrag. Glasnost und Perestroika brachten mich einst mit einem Schatz im Osten zusammen und nun wieder auseinander. Die Erfüllung ersehnter Wünsche zeichnete sich einfach nicht ab.

    Am Morgen des 20. Juli 1994 düste ich mit dem überschwer beladenen Mazda los. Helmut, mein Vater, wollte mir helfen und fuhr mit. Das erste Etappenziel hieß Fulda, wo uns andere Bundesprogrammlehrer erwarteten. Wir planten von dort im Konvoi weiterzufahren, um auf diese Weise gegebene Risiken zu minimieren.

    »Gleich kommt Kassel und dann auf die A 7.«

    Während der fortgesetzten Tour versank ich mit den Klängen von „High Hopes in emotionale Gedankenwelten. Pink Floyd hatte mich schon zu Jugendzeiten elektrisiert und durch das Album „The Wall auch meine Weltanschauung beeinflusst. 1981 brüskierte die Rockband mit ihrem Bühnenspektakel in Dortmund, das Englands Schulsystem als inhumane Institution darstellte. Grausame Lehrer peinigten ihre Schutzbefohlenen durch Sarkasmus und Gewalt. Schmerzverzerrte Grimassen spiegelten deren Qualen wider. Fiese Methoden sollten sie willenlos machen, sodass sie systemrelevant funktionierten. Und wie eine mysteriöse Fügung spielte noch gestern Pink Floyd im Fußballstadion meiner Nachbarstadt ihren Gig „The Division Bell. Nun verschmolz ich mit dem Song „High Hopes, einem Lied über Hoffnungen der Jugend für das Wahrwerden herrlicher Träume. Was sollte aus mir werden? Was wünschte ich mir für die Welt? Schon Kinder beginnen für Berufe zu schwärmen, um spezielle Dinge zu verwirklichen. Für mich begann jetzt dieser Teil des Lebens, es galt nur noch Lowetsch zu erreichen. In dieser Hinsicht war ich guter Stimmung, die melancholische Melodie von „High Hopes" erfüllte mich jedoch auch mit Schwermut.

    Endlich passierten wir Bad Hersfeld und trafen 20 km weiter in Fulda ein. Franks Haus fand ich schnell dank seines grünen Citroëns vor der Garage, mit dem der Hesse bereits beim Kölner Vorbereitungsseminar aufkreuzte. Der zweite Wagen, ein weißer Fiat Ritmo, gehörte Kurt Böhmer aus Verden. Er und Silke Schneider aus Stuhr, ebenfalls im Umfeld der Hansestadt Bremen liegend, waren also bereits da. Kisten mit Hausrat standen herum. Ein Keil ließ die Haustür offen stehen, ich klingelte trotzdem bei Herrn Wolf.

    »Entschuldigung, ich packe noch.«

    Frank kam uns, etwas hektisch wirkend, entgegen.

    »Die Erledigungen nehmen einfach kein Ende, wenn man alle Zelte abbricht. Ihr wollt sicher einen Kaffee trinken und eine Kleinigkeit essen. Kommt rein.«

    Ich wunderte mich, wie viele Dinge im Haus des Kollegen noch rumstanden. Im Wohnzimmerregal befanden sich afrikanische Masken und Figuren, auf einem Tisch stapelten sich Kassetten, LPs und CDs, an den Wänden hingen Bilder, Fotos und ein Wandteppich, außerdem lud eine Trommel neben dem Fernseher zum Spielen ein.

    »Keine Sorge, hiervon bleibt das meiste hier. Der Mietvertrag endet erst in einer Woche, bis dahin räumen meine Eltern auf und übergeben das Haus an die Nachmieter.«

    Mein Vater wollte von ihm wissen, ob er mal in Afrika gearbeitet habe, denn die Einrichtung deute offensichtlich darauf hin.

    »Stimmt genau, Helmut. Lass uns eine Kaffeepause machen, dann erzähle ich gerne etwas darüber.«

    Frank lud mit einer Geste zum Platznehmen ein.

