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Vom Wahnsinn einer Frau
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eBook267 Seiten3 Stunden

Vom Wahnsinn einer Frau

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Über dieses E-Book

Die Geschichte einer unerhörten Liebe im Suriname der Fünfzigerjahre: dicht, sinnlich und poetisch erzählt von einer großen Stimme der postkolonialen Literatur.

Paramaribo um 1950: Die junge Lehrerin Nunka wird von ihrer Familie mit Louis aus Curaçao verheiratet, doch schon bald wagt sie Unglaubliches: Nach nur neun Tagen flieht sie vor ihrem gewalttätigen Ehemann. Doch in Suriname gibt es keinen Platz für weibliche Selbstbestimmung: Ihre Eltern schicken sie weg, in ihrem Job wird sie gekündigt. Ihre verzweifelte Suche führt Nunka als Kindermädchen zu einer holländischen Familie, und zwischen ihr und der Hausherrin Gabrielle entbrennt eine fatale, verbotene Leidenschaft. Als wahnsinnig abgestempelt, mit Gefängnis und Irrenanstalt bedroht, müssen Nunka und Gabrielle zu viele Kämpfe führen, um gewinnen zu können. Erstmals 1979 erschienen, gilt "Vom Wahnsinn einer Frau" als Kultbuch der feministischen postkolonialen Literatur.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum4. März 2024
ISBN9783701747177
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    Buchvorschau

    Vom Wahnsinn einer Frau - Astrid H. Roemer

    Für

    Lam van Gisbergen

    und für

    Zamani, Safira und meine Jungs

    und die, die mir die Gabe des Worts schenkten

    Lelydorp, den 29. August

    Große Bärin, Eulennebel, Merak

    Für uns hat das Große Jahr begonnen. Die Zeit verläuft nicht mehr linear, sie ist zu einer schrumpfenden Ellipse geworden. Gabrielle und ich beschreiben gegenläufige Bahnen und sehnen uns danach, einander im Zenit zu treffen. Unterdessen erneuert sich die Natur mit Orangenernten, bunten Blüten, Vögeln in der Mauser und Jahreszeiten – Regen im Mai und Sonnenblumen im August. Selbst die Sonne lässt sich widerspruchslos vom Passat nach Westen schieben, und die Sternenschauer beunruhigen mich.

    Seit sie mit mir geschlafen hat, meine Gabrielle, nackt wie das Pochen eines Herzens und rein wie das Rauschen von Blut, ist meine Urangst vor Schlangen überwunden. Von deren Nachkommenschaft trennt mich mehr als Feindseligkeit. Wo immer mir eine begegnet, werde ich sie mit der Ferse zermalmen, und wenn ich dabei ein Bein verliere. Doch das wuchernde Unkraut raubt mir die Geduld, nicht eine Schlange verbirgt sich darin.

    Du fehlst mir, Gabrielle.

    Meine Liebe zu dir äußert sich durch Blumen. In dem verwilderten Grün blühen deine Samen unverwelklich, denn in einem Garten von Schattenbäumen und Faulgas übe ich unendlich sanft und sinnlich, übermütig und ergeben meinen Dienst an den Orchideen aus.

    In Trauben, Büscheln und Ähren blühen die Hermaphroditen mit bizarren Lippen, die unsere Erde küssen wollen. »Höhlung der Phallusscheide«, so heißt die Weiße mit der rosafarbenen Lippe. Sie riecht nach Bergen und nach Frost. Die Rocky Mountains sind ihr Ursprung. Ihre Blätter sind gefaltet wie betende Hände. Ich habe eine blaue mit roter Lippe. Sechs leuchtend blaue Hüllblätter und ein bizarrer Seitentrieb. Sieben Blütenblätter. Sie strahlt wie ein Stern in diesem Nebeltal. Ich nenne sie die Große Bärin.

    Meine Kunden kommen von weit her, Gabrielle. Sie sagen, das ganze Tal dufte nach Orchideen. Ich freue mich und vermehre sie, während Schmetterlinge Bienen unsichtbare Tierchen und Wind die Pollen so lange zu klebrigen Stempeln tragen, bis das ganze Land nach Orchideen schreit: Unsere Zeit gebiert Orchideen, Gabrielle!

    Deine Nunka

    PS: Im üppigen Goldregen tropft Sonnenlicht von der Hecke, um dich zu begrüßen.

