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GALAXIS SCIENCE FICTION, Band 37: DIE ZEIT WIRD KOMMEN - DREI VERSIONEN DER ZUKUNFT: Geschichten aus der Welt von Morgen - wie man sie sich gestern vorgestellt hat.
GALAXIS SCIENCE FICTION, Band 37: DIE ZEIT WIRD KOMMEN - DREI VERSIONEN DER ZUKUNFT: Geschichten aus der Welt von Morgen - wie man sie sich gestern vorgestellt hat.
GALAXIS SCIENCE FICTION, Band 37: DIE ZEIT WIRD KOMMEN - DREI VERSIONEN DER ZUKUNFT: Geschichten aus der Welt von Morgen - wie man sie sich gestern vorgestellt hat.
eBook521 Seiten6 Stunden

GALAXIS SCIENCE FICTION, Band 37: DIE ZEIT WIRD KOMMEN - DREI VERSIONEN DER ZUKUNFT: Geschichten aus der Welt von Morgen - wie man sie sich gestern vorgestellt hat.

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Über dieses E-Book

Die Nacht klirrte vor Kälte. Die Sterne glitzerten an einem Himmel, der so schwarz war wie die Hölle. Der grüne und der rote Mond zogen langsam ihre Bahn. Das schillernde Licht der beiden Satelliten ließ die mit Pelzen und Lederstiefeln bekleideten Gestalten auf den klobigen Festungsmauern wie außerirdische Lebewesen wirken.

Und in gewisser Weise waren sie es auch.

Vor den aus großen Steinquadern erbauten Mauern und Toren dehnte sich eine endlose Schneelandschaft aus. Wohin Orianas Blick auch reichte, überall fielen dicke weiße Schneeflocken vom Himmel auf das stille Land. Es schneite seit vier Tagen. Niemand konnte absehen, wann es wieder aufhörte. Der Nadelwald, der sich hinter den Festungsmauern ausdehnte, ächzte unter der Last der Schneemassen...

DIE ZEIT WIRD KOMMEN von Bestseller-Autor RONALD M. HAHN enthält die Romane PSYCHOTRANSFER, RAUSCHGIFTHÄNDLER DER GALAXIS und IM NETZ DER DIMENSOREN sowie das biographische Essay WIE DIE SCIENCE FICTION MICH VOR EINER VERBRECHERLAUFBAHN bewahrte.

DIE ZEIT WIRD KOMMEN erscheint in der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum1. März 2021
ISBN9783748776093
GALAXIS SCIENCE FICTION, Band 37: DIE ZEIT WIRD KOMMEN - DREI VERSIONEN DER ZUKUNFT: Geschichten aus der Welt von Morgen - wie man sie sich gestern vorgestellt hat.

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    Buchvorschau

    GALAXIS SCIENCE FICTION, Band 37 - Ronald M. Hahn

    Das Buch

    Die Nacht klirrte vor Kälte. Die Sterne glitzerten an einem Himmel, der so schwarz war wie die Hölle. Der grüne und der rote Mond zogen langsam ihre Bahn. Das schillernde Licht der beiden Satelliten ließ die mit Pelzen und Lederstiefeln bekleideten Gestalten auf den klobigen Festungsmauern wie außerirdische Lebewesen wirken.

    Und in gewisser Weise waren sie es auch.

    Vor den aus großen Steinquadern erbauten Mauern und Toren dehnte sich eine endlose Schneelandschaft aus. Wohin Orianas Blick auch reichte, überall fielen dicke weiße Schneeflocken vom Himmel auf das stille Land. Es schneite seit vier Tagen. Niemand konnte absehen, wann es wieder aufhörte. Der Nadelwald, der sich hinter den Festungsmauern ausdehnte, ächzte unter der Last der Schneemassen...

    DIE ZEIT WIRD KOMMEN von Bestseller-Autor RONALD M. HAHN enthält die Romane PSYCHOTRANSFER, RAUSCHGIFTHÄNDLER DER GALAXIS und IM NETZ DER DIMENSOREN sowie das biographische Essay WIE DIE SCIENCE FICTION MICH VOR EINER VERBRECHERLAUFBAHN bewahrte.

    DIE ZEIT WIRD KOMMEN erscheint in der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden.

    DIE ZEIT WIRD KOMMEN

    PSYCHOTRANSFER

    1.

    Die Nacht klirrte vor Kälte. Die Sterne glitzerten an einem Himmel, der so schwarz war wie die Hölle. Der grüne und der rote Mond zogen langsam ihre Bahn. Das schillernde Licht der beiden Satelliten ließ die mit Pelzen und Lederstiefeln bekleideten Gestalten auf den klobigen Festungsmauern wie außerirdische Lebewesen wirken.

    Und in gewisser Weise waren sie es auch.

    Vor den aus großen Steinquadern erbauten Mauern und Toren dehnte sich eine endlose Schneelandschaft aus. Wohin Orianas Blick auch reichte, überall fielen dicke weiße Schneeflocken vom Himmel auf das stille Land. Es schneite seit vier Tagen. Niemand konnte absehen, wann es wieder aufhörte. Der Nadelwald, der sich hinter den Festungsmauern ausdehnte, ächzte unter der Last der Schneemassen.

    Oriana fröstelte auf der Nordmauer. In der rechten Hand hielt sie eine Lanze. Ein schwarzer, ihr bis zur Hüfte reichender Mantel, schlang sich um ihre muskulösen Schultern. Um nicht gänzlich zu erstarren, ging sie einige Schritte auf und ab. Die blonde Mähne, die unter ihrem gehörnten Eisenhelm hervor lugte, flatterte im eisigen Wind.

    Sie stand auf Wacht. Das Wetter war nicht ungewöhnlich. Sie war im Eisland zwischen Schneewölfen, Graubären und Waldkatzen aufgewachsen und konnte sich ihrer Haut erwehren. Auch der mit urwüchsiger Kraft über die Ebene heulende, hohe Schneefontänen aufwirbelnde Nordwind schreckte sie nicht. Das gutturale Klagen der Nahrung suchenden Wölfe und das Knistern von Packeis waren Musik für ihre Ohren.

