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Die Götter von Blut und Pulver: Sünden des Imperiums
Die Götter von Blut und Pulver: Sünden des Imperiums
Die Götter von Blut und Pulver: Sünden des Imperiums
eBook825 Seiten11 Stunden

Die Götter von Blut und Pulver: Sünden des Imperiums

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Über dieses E-Book

Tauchen Sie ein in eine vom Krieg zerrissene Welt, in der Magie und Schießpulver aufeinandertreffen. Eine Welt an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter … Die junge Nation Fatrasta ist ein unruhiges Land – ein Ort für Kriminelle, Glücksritter, mutige Siedler und Magier auf der Suche nach alten Artefakten. Nur der eiserne Wille der Kanzlerin und ihrer Geheimpolizei halten die Hauptstadt Landfall zusammen gegen die Bedrohungen durch die Unruhen eines unterdrückten Volkes und den Machenschaften von mächtigen Reichen. Die Aufstände, die Landfall bedrohen, müssen mit List und Gewalt niedergeschlagen werden – eine Aufgabe, die einem Spion namens Michel Bravis, dem verurteilten Kriegsheld Ben Styke und Lady Vlora Flint, einer Söldnergeneralin mit einer Vergangenheit, die so turbulent ist wie Landfalls Gegenwart, zufällt. Loyalitäten werden auf die Probe gestellt, als in diesem ungezähmten Land ein uraltes Schreckgespenst zu Tage gefördert wird, und die Bevölkerung von Landfall muss bald einsehen, dass eine Rebellion die kleinste ihrer Sorgen ist.
SpracheDeutsch
HerausgeberCross Cult
Erscheinungsdatum23. März 2022
ISBN9783966588485
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    Buchvorschau

    Die Götter von Blut und Pulver - Brian McClellan

    KAPITEL 1

    Fort Samnan lag in Trümmern.

    Samnans über sechs Meter hohe Palisade aus gespaltenen Zypressenstämmen war die größte Befestigungsanlage am westlichen Arm des Tristanflusses, sie umschloss eine ansehnliche Handelsstadt und eine Motte aus Holz, in der sich ein Bürgerhaus und mehrere Verwaltungsgebäude befanden. Zwölf Meter hohe Türme überblickten den Fluss auf der einen und mehrere Hundert Morgen an gerodetem, trocken gelegtem Ackerland auf der anderen Seite.

    Das Fort war ein zivilisatorisches Monument inmitten des größten Stück Sumpflandes der Welt, weshalb es Vlora nur noch trauriger stimmte, es in seinem momentanen Zustand zu sehen.

    Die mächtigen Tore lagen aufgebrochen im Inneren der Mauern, die an ein Dutzend Stellen von Artilleriefeuer durchschlagen worden waren. Von den meisten Türmen war nichts mehr übrig als schwelende Ruinen, und die Motte war zu Splittern zerbombt worden. Rauch stieg über dem Fort auf; die dunkle Säule erstreckte sich mehrere Hundert Meter hoch in den heißen, feuchten Nachmittagshimmel.

    Die Nachwirkungen einer Schlacht lösten nur selten Entsetzen in Vlora aus. Kein Karrieresoldat konnte Schlacht um Schlacht mitansehen und dabei lange bei Verstand bleiben, aber für Vlora lag immer eine Art Melancholie in der Luft, die den Schock maskierte. Sie nagte in ihrem Hinterkopf und unterdrückte das Verlangen danach, den gut gewonnenen Kampf zu feiern.

    Vlora schmeckte den vertrauten, scharfen Geschmack von Rauch auf ihrer Zunge und spuckte in den Schlamm, während sie dabei zusah, wie Soldaten in ihren blutrot-blauen Jacken durch den Dunst huschten. Die Männer bargen die Toten, machten Inventur von den Waffen, errichteten Lazarette und zählten die Gefangenen. Das alles passierte schnell und effizient, ohne Plündern, Vergewaltigungen oder Morde, was Vlora mit einem Funken Stolz erfüllte. Aber ihre Augen blieben auf die Leichen gerichtet; sie fragte sich, wie viele Verluste beide Seiten des Konflikts wohl davongetragen hatten.

