TRAUMJÄGER: Science-Fiction-Erzählungen
Von Ronald M. Hahn
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Über dieses E-Book
Ronald M. Hahn, einer der herausragendsten und vielseitigsten deutschsprachigen Science-Fiction-Autoren, versammelt in Traumjäger acht erwartungsgemäß ungewöhnliche Kurzgeschichten und Erzählungen – einzuordnen irgendwo zwischen entfesseltem Sprachwitz und wohldosierter Nostalgie, zwischen Augenzwinkern und einem nüchternen Blick auf das, was Zukunft (oder das Ende der Zukunft) sein könnte. Richtungsweisend dabei: Die mit Thomas Ziegler (*1956 - +2004) verfasste Groteske Auf Achse sowie die gemeinsam mit Hans Joachim Alpers (*1943 - +2011) verfasste und im Jahre 1986 mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnete Erzählung Traumjäger.
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Buchvorschau
TRAUMJÄGER - Ronald M. Hahn
Das Buch
Ronald M. Hahn, einer der herausragendsten und vielseitigsten deutschsprachigen Science-Fiction-Autoren, versammelt in Traumjäger acht erwartungsgemäß ungewöhnliche Kurzgeschichten und Erzählungen – einzuordnen irgendwo zwischen entfesseltem Sprachwitz und wohldosierter Nostalgie, zwischen Augenzwinkern und einem nüchternen Blick auf das, was Zukunft (oder das Ende der Zukunft) sein könnte. Richtungsweisend dabei: Die mit Thomas Ziegler (*1956 - +2004) verfasste Groteske Auf Achse sowie die gemeinsam mit Hans Joachim Alpers (*1943 - +2011) verfasste und im Jahre 1986 mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnete Erzählung Traumjäger.
Der Autor
Ronald M. Hahn, Jahrgang 1948.
Schriftsteller, Übersetzer, Literaturagent, Journalist, Herausgeber, Lektor, Redakteur von Zeitschriften.
Bekannt ist Ronald M. Hahn für die Herausgabe der SF-Magazine Science Fiction-Times (1972) und Nova (2002, mit Michael K. Iwoleit) sowie als Autor von Romanen/Kurzgeschichten/Erzählungen in den Bereichen Science Fiction, Krimi und Abenteuer.
Herausragend sind das (mit Hans-Joachim Alpers, Werner Fuchs und Wolfgang Jeschke verfasste) Lexikon der Science Fiction-Literatur (1980/1987), die Standard-Werke Lexikon des Science Fiction-Films (1984/1998, mit Volker Jansen), Lexikon des Horror-Films (1985, mit Volker Jansen) und das Lexikon des Fantasy-Films (1986, mit Volker Jansen und Norbert Stresau).
Für das Lexikon der Fantasy-Literatur (2005, mit Hans-Joachim Alpers und Werner Fuchs) wurde er im Jahr 2005 mit dem Deutschen Fantasy-Preis ausgezeichnet. Insgesamt sechsmal erhielt Hahn darüber hinaus den Kurd-Laßwitz-Preis – dem renommiertesten deutschen SF-Preis - , u.a. für die beste Kurzgeschichte (Auf dem großen Strom, 1981) und als bester Übersetzer (für John Clute: Science Fiction – Eine illustrierte Enzyklopädie, 1997).
Weitere Werke sind u.a. die Kurzgeschichten-Sammlungen Ein Dutzend H-Bomben (1983), Inmitten der großen Leere (1984) und Auf dem großen Strom (1986) sowie – als Übersetzer – der Dune-Zyklus von Frank Herbert.
Ronald M. Hahn lebt und arbeitet in Wuppertal.
Ein Abend, eine Nacht, ein Morgen
1.
18.30 Uhr MEZ. Schon als der Sozialhelfer die Haustür hinter sich ins Schloss fallen hörte, rebellierte sein Magen. Der Durchschnitt - das war es, was er hasste. Und dieses Haus hier war der absolute Durchschnitt: Eine grau in graue Mietskaserne mit endlosen Korridoren, oxydierten Türklinken, beschmierten Wänden, verbeulten Blechbriefkästen, wackligen Treppengeländern, quietschenden Lifts und rotznasigen Kindern, die in den Gängen Fußball spielten. Die meisten Korridorlampen waren zerschlagen; die Scherben lagen auf dem Boden. Kein Aas kümmerte sich darum.