    »...schwerer als ich dachte...«

    »Na, komm, du bist doch Spezialistin für sowas.«

    Sie atmete die eiskalte Luft ein und machte ihre Runde. Am Nordturm, wo die Festungsmauer einen Knick machte und in die Ostmauer überging, stand Petrik. Er zog seinen Mantel enger um sich und schenkte ihr ein Lächeln. Er war ein Hüne von Gestalt, ein Krieger mit freundlichen Augen und scharf geschnittenen Gesichtszügen. Oriana zitterten die Knie, wie immer, wenn sie mit ihm allein war, denn sie fragte sich, ob die Kraft seiner Lenden der Kraft seiner Arme und der seines Geistes entsprach.

    »Alles ruhig bei dir?«, fragte Petrik.

    Oriana nickte.

    [»Ich bin jetzt in ihr drin.«]

    »Was?«  Sie schaute Petrik an, doch es dauerte eine Sekunde, bis sie begriff, dass er gar nicht gesprochen hatte.

    [»Wäre ich auch gern.«]

    [»Du bist ‘ne Sau, Wiktor.«]

    »Wie?«  Oriana wollte sich umdrehen, um zu sehen, ob jemand hinter ihr stand, aber sie stellte fest, dass es unmöglich war. Petrik war ein Standbild. Die Sterne am Himmel glitzerten nicht mehr. Sie waren nur noch helle Pünktchen aus Licht. Die Schneeflocken hatten aufgehört zu fallen. Sie hingen starr in der Luft, wie aufgehängt. Der Wind wehte nicht mehr. Sein Heulen war ein gleichbleibend schriller Ton.

    [»Wie ist es in ihr, Mascha?«]

    Eine Männerstimme.

    [»Muss mich erst mal orientieren...«]

    Eine Frau.

    Oriana hatte das sichere Empfinden, dass sich ihre Nackenhaare aufrichteten. Körperlose Stimmen. In ihrem Kopf. Schlagartig verspürte sie ein Gefühl der Übelkeit, das sich in ihrem ganzen Leib ausbreitete. Die klirrende Kälte nahm ab. Ihr Inneres erwärmte sich. Sie hatte das eigenartige Gefühl, dass jemand in ihr war; dass sich jemand auf unerklärliche Weise ihres Leibes bediente.

    [»Nun sag schon...«]

    [»Nun mach mal halblang, Wiktor. Ich hab’s gleich, Mann.«]

    Oriana spürte, dass die Muskeln ihres rechten Oberarms heftig und endlos zuckten. Ohne es zu wollen, ohne es zu bemerken, hatten sich ihre Finger geöffnet und die schwere Lanze losgelassen. Sie kippte nach vorn, auf Petrik zu, der noch immer mit offenem Mund dastand und sie anschaute. Wie ein stummes Standbild. Als hätte jemand die Zeit angehalten.

    Knacks.

    Oriana schüttelte innerlich den Kopf und dachte: Ich heiße nicht Oriana. Ich heiße Vivian. Ich bin gar nicht hier. Ich bin in Archangelsk...

    [»Sie hat ‘n Hypnochip, Wiktor.«]

    [»Was?!«]

    Was?!, dachte Oriana. Was habe ich?

    [»Ich zapf ihn mal an...«]

    [»Was für’n Fabrikat?«]

    [»HLP-1138... Warte ‘n Moment... Jetzt!«]

    Ein heftiger Stich.

    [»Und?«]

    [»Oh, verdammte Scheiße...«]

    [»Was ist denn? Was ist denn, Mascha?«]

    [»Sie hat ‘ne falsche Identität.«]

    Oriana zuckte innerlich zusammen.

    [»Erzähl keinen Scheiß...«]

    [»Warte. Ich geh noch mal rein.«]

    Tick. Tick. Tick.

    [»Wie heißt du?«]

    Vivian... Reed.

    Oriana spürte, dass eine Hitzewelle durch ihren Körper raste und sich bis in sämtliche Extremitäten ausbreitete.

    [»Erzähl keinen Scheiß, Dewka. Wie heißt du wirklich?«]

    Vivian... Vivian Reed.

    [»Ihre Abschirmung ist keinen Schuss Pulver wert... Die reinste Pfuscharbeit... Sie heißt... Tanja Uljanowa.«

    [»Frag Sie noch mal.«]

    [»Wie heißt du, Dewka?«]

    Ich heiße Vivian Reed.

    [»Du heißt Tanja Uljanowa. Du wurdest am 16. April 2068 in Archangelsk geboren. Dein Vater heißt Philip Reed. Er ist Kanadier und hatte in den sechziger Jahren geschäftlich hier zu tun. Deine Mutter heißt Anna Uljanowa und stammt aus St. Petersburg. Vor zwei Jahren hast du für Korsakow und seine Hyänen gearbeitet. Du bist ein mieser kleiner Spitzel. Es steht alles genau in deinem Hypnochip.«]

    Ich bin Vivian Reed, dachte Oriana stur. Ich kann jederzeit aus dem Programm aussteigen. Ich brauche nur das Kodewort auszusprechen. Es heißt... Es heißt...

    [»Ich geh erst mal wieder raus.«]

    »Bei mir rührt sich auch nichts«, sagte Petrik. Sein Gesicht verzog sich zu einem Lachen. Er schüttelte seine Mähne und entblößte ebenmäßige Zähne.

    Die Welt war wieder normal.

    Orianas Finger schnellten vor, packten die kippende Lanze und hielten sie fest. Sie schüttelte den Kopf, um den mysteriösen Wachtraum loszuwerden, der sie überfallen hatte. Dann warf sie einen Blick über die nächtliche Landschaft.