    »Vor meinem Afrikaeinsatz hatte ich mich für unser Bildungssystem voll und ganz engagiert. Die Qualität der deutschen Lehrerausbildung war weltweit beachtet und auf die unterschiedlichen Anforderungen der Gymnasien, Real- und Hauptschulen hervorragend abgestimmt. Kritiker mit irrealen Vorstellungen betrieben jedoch eine Abkehr von dieser Schulstruktur und installierten seit den siebziger Jahren immer mehr Gesamtschulen. Es entwickelte sich ein ideologisch geprägter Bildungskrieg, den ich jetzt nicht detailliert erläutern will. Schließlich mussten wir permanent Reformen verwirklichen, die mir zu sehr gegen den Strich gingen.«

    Herr Wolf schüttete sich Kaffee ein, ohne die Schwärze durch Milch aufzuhellen.

    »Deshalb wollte ich woanders hin. Es durfte auch ganz weit weg sein. Das Kölner BVA bot dann spannende Sachen an.«

    Während Frank über sein ungewöhnliches Engagement sprach, kamen in mir Erinnerungen hoch, die ich als Referendar an einer Gesamtschule machte. Dort scheiterten mehrere Lehrer daran, Unterricht für drei Niveaus zu arrangieren. Zwar konnten leistungsfähige Schüler das eine oder andere lernen, aber die Überforderten oder Uninteressierten spielten meistens Karten, warfen irgendwelche Dinge durch die Klasse oder klauten Sachen von Nachbarn. Daraus resultierende Konflikte riefen nicht selten chaotische Zustände hervor. Solche und noch viel größere Probleme zeigten, dass hier Bildungspolitiker Reformen ohne Konzepte durchboxten.

    So weit, so schlecht, doch was hatte Frank jetzt zu berichten?

    »Ich erhielt die Chance, in Pretoria Geographie und Physik zu unterrichten. Gorbatschows Reformpolitik wirkte sich auch dort aus. 1989 trat Präsident Botha zurück und Nachfolger de Klerk baute schrittweise das Apartheidregime ab. Politische Organisationen von Schwarzen durften wieder aktiv sein und Nelson Mandela genoss nach 27 Jahren Gefängnis seine langersehnte Freiheit. Da ab 1990 der Ausnahmezustand keine Gültigkeit mehr besaß, lebte es sich in diesem Land ganz gut und die afrikanische Kultur konnte mich echt begeistern. Bei meiner Arbeit durfte ich attraktive Projekte realisieren, unterstützt durch Organisationen wie „Inter Nationes". Es war eine super Zeit, leider enden diese Missionen gemäß Vertrag obligatorisch nach sechs Jahren, unabhängig vom Erfolg.«

    Mein Vater bat um eine Erklärung.

    »Wegen der eintretenden Verbuschung.«

    Silke prustete in ihren Kaffee, den sie gerade trank. Das dauerhafte Leben unter Schwarzen soll zivilisierte Deutsche in primitive Buschmänner verwandeln? Grotesk.

    »Das hat nichts mit Afrika zu tun.«

    Der Studienrat blieb trotz Silkes anhaltendem Grinsen betont gelassen und sorgte für Erleuchtung.

    »BVA-Leute gaben eine bedeutsame Untersuchung in Auftrag: Wie lange dauert es, bis ein Deutscher die Gepflogenheiten im Ausland annimmt und somit zum assimilierten Individuum wird? Resultat: Nach durchschnittlich fünf bis sieben Jahren.«

    »Aaah, interessant. Ich vermute, dass es beispielsweise Probleme mit der oft zitierten deutschen Pünktlichkeit gibt.«

    »Richtig, Helmut. Ich konnte meine afrikanischen Kollegen für viele Dinge motivieren, aber bei vereinbarten Terminen musste man öfters schon mal warten. Das kriegst du bei denen auch nicht ganz weg. Irgendwann färben derartige Einstellungen ab und deshalb ist nach sechs Jahren Schluss.«

    »Und was reizt dich am Bulgarienauftrag?«

    »Eine ausgehandelte Sonderoption. Ich unterschrieb den Kontrakt nur mit der Zusage des BVAs, dass ich nach drei Jahren ausnahmsweise doch wieder nach Pretoria darf.«

    Kurt runzelte die Stirn.

    »Entschuldige Frank, ist es eine Frauengeschichte?«

    »Könnte man so sagen.«

    Im Wohnzimmer hingen zahlreiche Fotos an der Wand, die eine grazile Schönheit zeigten, hier und da in der Gesellschaft von Politikern, Managern und Bankern.