Die Kinder, die ihm begegneten, kannte er schon. Sie hassten ihn mit der gleichen Inbrunst, mit der er sie hasste. Sie waren allesamt Schulschwänzer; asoziales Geschmeiß, das auf die Zukunft schiss. Erst schwänzten sie monatelang die Schule, dann kamen sie im Unterricht nicht mehr mit. Sie blieben sitzen und machten keinen Abschluss. Wenn die Schule sie entließ, bekamen sie keine Lehrstelle. Am Ende fielen sie durch das Netz, gammelten herum, machten Randale und lagen dem Staat auf der Tasche. Verdammte Brut. Ihre Väter waren Tagediebe; sie kassierten Stütze, arbeiteten schwarz, ließen sich abends volllaufen und gingen dann zu ihren fernsehsüchtigen Weibern nach Hause, um sich an ihnen abzureagieren und dem Staat noch eine Göre aufzuhalsen, um die man sich kümmern musste. Der Sozialhelfer kannte jeden Menschen in diesem Haus. Sie waren alle gleich. Rattenpack. Wenn es sich nicht vermeiden ließ, sie persönlich zu besuchen, verließ er sich auf seinen Revolver.
Er blieb an einer Tür mit der Aufschrift C-143 stehen und klingelte. Das heißt, er betätigte den Klingelknopf. Die Klingel funktionierte natürlich nicht. Der Sozialhelfer grunzte wütend, nahm die Hand aus der Manteltasche und schlug gegen die Tür.
Wumm! Wumm! Wumm!
Eine Frauenstimme rief verärgert: »Hau ab! Geh spielen, Tina!«
»Mach schon auf, du Schlampe«, knurrte der Sozialhelfer leise. »Sonst ist es Essig mit deinem monatlichen Scheck.«
Er schlug erneut gegen die Tür.
Wumm! Wumm! Wumm!
»Wer ist da?« fragte die Frauenstimme. Sie klang nun noch ungehaltener als zuvor.
»Der Sozialhelfer«, erwiderte er und wunderte sich, wie hohl seine Stimme in dem leeren Korridor klang. Hinter ihm, irgendwo in der Ferne, raschelte etwas. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass die Blicke der herumlungernden Kinder sich in seinen Rücken bohrten. »Machen Sie gefälligst auf! Ich habe meine Zeit nicht gestohlen!«
Hinter der Tür klapperte etwas. Die Frau entfernte eine Kette. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Der Sozialhelfer schaute in das Gesicht einer verlebt aussehenden Fünfundzwanzig- bis Fünfunddreißigjährigen. Sie hatte bunte Lockenwickler im Haar und war mit einem billigen Fähnchen bekleidet, das wohl ein Morgenmantel sein sollte. Das Ding stammte mit hundertprozentiger Sicherheit vom Ramschtisch. Eine süßliche Parfümwolke schwebte auf den Sozialhelfer zu. Er hatte die Dame offenbar beim täglichen Make up-Ritual gestört.
»Nun machen Sie schon«, sagte er, schob den Fuß in den Türspalt und zückte seinen Dienstausweis. »Oder wollen Sie, dass ich Ihren Stütze-Antrag gar nicht erst weiterleite?«
Ein erschreckter Blick aus grünen Augen traf ihn. Der rotgeschminkte Mund der Frau verzog sich.
»Kommen Sie rein.«
Er trat ein. Billige Einrichtung. Sperrmüllqualität. Aus dritter Hand. Ein abgewetzter Teppichboden im Flur. Verwohnte Räume, gelbbraun verqualmte Tapeten. Staubflocken auf den Fußleisten. Das Wohnzimmer war für seine Begriffe nur halb eingerichtet. Eine verschossene grüne Polstergarnitur mit Brandflecken. Zwei kleine Regale. Ein Tisch. Kein Teppich. Keine Schränke. In der Ecke ein 3D-Fernseher.
Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte einen Anfall gekriegt. Ein 3D-Fernseher! Natürlich. Und nagelneu. Er war wieder mal bei den Richtigen gelandet. Er kannte dieses Pack. Er hatte täglich mit solchen Leuten zu tun. Sobald die Kerle die Stütze versoffen hatten, kamen die Weiber mit ihren Gören in sein Büro marschiert und kreischten um Hilfe. »Ich kenne meine Rechte! Ich gehe hier nicht eher raus, bis...« Und so weiter. Und so weiter. Sobald sie ein paar Kröten als Überbrückung kassiert hatten, sprangen sie ins Taxi, ließen sich nach Hause chauffieren und kauften ihren Rotznasen neue Adidas-Turnschuhe.
Am liebsten, dachte der Sozialhelfer und musterte die Frau mit einem stummen Blick, würde ich dir die Fresse einschlagen.
»Hören Sie«, sagte er. »Sie sind in meinem Bezirk neu. Damit wir uns gleich richtig verstehen...« Er schaute sich angewidert um. »Ich gehöre nicht zu den studierten Sensibelchen, die sich täglich aufs Neue von Ihresgleichen verarschen lassen.«
»Na, hören Sie mal«, sagte die Frau frech. »Was soll das denn heißen? Ich hab doch schließlich auch Rechte!«
Darauf hatte er gerade noch gewartet.
»Ich hab doch schließlich auch Rechte!« äffte er sie nach. Er zog den Mantel aus und ließ ihn auf das verschossene Sofa fallen. »Ich hab doch schließlich auch Rechte!« Er lachte, und die Frau musterte ihn mit wütend zusammengekniffenen Augen. »Ich will Ihnen mal sagen, was Sie für Rechte haben«, sagte er. »Sie haben das Recht auf einen Antrag. - Und ich habe das Recht, ihn abzulehnen.«
Die Frau musterte ihn mit einem Blick, aus dem die reine Impertinenz sprach. Sie hatte sich provozierend vor ihm aufgebaut und stand nun breitbeinig da, die Hände in die Hüften gestützt. Erst jetzt sah der Sozialhelfer, dass das durchs Fenster fallende Licht ihr dünnes Fähnchen beinahe transparent machte. Sie hatte lange, wohlgeformte Beine. Festes Fleisch. Sie trug einen kleinen roten Slip, der ihren Schamhügel kaum bedeckte. Auch ihre Brüste waren ziemlich ansehnlich. Prall und straff, mit Warzen, die sich leicht gegen den dünnen Stoff drückten.
Natürlich war sie eine Schlampe wie alle anderen, mit denen er zu tun hatte. Sie hatte nicht mal Schamgefühl. Sie zog sich nicht mal was über, wenn ein fremder Mann in ihre Wohnung kam.
»Was glauben Sie«, sagte er, »was ich für Rechte habe! Welche Bedingungen Sie zu erfüllen haben, bevor Sie Stütze kriegen!« Er deutete mit dem Kopf auf die gegenüberliegende Wand. »Vielleicht fragen Sie mal Ihre Nachbarin.«
»Mit der hab ich schon gesprochen«, sagte die Frau. Ihre Worte klangen trotzig.
»Na, prima«, sagte der Sozialhelfer, »dann werden wir ja bestens miteinander auskommen.« Er sah sich erneut um. »Sind wir ungestört?«
Die Frau nickte. »Meine Tochter spielt draußen.«
»Na, schön«, sagte er, »dann bläst du mir jetzt erst mal einen, Schnucki.«
Und er ließ die Hosen runter.
2.
22.00 Uhr MEZ. Der Mann auf dem Podium trug eine schwarze Kapuze mit schmalen Sehschlitzen über dem Kopf, damit niemand sein Gesicht erkennen konnte und sprach durch ein Mikrofon, das seine Stimme verzerrte.
Dr. Madleen Vanderbilt, die das von Hardcore-TV gesponserte Symposium über die Freigabe von Gewaltpornografie für Kinder und Jugendliche leitete, stellte ihn als »Herrn X« vor. Über seinen beruflichen Werdegang erfuhr man nur, als dass er im europäischen Raum bei einem Fast-Food-Unternehmen beschäftigt war.