    Vlora arbeitete sich durch die Überreste des Torhauses. Sie stieg über die zerstörten Balken, die mal das Tor des Forts gebildet hatten, und hielt inne, um zwei Soldaten vorbeizulassen, die zwischen sich eine Bahre trugen. Sie leckte sich nervös über die Zähne, als sie zum ersten Mal einen Blick auf die Handelsstadt innerhalb des Forts werfen konnte. Ein paar der Gebäude hatten das Bombardement überstanden, aber dem Rest war es kaum besser ergangen als der Motte.

    Forts im Grenzland waren dafür gebaut, dass moderne Waffen und leichte Artillerie drinnen und Palo-Pfeile und veraltete Musketen draußen blieben. Und nicht andersherum.

    Aus dem Augenwinkel bemerkte sie einen Soldaten, der sich mit einer kleinen Kiste unter dem Arm aus einem halb zerstörten Gebäude schlich. Sie legte den Kopf schräg und wurde mehr als nur ein bisschen wütend. Sie versuchte, sich an seinen Namen zu erinnern. »Gefreiter Dobri!«, rief sie endlich.

    Der Soldat, ein kleiner Mann mit übergroßer Nase und langen Fingern, machte einen fast einen halben Meter hohen Satz in die Luft. Er wirbelte zu Vlora herum und versuchte, die Kiste hinter seinem Rücken zu verstecken.

    »Ma’am!«, antwortete er und salutierte ihr zackig. Dabei fiel ihm allerdings die Kiste hin. Ein paar Trinkbecher und jede Menge Silberbesteck verteilten sich über die Straße.

    Vlora musterte ihn einen langen Moment, um ihn ein wenig in seinem eigenen Unbehagen zappeln zu lassen. »Suchen Sie nach dem Besitzer dieser feinen Silberwaren, Dobri?«

    Dobri machte große Augen. Er salutierte ihr weiterhin und hielt die Augen nach vorne gerichtet, aber Vlora konnte sein leichtes Zittern erkennen. Sie ging seitlich auf ihn zu, ignorierte das Silber und umkreiste ihn einmal schnell. Er trug dieselbe Uniform wie sie, blutrote Jacke und Hose mit dunkelblauen Streifen und Umschlägen. Die Jacke hatte goldene Knöpfe und einen Kupferanstecker am Revers, gekreuzte Musketen hinter einem Tschako – das Abzeichen der Riflejack-Söldnerkompanie. Die Uniform war verstaubt und hatte Schmauchspuren an der Hose und den Ärmeln. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder und stieß dann einen geschlagenen Seufzer aus. »Nein, Lady Flint. Ich war dabei, sie zu stehlen.«

    »Nun«, sagte Vlora. »Immerhin haben Sie sich daran erinnert, wie wenig ich Lügner mag.« Sie dachte ein paar Momente lang über die Situation nach. Die Schlacht war kurz, aber heftig gewesen, und Dobri war einer der Ersten ihrer Soldaten gewesen, die durch die Mauern gestürmt waren, nachdem ihre Artillerie das Tor eingeschossen hatte. Er war ein tapferer Soldat, auch wenn er ein Langfinger war. »Geben Sie das Silber dem Quartiermeister, damit er davon Inventur machen kann, und sagen Sie dann Oberst Olem, dass Sie sich für die nächsten drei Wochen freiwillig zum Latrinendienst melden. Ich schlage vor, Sie erzählen ihm nicht, warum, es sei denn, Sie wollen vor einem Erschießungskommando landen.«

    »Jawohl, Lady Flint.«

    »Die Riflejacks stehlen nicht«, sagte Vlora. »Wir sind Söldner, keine Diebe. Wegtreten.«

    Sie schaute zu, wie Dobri das Silber aufsammelte und sich auf den Weg zum Zelt des Quartiermeisters vor den Fortmauern machte. Sie fragte sich, ob sie an ihm ein Exempel hätte statuieren sollen – schließlich musste sie ihrem Namen, »Flint«, Ehre machen. Aber die Männer waren jetzt seit fast einem Jahr im Grenzland unterwegs. Mitgefühl und Disziplin mussten zu gleichen Teilen walten, sonst hätte sie am Ende noch eine Meuterei am Hals.

