ANTISEMITISMUS HEUTE: Michael Wolffsohn im Gespräch
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Über dieses E-Book
Das Gespräch mit Michael Wolffsohn erfolgte im Rahmen der Sendung "Kontext" bei Radio SRF 2 Kultur. Die Fragen stellte Susanne Schmugge.
Beigefügt ist Gotthold Ephraim Lessings berühmtes dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen, Nathan der Weise.
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Buchvorschau
ANTISEMITISMUS HEUTE - kurz & bündig verlag
zeitfragen
Antisemitismus
heute
Michael Wolffsohn im Gespräch
Ergänzt mit Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise –
Ideendrama in fünf Akten. 1779 erstmals veröffentlicht,
1783 in Berlin uraufgeführt.
kurz & bündig verlag | Frankfurt a. M. | Basel
Michael Wolffsohn im Gespräch
mit Susanne Schmugge
Transkription eines Interviews bei Radio SRF 2 Kultur,
vom 11.11.2019
Medien beschreiben ihn zuweilen als streitbar. Er sei einer, der anecke und sich gerne zwischen alle Stühle setze. Die Rede ist vom Historiker und Publizisten Michael Wolffsohn. Geboren in Israel, lebt er seit Jahrzehnten in Deutschland. Er war Professor für Neuere Geschichte an der Bundeswehr-Universität in München, hat dort gelehrt und geforscht, bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2012.
Michael Wolffsohn hat diverse Bücher geschrieben: über Israel, über deutsch-jüdische Beziehungen, über das Verhältnis von Christen und Juden und eines über die Geschichte seiner Familie.
Seit er als junger Mann nach dem Militärdienst in Israel zurück nach Deutschland kam, mischt er sich ein. Er war einer der Ersten, der den Antisemitismus in der DDR erforschte und der früh erkannte, dass es auch unter westdeutschen 68ern einen linken Antisemitismus gab. Und auch mit der Emeritierung ist Michael Wolffsohn kein bisschen leise geworden.
In den vergangenen Jahren ging es ihm vermehrt auch um den von muslimischen Einwanderern mitgebrachten neuen Judenhass. Woher kommen diese archaischen Vorurteile gegenüber einer Minderheit, deren Anteil an der Weltbevölkerung gerade mal 0,2 Prozent beträgt? Fragen, die Michael Wolffsohn immer wieder und auch ganz aktuell beschäftigen.
Soeben erschienen ist sein neuestes Buch «Tacheles». Und da beschäftigt er sich mit den vielen Zerrbildern von und über Juden. Ende 2019 war Michael Wolffsohn in Zürich. Dort entstand das Interview mit Susanne Schmugge beim Schweizer Radio SFR2.
Susanne Schmugge:
In Ihrem neuesten Buch «Tacheles» geht es um Vorurteile und Projektionen gegenüber Juden – negative wie positive. Es gibt da ein Zitat, dass Juden häufig mit dem positiven Vorurteil konfrontiert seien, sie hätten den Bonus, klug und intellektuell zu sein, und würden als Experten zu allen möglichen Themen befragt.
Michael Wolffsohn:
Solche Klischees sind natürlich «wunderbar». Als Jude wäre man dann sozusagen das Genie vom Dienst, was völlig absurd ist – ein absurdes Theater. Es gibt positive und negative Klischees, und dann sucht man sich das Klischee à la carte aus, je nachdem, wo man politisch steht. Nein, was ich damit meinte, war, dass es aus psychologisch und historisch nachvollziehbaren Gründen viele Nichtjuden gibt, die Angst haben, Dinge beim Namen zu nennen. Wenn sie etwa jemanden einen jüdischen Deppen nennen, fürchten sie, dass ihnen das Signum des Antisemiten angeheftet wird. Wir haben also eine verkrampfte Situation, und ich versuche seit Jahrzehnten – freilich vergeblich wie Don Quijote – eine Entkrampfung im jüdisch-nichtjüdischen Dialog zu bewirken.
Susanne Schmugge:
Wir wissen alle, dass es diesen alten europäisch-abendländischen Antisemitismus gibt wegen des Weltjudentums, der jüdischen Finanzelite und so fort. Dass dieser jedoch heute, im Jahr 2019, bei uns in tödliche Gewalt umschlägt, erstaunt mich. Ich dachte, das sei weitgehend vorbei. Und dann, vor
einem Monat, dieser Anschlag von Halle. Ich lag da offenbar völlig falsch.
»Aus psychologisch und historisch nachvollziehbaren Gründen gibt es viele Nichtjuden, die Angst haben, Dinge beim Namen zu nennen.«
Michael Wolffsohn:
Nein, nicht nur sie. Aber diejenigen, die überrascht waren, sollten überrascht sein ob der Überraschung, denn der Rechtsextremismus war ja nie wirklich tot.
Wir müssen auf zwei Varianten des Antisemitismus blicken. Es gibt einen diskriminatorischen Antisemitismus, und es gibt einen liquidatorischen Antisemitismus. Der liquidatorische will die Liquidierung des Juden, weil er ein Jude ist. Der diskriminierende Antisemitismus diskriminiert «nur». Diskriminierung ist unerfreulich, unmenschlich und nicht akzeptabel, aber sie lässt auf jeden Fall den Juden am Leben. Das ist keine Beschönigung und keine Verniedlichung des diskriminatorischen Antisemitismus, aber es gibt einen Unterschied.