    »Wir wollten am Ende meiner Dienstzeit heiraten. Ich hatte bereits alles dafür Nötige in die Wege geleitet, dann ist sie eines Morgens weg gewesen, inklusive der wertvollen Ringe. Ich prüfte meine Konten: leer. Eigentlich unmöglich ohne Zugangsdaten. Aber irgendwie hatte sie das ganze Geld abgeräumt, 120.000 Dollar.«

    Schweigen breitete sich aus. Keiner fragte, welche Absichten Frank genau hegte. Doch gegen afrikanische Clans schien eigentlich jedes Unterfangen aussichtslos, sogar gefährlich und damit töricht.

    Der Kaffee war auf und Kurt mahnte an, endlich in die Pötte zu kommen.

    »Los jetzt, die Straße wartet.«

    Beim Vollstopfen des Citroëns erlaubte sich Silke eine kritische Bemerkung über das Gefährt.

    »Du nimmst die Instruktionen vom Vorbereitungsseminar ja ziemlich ernst.«

    Tatsächlich warnte man uns davor, teure Autos zu fahren, um nicht direkt ins Visier der bulgarischen Automafia zu geraten. Franks Notkauf, eine wahre Klapperkiste, würde garantiert unbehelligt bleiben. Doch auch Kurts billiger Fiat und mein acht Jahre alter Mazda stellten ebenfalls keine lohnenswerte Beute dar. ADAC und ACE empfahlen, Italien zu durchqueren, weil aktuell Serbien gegen Bosnien-Herzegowina und Kroatien Krieg führte, die den Verbund sozialistischer Staaten nicht mehr anerkannten und demokratisch geführte Länder bilden wollten. Nach über tausend Kilometern, irgendwo hinter den Dolomiten, brausten wir plötzlich einem Waldbrand entgegen. Bald nebelten riesige Rauchschwaden alles ein, sodass der Verkehr fast zum Stillstand kam. Zum Glück loderten die Flammen etwas abseits und verschonten die verängstigt kriechenden Wagen. Was für eine verheerende Hitze hier im Sommer herrschte, irre. In Bulgarien erwarteten mich ähnliche Verhältnisse. Laut BVA litt deren Bevölkerung gerade unter argem Wassermangel.

    »Bologna. Wieder eine Etappe geschafft.«

    Mein Vater artikulierte jedes Zwischenziel wie einen kleinen Sieg. Kein Wunder bei der schweißtreibenden Angelegenheit. 200 km weiter setzten wir dann mit einer Fähre nach Griechenland über. Im Hafen von Igoumenitsa drängte uns Silke auf merkwürdige Weise in ein Café rein. Eigentlich Unsinn, denn im Schiffsrestaurant gab es kurz zuvor noch Frühstück. Irgendetwas lag in der Luft. Das Stuhrer Fräulein packte schließlich eine Überraschung aus:

    »Kurt und ich bleiben für drei bis vier Tage hier.«

    »Wie bitte?«

    Frank empörte sich.

    »Es war doch abgemacht, dass wir zu unserer Sicherheit im Konvoi fahren.«

    Die Frau aus Norddeutschland schien das nun plötzlich anders zu sehen.

    »Macht euch keine zu großen Sorgen um uns, ich habe Verwandte in Halle und bin mit ihnen schon mal durch Bulgarien getourt. Ihr seid immer noch zu dritt und mit zwei Autos ist es kaum weniger sicher.«

    Offenbar hatte Amor einen Pfeil in Silkes Herz geschossen, dort ein Feuer für Kurt entfacht und dadurch ihre Vernunft und Kollegialität in Flammen aufgehen lassen. Liebe macht nun mal blind, in mehrerer Hinsicht. Wir begannen eine längere Debatte, doch auch von uns hitzig vorgetragene Bekehrungsversuche und Mahnungen stimmten das Pärchen nicht mehr um. Beim Verlassen des Cafés nannte Frank die nächsten Etappen: Ioánina und Kozáni. Als er in den Citroën eingestiegen war, gab er Vollgas und der Staub des extrem trockenen Bodens wirbelte unter den rotierenden Reifen hoch.

    "Hot town summer in the city back of my neck getting dirty and gritty

    I been down isn't it a pity doesn't seem to be a shadow in the city all around people looking half dead walking on the sidewalk hotter than a match-head"

    Aus meinen laut dröhnenden Boxen brüllte Joe Cocker gegen die höllische Hitze an. Im Gebirge forderten steile und kurvige Straßen den Autos einiges ab. Wegen der schweren Fracht musste ich immer öfter bis auf den ersten Gang runterschalten. Hochfrequente Töne des Motors vermischten sich mit dem Rappeln des alten Gefährts, doch es war Franks Citroën, der vorne auf einmal dampfte.