Als langjähriger GP-Konsument hatte Herr X sich bereit erklärt, über seine Erfahrungen auf diesem Gebiet frei und offen auszusagen. Seine Antworten kamen schnell und flüssig. Das Studiopublikum - in der Hauptsache Journalisten, Sexualpathologen, Soziologen und Allgemeinmediziner - war von ihm begeistert.
Die Fragen stellte Dr. Madleen Vanderbilt.
F: »Herr X, Wann haben Sie angefangen, sich für GP zu interessieren?«
A: »In den späten sechziger Jahren, als ich zwanzig war.«
F: »In welcher Form haben Sie GP anfangs konsumiert?«
A: »In Form von aus Skandinavien importierten Schmalfilmen. Während der achtziger Jahre dann in Form von Videokassetten, und später dann per SensiFilm.
F: »Welche Gefühle hatten Sie beim Anschauen dieser Medien?«
A: »Ich kriegte einen Steifen.«
(Heiterkeit im Publikum).
F: »Äh... Änderte sich Ihr Konsumverhalten im Laufe der Zeit?«
A: »Anfangs waren die Schmalfilme nur schwer zu kriegen; vielleicht hab ich da einen Streifen pro Quartal konsumiert. Als dann der Videorecorder aufkam, so Anfang der achtziger Jahre, habe ich mit einer Kassette pro Woche angefangen. Später waren es dann zwei pro Tag. Als die GP für Erwachsene freigegeben wurde, kam ich am Wochenende auf zwanzig Kassetten.«
F: »Hatten Sie je den Wunsch, das, was Sie sahen, selbst in die Praxis umzusetzen?«
A: »Nein!«
F: »Und warum nicht?«
A: »Dazu hätte ich mich zu sehr exponieren müssen.«
F: »Heißt das, Sie waren zu feige, sich nach gleichgesinnten Partnern umzusehen?«
A: »So kann man es auch ausdrücken.«
(Heiterkeit im Publikum).
F: »Aber Sie hätten doch auch zu Käuflichen gehen können?«
A: »Ich wollte nicht erpressbar sein. Immerhin habe ich eine gutbezahlte und wichtige Stellung...«
F: »Man kann also davon ausgehen, dass der Konsum von GP Sie nicht animiert hat, in dieser Richtung persönlich aktiv zu werden. - Herr X, hatten Sie je Geschlechtsverkehr?«
A: »Meinen Sie, mit Frauen?«
F: »Mit Frauen oder Männern.«
A: »Mit Frauen nicht, nein. Mit Männern... Geschlechtsverkehr kann man das eigentlich nicht nennen.«
F: »Herr X, sind Sie homosexuell?«
A: »Nicht, dass ich wüsste.«
(Heiterkeit im Publikum.)
F: »Wie ging es weiter?«
A: »Später bin ich dann in Peitschen-Clubs gegangen und habe mir Live-Shows angesehen.«
F: »Hatten Sie keine Angst, dort erkannt zu werden?«
A: »Nein. Man kann dort maskiert auftreten. - Wie hier.«
F: »Waren Ihre Gefühle beim Betrachten der Live-Shows anderer Art als bei den visuellen Medien?«
A: »Oh, ja.«
F: »Inwiefern?«
A: »Ich kriegte einen riesigen Steifen.«
(Heiterkeit im Publikum).
