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Novellen aus dem Powder-Mage-Universum: Das Feuer der Revolution
Novellen aus dem Powder-Mage-Universum: Das Feuer der Revolution
Novellen aus dem Powder-Mage-Universum: Das Feuer der Revolution
eBook552 Seiten7 Stunden

Novellen aus dem Powder-Mage-Universum: Das Feuer der Revolution

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Über dieses E-Book

Für Fans, die sich nach noch mehr Schießpulver-geladener, magischer Action im Powder-Mage-Universum sehnen, hat Brian McClellan genau das Richtige parat: Noch mehr davon!
In DAS FEUER DER REVOLUTION gibt es fünf neue Abenteuer mit brandneuen Helden sowie den beliebten Helden der Bücher BLUTSCHWUR, SCHICKSALSENDE und HERBSTREPUBLIK.
Die Novellen nehmen die Leser mit auf die Reise in die Hintergrundgeschichten ihrer Lieblinge und ermöglichen es Fans, noch tiefer einzutauchen in die Welt voller Magie und Schießpulver.
Die fantastische Romansaga wird derzeit als TV-Serie umgesetzt.
SpracheDeutsch
HerausgeberCross Cult
Erscheinungsdatum3. Mai 2021
ISBN9783966583985
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    Buchvorschau

    Novellen aus dem Powder-Mage-Universum - Brian McClellan

    DIE ABGESCHWORENE

    Fünfunddreißig Jahre vor den Ereignissen aus »Blutschwur«

    Der Wald war erfüllt vom trockenen, knisternden Geräusch gefallener Blätter, die im Wind umherwirbelten, als Erika die Sehne ihres Bogens zurückzog. Sie zog, bis die Feder des Pfeils ihre Wange kitzelte, zielte entlang des Pfeilschaftes und atmete aus, während sie den Schuss abfeuerte, alles in einer einzigen, flinken Bewegung.

    Der Pfeil prallte von einer zwölf Meter entfernten Baumwurzel ab und verschwand im Unterholz. Das Eichhörnchen, auf das sie gezielt hatte, rannte den Baum hoch und zwitscherte sie verärgert an. Sie zog einen weiteren Pfeil aus ihrem Köcher, legte ihn an, zog die Sehne zurück und schoss ein weiteres Mal.

    Der zweite Pfeil traf den Ast direkt unterhalb des buschigen Schwanzes des Eichhörnchens. Erika griff nach einem weiteren Pfeil, aber der Nager hatte sich bereits in die Sicherheit seines Nestes zurückgezogen. »Die Haltung ist ausgezeichnet«, kommentierte eine strenge Stimme. »Die Schnelligkeit ist vortrefflich, und die Bewegungen sind präzise. Nur an einer Sache hapert es: Sie haben danebengeschossen.«

    Erika warf der Waffenmeisterin der Leora-Familie über die Schulter einen bösen Blick zu. Santiole war eine Frau in ihren späten Vierzigern mit strengem Blick, wettergegerbter Haut und mehr als nur ein paar grauen Strähnen in ihrem braunen Haar. Sie war etwa gleich groß wie Erika, aber durch ihre stramme Haltung wirkte sie viel größer. Die Art, wie sie mit gerümpfter Nase auf einen herabschaute, mochte auf andere tatsächlich imposant wirken. Erika fand es einfach nur nervig. Auch nach fünfzehn Jahren als Erikas Tutorin hatte sich Santioles saures Gemüt kein Stück gebessert, und sie wusste immer genau, was sie sagen musste, um Erika auf die Palme zu bringen.

    »Vielleicht hätte ich getroffen«, sagte Erika, »wenn Sie nicht da hinten mit Ihrem Sattel knarren und meine Ziele verschrecken würden.«

    Santioles Pferd schüttelte ungeduldig mit dem Kopf. Die Waffenmeisterin verlagerte ihr Gewicht auf dem Rotschimmel, sodass ihr Sattel ein weiteres Knarren von sich gab. »Sie müssen lernen, trotz Ablenkungen zu schießen.« Erikas Augen wanderten zuerst zu der Steinschloss-Muskete, die quer über Santioles Sattelhorn lag, dann zu der Pistole, die im Gürtel der Waffenmeisterin steckte. Ihre Finger juckten bei dem Gedanken, mit einer dieser Waffen jagen zu gehen. In den neunzehn Jahren, die sie jetzt auf der Welt war, war es ihr nie erlaubt gewesen. Eine Schwarzpulverwaffe auch nur zu berühren, selbst wenn sie nicht geladen war, war ihr unter Strafe verboten.

    »Sammeln Sie Ihre Pfeile ein«, sagte Santiole. »Wir sollten uns bald auf den Rückweg machen.«

    Sie waren eine Reitstunde entfernt vom Anwesen der Leoras, und wenn sie sich beeilten, würden sie rechtzeitig zurück sein, um sich vor dem Abendessen frisch zu machen. Erika schlang ihren Bogen über die Schulter und machte sich auf ins Dickicht. Sie wühlte im Unterholz herum, um den ersten Pfeil zu finden. Dabei riss sie ein Loch in ihr Jagdwams, was ihre Großmutter zweifellos bemerken würde. Dann ging sie zu dem Baum und kletterte ihn viereinhalb Meter weit hoch, um den zweiten Pfeil aus dem dicken Ast herauszuziehen, in dem er steckte.

    Mutter würde einen Anfall bekommen, wenn sie mich so sähe, dachte Erika, während sie den Ast entlang zum Pfeil robbte. Mutter würde Santiole eine Standpauke halten, und Santiole würde sie über sich ergehen lassen, nur um ihr danach zu sagen, dass eine Kez-Herzogin lernen musste, sich selbst zu helfen. Und dann würde Vater sich einmischen und Mutter sagen, dass sie die arme alte Waffenmeisterin in Ruhe lassen solle, und …

    Erika unterbrach ihren Gedankengang und richtete ihre Augen auf etwas tiefer im Wald: eine fast unmerkliche Bewegung im Rot und Braun der gefallenen Herbstblätter.

    Sie sammelte den Pfeil ein und kehrte zurück auf festen Boden. Santiole wartete dort mit einem ungeduldigen Gesichtsausdruck. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Erika kam ihr zuvor.