    »Verdammt, bestimmt ein Kolbenfresser!«

    »Prost Mahlzeit.«

    Der Afrika-Geschädigte schien vom Pech verfolgt zu sein. Wir wendeten die Autos und eierten zurück bis zum nächstgelegenen Kaff, zum Besitzer einer Garagenwerkstatt. Der freundliche Grieche versprach zwar Hilfe, aber alleine für das Besorgen der Ersatzteile veranschlagte er etwa sieben Tage. Damit würde ich meinen Einstellungstermin am Sprachengymnasium verpassen.

    »Jetzt seid Ihr tatsächlich auf euch alleine angewiesen. Ich wünsche euch, ohne weitere Zwischenfälle durchzukommen. Tschau Thomas. Wir sehen uns in Sofia, wenn Frau Haas Ende September alle Programmlehrer zum Seminar empfängt. Tschau Helmut, hat mich gefreut.«

    Nun kraxelte der Mazda alleine in der Einöde herum. Gemäß dem Plan des ADACs steuerten wir Kozáni an, konnten aber unser Ziel nicht mehr im Hellen erreichen. Durch die schwarze Nacht wirkte die Gebirgsstraße unheimlich und endlos. Über den nächsten Gipfel noch, dann sollten erste beleuchtete Häuser erscheinen. Oben angekommen der Schock. Die Stadt brannte lichterloh. Wahnsinn. Feuerwehrsirenen zeugten vom Kampf gegen ein Flammenmeer. Diese verdammte Hitze, wie sehr muss sie alles verdorrt haben, sodass ein Funken irgendwo zur Katastrophe führte. In unserem Geiste rannten Menschen panisch umher, um dem Feuertod zu entkommen. Ohne die Verzögerungen durch Kurt, Silke und Frank hätten wir womöglich dort Quartier bezogen und wären vielleicht Opfer dieser Tragödie geworden. Entsetzt stiegen wir wieder in den Wagen und fuhren von dannen, erneut vom reinen Schwarz umgeben. Immerhin gab es fast keine Abzweigungen oder Kreuzungen, sodass ich nur lenken, bremsen oder Gas geben musste. Mein Vater schlief mittlerweile und ich fuhr quasi im automatischen Modus.

    Gedanklich beschäftigten mich die ersten Lektionen der bulgarischen Sprache. Auf dem Vorbereitungsseminar verteilte Heike Haas einen 400 Seiten dicken Grammatikwälzer. Kapitel eins lehrte das kyrillische Alphabet. Die Buchstaben Ц, Ч, Ш, Щ, Ъ, Ю und Я kamen mir wie Hieroglyphen vor. Die übrigen stammten, anfänglich zur Freude, aus dem lateinischen Alphabet, doch sie sorgten leider für Verwirrungen. Das bulgarische „B stand für das deutsche „W, das „C stand für „S das „H für „N, das „P für „R das „Y für „U, das kleine „g für „d, das „m für „t und das „n für „p.

    Sieht man im Urlaub am Schwarzen Meer ein Schild mit „PECTOPAHT", weist es auf ein RESTAURANT hin.

    HATYPA bedeutet NATUR und BAHA ist eine WANNE.

    Ließen diese Beispiele schnelle Fortschritte bei der Auseinandersetzung mit dieser Sprache erhoffen?

    „Horoskop für Ihre guten und schlechten Tage" schrieb sich entweder

    „XOPOCKOП ЗА ВАШИТЕ ДОБРИ И ЛОШИ ДНИ"

    oder

    „хоpоскоn: за вашиme goбpи и лоши gни" und las sich

    „Horoskop sa waschite dobri i loschi dni".

    Auch wenn mein Sternzeichen „Widder" mir den Willen zum Siegen zuschrieb, so erwartete mich dessen ungeachtet ein längerer Kampf gegen diese Finessen der slawischen Wörter und Sätze. Meine Hirnzellen mussten sich bereits dafür verrenken, die Artikel der Substantive wahrzunehmen oder richtig zu setzen. Sie stehen überraschend nicht vor den Hauptwörtern, sondern direkt dahinter.

    Fiel bei historischen Eroberungen von Territorien „der Turm eines Grenzwalls, sagte der Heerführer „Turm-der fällt („Kulata pada.). Im Bericht schrieb er: „КУЛАТА ПAДA. (КУЛА = TURM, TA = DER) oder „Kyлаma naдa" (Kyла = Turm, ma = der).