    Nachtrag

    Die Todesstrafe wurde in Suriname 1875 zum letzten Mal vollstreckt. Der Unglückliche war ein Chinese. Zusammen mit zwei anderen war er durch den Würfel dazu bestimmt worden, den Aufseher der Plantage Resolutie, der seine Landsleute unmenschlich behandelt hatte, zu ermorden.

    Bei der Hinrichtung riss das Seil, das ihn erdrosseln sollte, zwei Mal hintereinander. Man bekam es mit der Angst zu tun. Aus der Todesstrafe wurden zwanzig Jahre Zwangsarbeit in Fesseln. Der Verurteilte saß nur einen Teil der Strafe ab, er wurde wegen vorbildlichen Verhaltens begnadigt.

    Nieuw-Amsterdam 19xx. Gabrielle pflegt den Gemüsegarten. Sie verliert ihre himmlischen Hände an die rauen Seile, aus denen sie merkwürdiges Flechtwerk zaubert. Sie unterwirft sich ihrer Strafe.

    Wieder habe ich bei der Staatsanwaltschaft ein Gnadengesuch eingereicht. Mein neuntes. Ich warte seit Jahren auf Antwort.

    Morgen wird der Geburtstag der Königin gefeiert. Vielleicht wird sie dann ja freigelassen. Ich warte am Tor.

    Lelydorp 19xx. Der Zug fährt nicht mehr. Die Goldfelder sind erschöpft. Die Busse aus der Stadt halten immer wieder für dieselben Menschen, die schnuppernd den Wind einatmen. Ich rieche die Orchideen, die sich zitternd nach Kälte sehnen.

    Die Wochen kommen und gehen. Überall dieselben Gesichter. Dieselbe Sonne.

    Vor einem Monat haben wir Edith zu Grabe getragen. Die Kinder und Arbeiter kaufen ihre gekühlten Orangen nun bei mir.

    Mir tränen die Augen, wenn ich sie schäle.

    Nunka e kre (Nunka weint), necken sie mich.

    Heute haben sie Recht: Ich weine, Astrid.

    An ihrem fünfzigsten Geburtstag muss ich bei meiner Gabrielle sein.

    Meine Ehe dauerte genau neun Tage und schlug so hohe Wellen in unserer kleinen Küstenstadt, dass ich ein Leben lang unruhig blieb.

    Es begann in meiner Familie, als ich in jener neunten Nacht versuchte, meine Eltern wachzuklopfen.

    Der Regen prasselte stark und herrisch, und weil das Dach so flach war, drang das Trommeln meiner Knöchel auf dem Holz nicht bis ins Innere des Hauses: Stattdessen verschmolz es mit dem rhythmisch fallenden Himmelwasser. Tiefe Stille füllte das Haus.

    Meine Hände schmerzten, sie schmerzten mehr noch als mein Kopf und mein Bauch, und ich war klatschnass. Und hatte Angst – nicht nur vor dem bedrohlichen Friedhof nebenan, der im Licht der Blitze aussah wie eine geträumte Bühne, sondern vor der Trostlosigkeit der tief schlafenden Stadt, die sich vom Wasser vereinnahmen ließ, und vor dem Haus von Vater und Mutter, das mir den Zutritt verwehrte, als ich zurück zum Geruch von Talkumpuder und Messingreiniger, Tabak und alten Zeitungen fliehen wollte, um den des Blutes loszuwerden, der an mir klebte.

    Ich klopfte nicht mehr, sondern hämmerte gegen die Tür und schrie.

    Doch Wasser und Wind schlugen mir meine Klage um die Ohren, als wollten sie mich verspotten.

    Schmerzen! Schmerzen!

    Hinter mir nahte Die Andere Seite.

    Verärgert, aber erleichtert, versuchte ich mich kurz darauf in der schwach erleuchteten Küche zu erinnern, wie viel Zeit vergangen war, seit ich durch das schlecht schließende Fenster eingestiegen war, doch der Gedanke wich bald dem dringenden Bedürfnis, mich bei meiner Mutter zu verkriechen, so schnell wie möglich, so tief wie möglich. Mir wurde warm davon, und ich suchte hungrig den Weg zu ihrem Zimmer. Feierlich legte ich die Hand auf den Marmorknauf, drehte, drückte.

    Jahre später begriff ich: Hinter dieser Tür habe ich meine Schmerzgrenze überschritten.