    »Binden Sie die Pferde an und kommen Sie mit.«

    Die Waffenmeisterin zögerte einen Moment, aber sie stieg von ihrem Schimmel und band beide Pferde an. »Was ist los?«

    »Ich bin mir nicht sicher«, sagte Erika. »Ich habe etwas gesehen. Jemanden.«

    »Lassen Sie mich vorgehen.« Santiole schlich sich mit angelegter Muskete ins Dickicht; das Laub rührte sich kaum, während sie sich ihren Weg suchte. Erika folgte ihr mit angelegtem Pfeil. Sie durchquerten ein ausgetrocknetes Flussbett und betraten eine Lichtung, die etwa vierzig Meter von der Straße entfernt war.

    Santiole schulterte ihre Muskete. »Ein Kind.«

    Das Mädchen konnte nicht älter als zwölf sein. Ihr Haar war eine Spur heller als Erikas Dunkelblond, und sie hockte mit zur Brust gezogenen Knien neben einem hohlen Baum. Sie trug ein Sommerkleid aus Wolle, das mit Matsch verklebt war, und um ihre nackten Füße hatte sie Stoffstreifen vom Saum ihres Kleides gewickelt. Die behelfsmäßigen Bandagen waren blutdurchtränkt.

    »Meine Herrin«, fing Santiole an zu sagen, aber Erika war bereits auf dem Weg zu dem Mädchen auf der anderen Seite der Lichtung.

    »Keinen Schritt näher.« Die Stimme des Kindes war kaum mehr als ein heiseres Flüstern, aber ihre Worte – und ihr Gesichtsausdruck – waren todernst. Das Mädchen wischte sich mit der Rückhand über die kleine, runde Nase und blinzelte sich Tränen aus den braunen Augen. Sie hatte Schnitte an ihrer linken Wange, die nicht mehr als einen Tag alt waren, und beide Arme waren von Dornenkratzern übersät. Mit einer Hand zückte sie ein Taschenmesser.

    »Was tust du hier draußen?«, fragte Erika.

    »Geht weg«, antwortete das Mädchen.

    »Brauchst du Hilfe?«

    »Geht weg, habe ich gesagt.«

    »Schauen Sie sich ihre Füße an«, flüsterte Erika Santiole zu.

    Die Waffenmeisterin musterte das Mädchen misstrauisch. »Sie ist einen weiten Weg gelaufen. Es gibt im Umkreis von dreißig Meilen keine Stadt außer Bedland. Sie kommt nicht von hier. Wir würden sie sonst erkennen.«

    »Vielleicht besucht sie einen Verwandten?«, schlug Erika vor. »Oder sie hat sich verirrt?« Diese Ländereien gehörten Erikas Großeltern, und sie kannte sich hier gut aus, aber niemand kannte sich hier besser aus als Santiole.

    »Nein«, sagte Santiole. »Das kann nicht sein.«

    »Redet nicht über mich, als ob ich euch nicht hören könnte«, sagte das Mädchen. Die Spitze ihres Taschenmessers zitterte kein bisschen. »Ich bin direkt hier drüben.«

    »Wo kommst du her?«, fragte Erika.

    »Geht weg.«

    »Wo willst du hin?«

    »Nirgendwo hin. Geht euch gar nichts an.«

    Erika ging langsam die Geduld zur Neige, und sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Dies hier waren die Ländereien ihrer Familie, weshalb es sie sehr wohl etwas anging, und sie würde ihre Antworten erhalten.

    Santiole berührte sie am Arm und lehnte sich vor, um ihr ins Ohr zu flüstern. »Schauen Sie, über ihrer rechten Schulter.«

    Erika konnte unter den Haaren des Mädchens und einer dicken Schlammschicht eine dunkle, schaurige Narbe erkennen. Sie war etwa so lang wie der Finger eines Mannes und hatte die Form einer Steinschloss-Muskete.

    »Bei Kresimir«, fluchte Erika leise.

    Das war keine normale Narbe. Es war ein Brandmal. Das Brandmal eines Pulvermagiers, der per königlichem Beschluss zum Tode verurteilt worden war.

    »Wir müssen sie ausliefern«, sagte Santiole sanft.

    Erika wirbelte zu ihrer Hauslehrerin herum und starrte sie mit einer bitteren Mischung aus Wut und Abscheu an.

    »Nein«, meinte Santiole. »Ich hätte auch nicht gedacht, dass Sie das zulassen würden.« Die Waffenmeisterin stieß einen gedämpften Fluch aus. »Sie werden hinter ihr her sein.«

    Erika wusste das. Sie wusste ebenfalls, dass die königlichen Magierjäger – oder die Windhunde des Königs, wie sie im Volksmund genannt wurden – sich nicht darum scheren würden, dass dieses Mädchen nur ein Kind war. Immerhin war ein Pulvermagier ein Pulvermagier. Sie würden das Mädchen von einem Ende von Kez bis ans andere jagen, und niemand würde ihr helfen. Tatsächlich würden die meisten Leute das Mädchen ausliefern in der Hoffnung, eine fette Belohnung einzustreichen.

    »Ich werde sie nicht hier draußen zurücklassen«, sagte Erika. Sie hatte sich einmal in diesen Wäldern verirrt, als sie selbst nur wenig jünger als dieses Mädchen gewesen war. Sie wachte manchmal immer noch schweißgebadet mitten in der Nacht auf, wenn die Erinnerung an das Labyrinth aus Bäumen und die Furcht vor der nahenden Dunkelheit sie einholte.

    In Santioles Stimme schwang ein Hauch von Mitleid mit. »Wir haben keine Wahl. Wenn wir erwischt werden … «

    »Sie ist den Windhunden bereits einmal entkommen. Sie ist weiß Kresimir wie viele Meilen gereist, um hierher zu gelangen, und sie ist offensichtlich auf dem Weg nach Norden. Wenn dieses Mädchen den Mut hat, sich auf eigene Faust durch das Nordgebirge zu schlagen, um nach Adro zu fliehen, dann werde ich ihr verdammt noch mal dabei helfen.«

    Santiole seufzte. »Das ist verflucht dumm.«

    »Worüber redet ihr?«, fragte das Mädchen und kroch langsam von ihnen weg. »Lasst mich in Ruhe. Ich bin bewaffnet!«

    Erika musterte das Mädchen einmal von oben bis unten, dann machte sie ein paar Schritte auf das Mädchen zu und ging außerhalb ihrer Reichweite in die Hocke. »Du wirst es niemals allein über die Berge schaffen«, sagte sie.

    »Ich gehe nach Süden«, erwiderte das Mädchen.