    Petrik lächelte plötzlich nicht mehr. Er beugte sich über den Mauerrand, spähte nach etwas aus. »Hast du das auch gehört?«

    Mit einem Satz war Oriana bei ihm. Sie schob sich in die nächste, halb zugeschneite Zinne und lugte in die Finsternis hinein. Sie konnte nichts entdecken.

    »Was ist?«, flüsterte sie aufgeregt.

    Petrik kniff die Augen zusammen. »Da!« Er deutete auf eine hohe Schneeverwehung. Sie lag etwa fünfzig Schritte vom Haupttor entfernt.

    Schatten huschten dort herum. Oriana umklammerte ihre Lanze und lauschte dem Klopfen ihres Herzens. Was hatte das zu bedeuten? Mit zusammengebissenen Zähnen drehte sie sich um und blickte in den Innenhof. Zwei in Mäntel gehüllte Hauptleute standen vor dem geschlossenen Tor und unterhielten sich leise. Auf den Wehrgängen hinter den Zinnen patrouillierten insgesamt sechzehn Angehörige der Nachtwache; auf den Türmen tat jeweils ein Krieger Dienst.

    »Schlagen wir Alarm?« Petrik sprach so leise, dass sie ihn kaum hörte. Der Wind riss ihm die Worte von den Lippen.

    »Warte!« Oriana wandte sich der Treppe zu. Sie eilte schnell die Stufen hinab und eilte über den Hof, auf die Hauptleute zu, die bei ihrem Anblick sofort verstummten.

    »Oriana«, meldete sie sich. »Petrik und ich haben vor dem Tor verdächtige Schatten beobachtet. Ich glaube...«

    Der kleinere Hauptmann musterte sie erschreckt. Der andere, Oluf, fluchte leise und schickte seinen Gefährten ins Innere der Festung. Oriana fragte sich, wie Fürst Afron wohl reagierte, wenn er man aus dem Bett holte, in dem er mit seinen Frauen lag. Oluf, ein drahtiger Mann mit stahlblauen Augen und schulterlangem Haar, rannte zur Treppe und winkte Oriana, sie solle ihm folgen.

    Sie eilte hinterher. Auf der Mauer hatte sich inzwischen ein weiterer Krieger bei Petrik eingefunden: Zabo, der Lanzenwerfer.

    »Wo sind sie?« Oluf warf einen Blick über die Zinnen. Sein Blick flackerte nervös.

    Da! Oriana erkannte nun deutlich drei Gestalten. Sie duckten sich hinter die Schneeverwehung.

    Oluf fuhr zurück. »Wer sind die Kerle?«, fragte er heiser. »Was führen sie im Schilde?« Er schaute Petrik an. Petrik zuckte ratlos die Achseln.

    »Vielleicht eine Vorhut?«, sagte Oriana.

    Oluf schüttelte den Kopf. Seine Haare flogen. »Ein Angriff – bei diesem Wetter? Bei den sieben Höllenhunden! Nicht mal Wiscard der Schreckliche würde es wagen, uns in diesem Schneegestöber anzugreifen!«

    Er schickte Zabo hinunter, um die Bereitschaft zu wecken. Zabo verschwand lautlos in der Nacht.

    Langsam verrann die Zeit. Oriana hatte das Gefühl, dass sich dort draußen etwas Unheimliches anbahnte. Nun spürte sie die beißende Kälte nicht mehr. Ihr Puls schlug heftig und erhitzte ihr Blut. Die Fremden hinter der Schneeverwehung interessierten sie sehr. Sie schob sich in eine Zinne und schaute angestrengt in die Tiefe.

    [»Mascha?«]

    Erneut erstarrten Leben und Welt. Die gewohnten Nachtgeräusche verharrten. Das Universum wurde zu einem Standbild.

    Wer ist Mascha?, wisperte es in Orianas Verstand. Ich kenne keine Mascha.

    Das Schneetreiben nahm wieder zu. Das Leben ging weiter. Genaues war nicht zu erkennen. Oriana schüttelte verwirrt den Kopf.

    Der kleine Hauptmann und ein anderer Offizier kamen auf die Mauer. Im Festungshof versammelten sich viele bewaffnete Krieger. Ihre Mäntel flatterten im Wind, als sie lautlos wie Waldkatzen zu den Zinnen hinauf eilten. Andere postierten sich mit gezückten Schwertern und Lanzen an den Toren. Ein Offizier stand mit dem Schwert in der Hand an der Seilwinde. Alle Befehle wurden im Flüsterton erteilt. Die Offiziere verteilten sich auf der Nordmauer und berieten sich. Es war ihnen verdächtig, dass die Fremden es vorzogen, die Nacht im Freien zu verbringen. Afron, der Herr dieser Region, war zwar als Rüpel bekannt, aber auch sehr gastfreundlich. Er hatte noch keinem Reisenden den Zutritt zu seiner Festung verwehrt.

    Die drei Gestalten rührten sich nicht von der Stelle. Oriana bemühte sich, Einzelheiten zu erkennen, doch der fallende Schnee behinderte ihre Sicht. Die Fremden trugen halbkugelförmige blaue Helme mit durchsichtigen Visieren, hinter denen es nun unentwegt blitzte.

    »Oriana! Petrik! Zabo!«

    Oluf hatte die Namen leise gerufen, aber es kam ihr so vor, als hätte er geschrien. Nun war auch der weiße Mond, der größte von allen, aufgetaucht. Er tauchte die Schneelandschaft um die Festung in bleiches Licht.

    »Geht durch die Ostpforte hinaus. Überwältigt sie. Der Herr will, dass ihr sie in die Festung bringt.«

    Petrik und Zabo legten Lanzen und Mäntel ab. Oriana warf einen Blick auf das Fenster der fürstlichen Schlafkammer und erblickte das Gesicht ihres Herrn, das sich unscharf von der Dunkelheit des Gemachs abhob. Afron nickte ihr zu. Sie fühlte sich geehrt, und so legte sie wortlos den Mantel ab und zückte ihr Schwert.