    Ich sei ein schönes Kind, sagten sie. Moi misi, riefen sie, die Frauen mit ihren Faltenröcken, und zogen mich so nah an sich, dass mein Kopf auf ihrem Bauch lag. Manche rochen nach frischem Fisch, doch auch Verwesungsgeruch stieg mir in die Nase. Ächzend riss ich mich los.

    »Nunka, Nunka«, versuchten sie mich verlegen unterm Bett hervorzulocken, doch ich blieb dort, bis meine Mutter kam und mich mit ihrem Schoß umfing: sauber, warm und sicher. Ein paar Frauen mochte ich auch, allein deshalb, weil sie zu meiner Begrüßung nicht die Schenkel spreizten, sondern die Beine übereinanderschlugen und mich neben sich aufs Sofa zogen.

    Ihr Niederländisch hatte einen weichen Klang, und sie trugen einfarbige Kleider mit Samtoberteilen und schmalen Gürteln. Ihre Beine schimmerten seidig unter den Nylonstrümpfen, und ihre dunklen Schuhe knarrten.

    Ma empfing diese Damen nicht in der Küche, und sie servierte ihnen Tee in feinen Tassen in Delfter Blau und reichte knusprige, goldbraune Kekse.

    Während sie von ihren ehrbaren Töchtern erzählten, ihren klugen Söhnen, den faulen Dienstmädchen und dem Wohltätigkeits-Kränzchen, sog ich das Parfüm ein, das sie bei jeder Bewegung verströmten. Ich hörte von einem Basar zugunsten eines neuen Schreibtischs für den Pfarrer, diesen netten, netten Mann mit seiner entzückenden blonden Gattin, und ob Mevrouw Novar sie, wie immer, beliefern könne mit all den herrlichen, herrlichen Häppchen und dem köstlichen, köstlichen Gebäck vom letzten Mal.

    Meine Mutter wurde rot, ich schmiegte mich stolz an sie, und sie sagte »Ja-natürlich-gerne« und ob die Damen nicht Teigtaschen für zu Hause mitnehmen wollten; die wurden umgehend ordentlich verpackt und dem Besuch in einer silbernen Büchse überreicht. Nach der Verabschiedung schickte sie ihnen jedoch einen tjuri hinterher, schüttelte wild die Kissen auf und verschlang, mit meiner Unterstützung, die restlichen Kekse, diese Opfergaben der Höflichkeit.

    »Bist du wütend?«, fragte ich mit Krümeln auf der Zunge.

    »Nicht wütend, nein«, sagte sie lächelnd und zog mich fest an sich.

    Wenn die Sonne so stand, dass ich auf meinen eigenen Schatten trat und Ma die Badetücher hereinholte, kam sie angeschaukelt. Ich rannte zum Tor, verletzte mich wie üblich an dem großen Riegel und nahm überglücklich ihre entgegengestreckte Hand.

    Sie duftete nach Bananen, überreifen Sapotillen, und der Geruch des Bitterorangen-Stängels, auf dem sie mechanisch kaute, machte mich niesen. Sie blieb kurz stehen, die Hand auf meinem Scheitel, und stopfte mir seltsame Süßigkeiten aus bunten Vorratsgläsern in den Mund, von dem Holztablett, das sie auf dem Kopf balancierte.

    Ich sprang hinter ihr her und stieß mit der Schulter gegen den schweren Beutel unter ihren Röcken, der voller Geldstücke war, für mich ein Vermögen, wie es kein anderer hätte besitzen können.

    Auf dem Balkon hinter dem Haus stellte sie ächzend das Tablett ab, unterhielt sich dann mit meiner Mutter in einer melodischen Mundart, die ich kaum verstand. Sie tranken Ingwerbier mit Eiswürfeln und aßen frittierte Fische. Oft war ihr ausgelassenes Lachen zu hören: hoch und rund das von Ma, platt und breit das von Peetje, meiner Patentante.

    Und ich wanderte von einem Schoß zum anderen und hoffte, Peetje würde niemals weggehen.

    Doch sie ging immer weg – meckernd, das Tablett auf dem Kopf, die üppigen Rockfalten des koto steif und weit um ihren drahtigen Leib. Ich sah ihr nach, winkte, bis mir die Sonne in den Augen brannte und ein Wirbelsturm von Schulkindern mich erschreckt ins Haus scheuchte.