F: »Wann nahmen Sie an der ersten Mord-Orgie teil?«
A: »Das war vor drei Jahren. Da war eine Annonce in einer Zeitschrift... Ein anonymes Treffen. Man hatte alle erdenklichen Sicherheitsvorkehrungen getroffen... Ich wollte sowas immer schon mal sehen, weil... mit der Zeit sucht man nach echter Spannung.«
F: »Fanden Sie es nicht moralisch verwerflich, einem Akt beizuwohnen, in dem ein Mensch bei lebendigem Leib zerstückelt wird?«
A: »Wieso das denn?«
F: »Nun... Es ist vielleicht doch ein bisschen extrem...«
A: »Also, ich versteh Sie nicht, Frau Doktor! Die Tante hat das doch alles freiwillig gemacht! Es hat sie doch keiner gezwungen, sich von den Kerlen ausweiden zu lassen. Die war doch stockpervers! Die hat doch genau gewusst, was auf sie zukommt. Die hat sogar Geld dafür genommen, und nicht zu knapp - zwei Jahre im Voraus!«
F: »Äh... Nun ja... Herr X, wie Sie wissen, sind ja gewisse Bevölkerungskreise immer noch gegen die GP eingestellt, weil sie glauben, sie sei sozialethisch verwirrend und könne negativen Einfluss auf Kinder und Jugendliche ausüben...«
A: »Also, Kindern würde ich sowas auch nicht zeigen!«
F: »Und warum nicht?«
A: »Na ja, sie könnten einen Schock kriegen, wenn sie so ganz unvorbereitet sehen, wie jemand mit Messern zerlegt wird...«
F: »Aber Jugendlichen würden Sie GP dieser Art schon zumuten?«
A: »Aber klar! Was glauben Sie denn, was die Halbwüchsigen heute alles kennen. Als ich noch in diesem Alter war... Wir waren doch die reinsten Waisenknaben gegen die...«
F: »Herr X, würden Sie nach allen Erfahrungen, die Sie in den letzten dreißig Jahren gemacht haben, glauben, dass GP-Konsum Sie irgendwie seelisch geschädigt hat?«
A: »Aber nicht im Geringsten! Ich bin so normal wie Sie und die Leute da unten.«
(Große Empörung und Buhrufe im Publikum).
3.
23.00 Uhr MEZ. Der Geiselnehmer hatte achtzehn Menschen in seiner Gewalt und war laut der Aussage eines Reserveoffiziers, der ihm buchstäblich letzter Sekunde entkommen war, mit einer israelischen MP ausgerüstet. Das machte die Sache noch komplizierter.
Der Einsatzleiter stand in der Kälte hinter einem Panzerwagen und fluchte stumm vor sich hin. Er war nicht nur wütend, weil man ihn aus seinem warmen Bett und den weichen Armen seiner neuen Geliebten geholt hatte, sondern auch deswegen, weil er der Meinung war, dies sei einer der Fälle, um die sich die Politiker hätten kümmern sollen, als noch Zeit dazu gewesen war.
Es passte ihm nicht, dass die Politiker ihm und seinesgleichen ständig Probleme aufhalsten, die zu lösen sie in der Vergangenheit selbst nicht bereit gewesen waren. Statt schon in den achtziger Jahren Nägel mit Köpfen zu machen, hatten sie das Problem ständig vertagt - die einen, um nicht als Bösewichte dazustehen, die anderen, um bei ihren Wählern nicht den Eindruck zu erwecken, sie seien ins feindliche Lager übergelaufen. Und nun hatten sie den Salat. In den neunziger Jahren hatten die Skins den Kanaken eingeheizt; nun ließen die Kanaken sich nichts mehr bieten und schlugen zurück.
Als dem Einsatzleiter die Forderungen zu Gehör kamen, die der Geiselnehmer stellte, zupfte er nervös an seinem leicht ergrauten Kinnbart und schüttelte den Kopf. Dann dachte er eine Weile nach, ohne sich zu rühren.
»Der hat sie nicht alle«, sagte sein Assistent und tippte sich an die Stirn. »Wie sollen wir ihm denn ‘ne Wohnung und ‘n Job besorgen? Wir sind doch nicht von der Wohlfahrt.«
Ein junger Inspektor, der ihnen zwischen dem Tatort und dem Präsidium als Kurier diente, stürzte aus einem Funkwagen und wedelte aufgeregt mit einem Zettel. »Die Fernanalyse hat ‘n paar interessante Sachen ergeben«, sagte er und reichte dem Einsatzleiter das Dokument. »Der Bursche ist ein notorischer Querulant und hat schon zwei psychiatrische Behandlungen hinter sich.«
»Woher kommt er?« fragte der Einsatzleiter.