    Als sie im Innenhof waren, öffnete ein Krieger die Ostpforte. Sie sprangen in den Schnee hinaus. Oriana versank bis an die Knie, stieß eine stumme Verwünschung aus und eilte hinter Zabo und Petrik her, die katzengleich an ihr vorbei huschten.

    Das Heulen einer hungrigen Bestie ertönte. Doch sie hatte keine Angst, auch wenn die Schneewölfe in dieser Jahreszeit besonders gefährlich waren. Da sie jetzt nur wenig Nahrung fanden, trieb der Hunger sie zu den Höfen. Im vergangenen Jahr hatten sie den Ochsenkarren eines Kaufmanns angegriffen. Er hatte hundert Schritte vor der Festung anhalten müssen, denn eins seiner Zugtiere hatte gelahmt. Sie erinnerte sich an ein übles Blutbad, doch die Krieger waren aus der Festung gestürmt und dem Kutscher zu Hilfe geeilt. Acht Schneewölfe und sechs Mann hatten dabei ihr Leben gelassen.

    Zabo blieb stehen und streckte einen Arm aus. Sie näherten sich der Schneeverwehung. Gleich mussten sie hinter den Fremden auftauchen.

    Zabos Klinge deutete auf ein verschneites Nadelgehölz. »Von dort aus können wir sie beobachten.«

    Sie schlichen geduckt weiter, und Oriana fragte sich insgeheim, warum die Fremdlinge so verstohlen taten. Sie erreichten die Bäume, und sie warf einen Blick auf die Festung. Von hier aus gesehen wirkte sie mit den klobigen Türmen und den sich drohend in den Himmel reckenden Zinnen geradezu unheimlich. Auf den Mauern war niemand zu sehen. Die Krieger hatten sich gut versteckt.

    Dann entdeckte sie die Fremden.

    Sie trugen weite weiße Mäntel, und hinter ihren Helmvisieren blitzte es unentwegt in verschiedenen Farben auf. Ein eigenartiger Lichtschein umgab sie. Es waren Männer, alle drei. An der Stelle, an der sich ihr rechtes Ohr befand, ragten dünne gebogene Stangen hervor, die bis an ihren Mund verliefen. Sie hielten längliche Gegenstände in den Händen, aber es waren keine Klingen.

    Einer der Fremdlinge sagte etwas. Die anderen nickten, lugten über den Rand der Schneeverwehung und beobachteten die Festung.

    [»Komm jetzt raus, Mascha... Michail hat sie eindeutig identifiziert.«]

    [»Moment... Ich muss noch...«]

    Oriana zuckte zusammen.

    Da waren sie wieder. Doch diesmal erstarrte die Landschaft nicht. Sie beschloss, die Gelegenheit zu nutzen. Sie biss sich auf die Unterlippe und packte ihr Schwert.

    »Los!«

    Sie sprangen aus ihrem Versteck hervor und flogen wie lautlose Schatten auf die hockenden Fremdlinge zu. Der heulende Wind verschluckte das Knirschen ihrer Schritte. So waren sie nur noch sechs Meter entfernt, als sie entdeckt wurden.

    »Ai!« Orianas Schwert zuckte hoch.

    Zwei der Fremdlinge setzten eine überraschte Miene auf. Der dritte brach in lautes Gelächter aus. Dann erhoben sich alle drei lautlos in die Luft.

    »Bei den sieben Höllenhunden!«

    Oriana, Petrik und Zabo blieben stehen, starrten zum Himmel auf und ließen fassungslos die Waffen sinken. Orianas Haar schien sich vor Grauen zu sträuben.

    »Narrt mich ein Spuk?«, krächzte Petrik entsetzt. »Seht ihr es auch? Sie fliegen!«

    Die Fremdlinge hatten inzwischen eine Höhe von dreißig Ellen erreicht und schwebten lautlos auf die Nordmauer zu. Oriana stieß einen Warnschrei aus. Sofort waren die Köpfe der Krieger und Offiziere zwischen den Zinnen zu sehen. Auch Oluf schrie. Sekunden später flogen die ersten Lanzen über den Mauerrand auf die Fremdlinge zu. Die Bogenschützen beugten sich über die Nordturmzinnen und schossen eine Salve ab. Oriana verfolgte die Flugbahn der Pfeile ganz genau. Nur wenige verfehlten die Fremden, doch statt sie zu durchbohren, prallten sie ab und klatschten in den Schnee. Es war, als seien sie einen Schritt vor den Schwebenden gegen eine unsichtbare Wand gestoßen.

    Oluf brüllte Angriffsbefehle und schleuderte den lautlosen Gestalten eine Lanze entgegen. Viele Krieger waren vor Angst wie gelähmt. Der Hornist schritt zur Aktion. Ein hoher Ton hallte durch die Festung.

    »Sie fliegen!«

    Hohnlachen erschallte über der Mauer. Der erste Fremde stand nun auf einer Zinne. Er sprang auf den Wehrgang und schritt auf Oluf und die Bogenschützen zu. Ein Schrei wurde laut. Ein vor Angst zurückweichender Krieger verlor das Gleichgewicht und schlug im Innenhof auf. Oluf stierte den Fremden aus großen Augen an und tastete nach seinem Schwert. Als er es endlich in der Hand hielt, sprang er dem Eindringling mit dem Mut der Verzweiflung entgegen. Die Klinge zischte durch die Luft, doch der Hieb prallte wirkungslos ab.

    Die Krieger ergriffen die Flucht. Sie eilten in Panik die schmalen Treppen hinab und stoben auseinander. Nun landeten auch die beiden anderen Fremden auf der Mauer. Drei Schwertkämpfer sprangen vom Nordturm auf den Laufgang hinab und hieben mit gewaltigen Schlägen auf sie ein. Der erste wurde von einem lachenden Fremdling beiseite gestoßen und fiel über die Brüstung. Die anderen flohen.