Jetzt haben wir aber eine allgemein viel gewalttätigere gesellschaftliche Situation, und zwar vor allem von muslimischer Seite. Und warum sollen dann aus der rechtsextremistischen Sicht die Rechtsextremisten auf dieses Instrument verzichten?
Susanne Schmugge:
Sie setzen quasi den rechtsextremen, gewalttätigen Judenhass gleich mit dem muslimischen?
Michael Wolffsohn:
Aber selbstverständlich! In einer globalisierten Mediengesellschaft ist doch völlig klar, dass Muster übernommen werden. Wenn ein rechter, linker oder muslimischer Antisemit mit
liquidatorischen Absichten in Frankreich sieht, dass man – mit welchem Instrument auch immer – einer Knarre oder
einem Messer – Juden umbringen kann, dann wird das ein
liquidatorischer Antisemit in Deutschland und vielleicht sogar in der Schweiz oder woanders auch tun. Das ist überhaupt keine Überraschung. Die Überraschung ist nur, dass diejenigen, die sich professionell mit solchen Fragen beschäftigen müssen wie Politik- und Sicherheitsbehörden, hiervon überrascht waren. Und das halte ich für ein schlicht und ergreifend handwerkliches Versagen.
Susanne Schmugge:
Sie haben nach dem Anschlag von Halle gesagt, die drei Feinde der jüdischen Gemeinschaft, oder auch der offenen Gesellschaft, seien Rechtsextremismus, Linksextremismus, Islamismus: lauter Ismen. Von welcher Gruppe geht die größte Gewaltgefahr aus?
Michael Wolffsohn:
Das wissen wir aus Erfahrung, auch wenn durch den Terrorakt von Halle die Diskussion wieder fokussiert wird auf den Rechtsextremismus.
Wir haben diese drei extremistischen Gefahrenquellen für die offene Gesellschaft. Jetzt kommen wir auf die Makroebene und müssen abwägen. Da zeigen alle Indikatoren der letzten Jahre ganz eindeutig, dass der muslimische Extremismus – nicht nur gegen Juden, sondern ganz allgemein – der gefährlichste ist.
Das kann eindeutig belegt werden, sowohl in Frankreich als auch Deutschland oder sonst wo. Vor genau einem Jahr gab es eine Studie der Europäischen Menschenrechtsagentur. Dort wurden 17 000 Juden befragt, von wem sie in den letzten Jahren am häufigsten mündlich bedroht worden sind oder körperliche Gewalt erfahren haben. Mit ungefähr 40 Prozent wurde eindeutig an erster Stelle die muslimische Quelle genannt, an zweiter Stelle, mit ca. 20 Prozent, die linke Szene und mit ca. fünfzehn Prozent die Rechtsextremisten.
Dann gibt es eine Umfrage des renommierten amerikanischen Umfrageinstituts PEW in neun oder zehn europäischen Staaten mit praktisch derselben Fragestellung. Da wurden Nichtjuden befragt, von welcher Seite sie in den letzten Jahren die stärkste Gefahrenquelle nicht nur erwartet, sondern konkret erlebt hatten. Auch da wies an erster Stelle das Resultat eindeutig auf die muslimische Gefahr hin. Danach folgte «links» und an dritter Stelle «rechts».
Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Wenn Medien, Politiker und Stammtisch sagen, die größte Gefahr komme von rechts, kann ich das historisch und psychologisch verstehen. Denn der Holocaust, der bekanntlich von Rechtsextremisten – also den deutschen Nationalsozialisten – verübt worden ist, war kein muslimisches und auch kein linkes Phänomen.
Susanne Schmugge:
Nach Halle hieß es ja in Deutschland immer, die rechtsextreme Gewalt werde vernachlässigt. Die Zahlen zeigen aber etwas anderes. Das geht auch in die Richtung dessen, was sie gesagt haben: dass die rechtsextremen Übergriffe überschätzt und die von muslimischer Seite unterschätzt werden. Warum tut man sich offenbar in Deutschland so schwer, das Kind beim Namen zu nennen?
Michael Wolffsohn:
Man muss es eindeutig historisch, psychologisch verstehen, und es ist politische Dummheit – aber in bester Absicht. Das muss man fairerweise hinzufügen! Das Benennen von Muslimen im Zusammenhang mit Antisemitismus kommt sofort in den Geruch des Rassismus. Das ist sozusagen gegen die DNA der Bundesrepublik. Es gehört in Deutschland zur Staatsraison, dass Intoleranz gegen Herkunftsgruppen – welcher Art auch immer – nicht akzeptabel sein darf. Das finde ich sehr
ehrenwert.
Susanne Schmugge:
Aber es hat offenbar eine Kehrseite, die vielleicht dazu führt, dass man auf einem Auge ein bisschen blind ist.