    »General Flint!«

    Sie drehte sich um und sah einen jungen Sergeant, der aus der Richtung der zerstörten Motte auf sie zukam. »Sergeant Padnir, wie kann ich Ihnen helfen?«

    Der Sergeant salutierte. »Oberst Olem erbittet Ihre Anwesenheit, Ma’am. Er sagt, es sei dringend.«

    Vlora runzelte die Stirn. Trotz der Hitze war Padnir blass, und sein Blick wirkte nervös. Er war ein besonnener Mann in seinen späten Zwanzigern, nur ein paar Jahre jünger als sie, und einer der vielen Soldaten unter ihrem Kommando, die sich während des Adro-Kez-Krieges bewiesen hatten. Irgendetwas musste schiefgelaufen sein, dass er so aufgeregt war. »Aber natürlich. Ich mache nur meine Runden. Ich komme sofort mit.«

    Sie folgte dem Sergeant die Hauptstraße des Städtchens entlang. Sie hielt einmal an, um die Reihe an Gefangenen in Augenschein zu nehmen, die alle neben der Straße knieten und von einer Handvoll Soldaten bewacht wurden. Jeder von ihnen war ein Palo – Ureinwohner von Fatrasta, die hellrote Haare und blasse Haut voller Sommersprossen hatten. Auf den ersten Blick konnte sie sehen, dass sie Dorfbewohner waren, keine Krieger.

    Diese Gruppe hatte Fort Samnan eingenommen und verkündet, dass das Fort auf ihrem Land läge und es der fatrastanischen Regierung verboten sei, Fuß auf das Gebiet zu setzen. Sie hatten ein paar Dutzend Siedler getötet und ein paar Bauernhäuser niedergebrannt, aber sonst war nicht viel passiert. Eine recht glimpfliche Angelegenheit, was Aufstände anging.

    Die fatrastanische Regierung hatte gekontert, indem sie Vlora und die Riflejack-Söldnerkompanie ausgesandt hatte, um die Rebellen niederzuschlagen. Es war nicht das erste Mal, dass Vlora einen Aufstand im Grenzland beendet hatte – schließlich bezahlten die Fatrastaner gut –, und sie war sicher, dass es auch nicht das letzte Mal gewesen sein würde.

    Ein paar der Gesichter schauten mit leeren Blicken zu ihr hoch. Einige starrten sie böse an, andere stießen Flüche auf Palo aus, während sie vorbeiging. Sie ignorierte sie.

    Sie kämpfte nicht gern gegen die Palo, die meistens leidenschaftlich, unterfinanziert und schlechter bewaffnet waren. Das bedeutete viele Guerillakämpfe, bei denen Anführer wie die schwer fassbare Rote Hand unverhältnismäßig großen Schaden anrichteten bei den fatrastanischen Armeen, die das Pech hatten, von ihnen als Ziel auserkoren zu werden. Offene Schlachten – wie die Belagerung von Fort Samnan – endeten in einem blutigen Massaker für die andere Seite.

    Aus Vloras Sicht hatten die armen Narren durchaus recht. Das hier war ihr Land. Sie waren hier, seit die Dynize diesen Ort vor fast tausend Jahren verlassen hatten, lange bevor die Kressianer aus den Neun herübergekommen waren und angefangen hatten, Fatrasta zu kolonisieren. Pech für die Palo war nur, dass sie es sich nicht leisten konnten, die Riflejacks anzuheuern, während die fatrastanische Regierung es konnte.

    Vlora ließ die Gefangenen zurück und fand Oberst Olem nur ein paar Augenblicke später auf der anderen Seite der zerstörten Motte. Mit fünfundvierzig konnte man dem Oberst sein Alter langsam an den grauen Strähnen ansehen, die seinen sandfarbenen Bart durchzogen. Vlora fand, dass er dadurch würdevoll aussah. Er trug dieselbe rot-blaue Uniform wie seine Kameraden, der einzige Unterschied war der einzelne silberne Stern, der auf der gegenüberliegenden Seite von den gekreuzten Musketen und dem Tschako sein Revers zierte und seinen Rang auswies. Eine unangezündete Zigarette hing ihm aus dem Mundwinkel.