    »Nein. Das tust du nicht. Du gehst nach Norden, nach Adro, wo Pulvermagier nicht umgebracht werden. Ich kann dir helfen, lebendig dort anzukommen. Oder«, fügte sie beiläufig hinzu, als sei es ihr gleichgültig, »du kannst hierbleiben und abwarten, was dich zuerst umbringt – der Winter oder die Windhunde.«

    Das Mädchen zog eine Grimasse. »Was kümmert dich das?«

    Erika lächelte sie an. »Wie heißt du?«

    »Sag mir erst, wie du heißt.«

    »Ich heiße Erika ja Leora.« Erika zog den Kragen von ihrem Hemd ein Stück herunter, um dem Mädchen das Brandmal zu zeigen, das sie über der linken Brust trug – es sah genauso aus wie das des Mädchens, nur kleiner und leichter zu verbergen. »Und ich bin ebenfalls eine Pulvermagierin.«

    Das Mädchen folgte ihnen zurück zur Straße. Sie hielt Abstand, so als sei sie sich nicht sicher, ob sie nicht jeden Moment weglaufen müsste. Als sie die Straße erreichten, blieb sie im Schatten der Bäume und hielt ihr Taschenmesser umklammert. Das Mädchen verbarg es gut, aber sie humpelte leicht beim Gehen. Jeder Schritt musste ihr Schmerzen bereiten.

    »Ich habe von dir gehört«, sagte das Mädchen.

    Es hätte Erika überrascht, wenn es nicht so gewesen wäre. Unter Adligen waren Pulvermagier sehr selten. »Nur Gutes, hoffe ich.«

    »Nur, dass du eine Abgeschworene bist.« Das Mädchen schniefte. »Du kannst dein Brandmal verbergen.«

    »Ja. Weil ich die Erbin eines Herzogs bin«, sagte Erika. Nachdem sie die Worte ausgesprochen hatte, fiel ihr auf, wie unfassbar ungerecht das klingen musste – dass eine Adlige unbehelligt als Pulvermagierin leben durfte, während das gemeine Volk dafür verfolgt und hingerichtet wurde. »Deswegen habe ich das hier.« Sie hielt ihren Bogen hoch. »Ich darf per Gesetz keine Muskete anfassen.« Oder Schwarzpulver.

    Pulvermagier waren in der Lage, Schwarzpulver mit ihren Gedanken zu manipulieren oder es sich einzuverleiben, um ihre Sinne zu schärfen und ihre Stärke und Schnelligkeit zu steigern. Sie galten als unglaublich gefährlich, und niemand hasste sie mehr als die Elementarmagier des königlichen Privilegierten-Kabals und der ihm unterstellte Kader von Windhunden.

    »Komm mit uns«, sagte Erika. »Du kannst mit mir mitreiten.«

    Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich … nein. Ich kann mich nicht auf der Straße zeigen.«

    »Ich beschütze dich.«

    »Das hat mein Bruder auch gesagt. Und dann haben sie ihn getötet.«

    Erika fehlten die Worte für eine Antwort.

    »Reiter auf der Straße«, sagte Santiole und nahm ihre Muskete von der Schulter.

    Erika drehte sich zu dem Mädchen, um ihr zu sagen, dass sie sich verstecken solle, aber sie war bereits zwischen den Bäumen verschwunden. Erika fluchte leise, und als sie sich wieder nach vorne drehte, sah sie, wie weiter die Straße hinunter Richtung Süden zwei Reiter um eine Kurve und auf sie zukamen.

    Als sie sich näherten, konnte sie erkennen, dass beide Männer mit Degen, aber weder mit Pistolen noch Musketen bewaffnet waren. Einer von ihnen war dickbäuchig und hatte breite Schultern, während der andere gertenschlank war und krumm in seinem Sattel saß. Sie trugen die hellbraun-grünen Uniformen der Großen Armee des Königs, aber auch weiße Schärpen über der Brust, die auf eine Sondereinheit hinwiesen. Auf den Schärpen prangten Abbildungen von dünnen Hunden mit schmalen Köpfen, nach denen die Windhunde benannt waren.

    Erika spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte.

    »Sie da«, sagte der Dickbäuchige zu Santiole. »Was haben Sie auf der Straße des Königs zu suchen?«

    »Wir sind auf der Jagd«, erwiderte Santiole. Ihr Daumen fuhr über den Hahn ihrer Muskete, aber sie hielt die Waffe weiter auf den Boden gerichtet.

    »Mit wessen Genehmigung?«

    »Des Herzogs von Leora.«

    »Haben Sie Papiere dabei?«

    Santiole holte ein paar Papiere aus ihrer Jackentasche und überreichte sie dem Mann. Der dünne Windhund schaute sie sich an, murmelte beim Lesen leise vor sich hin und gab die Papiere dann zurück an Santiole. Er nickte seinem Partner zu.

    »Scheint alles in Ordnung zu sein«, sagte der Dickbäuchige mit Bedauern. »Haben Sie in der Gegend irgendwelche Fremden bemerkt?«

    »Nein«, sagte Erika. »Wieso?«

    »Mit dir hat keiner gesprochen, Mädchen«, gab der Dickbäuchige zurück. »Sei still, wenn die Erwachsenen reden.« Der dünne Windhund lehnte sich nach vorne und schlug seinem Partner auf die Schulter, woraufhin der Mann laut fluchte.

    »Sie sollten so nicht mit der Erzherzogin von Leora reden«, sagte Santiole. »Es wäre mein gutes Recht, Ihnen die Zähne einzuschlagen.«

    »Ah«, murmelte der Dickbäuchige und entschuldigte sich. Er warf seinem Partner einen bösen Blick zu.

    »Nach wem suchen Sie?«, fragte Erika.

    »Nach einem gefährlichen geflüchteten Verbrecher, Mylady. Einem Pulvermagier.«

    »Gütiger Kresimir, ich hoffe, Sie finden ihn«, sagte Erika.

    Der dünne Mann räusperte sich. »Mylady, würden Sie uns wohl für einen Moment entschuldigen?«

    Die beiden zogen sich zurück, um sich mit etwas Abstand zu beraten. Santiole behielt die zwei mit gerunzelter Stirn im Auge; sie hatte ihre Muskete immer noch lässig unter einem Arm, und ihr Daumen ruhte auf dem Hahn.

    Erika wandte sich von den beiden Männern ab und steckte die Hand in ihre Tasche. Heimlich holte sie eine Tabakdose hervor und öffnete sie mit dem Daumen.