    Äpfel. Nichts als Äpfel, hellrosa Äpfel mit weißen Bäckchen, die zu nichts gut waren, als den Durst zu löschen, es sei denn, man tunkte sie in Salz; tiefrote Äpfel, die an die wütenden Schmollmünder mürrischer alter Weiber erinnerten, aber zuckersüß schmeckten, und farblose Äpfel, die so köstlich waren, dass Kolonnen schwarzer Ameisen den endlosen Weg von ihren Nestern zu den hohen Ästen antraten und sich in ihre Risse drängten.

    Die Äpfel wurden alle gleichzeitig reif. Jeden Morgen lagen Hunderte im dunklen Garten und fielen und fielen immer weiter, bis zum Abend.

    Es war Mitte Mai.

    Jeden Tag wurde der sonst stets blassblaue Himmel von formlosen Regenwolken verschandelt, die von Osten herandrängten. Dann ging ein Zittern durchs Grün, der Wind wurde feucht, und in kürzester Zeit war alles voller Wasser. Und Äpfel. Bebend hingen sie zwischen den glänzenden Blättern, in dichten Trauben, bis sie herunterfielen und wie Knallfrösche zerplatzten.

    Ich übernachtete bei Peetje, der meine Mutter mich geliehen hatte, um beim Lindern der Apfelnot zu helfen. Von morgens bis abends las ich Äpfel auf, befreite sie mit einem kräftigen Wasserstrahl von Schlamm und Ameisen und stapelte sie zu einem fabelhaften Haufen. Eine eindrucksvolle Aufgabe, wenn man sechs ist und versessen auf alles Bunte und Süße.

    Emely, Peetjes einziges Kind, stand in der Küche und rührte mit Holzlöffeln in verschiedenen Töpfen.

    Nach ein paar Tagen hatte sie eine solche Sammlung von bunt gefüllten Gläsern beisammen, dass selbst der bestsortierte Chinese nicht mithalten konnte. Ich half, die Gläser zu Onkel Dolfi zu bringen, der in einem Unterstand so gut wie alles verkaufte, was gewöhnliche Leute in kleinen Mengen brauchten. Zwei neue Regalbretter kamen dazu, und sein Sortiment erweiterte sich um Apfelmarmelade, Apfelkompott, Apfelsäure, Apfeldies und Apfeldas.

    Am meisten Spaß machte es mir aber, die kleinen Käufer anzukündigen, die Peetje ihre rostigen Münzen brachten und mir Spiele, Süßigkeiten und bunte Glasscherben.

    Trotzdem verschenkte ich nicht einen Apfel heimlich: Mit meiner Hilfe sollte Peetjes Geldbeutel noch schwerer werden. Müde vom Äpfel-Auflesen schlief ich noch vor der Dämmerung in ihren Armen ein.

    Eines Nachts wachte ich auf, weil der Regen plötzlich aufhörte und eine atemlose Stille hinterließ. Ich merkte, dass ich auf dem Boden lag statt im Bett. Verwirrt stand ich auf. Irgendwo brannte Licht. Im Halbdunkel tastete ich mich nach unten ins Erdgeschoss – Wohnzimmer, Küche, Peetjes Schlafzimmer. Die Finger im Schlafanzug vergraben, ging ich ins Bad, um auf den kalten Zementboden zu pinkeln, als die Tür aufflog und Emely hereingestürmt kam.

    Es ging alles sehr schnell: Licht aus, ich in ihren kühlen Armen, und mein Schauder wegen eines feindseligen Geruchs, der sich wie eine hässliche Narbe irgendwo in mir festsetzte.

    Psst, leise, ganz leise wurde ich zugedeckt. In dieser Nacht machte ich zum ersten Mal ins Bett.

    Aasgeier rund ums Haus. Auf dem Dach, dem Brunnenrand, oben auf dem Zaun. Ihre breiten schwarzen Flügel dicht an den Körper gepresst, die Köpfe eingezogen, mit eifrig spähenden Augen. Ich saß auf der Stufe vor der Hintertür und zielte mit dem hundertsten angeknabberten Apfel auf die Mülltonne. Obwohl sich die Sonne seit dem frühen Morgen bemerkbar machte, war die Luft um die Häuser immer noch feucht und schwer. Meine Füße waren kalt, deshalb sehnte ich mich nach daheim. Hier war es überall kalt und nass. Ein Geier kam näher und pickte lustlos an einem Apfel.