    »Oberst«, sagte Vlora.

    »Flint«, antwortete Olem, ohne hochzuschauen. Technisch gesehen war er Vloras zweiter Offizier. In Wirklichkeit waren sie beide Generäle der adronischen Armee im Ruhestand und Mitbesitzer der Riflejack-Söldnerkompanie, sodass sie beide gleichrangig waren. Er bevorzugte es formhalber, einfach nur »Oberst« Olem zu sein, aber sie fügte sich seiner Einschätzung genauso häufig wie er ihrer.

    Olem saß in der Hocke, die Hände auf den Knien, und schaute verwirrt aus der Wäsche.

    Die Leiche eines alten Palo lag ausgestreckt vor ihm. Der Körper lag angewinkelt da, mit sommersprossiger Haut, die runzlig war wie eine Dörrpflaume, und blutete noch aus mehreren Schuss- und Bajonettwunden. Mindestens zwei Dutzend Leichen in Riflejack-Uniformen lagen um die Leiche verteilt. Kehlen und Bäuche waren aufgeschlitzt. Zwei Gewehre waren glatt entzweigebrochen.

    »Was ist hier passiert?«

    »Das weiß ich genauso wenig wie du«, sagte Olem. Er stand auf und entzündete ein Streichholz an seinem Gürtel. Er schirmte die Flamme vor dem Wind ab, steckte seine Zigarette an und paffte grimmig vor sich hin, während er die Leiche des alten Mannes vor ihren Füßen betrachtete.

    Vlora schaute zu den Leichen ihrer Soldaten. Sie sagte ihre Namen leise in ihrem Kopf auf – Forlin, Jad, Wellans. Die Liste ging immer weiter. Sie alle waren Gefreite, und sie kannte keinen von ihnen besonders gut, aber sie waren immer noch ihre Männer. »Wer ist dieser Hurensohn?« Sie machte eine Geste zu der Palo-Leiche.

    »Keine Ahnung.«

    »Hat er das angerichtet?«

    »Sieht danach aus«, sagte Olem. »Wir haben bereits fünfzehn Verwundete weggeschafft.«

    Vlora musste diese Information einen Moment lang verdauen und versuchen, sie zu verarbeiten. Das ergab keinen Sinn. Die Palo waren häufig kampflustige Krieger, aber sie fielen genauso wie alle anderen gegen ausgebildete Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten. »Wie hat« – sie rechnete kurz nach – »ein einzelner alter Mann der besten verdammten Infanterie auf dem Kontinent fast vierzig Verluste zugefügt?«

    »Das«, sagte Olem, »ist eine sehr gute Frage.«

    »Und …?« Sie schenkte ihm einen langen, verärgerten Blick. Es war die Art von Blick, der die meisten ihrer Männer in die Flucht jagte. Olem wirkte wie gewöhnlich ungerührt.

    »Die Jungs sagen, dass er sich zu schnell bewegt hat, um ihm mit bloßem Auge folgen zu können. So wie …« Olem hielt inne und schaute ihr in die Augen. »So wie ein Pulvermagier.«

    Vlora streckte ihre magischen Sinne aus und griff nach dem Els. Als Pulvermagierin konnte sie jede Pulverladung und jedes Pulverhorn im Umkreis von Hunderten von Metern spüren, sie sah sie vor ihrem inneren Auge wie Punkte auf einer Karte. Sie konzentrierte sich auf die Leiche. Der alte Mann hatte kein Gramm Pulver an sich, aber sie konnte eine Art subtile Magie spüren, die ihn umgab, von einer Sorte, wie sie sie noch nie gefühlt hatte. Eine genauere Betrachtung verursachte ihr Kopfschmerzen, und sie schloss ihr drittes Auge wieder.