    »Was soll das werden?«, flüsterte Santiole. »Wenn Sie dabei gesehen werden …«

    Erika nahm eine Prise Schwarzpulver aus der Dose und schnupfte sie. Ein Schauder überkam sie, als sich ein warmes Gefühl in ihrem Körper breitmachte, das zu gleichen Teilen aus Euphorie und Übelkeit bestand. Die Welt wurde überschwemmt von einer Flut von Geräuschen, Gerüchen und Anblicken, während das Schwarzpulver anfing, zu wirken und ihre Sinne zu schärfen, und dann drangen die Stimmen der beiden Windhunde an ihr Ohr.

    »… wer das ist?«

    »Keine Ahnung.«

    »Die Erbin des Herzogtums von Leora? Das ist diese Pulvermagier-Göre, von der der Herzog immer redet.«

    »Meinst du, sie versteckt das Mädchen?«

    »Zur Grube, wir wissen nicht mal, ob das Mädchen hier irgendwo im Umkreis von zwanzig Meilen ist. Soweit wir wissen, könnte sie auch nach Nordwesten gegangen sein.«

    »Na und?«

    »Na und? Wenn wir dieses Mädchen kaltmachen, wird uns der Herzog eine verdammte Parade schmeißen, du Depp. Er hasst es, wenn Adlige davonkommen, nur weil sie adlig sind.«

    »Das ist verdammt riskant. Ihre Aufpasserin sieht aus, als wäre nicht mit ihr zu spaßen.«

    Erikas angespanntes Zuhören wurde von Santiole unterbrochen, die an sie herangetreten war. »Wir sollten einfach aufsteigen und losreiten«, sagte die Waffenmeisterin leise. »Wenn die beiden nach dem Mädchen suchen, können wir es nicht riskieren, ihr zu helfen.«

    »Und was, wenn sie sie finden und sie ihnen erzählt, dass wir ihr Hilfe angeboten haben?«

    »Wir streiten alles ab. Es gibt keine Beweise.«

    »Übrigens reden die zwei darüber, mich zu töten.«

    Santiole blinzelte sie an.

    »Der Dünne hat gerade vorgeschlagen, es wie einen Unfall aussehen zu lassen. Der Fette meint, sie könnten mir etwas Schwarzpulver unterjubeln und es so aussehen lassen, als hätten sie in Notwehr gehandelt.«

    Santiole stieß einen Seufzer aus. »Vermaledeite Grube. Sie kümmern sich besser um den Fetten.«

    »Was meinen Sie damit?«

    »Schießen Sie ihm in die Brust.«

    Erika hatte gar nicht daran gedacht, jemanden zu töten. »Aber ich …«

    »Aber gar nichts. Sie werden eine Herzogin von Kez sein. Das hier wird nicht das letzte Mal bleiben, dass Sie sich die Hände schmutzig machen.« Santiole schob eine Haarsträhne hinter ihr Ohr und ging in die Mitte der Straße. Sie zeigte in den Wald. »Da, ein Eichhörnchen im Baum!«

    Erika nahm den Bogen von ihrer Schulter und legte einen Pfeil an.

    »Was soll das werden?«, fragte der dünne Windhund.

    »Ich bringe meiner Herrin bei, wie man Ungeziefer tötet«, antwortete Santiole.

    Erika zielte auf ein imaginäres Eichhörnchen im Wald, dann drehte sie sich zu dem dickbäuchigen Mann und ließ ihren Pfeil fliegen.

    Der Pfeil bohrte sich in die Brust des Mannes, direkt unter dem Herzen. Er starrte den Pfeil entgeistert an. Der Knall einer Muskete erschallte, und über Santiole stieg Rauch auf. Der dünne Mann sackte in seinem Sattel nach vorne, den Degen halb gezückt, und Santiole machte einen Satz vor, um die Zügel zu greifen, bevor die Pferde durchgehen konnten.

    Sie holte beide Leichen aus ihren Sätteln, dann ließ sie die Pferde die Straße entlang zurückgaloppieren. Sie riss dem fetten Mann den Pfeil aus der Brust und gab ihn Erika. »Machen Sie den sauber.«

    Während der dünne Mann definitiv tot war, war der Dickbäuchige noch am Leben. Erika schaute fasziniert zu, wie sich sein runder Bauch hob und senkte und Blut aus seinem Mund und seiner Nase hervorquoll. Santiole zückte ihre Pistole und überprüfte, dass sie scharf war, dann zielte sie auf die Pfeilwunde und drückte den Abzug. Der fette Mann zuckte einmal und stöhnte vor Qual. Sie beugte sich vor, um ihm mit ihrem Messer den Rest zu geben.

    Santiole wischte die Klinge an der Hose des toten Mannes ab. »Und so schläfert man einen Köter ein.«

    »Warum haben Sie ihn erschossen?«

    »Um die Wunde zu zerstören. Jetzt wird niemand herausfinden, dass er von einem Pfeil getroffen wurde. Das würde sonst wahnsinnig verdächtig aussehen.«

    »Ah. Danke.« Erika tat einen zittrigen Atemzug. Was zur Grube hatte sie sich dabei gedacht? Zwei Windhunde des Königs lagen tot vor ihren Füßen. Sie mühte sich, die aufsteigende Panik zu unterdrücken, indem sie tief durchatmete und im Kopf bis hundert zählte. Es war Notwehr gewesen, beruhigte sie sich. Die beiden hatten auf ein kleines Mädchen Jagd gemacht, und sie hatten vorgehabt, sie selber zu töten, die Enkelin eines Kez-Herzogs! Sie hatten bekommen, was sie verdienten.

    Das Mädchen kam aus dem Wald hervor; das Rascheln trockener Blätter verkündete ihr Kommen, und ihr Haar war voller Kletten und Zweige. Sie starrte die zwei Leichen an und wandte ihren Blick keine Sekunde lang ab, während sie langsam auf Erika zuging.

    »Du hast mich beschützt.«

    Ich habe mich selbst beschützt.

    Nichts von alldem wäre passiert, wenn Erika nicht angehalten hätte, um diesem Mädchen zu helfen. Sie wäre jetzt auf dem Rückweg zum Anwesen ihres Großvaters, ohne einen Schimmer zu haben von Windhunden oder flüchtigen Pulvermagiern, und sie hätte jetzt kein Blut an ihren Händen. Sie würde sich jetzt gerade wahrscheinlich fragen, was der Koch wohl zum Abendessen vorbereitet hatte.

    Aber nun steckte sie mittendrin. Und es gab kein Zurück.

    Norrine konnte ihren Blick nicht von den zwei Leichen abwenden. Die Männer lagen nebeneinander auf der Straße; dunkelrote Rinnsale versickerten im Dreck. Die ältere Frau, Santiole, lud ihre Muskete nach, während sie mit einem Fuß auf dem Bauch des dicken Mannes stand, als sei er eine Art Trophäe. Sie summte leise. Es erinnerte Norrine daran, wie ihr Paps früher immer vor sich hin gesummt hatte, während er dem Kleinwild, das er von der Jagd nach Hause gebracht hatte, die Haut abzog.

