Interview mit dem Bösen: oder das Wesen der kleinen Dinge
Von Roger Reyab
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Buchvorschau
Interview mit dem Bösen - Roger Reyab
Prolog
„Erlauben Sie mir, dass ich mich vorstelle. Ich bin ein Mann von Welt und Stil
Mich gibt es schon seit tausend Jahren
Ich stehle Seelen und kenne kein Mitgefühl
Ich war da, als Jesus Christus zweifelte und Pilatus seine Hände in Unschuld wusch
Ich bin erfreut, Sie kennenzulernen
Ich hoffe Sie erraten meinen Namen
Aber was Sie irritieren wird
Ist der Sinn meines Spiels
Ich war in St. Petersburg
Als ich meinte, es wäre Zeit für einen Wechsel
Ich tötete den Zar und seine Minister
Anastasia schrie umsonst
Ich fuhr einen Panzer im Rang eines Generals
Als der Blitzkrieg tobte und die Leichen stanken
Ich amüsierte mich, als deine Kaiser und Könige kämpften
In 10 Epochen für die Götter, die wir schufen
Ich machte Aufsehen, als ich schrie: Wer tötete die Kennedys?
Am Ende waren es doch Du und Ich
Ich legte die Fallen für die Troubadours
als sie vor Bombay starben
Ich bin erfreut, Sie kennenzulernen
Ich hoffe Sie erraten meinen Namen
Aber was Sie irritieren wird
Ist der Sinn meines Spiels
Wenn Du mich kennenlernst
Habe etwas Sympathie
Etwas Freundlichkeit und etwas Geschmack
Nutze all deine erlernte Höflichkeit
Oder ich vernichte dich
Wie jeder Polizist ein Krimineller ist
Sind alle Sünder Heilige
Wie Kopf gleich Zahl ist
Nenn mich Luzifer
Denn ich mag es, wenn ich unterdrücke
Ich bin erfreut, Sie kennenzulernen
Ich hoffe Sie erraten meinen Namen
Aber was Sie irritieren wird
Ist der Sinn meines Spiels."
(The Rolling Stones, Sympathy for the Devil, Keith Richards/Mick Jagger /Translation: Roger Reyab)
I
„Ist es böse, wenn man ein Wesen quält oder mordet?"; begann ich das Gespräch.
„Das ist es nur, wenn Sie es moralisch werten. Es ist gegeben. Sie müssen begreifen, dass alles was gegeben ist auch existiert. Was aber existiert, ist dann nicht gut oder böse. Es ist einfach nur vorhanden. Ich bestreite nicht, dass es die Vorstellung des Guten gibt. Oder des Bösen. Aber das ist genauso nur eine Illusion wie die Vorstellung, dass es einen blauen Himmel gibt. Denn für eine Fliege ist der Himmel nicht blau."
„Sie werden mir nicht den Sinn von Moral erklären. Es ist doch gerade die Moral, die uns über die Tiere erhebt. Denn wenn wir nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden können, sind wir nichts anderes als ein Tier."
„Glauben Sie das? Manches Tier ist moralischer als Sie denken. Viele Tiere sind den Menschen in Fragen der Moral sogar weit überlegen. Kennen Sie einen Menschen, der alles für seine Gemeinschaft tut, ohne ein einziges Mal an sich zu denken? Ameisen tun so etwas. Kennen Sie einen Menschen, der auf sich selbst verzichtet, nur um das Ganze zu retten?"
„So etwas hat es auch bei Menschen gegeben", warf ich ein.
„Ja, es hat so etwas gegeben. Aber es geschah wieder aus der Vorstellung von Moral heraus. Eine Ameise tut es nicht, um moralisch zu sein. Sie tut es deshalb, weil es von ihr verlangt wird. Ein Mensch braucht für diese Leistung erst einen ideellen Überbau. Er muss sich eine Moral einreden. Die meiste Moral ist aber doch nichts anderes, als erlerntes und überflüssiges Wissen und Fühlen, das wir dem Menschen eingepflanzt haben. Wir haben dem Menschen die Moral gegeben. Das Gewissen und all diesen Quatsch. Wir haben dem Menschen die zehn Gebote gegeben. Sie sind voller sinnloser Moral. Denn die Menschen sind noch heute unter der Knute dieser Gesetze. Von Gesetzen, die uns genutzt haben.