    Das Wort КУЛАТА schwirrte in meinem Kopf herum, weil es eine strategische Bedeutung hatte. Genauso hieß nämlich der Ort an einem Grenzübergang nach Bulgarien, den Veteranen als Schlupfloch beschrieben, weil dort ausnahmsweise keine korrupten Zöllner ihre Hände aufhielten, um Devisen einzusacken. Kurz vor 8 Uhr sah ich das ersehnte Schild:

    Promachonas / КУЛАТА - 20 km

    In der Morgendämmerung näherten wir uns der Grenzstation. Jetzt bitte wirklich keinen Ärger mit all dem Gepäck im Auto. Die Zöllner ließen uns tatsächlich wie vorausgesagt problemlos passieren. Das nächste Ziel hieß Sofia. Die Metropole Bulgariens ist geschichtlich bedeutend und eine der ältesten Städte Europas. Archäologische Funde zeigen, dass hier bereits vor 8.000 Jahren eine steinzeitliche Siedlung existierte. Den heutigen Namen bekam sie im

    14. Jahrhundert. Laut Erzählungen gab hier eine fabelhafte Kirche namens „sveta Sofia („heilige Sofia) Hoffnung auf Freiheit, die mit Hilfe von Weisheit und Überlebenswillen erreichbar sei. Bulgarien litt zwar nicht mehr unter dem grausamen Diktator Schiwkow, befand sich jedoch mit der regierenden BSP immer noch im Würgegriff der vermeintlich gestürzten Staatsideologie.

    - - - - - - -

    Violetta Radewa saß an ihrem Schreibtisch und überlegte, welche Unterlagen sie durchforsten sollte. Angesichts der bis zum Schulbeginn zu erledigenden Aufgaben fühlte sich die Direktorin des Gymnasiums stark getrieben. In den Regalen lagen stapelweise Anträge von Schülern. Wieder wollten über 200 Jungen und Mädchen einen Platz in der Schule ergattern, die eine strahlende Zukunft versprach. Am begehrtesten waren die 100 Plätze für den deutschen Zweig. Violetta öffnete aber zuerst eine Mappe, die über eintreffende Lehrer informierte. Mademoiselle Dupont aus Paris wollte um 11 Uhr erscheinen. Für Fremdsprachen rekrutierte man immer Lehrer aus dem Ausland, um durch die Zusammenarbeit mit ihnen ein hohes Ausbildungsniveau zu garantieren, um Auslandsreisen zu arrangieren und um Fördermittel von in- und ausländischen Institutionen zu bekommen. Frau Radewa sann über Fragen an die Französin nach und beauftragte das Sekretariat, dem Übersetzer Bescheid zu geben. Nachmittags würden noch zwei Deutsche, am Donnerstag eine Amerikanerin und nächste Woche ein Kolumbianer eintreffen. Plötzlich schossen der Rektorin die problematischen Renovierungsarbeiten wieder in den Kopf. Etliche Mängel in den Schülerpensionen erwiesen sich als so gravierend, dass der Zeitplan für den Bezug vieler Zimmer aus den Fugen geriet. Frau Radewa sprang auf und hastete zum Bauleiter. Es durfte einfach nicht sein, dass Schüler aus entlegenen Städten zum Start vor verschlossenen Quartieren standen.

    - - - - - - -

    Mein Vater und ich hatten Sofia hinter uns gelassen und fuhren gen Lowetsch eine Tankstelle an. Außer uns hielt hier keiner, obwohl es sich bei der Straße um die Magistrale Sofia-Varna handelte. Privat reiste kaum jemand lange Strecken. Wir stoppten und der Tankwart beäugte uns argwöhnisch durch das Fenster seines Gebäudes. Dann kam er, mit einer Pistole im Holster, heraus. Ich erinnerte mich, stellenweise ausgebrannte Häuser erblickt zu haben. Befürchtete der Tankwart etwa das Erscheinen von Schurken? Helmut und ich vermieden jede ruckartige Bewegung, die den nervös wirkenden Mann hätte irritieren können. Bei meiner unbeholfen formulierten Bitte um Benzin stufte er uns als friedliche Touristen ein, entspannte sich und gab dem durstigen Mazda Kraftstoff. Mit vollem Tank und wieder tief hängendem Heck musste ich auf den letzten Etappen über ЯБЛАНИЦА (Jablanitza) und БРЕСТНИЦА (Brestnitza) die Straße besonders beachten. Löcher im Asphalt konnten bei höherer Geschwindigkeit massiv durchschlagen und die Hinterachse brechen lassen. Unachtsame stürzten sogar in eine der manchmal spät erkennbaren Gruben, die laut Warnungen unserer Veteranen teilweise Ausmaße von Fallgruben hatten.