    Sie erkannte den dickbäuchigen Windhund wieder. Es war derjenige, der Phille getötet hatte. Er hatte Phille einen Degen durch die Brust gestochen und ihn einfach so auf der Straße vor dem Gefängnis liegen lassen.

    Das war vor weniger als zwei Wochen gewesen. Sie konnte sich immer noch daran erinnern, wie Phille dagelegen hatte: Er hatte eine Hand nach Norrine ausgestreckt, so als würde er sie anbetteln, zurückzukommen, um ihn zu holen. Er hatte ihr gesagt, sie solle weglaufen, nachdem er die Windhunde überlistet und ihr zur Flucht verholfen hatte. Er hatte gesagt, er würde sie ablenken.

    Sie hatte ihm aus ihrem sicheren Versteck im hohen Gras aus hundert Metern Entfernung beim Sterben zugesehen.

    Dummer Phille. Er hatte immer schon mehr Herz als Verstand gehabt. Er hatte einer Pulvermagierin zur Flucht verholfen. Ein schneller Tod war für ihn bereits eine Gnade gewesen.

    Erikas Schniefen holte Norrine zurück in die Gegenwart. Sie betrachtete die Adlige – die Abgeschworene – einen Moment lang mit Verwunderung. Waren alle Adligen so zimperlich? Norrine war Blut und Leichen gewöhnt. Ihr Paps war ein Jäger. Das Blut an seiner Hose und Jacke stammte zwar von Tieren, aber das Blut von Füchsen oder Bibern sah keinen Deut anders aus als menschliches Blut. Erika schien von all dem ein wenig schockiert zu sein.

    Norrine überlegte, ob sie Erikas Hand greifen sollte. Das hatte ihr Paps immer bei ihr gemacht, wenn sie Angst gehabt hatte. Aber Mama hatte gesagt, Adlige mochten es nicht, wenn sie von Bürgerlichen angefasst wurden. »Ich heiße Norrine«, sagte sie.

    »Erika«, gab die Adlige schwach zurück, obwohl sie sich bereits vorgestellt hatte. Sie wandte sich von den toten Windhunden ab und ging neben Norrine in die Knie. »Du musst keine Angst haben.«

    »Das habe ich nicht«, sagte Norrine, obwohl das nicht stimmte. Natürlich hatte sie Angst. Sie hatte alles getan, um die Windhunde auf eine falsche Fährte zu locken. Sie hatte nicht weit von dem Gefängnis entfernt ein Pulverfass nur mit ihren Gedanken zur Explosion gebracht – der Nervenkitzel davon durchströmte sie immer noch – und war dann wieder zum Gefängnis zurück und in die andere Richtung gelaufen, um sie abzuschütteln. Sie war den Hunden entkommen, indem sie stromaufwärts Richtung Süden den Fluss hinaufgewatet war, bevor sie wieder kehrtgemacht hatte. Sie hatte sich von Straßen, Städten und sogar abgelegenen Bauernhöfen ferngehalten. Trotzdem waren die Windhunde irgendwie noch auf ihrer Fährte.

    »Denk wie ein Tier«, hatte Paps ihr immer gesagt, als er ihr beigebracht hatte, wie man jagte. Wie man die Fährten von Wildtieren las, wie man Biberfallen stellte, wie man Füchse überlistete. Er hatte ihr sogar beigebracht, wie man den Höhlenlöwen aus dem Weg ging, die manchmal aus den Bergen ins Tal wanderten.

    Es hatte nicht gereicht. Und jetzt hatte diese Adlige zwei Magierjäger getötet und ihr ihre Hilfe angeboten, um in den Norden zu fliehen, nach Adro, wo – wie Phille es ihr versprochen hatte – es nicht illegal war, ein Pulvermagier zu sein.

    Santiole holte die Geldbörsen der Männer aus ihren Jacken, dann warf sie sie in den Dreck und trat von den Leichen weg. »So sieht es nach einem Überfall aus«, sagte sie. »Und danach, dass die Übeltäter geflohen sind, nachdem sie gesehen haben, wen sie da überfallen haben. Guter Schuss übrigens. Ein paar Zentimeter höher wäre perfekt gewesen, aber dennoch ein guter Schuss.«

    »Ich habe gezögert«, antwortete Erika.

    »Jeder tut das beim ersten Mal«, sagte Santiole. »Wenn Sie nicht gezögert hätten, würde mit Ihnen etwas nicht stimmen.«

    Santiole schien Norrine kaum zur Kenntnis zu nehmen, was ihr ein ungutes Gefühl bereitete. Der älteren Frau gefiel anscheinend die Vorstellung nicht, einer Pulvermagierin zu helfen. Aber wem gefiel das schon? Norrine war schon von klein auf beigebracht worden, dass in Pulvermagiern das Böse schlummerte. Nur die Erinnerung an Philles Ermordung hielt Norrine davon ab, sich zu stellen.

    Norrine musterte Erika. Die Adlige war vielleicht zwanzig oder fünfundzwanzig, aber Norrine war nicht gut darin, das Alter von jemandem zu schätzen. Sie hatte ein makelloses, hübsches Gesicht, eine leicht nach oben gewandte Nase, blaue Augen und dunkelblondes Haar. Konnte Norrine ihr vertrauen? Sie hatte das Mal, und Norrine hatte ihren Namen schon mal gehört. Die Abgeschworene, die die Erbin des Herzogtums von Leora war.

    Es konnte eine Falle sein. Paps hatte immer gesagt, dass Menschen viel listiger waren als Tiere, weil ihre Listen grausam sein konnten, während Tiere, selbst wenn sie Fallen stellten, immer ehrlich waren.

    Norrine streckte ihre Sinne aus. Sie konnte das Pulver fühlen, das Santiole dabeihatte. Ein volles Pulverhorn, dazu mehrere Ladungen für ihre Muskete und Pistole. Norrine könnte sie mit ihren Gedanken entzünden und so Santiole und Erika töten und dann in die Berge fliehen. Wenn es sich um eine Falle handelte, wäre das sicherer, als mit ihnen mitzugehen.

    Norrines Sinne fühlten noch etwas anderes. Noch mehr Pulver. Aber Santiole hatte es nicht dabei. Sondern Erika.