    Die Festung war inzwischen vollends erwacht. Viele Krieger und Weiber drängten sich im Innenhof und starrten auf das sich ihnen bietende Bild. Als die Fremden die Treppe hinab stiegen, rannten die Weiber in ihre Kammern zurück. Gleichzeitig öffnete sich die Ostpforte, und Oriana, Petrik und Zabo sprangen nach Luft ringend über die Schwelle.

    [»Wie lange dauert es denn noch?«]

    [»Geh mir nicht auf den Senkel, Wiktor!«]

    Und die Welt blieb erneut stehen. Doch nur fünf Atemzüge lang. Dann holte Zabo aus und schleuderte sein Schwert mit aller Kraft gegen den ersten Fremdling, der den Boden des Hofes betrat. Es flog mit mörderischer Kraft auf ihn zu, prallte einen Schritt vor ihm in einem weißblauen Aufblitzen ab und fiel wie ein Stein in den festgetretenen Schnee. Die Menge sprang schreiend auseinander, als der Fremdling den länglichen Gegenstand in seiner rechten Hand hob und auf Zabo richtete.

    Ein weißer Strahl blitzte auf, schoss auf Zabo zu und riss ihn in so viele Fetzen, dass nichts mehr von ihm übrig blieb. Petrik fuhr herum, lehnte sich an die Mauer und übergab sich. Oriana stand mit funkelnden Augen da und ballte die Fäuste.

    Nun trat Afron in den Hof. Er trug ein langes Pelzgewand. Das zottelige Haar reichte ihm bis auf den mit Edelsteinen verzierten Ledergurt. »Wer seid ihr?«, brüllte er zornrot. »Und was ist euer Begehr?«

    Gelächter antwortete ihm. »Spiel dich nicht auf, kleiner Barbarenhäuptling!«, kam die Antwort. »Du kannst deine Dreck fressenden Untertanen auch weiterhin ausplündern. An kleinen Fischen sind wir nicht interessiert!«

    Afron bebte. Ihn einen Barbarenhäuptling zu nennen, wo er doch im ganzen Land als Freund der Künste und Kultur bekannt war! Zornesadern schwollen auf seiner Stirn an. Er trat einige Schritte vor. Die Fremden standen nun zu dritt am Fuß der Treppe. Die Krieger, die ihnen am nächsten waren, wichen zurück. Sie hielten zwar Schwerter in den Händen, aber sie wussten offenbar nicht, was sie damit anfangen sollten.

    »Barbarenhäuptling?!«, schrie Afron. »Wer wagt es...?!«

    Die Fremdlinge lachten erneut. »Wir! Wir sind Vertreter einer höheren Macht! Und da wir dir an Kraft und Intelligenz überlegen sind, bestimmen wir, was du bist! Aber keine Angst, wir tun dir nichts. Wir wollen nur eine Auskunft!«

    Afron trat einen weiteren Schritt vor. Oriana verfolgte gebannt, was nun passierte. Als ihr Herr noch einen Schritt vom ersten Fremdling entfernt war, traf ihn ein heftiger Stoß. Er flog zurück und landete mit dem Hinterteil auf dem Boden.

    »Sachte, sachte«, sagte der Fremdling erheitert. »Ich habe vergessen, dich vor meinem Schutzschirm zu warnen, o Herr über ein Dutzend Dörfer. Komm mir nicht zu nahe!«

    Afron stand fluchend auf und rieb seinen schmerzenden Hintern. Sein Blick suchte die Offiziere, die sich zwischen die Krieger gemischt hatten und ihn ängstlich musterten.

    »Wir suchen jemanden, der in deiner Festung lebt!«, sagte der Anführer der Fremden mit lauter Stimme.

    Afron schaute ihn irritiert an. »Ihr sucht jemanden? In meiner Festung? Einen meiner Leute? Was wollt ihr von ihm?«

    »Das geht dich einen feuchten Dreck an, werter Fürst«, erwiderte ein anderer Fremdling und musterte die Menge mit prüfendem Blick. »Es handelt sich um jemanden, der dem Herrn unseres Reiches unsägliche Schmach bereitet hat. Sie lebt seit etwa fünf Sonnenumläufen in deiner schäbigen Behausung und steht in deinem Sold.«

    »Sie?«,  rief Afron. »Bei den sieben Höllenhunden! Meint ihr etwa Oriana?« 

    Oriana empfand plötzlich eisige Kälte. Sie war als  Einzige nicht in Afrons Reich zur Welt gekommen. Aber sie kannte außer Afron keinen Herrscher, und schon gar nicht den eines Reiches, dessen Untertanen fliegen und mit Blitzen töten konnten. Es konnte alles nur ein Irrtum sein. Aber konnte sie sich Afron widersetzen? In seinem Reich galt nicht nur unter Feiglingen die Maxime »Das Hemd ist mir näher als das Wams«. Ein Fürst, der von Lebewesen bedroht wurde, die zum Töten nur die Hand zu heben brauchten, war gut beraten, wenn er mit den Schneewölfen heulte.

    »Oriana nennt sie sich?«,  rief der Fremdling. »Bringt sie her, sonst seid ihr des Todes!«

    Alle wandten sich um. Aber Oriana war verschwunden.

    2.

    »Miss Reed?«

    Vivian öffnete die Augen. Ein leichtes Schwindelgefühl erfasste sie, als sie sich abrupt aufrecht hinsetzte und ihr einfiel, wo sie sich befand.

    Stepan Lewitin, der Betreiber des Sensitorstudios, musterte sie lächelnd. »Das war die erste Folge. In der zweiten können Sie herausfinden, welches Geheimnis Oriana umgibt und welche Schmach sie einem galaktischen Herrscher bereitet hat.« Er zuckte verlegen die Achseln, als käme ihm das Scheinweltenspiel selbst ein wenig kindisch vor.