»Aserbeidschan.«
»Ach, du dicke Scheiße«, sagte der Einsatzleiter. Sein Blick flog über den Zettel. »Hier geboren ist er auch noch. Das hat uns gerade noch gefehlt. Wenn wir klein beigeben, stecken uns die Leute das Präsidium in Brand.« Er steckte sich eine Zigarette an und musterte hustend die Schaulustigen und Journalisten, die sich hinter der Absperrung aufhielten und neugierige Blicke auf den Rathausflügel warfen, in dem der Städtische Bauplanungausschuss getagt hatte. Sie warteten darauf, dass endlich etwas geschah.
»Wenn wir ihn nicht schnappen«, sagte der junge Inspektor, »macht man uns zur Schnecke. Das ist schon der dritte Fall in diesem Monat. Ich weiß nicht, was sich die Typen überhaupt einbilden. Haben wir sie etwa hergebeten?«
Der Einsatzleiter dachte an sein warmes Bett, an seine willige Geliebte, an die Politiker, die er aus ganzem Herzen hasste und brummte einen leisen Fluch vor sich hin. Er wusste nur zu gut, dass der junge Inspektor Recht hatte. Die Menge wollte Blut sehen. Die Menge hatte es satt, dass Angehörige fremder Nationalitäten dem Staat auf der Nase herumtanzten. Sie hatte es satt, dass sich all diese Asylanten an den Steuergroschen mästeten, die man aus ihr aus der Tasche holte. Es wäre der Menge sicher lieb gewesen, wenn das Fernsehen den Sturm auf das Rathaus aufgenommen und nach Aserbeidschan übertragen hätte - damit alle, die dort wohnten und sich mit Auswanderungsplänen trugen, wussten, was ihnen blühte, wenn sie herkamen.
»Wenn wir die Geiseln nicht freikriegen«, sagte der Einsatzleiter, »kann ich meinen Hut nehmen. Und der Polizeipräsident auch.«
Sein Blick wanderte über den Rathausvorplatz. Man hatte ein Dutzend Mannschaftswagen vor der großen Freitreppe abgestellt, hinter denen die gepanzerten Scharfschützen der Sondereinheit hockten. Ein Teil der Menge - jene Leute, die schon mal eine MP im Einsatz gesehen hatten, hatten sich hinter geparkten Autos verschanzt.
»Sie haben Recht«, sagte der Assistent. Er war ebenfalls jung, aber mit allen Varianten der Ultra-Brutalität bestens vertraut und gehörte nicht zu denen, die eine Sache dreimal überdachten, bevor sie nach einer Diskussion mit den Psychologen zur Tat schritten. Er klopfte sich auf die Brust und fügte hinzu: »Bevor man uns zur Schnecke macht, machen wir lieber den da zur Schnecke.« Er deutete auf die Glasfront des Rathauses. »Irgendwann muss dieses Gesindel doch mal lernen, dass wir unsere Waffen nicht zum Spaß tragen.«
»Ich glaube, wir haben wirklich keine andere Wahl«, sagte der Einsatzleiter. Er nahm einem Uniformierten das Handfunkgerät ab und sprach mit dem Präsidium. Der Präsident gab sofort Grünes Licht. Auch er hatte die Schnauze gestrichen voll.
Der Einsatzleiter informierte seine direkten Untergebenen. Die Meldung wurde weitergegeben. Die Männer der Sondereinheit machten sich fertig. Ein Funkspruch sorgte dafür, dass ein Angestellter des Bauförderungsamtes mit einem Wohnberechtigungsschein, einem schriftlichen Angebot für einen Arbeitsplatz und dem verlangten Mercedes vor die Tür gefahren wurde. Der Fahrer stieg aus und ging in Deckung. Der Angestellte legte die verlangten Dokumente auf den Beifahrersitz und trabte zu den Polizisten zurück. Nun hieß es warten.
Der Einsatzleiter nahm das Megafon und erklärte dem Geiselnehmer, seine Forderungen seien erfüllt. Er solle herauskommen und sich der im Wagen liegenden Dokumente bedienen.
Fünf Minuten später marschierten die Geiseln aus dem Rathaus -vierzehn Männer und vier Frauen. Der Geiselnehmer, ein großer, dunkelhäutiger Mann