    »Tja«, sagte sie Olem. »Er war kein Pulvermagier. Es ist irgendetwas … Magisches an ihm, aber ich kann nicht genau sagen, was.«

    »Ich habe es nicht gefühlt«, gab er zurück. Er hatte seine eigene Begabung, eine geringfügige magische Fähigkeit, die es ihm erlaubte, nicht schlafen zu müssen. Aber sein Vermögen, ins Els zu schauen, war nicht so stark ausgeprägt wie das ihre.

    Vlora kniete sich neben die Leiche und schaute sie sich noch mal an, diesmal ohne Magie. Das Haar des alten Mannes war vor langer Zeit von Rot zu Weiß übergegangen, und seine knorrigen Hände hielten immer noch zwei polierte Knochenäxte. Die meisten Palo zogen sich ihrer Umgebung entsprechend an – Wildlederkleidung im Grenzland, Anzüge oder Hosen in der Stadt. Dieser Krieger trug allerdings dickes, dunkles Leder, das nicht von einem Säugetier stammte. Die Haut war furchig, hart und hatte eine Textur wie Schlangenhaut.

    »Hast du jemals gesehen, dass irgendjemand so was getragen hat?«

    »Das ist Sumpfdrachenleder«, bemerkte Olem. »Ich habe Tornister und Stiefel daraus gesehen, aber das Zeug ist verdammt teuer. Schwer zu gerben. Niemand trägt einen ganzen Anzug daraus.« Er aschte seine Zigarette ab. »Und ich habe definitiv noch nie gesehen, wie ein Palo so kämpft. Das könnte ein Anlass zur Sorge sein.«

    »Vielleicht«, sagte Vlora. Plötzlich fühlte sie sich erschüttert. Es war schlimm genug, mit den Sumpfdrachen, Schlangen, Insekten und Palo im Sumpf festzustecken. Aber hier draußen waren die Riflejacks immer an der Spitze der Nahrungskette gewesen. Bis jetzt. Sie fuhr mit den Fingern über das Leder. Das Material schien eine effektive Rüstung zu bieten, es war dick genug, um ein Messer oder vielleicht sogar einen Bajonetthieb abzuwenden. »Sieht aus wie eine Uniform«, murmelte sie.

    »Es werden Gerüchte umgehen«, sagte Olem. »Soll ich das Geschwätz unterbinden?«

    »Nein«, sagte Vlora. »Lass die Männer ruhig Gerüchte austauschen. Aber gib ihnen einen Befehl. Wenn sie jemanden sehen, der solche Kleider trägt, sollen sie in Formation gehen und ihn mit ihren Bajonetten auf Distanz halten. Und jemanden losschicken, der mich holt.«

    Olem legte die Stirn in Falten. »Glaubst du, du kannst es mit jemandem aufnehmen, der sich durch so viele Infanteristen metzeln kann?«, fragte er.

    »Keine Ahnung. Aber ich soll verdammt sein, wenn ich zulasse, dass sich irgendein Palo-Hinterwäldler durch meine Männer schneidet wie durch einen Festtagsschinken. Ich kann ihm immerhin aus dreißig Schritt Entfernung eine Kugel in den Kopf jagen.«

    »Und was, wenn es mehr als einer ist?«

    Vlora funkelte ihn an.

    »Na gut«, sagte Olem. Er rauchte seine Zigarette zu Ende und zertrat die Kippe unter seinem Stiefel. »Linie formen und nach General Flint rufen.«

    Vlora und Olem standen mehrere Minuten lang in Stille da und schauten zu, wie der Rest der Leichen weggeschafft und die Feuer endlich von der Eimerkette gelöscht wurden. Boten brachten Olem Berichte, und auf einem der wenigen verbliebenen Forttürme wurde ein Flaggenmast errichtet. Die fatrastanische Flagge, sonnenblumengelb mit grünen Rändern, wurde gehisst, zusammen mit der kleineren, rot-blauen Standarte der Riflejacks.