    Es war nicht viel. Sicherlich nicht mehr als die Menge von ein paar Pulverladungen. Aber sie trug es bei sich. Der Gedanke verschaffte Norrine einen kleinen Nervenkitzel. Erika hatte ihren Schwur anscheinend bereits gebrochen, was bedeutete, dass jeder Windhund, dessen Wege sie kreuzte, Gefahr für sie bedeutete. Vielleicht konnte Norrine ihr doch vertrauen.

    Norrines Gedanken wurden von Erikas Stimme unterbrochen. »Dann wollen wir mal sehen, wie wir dich nach Adro schaffen können.«

    Erika ließ Santiole und Norrine etwa eine Stunde vom Familienanwesen der Leoras entfernt im Wald zurück und ritt voraus. Sie wusste, dass die Diener bei ihrer Ankunft bereits damit beschäftigt sein würden, den Speisesaal zu räumen.

    Aber das war ihre geringste Sorge. Der gesamte Rasen lag bereits im Schatten, und die Sonne war fast hinter den Baumwipfeln verschwunden, als sie die Kiesauffahrt des großen Herrenhauses entlangritt und sich Sorgen darüber machte, dass irgendjemand sie bereits mit dem Mädchen gesehen haben könnte.

    Ein einziges falsches Wort würde reichen – ein Bauer, der erwähnte, dass er Erika und Santiole mit einem Kind gesehen hatte, oder ein Verwandter, der zu Besuch kam und dem Santioles Abwesenheit auffiel, und ihre ganzen Bemühungen wären umsonst gewesen. Erika konnte nicht zulassen, dass irgendjemand merkte, dass das Kind hier war – was schwierig war in einem Anwesen voller tratschender Bediensteter –, und sie konnte sich keine Fehler erlauben. Sie ließ ihren Wallach bei einem der Stallburschen und betrat das Anwesen durch die Vordertür, erwiderte die Grüße der Bediensteten und ließ die kleine Gardinenpredigt des Chefbutlers mit einem Lächeln über sich ergehen.

    Ihr lief der Schweiß vom Nacken, als sie am Studierzimmer ihres Großvaters vorbeihuschte und anfing, die Treppe im großen Saal hinaufzugehen. Santiole würde das Mädchen über einen der Reitpfade auf das Grundstück des Anwesens bringen und sie mit etwas Essen und Bettzeug in einem der wenig benutzten Ställe einquartieren. Dort konnte sie bis zum Morgen bleiben, und bis dahin würde Erika sich einen Vorwand überlegt haben, um ihre Eltern in Adro besuchen zu fahren.

    »Erika, bist du das?«

    Erika erstarrte auf halber Treppe und stieß einen leisen Fluch aus. »Ja, Großvater.« Sie ging zurück zur Tür seines Studierzimmers.

    Der alte Mann saß in seinem Lieblingsohrensessel und hatte die Füße auf ein Sitzkissen hochgelegt. Ein Feuer brannte im Kamin. Er legte sein Buch auf seinem Bauch ab und schaute sie über den Rand seiner Lesebrille hinweg an. »Du hast das Abendessen verpasst.«

    »Tut mir leid, Großvater.«

    »Deine Großmutter wird dir ganz schön was erzählen.«

    »Ich weiß, es tut mir leid.«

    »Schon gut, schon gut.« Er winkte ab. »Sie ist ohnehin zu beschützend. Was meinst du, wo deine Mutter das herhat? Wo ist Santiole?«

    »Sie kümmert sich um die Pferde.«

    »Sind dafür nicht die Stallburschen da?«

    »Du weißt, wie sie ist«, sagte Erika.

    »Ach ja? Wie ist sie denn?«

    »Na ja, sie, äh, macht sich Sorgen um alles Mögliche«, murmelte Erika.

    Er betrachtete sie ein paar Momente lang. »Ist alles in Ordnung?«

    Erika zwang sich, zu lächeln. »Aber natürlich, Großvater.«

    »Hast du irgendetwas erlegt?«

    Sie schüttelte den Kopf. »Santiole hat mich auf Eichhörnchen schießen lassen.«

    »Die Nager sind schwer zu treffen. Na ja. Nächstes Mal wirst du sie erwischen. Von mir aus kannst du vom Fenster aus auf sie schießen. Die verdammten Viecher kommen immer wieder in meinen Garten.« Er hob sein Buch hoch und suchte nach der Stelle, wo er aufgehört hatte. »Geh dich frisch machen, dein Abendessen findest du in der Küche. Daphnie hat dir etwas warm gehalten.«

    Erika machte sich wieder auf den Weg die Treppe hinauf; sie war froh, gehen zu dürfen, ohne weitere Fragen beantworten zu müssen, und hoffte, ihrer Großmutter noch wenigstens ein bis zwei Stunden aus dem Weg gehen zu können. Sie badete und wechselte ihre Kleidung, dann ging sie wieder hinunter, um ihr Essen bei der Köchin abzuholen. Die Wachtel war zart, die Kartoffeln gebuttert und die Bohnen mit Knoblauch geröstet. Daphnie erklärte ihr, dass in der Himbeertorte die letzten Beeren waren, die der Garten ihres Großvaters diese Saison hergegeben hatte.

    »Daphnie, haben Sie Santiole gesehen?«, fragte sie die Köchin, als sie die letzten Reste ihres Abendessens am Bedienstetentisch zu sich nahm.

    Daphnie war eine etwa fünfunddreißigjährige stämmige Frau, die eine Schürze trug, die immer mit Mehl bedeckt zu sein schien. Sie lehnte am Küchentisch, knackte ein paar Walnüsse mit einer Hand auf und pickte Nüsse aus den Schalen heraus. »Sie ist kurz nach Ihnen angekommen«, sagte die Köchin. »Ich glaube, sie ist beim Herzog.«

    »Vielen Dank.« Erika ließ die letzten paar Bissen stehen und schlich sich in den hinteren Flur. Sie setzte jeden Schritt sorgfältig, darauf bedacht, die knarrenden Dielen zu umgehen, bis sie in Hörweite des Bediensteteneingangs zum Studierzimmer ihres Großvaters war.

    Sie konnte die Stimme ihres Großvaters hören, aber nicht verstehen, was er sagte. Redete er mit Santiole oder einer Bediensteten? Oder mit Großmutter? Falls es Großmutter war, sollte Erika sich besser fernhalten, aber wenn es Santiole war … nun, Erika musste wissen, ob mit Norrine alles glattgelaufen war.