    »ЛОВЕЧ«

    Geschafft, verriet uns das Ortsschild. Aus der Entfernung wirkte die Stadt malerisch schön. Der Ossam schlängelte sich durch sie hindurch, Brücken verbanden die durch den Fluss geteilte Stadt und östlich gelegen beeindruckte ein riesiger Gebirgszug. Im Zentrum suchte ich die Post auf und rief in der Schule an. Kurz darauf kam zügigen Schrittes der Konrektor des Gymnasiums. Gospodin (Herr) Hitow begrüßte mich und Helmut im perfekten Deutsch. Er wirkte etwas gereizt und wunderte sich, nur ein Auto zu sehen.

    »Wo ist Herr Böhmer?«

    Ich erfand eine Ausrede.

    »Herr Böhmer kommt drei Tage später?«

    Die Unpünktlichkeit des zweiten Deutschen verwirrte ihn.

    »Hoffentlich trudelt Ihr Kollege nicht am letzten Ferientag ein, es gibt schließlich schon vorher genug zu tun.«

    Wir gingen zur Schule und betraten das Direktorenzimmer.

    »Gospoja Radewa, edinia utschitel ot Germania e pristignal, Thomas Holberg c baschta ci.«

    (»Frau Radewa, einer der beiden Lehrer aus Deutschland ist angekommen, Thomas Holberg mit seinem Vater.«)

    Plötzlich und unerwartet brach eine Flut aus Freundlichkeit und Euphorie über uns herein. Die Dame in der Aufmachung einer würdevollen Chefin schlug nicht lediglich in meine Hand ein, sie umarmte mich direkt mit inbrünstiger Herzlichkeit.

    »Gospodin Holberg, tschakame wi wetsche. Mnogo ce radwam. Nadjawam ce, wie imachte dober pet...«

    Ihre Stimme überschlug sich fast. Ich verstand nicht was sie sagte, begriff aber den überschwänglichen Empfang. Die Schule brauchte jede Menge Hilfen, was seitenlange Dossiers im Kölner Seminar umfassend darlegten. Frau Radewa sah in mir eine Art Retter, schließlich reiste ich aus dem „Land des Wirtschaftswunders" an. Sie ließ mich kaum los, strahlte vor Freude und stellte Fragen über Fragen. Gospodin Hitow übersetzte, holte eine Flasche Rakia sowie Schnapsgläser aus dem Schrank, schenkte ein und sagte nun gut gelaunt:

    »Dobre doschli, nasdrawe, herzlich willkommen, prost.

    Ich bin Radoslav, lassen wir doch die Förmlichkeiten sein.«

    Per „Du" ging die Unterhaltung weiter.

    »Wo soll dein Wagen stehen?«

    Eigentlich war ich um den alten Japaner mit seinen 200.000 gelaufenen Kilometern nicht sonderlich besorgt.

    »Bedenke. Der Mazda ist für uns ein Qualitätsprodukt. Parkst du unbedacht, ist er schnell weg. Natürlich gibt es bewachte Stellplätze, aber warum Geld bezahlen? Auf dem Schulgelände habe ich eine Garage für meinen Jiguli, mache sie aber für dich frei.«

    Hiermit begann das vorhergesagte Spiel von Leistung und Gegenleistung, was in Ländern mit schwierigen Verhältnissen unvermeidlich ist, allerdings nicht ausarten durfte. Minuten später trat eine Deutschlehrerin herein, die Wessela hieß und mir den weiteren Ablauf des Tages erklärte.

    »Du wohnst im gleichen Viertel wie ich. Wir fahren jetzt zu deiner Bleibe, laden den Wagen aus und besprechen das Wichtigste.«

    Der Ortsteil Babarkowitz war nur zwei Kilometer entfernt. Wild durcheinander aufgestellte Plattenbauten, hässlich und verkommen wie in der Ex-DDR, kennzeichneten die Gegend, deren Straßen keine Namen und massenhaft Löcher hatten. Nach einer sehr holprigen Fahrt stiegen

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