    Vlora schaute zu, wie eine Frau auf einem Pferd durch das zerstörte Forttor ritt und das Tier durch die Menge und das Chaos der Aufräumarbeiten manövrierte. Die Frau betrachtete ihre Umgebung mit abgestumpfter, beiläufiger Miene, allerdings bedachte sie die gefangenen Palo, die neben der Straße knieten, mit einem höhnischen Lächeln. Vlora kannte die Frau nicht, aber sie kannte ihre gelbe Uniform umso besser – es war dasselbe Gelb wie auf der Flagge, die ihre Männer gerade gehisst hatten. Fatrastanisches Militär.

    Die Reiterin kam vor Vlora und Olem zum Stehen und schaute mit finsterem Gesichtsausdruck zu ihnen herunter. Sie salutierte nicht. Sie grüßte sie nicht mal.

    »Sie sind General Flint?«, fragte die Frau.

    »Wer will das wissen?«, gab Vlora zurück.

    »Eine Nachricht von Kanzlerin Lindet«, sagte die Frau. Sie zog einen Umschlag aus ihrer Jacke und hielt ihn hin. Olem nahm ihn ihr ab, riss ihn mit einem Finger auf und strich das Papier gegen seinen Bauch flach. Die Frau drehte wortlos ihr Pferd herum und ritt sofort wieder die Straße entlang auf das Forttor zu.

    Fatrastanische Soldaten neigten dazu, arrogante Ärsche zu sein, aber Vlora hatte selten solche Unhöflichkeit erlebt. Sie tippte gegen den Griff ihrer Pistole. »Wäre es furchtbar unprofessionell von mir, ihr den Hut vom Kopf zu schießen?«

    »Ja«, sagte Olem, ohne von dem Brief aufzusehen.

    »Die verdammte fatrastanische Armee sollte den Leuten mehr Respekt zollen, die ihre Drecksarbeit erledigen.«

    »Tröste dich damit, dass du viel mehr Geld verdienst als sie«, sagte Olem. »Hier, das solltest du dir anschauen.«

    Vlora richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Brief in seiner Hand. »Was gibt es?«

    »Ärger in Landfall«, sagte er. »Wir werden zurückgerufen. Wir sollen uns sofort auf den Weg zur Stadt machen.«

    Vloras erster Impuls war es, einen kleinen Tanz aufzuführen. Landfall mochte zwar heiß sein und stinken, aber immerhin war es eine moderne Stadt. Sie konnte eine richtige Mahlzeit essen, ins Theater gehen und sogar ein Bad nehmen. Sie hatte genug von diesem verdammten Sumpf und – sie warf einen Blick auf die Leiche des kleinen, alten Mannes, die gerade weggeschafft wurde – seinen Drachenhaut tragenden Palo.

    Ihre Erleichterung wurde jedoch schnell von einem schleichenden Verdacht überlagert. »Was für Ärger?«, fragte sie.

    »Steht hier nicht.«

    »Natürlich nicht.« Vlora kaute auf ihrer Unterlippe. »Wir räumen hier fertig auf«, sagte sie, »und schicken die Gefangenen mit einem Regiment unserer Jungs nach Planth. Sag allen anderen, dass wir bei Tagesanbruch abziehen.«

    Vlora wartete am Ufer des Tristanflusses, während ihre Männer die wartenden Kielboote bestiegen, die losgeschickt worden waren, um sie abzuholen. Wenn sie flussabwärts mit den Kielbooten fuhren, würden sie Landfall in wenigen Tagen erreichen, aber sie fragte sich, was so dringend sein konnte, dass sie auf diese Weise zurückbeordert werden mussten. Es machte sie nervös, aber sie verdrängte den Gedanken fürs Erste und wandte sich der Schachtel in ihrem Schoß zu.

    Es war eine alte Hutschachtel, eine, die sie gehabt hatte, seit sie ein Teenager gewesen war, und sie war gefüllt mit Briefen eines ehemaligen Geliebten, der längst tot und begraben war. Taniel Zwei-Schuss war ein Kindheitsfreund, ein Adoptivbruder, eine Zeitlang sogar ihr Verlobter gewesen, aber er war auch ein Held der Fatrastanischen Revolution. Vor elf Jahren hatte er in genau diesen Sümpfen für die fatrastanische Unabhängigkeit gegen die Kez gekämpft und sich mit seiner Muskete durch die Kanäle geschlichen, um Privilegierte und Offiziere zu töten.