    »Ich glaube nicht, dass ich es herausfinden will.«

    Vivian schüttelte den Kopf, um ihren Geist zu klären. Sie gehörte eigentlich nicht zu den phantasielosen Typen, die sich gern von professionellen Fantasten in andere Welten versetzen ließen. Sie erlebte Abenteuer lieber selbst. Das war spannender. »Das war ja rechter Edelkitsch.« Zudem hatte das Gerät wohl eine Macke, denn sie erinnerte sich vage daran, Stimmen gehört zu haben, die nicht zu dem Erlebten passten. Womöglich hatte sich ihr »Abenteuer« mit dem eines anderen Kunden überlappt.

    »Das Spiel heißt ‘Götterdämmerung’«, sagte Lewitin. Er seufzte. »Da Sie ja wohl nicht mehr zurückkehren, um den Rest zu erleben, kann ich Ihnen auch sagen, um was es geht: Oriana ist die Tochter eines Sternenkönigs, die ihre Erinnerung verloren hat...«

    »Wie spannend«, sagte Vivian und lachte so, dass Lewitin merkte, dass sie sich nicht für derlei Unsinn interessierte. Ihr hatte noch nie der Sinn nach Sternenkönigen und kosmischen Barbaren gestanden. Dazu war die irdische Realität und speziell die der Unabhängigen Republik Nordrussland viel zu interessant. Außerdem war sie überhaupt nur in dieses Sensitorstudio geraten, weil Stepan Iwanowitsch Lewitin mit Katharina befreundet gewesen war und sie die stille Hoffnung gehegt hatte, über ihn an sie heranzukommen. Doch auch dies war ein Trugschluss gewesen: Katharina studierte seit einem guten Jahr in Paris, ihre Affäre mit Stepan Iwanowitsch war längst beendet, und er hatte keinen Kontakt mehr zu ihr.

    »Meine Kunden sind jedenfalls verrückt danach«, sagte Lewitin achselzuckend.

    »Ich nicht, auch wenn das neue Medium vielleicht seine Reize hat.«

    Vivian rieb sich die Augen und gähnte. Sie fühlte sich merkwürdigerweise wie zerschlagen, deswegen rührte sie sich auch nicht, als Lewitin die Stirnkontakte löste, die sie mit dem Sensitor verbanden. »Götterdämmerung hin oder her – ich hab wohl keine Ader für sowas. Aber immerhin kann man damit prima die Zeit totschlagen.«

    Lewitin nickte. Er war ein gut aussehender Mann von etwa dreißig Jahren, mit dunklem Haar und wachen grauen Augen. »Man muss sich wohl eine kindliche Einstellung bewahrt haben, um sowas zu genießen«, sagte er. Er schaltete den leise summenden Sensitor aus und schaute auf seinen Chrono. »Sie sind für heute die Letzte. Eigentlich ist schon seit einer halben Stunde Feierabend.«

    Vivian lächelte ihn an. »Danke Stepan Iwanowitsch, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben... Auch wenn Sie mir bei meiner Suche nicht helfen konnten.«

    »Für hübsche Frauen tu ich viel, Madame.«

    Vivian seufzte erneut. Lewitin war zwar ein attraktiver Mann, aber im Moment stand ihr nicht der Sinn nach einem Flirt. Sie war nach Archangelsk gekommen, um ihre Halbschwester Katharina zu suchen. Sie hatte sich vor vier Wochen bei der kanadischen O’Dell Corporation um eine Stelle beworben, doch bisher noch keine Antwort erhalten. Keith O’Dell, den sie aus DeGorm City kannte, war nämlich der Meinung gewesen, eine Frau wie sie fehle ihm noch an Bord seines in Konstruktion befindlichen, noch namenlosen Raumschiffes. Aber sein Vater, den Freunde »den grauen Riesen« und weniger wohlmeinende Menschen »den alten Eisenfresser« nannten, war nun mal Herr über 300 000 Angestellte und Arbeitsroboter. Und von einem Mann wie ihm konnte man wohl nicht verlangen, dass er die Bewerbungen aller Leute persönlich bearbeitete, mit denen sein Sohn befreundet war. Vermutlich hatte er ihre Unterlagen irgendeinem Bürokratenunterknecht gegeben.

    »Gehen wir noch einen trinken?« 

    »Wie?« Vivians Kopf ruckte hoch.

    »Dann können Sie mir bei einem Wodka erzählen, was Sie bedrückt.«

    »Wer sagt denn, dass mich was bedrückt?« Vivian zog die Nase kraus.

    Lewitin lachte. »Meine Nase ist telepathisch begabt.« Er reichte ihr die Hand, und sie sprang von der weichen Pritsche, auf der sie die letzte Stunde verbracht hatte.

    »Na schön«, sagte Vivian, obwohl sie eigentlich gar nicht wusste, warum.

    »Ich sag nur eben meiner... Mitarbeiterin Bescheid.« Lewitin drehte sich um und schrie »Mascha!«

    Mascha?

    Die Tür der Sensitorkabine ging auf. Eine mittelblonde Frau, die ungefähr in seinem Alter war, trat ein. Ihr Haar war millimeterkurz geschnitten, und sie hatte intelligente, grün schillernde Augen und einen kleinen Busen. Sie war stark geschminkt und erinnerte Vivian an eine deutsche Apothekerin.

    »Stepan Iwanowitsch?« Sie musterte die Kundin aus dem warmen Westen nur kurz, aber ihr Blick schien zu besagen, dass sie sie schon lange kannte.

    Lewitin deutete auf Vivian. »Ich gehe mit Miss Reed ins Café Lux. Für den Fall, dass Wiktor sich noch meldet...«

    Wiktor?, dachte Vivian.

    »Ist recht, Stepan Iwanowitsch.« Mascha lächelte ihren Chef und Vivian an, dann ging sie lautlos hinaus und ihren Geschäften nach.