Michael Wolffsohn:
Richtig! Da haben wir ja nun Gott sei Dank Dichter, Schriftsteller und Denker, die intensiver denken als Politiker, Journalisten und Professoren.
Nehmen Sie den Mephisto in Goethes Faust. Mephisto ist der Geist, der stets das Böse will und doch das Gute schafft. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland das umgekehrte Phänomen. Wir haben den Geist, der stets das Gute will und doch das Böse schafft. Nämlich in diesem Falle hier wird eine Statistik präsentiert, die aus politisch-pädagogischen Gründen eine nicht vorhandene Wirklichkeit erfassen soll. Wenn also irgendein Rechtsextremer jemanden, der nicht orientalischer Herkunft ist, als altes Judenschwein bezeichnet und «Heil
Hitler» beifügt, ist das ganz klar rechtsextremistischer Antisemitismus. Wenn also ein Moslem – auf der Straße in Zürich, Berlin oder sonst wo – einerseits Allahu Akbar sagt und dazu jemanden, weil er Jude ist oder hebräisch spricht, als Judenschwein oder miesen Zionisten beschimpft, so ist das nicht Antisemitismus in der Statistik, sondern politisch motivierte Kriminalität.
Das heißt, sie haben Antisemitismus nur auf eine zum Teil gar nicht empirische Grundlage gestellt. Dann ist es in der Politik und Sicherheitspolitik noch schlimmer als in der Medizin, wenn Ärzte eine falsche Diagnose stellen – dann ist die Therapie aussichtslos. Und wenn ich mit einer solchen Statistik an den Antisemitismus herangehe, muss oder kann ich mir einbilden, dass ich ihn irgendwie in den Griff bekommen kann.
Susanne Schmugge:
Man tut quasi den muslimischen arabisch inspirierten Antisemitismus ein bisschen schönreden oder kleinreden. Ich habe manchmal den Eindruck, diese Form von Antisemitismus, die ja häufig auch als Antizionismus oder als heftiger Affront gegen den Staat Israel daherkommt, sei «unverstellter» und darum auch unkorrigiert gewalttätiger als der alteuropäische, der heute in Deutschland, eben vielleicht auch aufgrund der Geschichte, viel kontrollierter daherkommt und nicht nur in Gewalt ausartet.
Michaele Wolffsohn:
Richtig, deswegen gab es ja immer auch den Salon-Antisemitismus, der durchaus den Nationalsozialismus einschließlich der Judenmorde billigte, und andere eben nicht billigte, weil das ja nicht fein war. Juden diskriminieren ja, aber Juden liquidieren nein. Das wurde nur den Unterschichten zugemutet, ein vulgärer Antisemitismus – nein, man war anständiger Antisemit.
In Bezug auf den muslimischen Antisemitismus muss man zwei Quellen unterscheiden: zum einen die traditionelle, religiöse Dimension und zum anderen den Nahostkonflikt – das ist ein Stimulus schlechthin.
Dadurch, dass wir – und ich sage das in keiner Weise anklagend – einen immer größer gewordenen Teil von Muslimen aus arabisch-islamischen Regionen in Westeuropa und Deutschland haben, haben wir den Nahostkonflikt importiert. Der Nahostkonflikt ist, wie jedermann weiß, gewalttätig. Die jüdische Gemeinschaft identifiziert sich zweifellos – und zu Recht – sehr stark mit Israel. Das heißt nicht, dass sie unloyale Staatsbürger sind, ganz im Gegenteil! Aber sie haben eine stärkere Bindung an Israel als beispielsweise an Neuseeland. Deswegen werden sie von Muslimen wahrgenommen als der verlängerte Arm des Staates Israel.
Was liegt also aus ihrer Sicht näher, als sich zu sagen, dass sie sich leichter einen Juden, der mit oder ohne Kippa herumläuft, schnappen können, als etwa Benjamin Netanjahu oder den israelischen Generalstabschef.
Wir haben also auf diese Weise den gewalttätigen Nahostkonflikt hier bei uns importiert, und das bringt mich auf einen ganz wichtigen Punkt. Ich werbe nicht für Judenliebe – das ist genauso ein Klischee. Man muss uns nicht lieben. Man darf und soll individuelle Juden sehr mögen, schätzen oder lieben, aber auch kritisieren dürfen. Das Gleiche gilt selbstverständlich auch für Nichtjuden.
Aber kommen wir zurück auf die Makroebene. Der Antisemitismus ist die größte Dummheit der Antisemiten, denn sie schaden sich selbst. Klassisches Beispiel ist das Deutschland im Dritten Reich. Was da an Intelligenz und Wissen verloren ging, war selbstverschuldet. Im Neuhochdeutschen nennt man das Braindrain – den Abzug von Verstand.
Der Großteil der Juden wanderte in die Vereinigten Staaten aus, das war die Grundlage für die Wissens- und Wissenschaftsexplosion in den Vereinigten Staaten. Das heißt, das Vertreiben der jüdischen Intellektuellen aus Deutschland brachte dem Aufnahmeland riesige Vorteile.
Das können Sie in der Geschichte weiter zurückverfolgen. Im Mittelalter des 14. Jahrhunderts wurden Juden aus West-