So wie es die Kirche war, die die Knechtschaft alle Jahrhunderte zu perfider Drangsalierung adelte, so waren es doch die moralischen Gebote, die den Menschen das Gefühl des Bösen gaben. Wir konnten auf dieser Klaviatur endlos improvisieren. Wir gaben dem Menschen mit der Erfindung der Moral erst den Grundstein zu seiner Versklavung. Denn ohne diesen Grundbaustein wäre der Mensch eine Waffe. Er wäre eben nicht wie die Ameise, die schon aus ihren Genen heraus weiß, wie sie zu dienen hat, sondern der Mensch ist ohne Moral eine grausame Bestie."
„Ich glaube nicht, dass die Moral erfunden wurde. Sie ist Bestandteil unseres Seins. Sie ist Teil unseres Menschseins", warf ich ein.
„Das können Sie genauso glauben, wie die nur für Sie existierende Vorstellung, dass der Himmel blau ist. Die Moral ist eine Erfindung. Das sehen Sie schon daran, dass das, was gestern noch als richtig und gut empfunden wurde, morgen schon schlecht und böse sein kann. Wäre es also so, dass das Gute Teil des Menschen ist, warum ändern sich ständig die Werte, die das bestimmen? Ich will mit Ihnen nicht philosophieren. Sie können es glauben. Ich aber sage Ihnen, dass Ihre Moral der Zeit unterliegt, den erzieherischen Voraussetzungen, dem Staatswesen, der Gesellschaft, der Kultur und vielen anderer Faktoren, die aus der Moral Knetgummi formen. Sie ändert sich ständig, Ihre Moral. Wenn es im Dritten Reich als moralisch überlegen empfunden wurde, ganze Völker auszurotten, so ist dies heute vielleicht nicht so. Aber es ändert doch nichts daran, dass es für viele Bürokraten ein moralisch unbedenklicher Vorgang war.
Wenn die Römer ihr Imperium durch brachiale Gewalt errichteten, so empfanden sie das wahrscheinlich auch als moralisch geboten. Sie sehen schon an diesen Beispielen, dass die Moral nur dazu gut ist, das Handeln zu rechtfertigen. Der Mensch kann jede Bösartigkeit durchführen, wenn er dazu eine Rechtfertigung hat. Bei dem einen mag das mehr, bei dem anderen mag das weniger ausgeprägt sein. Aber im Kern bleibt es eine Tatsache, dass aus der Rechtfertigung von Moral mehr Leid und Unglück hervorging, als aus der Leugnung von Moral."
„Sie meinen, dass die Moral nur denen nützlich ist, die sie formen?"
„Sie kommen der Sache näher. Die Moral ist wandelbar. Genau wie die Epoche, in der sie entsteht. Mit der Moral schufen wir aber ein Instrument der Unterdrückung, das effektiv und sauber arbeitet. Das Gewissen ist keine Erfindung des Menschen. Selbst ein Tier hat eine Art Gewissen, denn kein gesunder Hund würde seinen Herrn angreifen. Fast nie. Was auch eine Art von Moral oder Gewissen ist. Der Mensch kann aber, wenn er es denn, vor seinem Gewissen verantworten kann, zu Dingen fähig sein, die ein Tier als böse empfinden würde."
„Dann gibt es also doch eine Art universelle Moral? Eine natürliche Unterscheidung von Gut und Böse", warf ich ein.
„Es gibt ein evolutionäres Gesetz. Es beruht auf dem, was wir für das Überleben benötigen. Der Hund hat nicht wirklich ein Gewissen, wenn er den Herrn nicht angreift, sondern er reagiert auf den Instinkt, dass es für sein Überleben notwendig ist. Der Mensch hat ähnliche Instinkte. Er kann auch offensichtlich Böses für absolut gerechtfertigt erachten, wenn er meint, dass es für sein Leben erforderlich ist. Die Moral enthält aber eine Wertung. Diese Wertung ist tatsächlich beim Menschen relativ einzigartig. Zumindest kann die Wertung der Dinge zu Verhaltensweisen führen, die kein Tier als gerechtfertigt erachtet. Nehmen Sie die Massenmörder der Nazis. Viele von ihnen taten dies aus Überzeugung, einige aus tumber Brutalität, andere, weil sie überleben wollten.