    »Ksch«, rief Peetje, die gerade vom Markt kam und sich über den seltsamen Besuch wunderte. »Was machen die bloß?!«

    »Ich weiß nicht«, sagte ich und starrte zu den Vögeln, die immer zahlreicher wurden. Peetje eilte ins Haus und verfolgte vom Küchenvorbau aus wie gebannt die schwarze Invasion. Ich fand die Vögel witzig und furchterregend zugleich, hatte sie noch nie gesehen. Nach einer Weile begriff ich, dass sie etwas suchten. Aber was?

    Auch Peetje suchte, schnupperte und schnupperte, runzelte argwöhnisch die Stirn und seufzte.

    Stunden schienen zu vergehen. Unvermittelt gerieten die Vögel in Bewegung. Sie stürzten sich wüst auf einen wilden Malanga-Strauch neben dem Klo, schlugen ihre Krallen in etwas. Ein Päckchen rollte über den Boden: zerlumpte Kleidung, Laken. Peetje verlor die Beherrschung, rannte in den Garten und vertrieb die Geier mit dem Stock, weg mit euch, loslassen; das Päckchen blieb vor ihr liegen wie ein aufgebahrtes Geheimnis. Sie bückte sich, stocherte darin herum. Ich sah aus der Nähe zu, die Vögel auch. Ein hysterischer Schrei, flatternde Flügel, ein vertrauter Geruch, unzusammenhängende Erinnerungen: zwei lange, lange Arme heben die blutigen Laken hoch und flüchten ins Haus.

    »Hol Emely bei Onkel Dolfi ab, schnell, schnell«, keucht ein Mund, und Fenster schlagen zu. Hungrig starren mich die Aasgeier aus dem Malanga-Strauch an. Das Päckchen stinkt. Ich sehne mich nach meiner Mutter.

    Es könnte der Regen gewesen sein, der Blutgeruch, oder irgendetwas Schemenhaftes, das zu dieser Nacht gehörte und mich außerhalb der Reichweite von Angst und Schmerz trug. Ich sah Peetje aufgebahrt liegen, ein Antlitz wie getrockneter Lehm, voller Risse.

    »Sie ist weg«, sagen sie geheimnisvoll, wenn ich quengelnd nach ihr frage, weil die Erde im Mairegen ersäuft und überall Äpfel liegen, die verkauft werden könnten. »Weg!«

    Ich gebe nicht auf. »Wohin?«

    Meine Mutter schnieft und presst ihr Gesicht an meines: Peetje kommt nicht mehr zu uns.

    Vergeblich warte ich am Tor, gehe in eine Himmelsrichtung nach der anderen. Nirgends ein grauer Rock im Wind, nirgends zinnoberrotes Licht, gefangen auf einem Holztablett, nirgends der Duft nach Zitronen.

    Jahre später.

    Verloren schlendere ich durch unsere Straße. Ich drehe mein Gesicht zur Sonne, kicke in den Sand, denke an die bevorstehenden Ferien, in denen ich Gesangsunterricht bekommen soll – von der Frau mit den größten Brüsten, die ich je gesehen habe, und mit Augen wie zersprungene grüne Glasmurmeln. Ich schleudere meine Schultasche übers Tor, drücke den Riegel hinunter, verletze mich: Da steht Peetje.

    Sie lächelt nicht und streckt nicht die Arme nach mir aus, ihr Haar bauscht sich stumpf und grau um den Kopf, und ihr Rock hat überall dunkle Knitterfalten.

    »Peetje«, rufe ich aufgeregt, doch sie dreht sich eilig um und geht am Holunderstrauch vorbei in den Garten. Ich renne ihr hinterher: Auf dem Balkon sitzt nur meine Mutter. Sie weint.

    Bei der Beerdigung sehe ich sie wieder: das eingetrocknete Antlitz, das üppige Haar, die schmalen Finger. Ich drücke das Gesicht an ihre Hände, atme an ihrer Nase Zitronenduft ein. Emely und der Franzose, mit dem sie sich Haus und Habe ihrer Mutter teilt, starren mich an. Ich gebe ihnen kein Zeichen des Wiedererkennens: Das Drama in der kleinen Küche hat mich zu oft aus dem Schlaf gerissen. Erst die Aasgeier, dann das stinkende Päckchen, Emelys Kreischen und Onkel Dolfis zerstörtes Gesicht. Die Nachbarn, die vielen Verbissenen, die Polizei. Das Schweigen danach.