    Als Vivian sich in ihren Mantel hüllte und den dicken Pelzkragen hochschlug, empfand sie ein leichtes Schwindelgefühl, doch es verging, sobald sie das kleine Studio an Lewitins Seite verlassen hatte und ins Freie trat. Die Kälte in Archangelsk kam ihr noch schlimmer vor als die in Fürst Afrons Festung. Sie schätzte die Temperatur auf 30 Grad unter Null. Man konnte kaum Luft holen. Nur wenige Gleiter waren am Himmel zu sehen, denn die Unabhängige Republik Nordrussland gehörte trotz der kürzlich gemachten Goldfunde noch nicht zu den reichen Nationen der Erde. Die alten Autos auf der Straße knarzten, ächzten und schnauften vor sich hin, und wer anhalten musste, um irgendetwas einzukaufen, tat gut daran, den Motor laufen zu lassen, damit er nicht einfror.

    »Sie sind Amerikanerin?«, fragte Lewitin, als sie im warmen Café Lux an einem Ecktisch saßen. Vivian hatte einen Grog bestellt. Ihr Gegenüber mochte es lieber traditionell: Er saß vor einem Wasserglas mit Wodka.

    »Kanadierin, aber... in Archangelsk geboren.«

    »Ich habe mich schon gefragt, wieso sie unseren Dialekt so perfekt beherrschen.«

    »Perfekt? Sie schmeicheln mir. Mit der hiesigen Grammatik habe ich schon als Kind gekämpft.«

    »Nein, wirklich.« Lewitin steckte sich eine deutsche Filterzigarette an. »Sie haben doch nichts dagegen, dass ich rauche?« 

    »Nur, wenn sie mir keine abgeben.«

    Er lachte und gab ihr eine. Sie pafften zu zweit graue Kringel in die Luft.

    »Was machen Sie so?«, fragte Lewitin interessiert. »Sind Sie Mannequin oder sowas? Beim Fernsehen?« 

    Vivian hätte sich fast verschluckt.

    »Um Himmels willen.«

    »Aber Sie haben bei Ihrem Aussehen doch bestimmt irgendwas mit dem Showgeschäft zu tun?« 

    Vivian schüttelte den Kopf. »Ich fühle mich geschmeichelt, Stepan Iwanowitsch. Aber eigentlich bin ich gar nichts. Ich habe Amerikanistik, Germanistik, Soziologie, Physik, Psychologie und Politik studiert...«

    Lewitins Augen wurden groß.

    »...aber nichts beendet.« Vivian seufzte. »Aber um mich nicht zu Tode zu langweilen, habe mich vor kurzem bei der O’Dell Corporation beworben.«

    »Bei den Raumschiffbauern?« 

    Vivian nickte. »Ich kenne den Junior. Ist ein netter Kerl.« Ihr Blick verschleierte sich kurz, als sie an Keith und ihre Feten in DeGorm City dachte. Keith mochte sie, und manchmal hatte sie sogar geglaubt, er sei heimlich in sie verknallt. Leider legte Mr. O’Dell junior jedoch großen Wert auf feste Bindungen, und damit konnte und wollte sie ihm im Moment nicht dienen. Wenn sie überhaupt ein Problem hatte, dann dies: Sie wollte sich nicht festlegen. Dafür war sie mit ihren zwanzig Lebensjahren noch zu jung.

    »Und was treibt Sie sonst so in den hohen Norden? Sind Sie etwa wegen der legendären Heilquellen hier?«

    Vivian musste lachen. »Nein, nein. Es war nur der Wunsch, endlich meine Schwester kennen zu lernen... Herauszukriegen, wer sie ist...« Sie erzählte ihm das Wenige, dass sie von ihrer Mutter über Katharina wusste. Von ihrem spurlosen Verschwinden aus Archangelsk und ihrer Furcht, sie könne auf die schiefe Bahn geraten sein, sagte sie nichts; es war ihr zu persönlich. Sie verlor auch kein Wort darüber, dass sie es zumindest für zweifelhaft hielt, wie dieser Staat regiert wurde. Nordrussland verfügte zwar über ein Parlament und mehrere Parteien, die sich nach außen hin um die Macht rauften, doch es befand sich seit der Revolte und der Unabhängigkeit von 2030 in den Fängen der Mafia. Die Moskauer Politiker hatten den einstigen Distrikt schon Jahrzehnte zuvor vergessen und abgeschrieben. Seit den Goldfunden auf der Halbinsel Kola ging es zwar wirtschaftlich bergauf, aber dort oben herrschten schlimmere Zustände als 1898 am Klondike. Offenbar behagte es der Mafia – einst angetreten, um »alles für das Volk zu tun« – nicht, dass sich das Volk am Gold bediente. Vivian waren Gerüchte zu Ohren gekommen, dass hier ein geheimer Krieg geführt wurde, um es zu dezimieren. Die Zeiten waren kalt und gefährlich. Wer es sich leisten konnte, ließ sich beschützen oder trug eine Waffe. Wer es sich nicht leisten konnte, führte ein jämmerliches Leben.

    »Zugegeben«, sagte Lewitin leise, als wolle er nicht, dass ihn jemand hörte, »die Lage ist seit 2030 nicht sehr viel besser geworden. Aber wer sich an die Gegebenheiten anzupassen weiß...«

    »Hallo, Stepan.«

    »Hallo, Wiktor.«

    Vivian schaute auf. Wiktor?

    Ein hagerer Mann mit einem langen Mantel, leicht geschlitzten Augen und völlig haarlosem Schädel war an ihren Tisch getreten. Seine Kleidung verriet, dass er entweder gut verdiente oder aus wohlhabendem Hause stammte. In seinen dunkelbraunen Augen blitzte etwas auf, das Vivian nicht genau klassifizieren konnte. Intelligenz oder Gerissenheit? Sie konnte es nicht sagen, aber wahrscheinlicher erschien ihr Letzteres.

    »Darf ich vorstellen?«, Lewitin deutete auf Vivian. »Miss Reed aus Kanada. – Mein Freund Wiktor Boronin.«

    »Freut mich«, sagte Vivian, obwohl sie nicht genau wusste, ob es sie wirklich freute.