Die Motivlage ist gemischt. Die Moral gehört aber zu den besten Argumentationen. Denn sie befreit das Gewissen des Menschen von jeder Restschuld. Der Gehorsam wurde auch oft angeführt, wenn es darum ging, brutale Verbrechen an der Menschlichkeit zu rechtfertigen. Dann war es eben eher der Instinkt, überleben zu wollen. Nehmen Sie aber die ungeheure Brutalität, die Menschen im Umgang mit Tieren anwenden und es damit rechtfertigen, dass sie nichts anderes tun, als das eigene Überleben zu sichern. Wie immer man es also anfängt, ob es die Moral ist, oder das Überleben, oder eine Mischung aus beidem, in jedem Fall wird es aber möglich sein, das Gewissen des Menschen zu korrumpieren."
„Wie nutzen Sie dann die Moral?"
„Wir nutzen Sie als probates Mittel zur Gehirnwäsche. Bringen Sie schon den kleinsten Kindern bei, dass Stehlen ein Verbrechen ist. Bläuen Sie es der kleinsten Seele ein und sie haben schon einen wirksamen Schutz gegen Delikte, die Ihr Eigentum gefährden. Das Gebot, das man nicht stehlen darf, ist schließlich nichts anderes, als ein wirksamer Schutz für das Eigentum der Reichen. Kein Gesetz wirkt aber derart abschreckend, wie eine moralische Barriere. Diese ist wesentlich wirksamer und erzeugt einen höheren Grad an Abschreckung, als jede Strafe des Gesetzgebers. Wenn also der Dieb in seinem Innern fühlt, dass seine Tat verachtenswürdig ist, dann wird er sein Handwerk nicht mehr mögen und sich selbst für die Taten verachten.
Auch wenn er es dann dennoch tut, ist doch schon der Grundstein dafür gelegt, dass er es an Perfektion der Ausführung mangeln lassen wird. Es gibt Diebe. Es gibt Mörder. Es gibt Menschen, die keine Moral und kein Gewissen an ihren Taten hindern kann. Diese Individuen sind auch gefährlich. Denn ein Mensch, der sich von alldem lossagt und keine Form von Moral oder Gewissen generiert, ist ein Störfall im menschlichen Organismus. Diese Elemente kommen uns allerdings im Wesen näher, als die breite Masse der Menschen."
„Ihnen ist ein soziopathischer Mörder näher, als die meisten Menschen?"
„Ja, denn der Soziopath wertet nicht. Er wertet, wenn überhaupt, dann auf jeden Fall anders, als so, wie wir es erwarten. Denn wir installieren die jeweilige Moral nicht deshalb, weil sie den Menschen nützt, sondern wir installieren die Moral aus dem Grund, weil sie uns beschützen soll. Sie glauben doch wohl nicht, dass es eine Leichtigkeit ist, 99% der Menschheit über Generationen und Jahrhunderte gefügig zu halten? Dies ist kein leichtes Spiel. Wir müssen sehr flexibel sein. Wir müssen unsere Konstrukte virtuos verteidigen und lebendig halten.
Wir müssen Theorien und Ideologien entwickeln, wir müssen jede Kleinigkeit im Blick haben. Ein kleiner Fehler führt denn auch zu den Rissen in der Geschichte, die dann wiederum von uns im Nachhinein als Fanal eines Neuanfangs gewertet werden müssen. Es gab uns unliebsame historische Entwicklungen, die wir aber allesamt in das System integrieren konnten. Es gab keinen wirklichen Fortschritt in der Menschheitsgeschichte.
Nehmen Sie doch einen Jesus Christus. Wer hat jemals das umgesetzt, was er den Menschen lehrte? Die Kirche tat dies konsequent seit Jahrhunderten nicht. Im Gegenteil hat die Kirche alles getan, um die Lehren von Jesus Christus zu behindern. Sie wurde geradezu nur gegründet, um den Gedanken von Jesus Christus der Lächerlichkeit anheimzustellen. Die Kirche unterdrückte die Menschen über Jahrhunderte besser, als das die Monarchen taten. In engem Schulterschluss mit den Monarchien tat die Kirche ihr mörderisches und ketzerisches Handwerk.