    Sie machte noch einen Schritt und verzog das Gesicht, als die Diele unter ihrem Pantoffel ein lautes Knarren von sich gab. »Erika«, ertönte die Stimme ihres Großvaters. »Komm herein.«

    Wie zur Grube wusste er, dass sie es war? Sie stieß einen leisen Seufzer aus und ging mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht um die Ecke.

    »Ja, Großvater?«

    Das Lächeln glitt ihr genauso schnell vom Gesicht, wie sie es dort hingezaubert hatte. Großvater stand neben dem Feuer, sein Buch lag unbeachtet da, und Santiole stand neben ihm. Die Waffenmeisterin hatte einen ernsten Ausdruck im Gesicht, während Großvater die Stirn runzelte und gedankenverloren mit den Fingern auf dem Kaminsims trommelte.

    »Schließ die Tür, Kind.«

    Die Tür zum Eingangsbereich war bereits geschlossen. Erika schloss die Bedienstetentür hinter sich und spürte, wie sich an ihrem unteren Rücken eine Schweißperle bildete.

    »Wie ich hörte, hast du heute zum ersten Mal getötet«, sagte Großvater.

    »Ich verstehe nicht …«

    Der Herzog von Leora schnaubte. »Lüg mich nicht an, Mädchen. Santiole mag zwar deine Tutorin sein, aber sie ist meine Waffenmeisterin. Dachtest du etwa, sie würde es mir verheimlichen? Ich weiß von den Magierjägern, und ich weiß von dem Mädchen.«

    Trotz seines barschen Tonfalls redete Großvater mit leiser Stimme. Er hatte immer gesagt, dass in einem adligen Anwesen die Wände Ohren hatten und selbst loyale Diener möglicherweise für andere Adelsfamilien spionierten.

    »Komm her.«

    Erika durchquerte den Raum; sie blieb vor ihrem Großvater stehen und versuchte, so schuldbewusst wie möglich auszusehen. Was würde er jetzt tun? Das Mädchen den Magierjägern ausliefern? Vielleicht sogar sie selber? Der Gedanke, dass ihr eigener Großvater sie verraten würde, war Erika nie in den Sinn gekommen, aber plötzlich wurde ihr bei der Vorstellung unwohl.

    »Kopf hoch. Schau mir in die Augen«, sagte Großvater.

    Sie schaute ihm rechtzeitig ins Gesicht, um die heftige Ohrfeige zu spüren, die er ihr mit der Rückhand verpasste. Der Schlag war nicht fest genug, um sie ins Stolpern zu bringen, aber hart genug, um zu brennen. Der Schock war schlimmer als der Schmerz – ihr Großvater hatte nie Gewalt angewendet, nicht einmal bei den Jungen in der Familie.

    »Jede unserer Handlungen hat Konsequenzen, meine Liebe«, sagte Großvater. Er fasste ihr Kinn mit der Hand und streichelte ihr mit dem Daumen sanft über die Wange.

    Sie zwang sich, nicht zu zucken. »Jawohl, Sir.«

    »Nichts da, mein Mädchen. Ich bin immer noch dein Großvater.« Er schenkte ihr ein gütiges Lächeln, aber seine Augen wirkten müde. Er drehte sich weg, um ins Feuer zu schauen. »Es war richtig von dir, diese Windhunde zu töten. Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, dass du dir die Hände schmutzig machen musst, und Santiole hat mir berichtet, dass du kaum gezögert hast. Ich bin stolz auf dich. Menschenleben sind in Kez nicht viel wert. Du musst es dir erkämpfen, dass deins kostbar ist.«

    »Du bist … stolz auf mich?«

    »Du hast es lebendig nach Hause geschafft. Ich kenne die Magierjäger des Königs, mein Mädchen. Ein skrupelloses Pack von Mördern und Dieben. Sie hätten dich ohne zu zögern getötet, wenn sie der Meinung gewesen wären, dass sie damit davonkommen.«

    Er hat das Mädchen immer noch nicht erwähnt. Oh, Grube. Was hatte er getan? Hatte er Santiole angewiesen, sie zu töten? Großvater war nicht herzlos, aber er hatte den Ruf, gnadenlos zu sein, wenn die Sicherheit seiner Familie auf dem Spiel stand. Er war ein Pragmatiker durch und durch.

    »Nichts hiervon verlässt jemals dieses Zimmer«, sagte Großvater.

    Erika nickte. Kez-Adlige lernten viele Dinge als Kinder. Darunter auch, dass Schweigen manchmal Gold war.

    »Was steht morgen für Erika auf dem Plan?«, fragte Großvater Santiole.

    Die Waffenmeisterin räusperte sich. »Morgens Fechten. Nachmittags Reiten, und Mathematik am Abend.«

    Erika stöhnte innerlich. Sie hasste Mathematik.

    »Sagen Sie dem Arithmetiktutor ab. Ich habe etwas in Norport zu erledigen, und Erika hat sich dazu entschieden, dass sie etwas früher als geplant nach Adro zurückkehren möchte, um ihre Eltern zu besuchen. Wir reisen mit leichtem Gepäck und nur einer Handvoll Männer, und wir brechen morgen Nachmittag auf, nach meinem Treffen mit Lord Sibil.« Er zeigte auf Erika. »Sobald wir in Norport ankommen, setze ich dich auf ein Segelschiff, das dich über die Adsee nach Adopest bringt.«

    Erika schluckte. »Und das Mädchen?«

    »Sie wird mit dir kommen. In Adopest gibt es Leute, die sie aufnehmen werden, und sobald sie dort angekommen ist, ist diese ganze Angelegenheit beendet und wird nie wieder erwähnt werden. Hast du verstanden?«

    Erika seufzte leise und stieß ein stilles Dankesgebet an Kresimir aus. »Ja, Großvater.«

    »Sieh zu, dass du etwas Schlaf bekommst. Wir haben morgen einen langen Ritt vor uns. Ich habe nicht vor, irgendwo lang genug anzuhalten, um mit einer flüchtigen Pulvermagierin erwischt zu werden.«

    Erika betrat den Übungsplatz hinter den Hauptstallungen bei Sonnenaufgang für ihr Sparring mit Santiole. Ihr Atem dampfte im Licht der Dämmerung und der frischen Morgenluft. Ihre Arme fühlten sich schwer an, und ihr Kopf pochte von einer schlaflosen Nacht. Konnten sie das alles hier nicht einfach überspringen und sich sofort auf den Weg nach Norport machen? Je eher sie das Mädchen nach Adro brachte, desto eher würde das Ganze vorüber sein.