    Vor der Totenhalle wird geflüstert, sie wäre besser weggeblieben, schließlich sei es ihre Schuld gewesen. Doch ich fühle mich genauso schuldig, wenn auch nur, weil ich ihn mit einer Lüge aus seinem kleinen Laden geholt habe (»Schnell, Onkel Dolfi! Peetje braucht einen Sack Holzkohle, jetzt gleich!«). Eine Viertelstunde später war nicht die Kohle in Flammen aufgegangen, sondern er.

    Unwillkürlich sucht mein Blick den von Emely. Sie starrt entgeistert in eine andere Richtung: Einer der Sargträger grinst mich mit seinem versengten Antlitz an. Er lag nackt auf ihr. In der durchscheinenden Dunkelheit fluoreszierten die Jodpflaster auf seinem Hintern. Ein Keuchen, nein, nicht der Regen wimmerte, es war meine Mutter, die einen verlorenen Kampf führte.

    Brennende Wut engte mich ein: Ich schlug mit aller Kraft zu, mit dem schweren Schemel, den ich neben ihrem Bett wusste, bis sie mich aufhielt, meinen Namen stöhnte und meine Fäuste losmachte.

    »Kind«, seufzte sie, und ihre Stimme berührte Saiten in meinen Fußsohlen.

    Ich hielt ihr Gesicht in den Händen, wollte sie hochheben, mit ihr davonfliegen in eine Welt, in der es trocken war und immer Tag. Doch sie schüttelte den Kopf, schluchzte, schob mich hinaus und verriegelte die Tür, die uns trennte.

    Ich weiß nicht, wie ich mit dem Marmorknauf in der Hand auf die Straße gelangt bin; ich lief in den Regen hinein, durch die Straßen, weg von all diesen dunklen Häusern. Meine Beine schienen nicht mir zu gehören. Ich war nicht der Mensch, auf den der Regen fiel: Ich war der Regen selbst, der weinend durch die Stadt lief.

    Nirgends Menschen, nirgends Hunde, nur verschwindendes Wetterleuchten. Überall das traurige Gesicht meiner Mutter. Der Hintern meines Vaters mit den weißen Pflastern. Allerorts der Geruch von Blut und der Schrei meiner Angst.

    Eine Uhr schlug dreimal, als ich beim tiefen Garten mit den ächzenden Bäumen innehielt. Ein Hund bellte tief und heiser. Seine Kette klirrte. Ich blieb nicht stehen: Die Grenzen meiner panischen Angst vor der Nacht, vor dunklen Bäumen und fremden Gärten hatten sich verschoben. Beim Brunnen setzte ich mich hin. Ich war klatschnass, müde und außer mir. Der Regen hatte aufgehört. Voller Furcht starrte ich in das erste Licht des Tages.

    »Die Familie deines Vaters, das sind nur schwarze Heiden. Die Frauen sind groß und dick und haben haufenweise Kinder – schmutzige kleine Teufel, die nackt auf der Plantage herumtoben. Schule gibts für die keine. Ihre Götter sollen über ihr Leben bestimmen. Die Männer sind ungebildet. Gehen an Karfreitag im weißen Anzug in die Kirche, bitten um Vergebung für ihre Abgötterei!«

    Eine Atempause.

    »Sie dienen falschen Göttern, Rotschwanzboas, um reich zu werden und gesund zu bleiben.«

    Sie beugt sich tiefer zu mir. »Seine Schwester, die Marktfrau, hat eine Schlange im Kittel, um möglichst viele Kartoffeln und Ingwer und Fisch zu verkaufen. Ich kaufe nie was bei ihr. Wenn sie mich sieht, wird sie vor Wut noch schwärzer. Haha.«

    Ein Schauder läuft mir über den Rücken. Sie gibt mir die Schürze.

    »Familie? Du hast doch mich. Deine Brüder, deine Schwestern und all die netten Mädchen vom Chor. Die lade ich ein, wenn du fünfzehn wirst.«

    Ich zerrupfe den Schwamm.

    »Warum bringst du nie eine mit nach Hause?«

    Eine Atempause.

    »Findest du die Mädchen gegenüber nicht nett?«

    »Ich will in den Para, wenn ich fünfzehn werde, Mama.«

    Zwei Gläser zerspringen zu Scherben.

    »Du in den Para! Zu diesen Süßwassersklaven? Die haben dich gerade nötig mit deinen

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