Es gibt keine Weltreligion, die da anders ist. Wenn man die Lehren eines Jesus wirklich gelebt hätte, dann wären wir in ernsthafter Gefahr gewesen. Denn die Moral der christlichen Botschaft ist für uns im Kern gefährlich. Aber Jesus Christus war von dem Moment an, als er Barrabas unterlag und von Pontius Pilatus gekreuzigt wurde, er war von dem Moment an im Zwielicht der Menschen. Denn es gab doch kein besseres Symbol dafür, was einem Menschenkind blüht, wenn er sich gegen die Obrigkeit stellt.
Glauben Sie doch nicht, dass auch nur ein menschliches Wesen so etwas für erstrebenswert hält. Der Mensch ist nicht zum Märtyrer geboren. Die wenigsten sind das. Die, die es sind, gehören aber zu den absoluten Ausnahmen. Insofern war die Huldigung der Menschen an die Kirche auch immer ein Symbol der Unterwerfung. Man wollte nicht wie Jesus enden. Wäre der Mensch anders konstruiert, dann hätte es doch tausende Menschen geben müssen, die Jesu Beispiel gefolgt wären. Als dann ein Luther antrat, um die mit Ablassbriefen und Dekadenz sich bereichernde Oberschicht der katholischen Kirche zu reformieren, waren es doch wir, die dafür sorgten, dass es in einem Blutbad endete.
Wir haben dafür gesorgt, dass die Spaltung der eh nur unseren Interessen dienlichen Kirche zu einem massenhaften Morden und einem Bürgerkrieg führte. Wir waren es, die mit Genugtuung sahen, dass die Masse der Menschen zu dumm war zu begreifen, dass es nur eine im Kern erneuerte Kirche nach dem Vorbild des Mannes aus Nazareth geben könnte. Dies hätte aber bedeutet, dass die Kirche sich abschafft. Das tat sie aber nicht. Im Gegenteil führte auch die Reformation der Kirche nur dazu, dass es nun zwei Oberschichten gab und bis heute gibt. Der Klerus war immer auf unserer Seite."
„Aber die Kirche predigt doch Nächstenliebe und Sorge für die Armen", sagte ich.
„Tut sie das? Jesus sagte einmal, dass man die Menschen an den Taten erkennen soll. Wenn man dies konsequent auf die Kirche anwendet, dann sieht man, dass es eine unsagbare Kette von Leid und Verwüstung gibt, die der Spur der Kirche folgt. Die Kreuzzüge, die Inquisition, die Unterdrückung von Wahrheit und Erkenntnis. Die Moral, die Jesus predigte, kann aber auch gar nicht umgesetzt werden. Denn sie ist dem Menschen ebenso fremd, wie einem Hamster die Bibel. Wir aber stehen befriedigt neben dem Schauspiel, dass es da eine Moral gibt, die eindeutiger nicht sein kann, die aber von niemandem ernst genommen wird.
Denn es müsste doch selbst der einfachste Gläubige erkennen, dass es in den zehn Geboten keine Halbheiten gibt. Man kann doch nicht sagen „Du darfst nicht töten und dann im gleichen Atemzug in einen Krieg marschieren. Man kann doch nicht sagen „Du sollst Dir kein Bild von mir schaffen
und dann im gleichen Moment Reliquien und Kathedralen erschaffen, die Götzen massenhaft erzeugen. Die zehn Gebote sind in sich eine perfekte Moral. Allerdings eine, die niemals vom Menschen umgesetzt wurde und es auch niemals werden wird."
„Warum werden die zehn Gebote niemals umgesetzt?"
„Weil sie absolut unumsetzbar sind. Weil sie den menschlichen Voraussetzungen widersprechen. Sie würden aus dem Menschen etwas machen, was er nicht ist. Der Mensch hat so etwas wie einen freien Willen. Ich sage bewusst, so etwas. Er hat