    Trotz ihrer Nervosität verspürte sie dennoch einen Nervenkitzel, wenn sie daran dachte, wie sie die Windhunde überlistet hatte. Das war noch mal etwas vollkommen anderes als ihre kleine Rebellion, ab und zu kleine Prisen Schwarzpulver zu sich zu nehmen. »Norrine?«, fragte Erika leise, als Santiole auf dem Übungsplatz zu ihr stieß.

    Die Waffenmeisterin hielt ihren Degen zu einer Seite weg und tippelte auf den Zehen, um sich aufzulockern. Ihr langes braunes Haar hatte sie hinter dem Kopf zu einem Dutt gebunden, was Erika daran erinnerte, dass sie vergessen hatte, dasselbe zu tun.

    »Ich habe heute Morgen nach ihr geschaut. Sie ist quietschfidel. Es hat ihr gutgetan, etwas zu essen.«

    »Haben Sie ihr meine alten Schuhe gegeben?«

    »Ja«, antwortete Santiole mit strengem Ton. »Jede dieser kleinen Nettigkeiten, die Sie ihr erweisen, wird Ihnen irgendwann zum Verhängnis werden. Wenn die Windhunde das Mädchen schnappen, werden sie herausfinden, wer ihr diese Schuhe gegeben hat. Die Windhunde sind unerbittlich.«

    Erika spannte den Kiefer an. »Dann werde ich eben sicherstellen müssen, dass sie sie nicht erwischen.«

    Santiole hängte ihre Jacke an der Stalltür auf. »In Kez führt Güte in ein frühes Grab.«

    »Oder vielleicht schafft sie mir mächtige Freunde.«

    »Sie sprechen wie eine Adronerin. En garde!« Santiole machte ohne Vorwarnung einen Satz nach vorne; ihre Degenspitze funkelte im Morgenlicht.

    Erika entfuhr ein Quieken, während sie zurückruderte und versuchte, ihren eigenen Degen zwischen sie zu bringen. Sie parierte einmal, zweimal, und dann schnellte die Spitze von Santioles Degen nach vorne und sauste an Erikas Ohr vorbei.

    Wenn sie die Finger nur leicht versetzt gehabt hätte, hätte Santiole ihre Klinge Erika mitten ins Auge stechen können.

    Santiole senkte ihren Degen. »Nicht jeder Kampf ist ein Duell. Nicht jeder Feind wird Ihnen Zeit zur Vorbereitung geben, bevor er angreift.« Sie ging zurück zu ihrer Jacke und holte eine Knospe aus der Tasche, dann brachte sie das runde Stück Holz vorne an ihrem Degen an, um ihn abzustumpfen. Erika starrte den Rücken der Fechtmeisterin mit finsterem Blick an, während sie dasselbe mit ihrem Degen tat. Sie rollte ihre Schultern und dehnte ihre Arme, dann griff sie sofort an, sobald Santiole sich umdrehte.

    Sie kämpften kreuz und quer über den Übungsplatz, sodass ihre Hosen und Stiefel mit Staub bedeckt und ihre Hemden mit Schweiß durchtränkt waren. Santiole landete die ersten beiden Treffer, dann landete Erika den dritten und vierten.

    Und dann den fünften. Und den sechsten.

    Sie hatte acht Treffer in Folge gelandet, als sie sah, wie Santiole ihre Stellung änderte. Die Waffenmeisterin lockerte den Kragen ihres Hemdes und tupfte sich die Stirn mit einem Taschentuch ab. »Bei Kresimir, Sie werden langsam richtig gut. Ich schätze, eines Tages sollte ich damit aufhören, mich bei Ihnen zurückzuhalten.«

    »Ich habe mit meinem Vater geübt«, sagte Erika, während sie einen Stich zur Seite abwehrte. Santiole setzte mit einem weiteren Stich nach, der schneller und kraftvoller war.

    »Er hat Ihnen die adronische Fechtkunst beigebracht, was?«

    »Ein wenig davon. Die Fechthaltung der Adroner ist nachlässig. Vater sagt, sie kämpfen weniger technisch, dafür mit mehr Herz«, antwortete Erika. Sie machte einen Sprung zurück, aber sie war nicht schnell genug. Santiole landete einen Treffer gegen die Innenseite ihres Oberschenkels.

    »Nichts liegt mir ferner, als Ihren Vater zu korrigieren«, sagte Santiole, »aber adronische Duellanten taugen einen Scheiß.« Sie griff wieder an, und Erika passte sich an die größere Kraft und Schnelligkeit an, mit der Santiole ihre Ausfälle vorbrachte.

    Es reichte nicht. Santiole landete drei weitere Treffer, bevor sie sich zurückfallen ließ und Erika bedeutete, aufzuhören.

    Erika beugte sich dankbar nach vorne, die Hände auf die Knie gestützt, und atmete durch. Sie wusste, dass Santiole selbst für die Verhältnisse der Kez als hervorragende Duellantin galt, aber sie hatte die Waffenmeisterin noch nie so kämpfen sehen.

    »Sie machen gute Fortschritte«, sagte Santiole.

    Es war als Kompliment gemeint, aber Erika konnte nicht anders, als sich über diese letzten vier Treffer zu ärgern. Sie spuckte in den Staub.

    »Ich meine es ernst«, sagte Santiole. »Sie sind bereits besser als die meisten Adroner, gegen die ich gekämpft habe. Ich wette, dass Sie sich in ein paar Jahren mit den meisten Kämpfern in den Neun messen können.«

    »Bloße Lobhudelei.«

    Santiole steckte ihren Degen in die Scheide und schenkte Erika ein schmales Lächeln. »Bilden Sie sich nichts darauf ein.«

    Ihre Unterhaltung wurde von Rufen unterbrochen, die von der anderen Seite des Hofes des Anwesens kamen. Erika ging zum Rand der Stallungen, um einen Blick zum Anwesen zu werfen, und sah drei Gestalten, die auf dem Weg zu ihnen waren.

    »Wer ist das?«, fragte sie.

    Santiole kniff die Augen zusammen. »Sieht aus wie Ihr Großvater und … ich bin mir nicht sicher.«

    Einen Moment später erkannte Erika den Mann zur Rechten ihres Großvaters. »Zur Grube«, fluchte sie. »Das ist Nikslaus.«

    Herzog Nikslaus war ein kleiner Mann, der ein paar Jahre älter als Erika war. Er war dünn gebaut und hatte einen übergroßen Kopf, der zu schwer für seinen schmächtigen Hals wirkte. Sein Haar war so blond, dass es beinahe weiß aussah, und er trug es gekräuselt knapp über den Ohren, unter einem feinen Zweispitz

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