    »Angenehm«, sagte Wiktor. Er nickte ihr zu.

    Eindeutig Gerissenheit, entschied Vivian und nahm sich vor, auf der Hut zu sein.

    »Ich muss dir leider mitteilen, dass das Ergebnis unserer Nachforschungen positiv ausgefallen ist«, sagte Wiktor und nahm an ihrem Tisch Platz, als sei er dazu eingeladen worden.

    Lewitin nickte stumm. Er wirkte plötzlich irgendwie besorgt, und Vivian fragte sich, um was es überhaupt ging. Als sie den Kopf hob, um den Glatzkopf anzusehen, fiel ihr Blick auf den Eingang. Die Tür öffnete sich und ließ Mascha und einen blonden jungen Mann ein, die sich nach einem kurzen suchenden Blick in ihre Richtung in Bewegung setzten. Die beiden wirkten bedrohlich, als hätten sie es auf jemanden abgesehen. Als Vivian ihre steinernen Mienen betrachtete, schlich sich plötzlich eisige Kälte in ihr Herz. Mascha? Wiktor? Die Stimmen. Sie kannte ihre Stimmen. Sie wollte etwas sagen, aber in diesem Moment wurde sie von einem heftigen Schwindel erfasst, und alles, was sie umgab, war doppelt und dreifach zu sehen.

    »Es wirkt schon«, sagte Lewitin zu Wiktor. Als Vivian von ihrem Stuhl zu kippen drohte, waren Mascha und der blonde junge Mann schon da und fingen sie auf.

    »Der Grog ist meiner Freundin wohl nicht bekommen«, hörte sie Stepan Lewitin zu einem Kellner sagen. »Ich glaube, wir bringen sie lieber nach Hause, Freunde.«

    »Du heißt?«, 

    »Vivian Reed.«

    »Hattest du je einen anderen Namen?«

    »Ja.«

    »Wie hat er gelautet?« 

    »Tanja Uljanowa.«

    »Wann bist du geboren?« 

    »Am 16. April 2060.«

    »Wo?«

    »In Archangelsk.«

    »Beruf?«

    »Ohne.«

    »Wer finanziert dein Leben?« 

    »Mein Vater.«

    »Wie heißt er?« 

    »Philip Reed.«

    »Wo lebt er?«

    »In Toronto, Kanada.«

    »Hattest du je eine bezahlte Stellung inne?«

    »Ja.«

    »Wann und bei wem?«

    »Von Januar 2078 bis Dezember 2078. In Archangelsk. Bei der Nordrussischen Abwehr.«

    »Wer war dein Vorgesetzter?«

    »Major Nikolai Korsakow.«

    »Was hast du für ihn getan?«

    »Ich habe für ihn ermittelt.«

    »Du warst Geheimdienstspitzel?«

    »Ich war Informantin.«

    »Warum hast du diese Tätigkeit aufgegeben?«

    »Sie hat mir nicht behagt.«

    »Konkreter.«

    »Es hat mir nicht behagt, mich ständig verstellen zu müssen.«

    »In Gegenwart der Menschen, über deren Leben du Ermittlungen angestellt hast?«

    »Ja.«

    »Wieso hat man dich aussteigen lassen?«, 

    »Ich habe gekündigt und das Land verlassen.«

    »Legal?«

    »Ja.«

    »Wohin bist du gegangen?«, 

    »Nach Mega-Berlin. Dann nach DeGorm City, Mexiko.«

    »Hast du Kontakt zu Korsakow?«

    »Nein.«

    »Aus welchem Grund bist du in Archangelsk?«

    »Ich suche meine Schwester.«

    »Wie heißt deine Schwester mit vollem Namen?«

    »Katharina... Korsakow.«

    Schweigen. Lange Zeit. Dann:

    »Wann hast du Katharina zum letzten Mal gesehen?«

    »Ich habe sie noch nie gesehen.«

    »Du hast sie noch nie gesehen? Wieso?«

    »Ich kenne sie nur von einem Foto. Sie ist sieben Jahre älter als ich. Sie ist bei den Eltern ihres Vaters aufgewachsen.«

    »Hast du sie in Archangelsk getroffen?«

    »Nein.«

    »Warum nicht?«

    »Ich konnte sie nicht finden.«

    »Hat sie Spuren hinterlassen?«

    »Nein. Ich war bei ihrer letzten Adresse und habe ihre Nachbarn befragt.«

    »Welche Auskunft haben sie dir gegeben?« 

    »Sie haben Katharina vor einem Jahr zum letzten Mal in Begleitung eines Freundes gesehen.«

    »Wie heißt dieser Freund?« 

    »Stepan Iwanowitsch Lewitin.«

    »Gut. Wach jetzt auf.«

    3.

    Vivian schlug die Augen auf, und als sie Maschas Gesicht sah, wusste sie plötzlich wieder viel von dem, was sie zuvor vergessen hatte. Sie erinnerte sich an ihre Tätigkeit für Korsakow. Sie erinnerte sich daran, dass seine Leute ihr vor ihrem Ausscheiden aus dem Dienst einen Hypnochip implantiert hatten, damit sie alle Fälle vergaß, mit denen sie beschäftigt gewesen war. Sie wusste auch, warum Korsakow sie hatte gehen lassen: Irgendeine ihm nicht geheure oppositionelle Gruppierung hatte sie als seine Agentin entlarvt und auf die Abschussliste gesetzt. Und da er ihrer Mutter einst freundschaftlich verbunden gewesen war, hatte er in den sauren Apfel gebissen und ihr die Freiheit zugestanden. Sie wusste aber längst nicht alles, was sie damals für ihn und die NRA getan hatte. In ihrem Kopf schwirrten Namen, Gesichter und Akten umher.

    Ihr Kopf war merkwürdig leicht, als hätte sie lange geschlafen. Helles Licht fiel durch die Fenster. Sie befand sich in

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