    Sie waren beide Adroner, Fremde in diesem Land, und die Erfahrungen, von denen Taniel ihr berichtet hatte, waren eine reiche Quelle an Informationen für ihre eigene Söldnerkarriere auf diesem verdammten Kontinent.

    »Sie haben uns nur genügend Kielboote für die Infanterie geschickt«, sagte plötzlich eine Stimme.

    Vlora sprang auf und wollte die Briefe verstecken, hielt sich aber davon ab. Es war nur Olem, und sie hatten keine Geheimnisse voreinander. »Und was machen wir mit unseren Dragonern und Kürassieren?«

    Olem zertrat seine Zigarettenkippe unter seinem Stiefel und warf einen Blick auf die Hutschachtel in ihrem Schoß. »Major Gustar soll sie begleiten. Sie werden etwa eine Woche länger brauchen, um in Landfall anzukommen, wollen wir also hoffen, dass wir sie nicht eher brauchen. Sind das Taniels Briefe?«

    »Ja«, sagte sie und blätterte sie abwesend durch. Der Verlust ihrer Kavallerie, selbst für eine Woche, war ein irritierender Gedanke. »Ich schaue nach, ob er jemals irgendwelche verrückten Palo-Krieger erwähnt hat, die Sumpfdrachenleder tragen.«

    »Man sollte meinen, dass einem so etwas aufgefallen wäre«, sagte Olem. Er setzte sich neben sie ins Gras und schaute zu, wie ein neues Kielboot anlegte, um mehr Soldaten einzuladen. Hinter ihnen schwelte Fort Samnan immer noch.

    Vlora überkam eine Welle von Nostalgie. Die Briefe waren eine ständige Erinnerung an ein vergangenes Leben – für sie und für Olem. »Das habe ich auch gedacht, aber ich wollte trotzdem noch mal nachsehen.«

    »Ist wahrscheinlich eine gute Idee«, stimmte Olem zu. »Die Palo haben ihn gemocht, nicht wahr?«

    »Er ist immer noch eine verdammte Legende, selbst nach all den Jahren«, sagte Vlora. Sie hoffte, dass sie nicht zu verdrießlich klang. Jede Erwähnung von Taniel reizte sie. Ihre gemeinsame Vergangenheit war … turbulent gewesen.

    »Meinst du, er hätte für die Unabhängigkeit von Fatrasta gekämpft, wenn er gewusst hätte, dass die Fatrastaner die Palo dann so behandeln würden?«, fragte Olem und zeigte mit dem Kopf auf Fort Samnan.

    »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Vlora hatte ihre Bedenken über das, womit sie ihren Lebensunterhalt bestritt. Aber als Söldner konnte man es sich nicht immer leisten, wählerisch zu sein. »Er ist in diesen Krieg gegangen, um Kez zu töten. Und als er zurückkam …« Vloras Augen verengten sich unweigerlich, als sie sich an die rothaarige Begleiterin erinnerte, die Taniel von seinen Reisen mitgebracht hatte. »Tja.« Sie klappte die Hutschachtel zu. »Hier steht nichts Nützliches drin, zumindest was diesen Palo-Krieger angeht.« Sie rappelte sich auf und bot Olem ihre Hand an. »Auf nach Landfall.«

    KAPITEL 2

    Michel Bravis saß um sechs Uhr morgens im hinteren Bereich einer leeren Kneipe und nippte an einem warmen Bier. Draußen konnte er bereits hören, wie die örtlichen Fuhrmänner Baumwolle und Korn zum Hafen schafften und mit jedem zweiten Atemzug über die Hitze fluchten. Er fragte sich, ob es überhaupt eine einzige Person gab, die den Sommer in Landfall tatsächlich mochte, aber er entschied, dass so etwas ein Affront wäre gegen jeden Gott, der je existiert haben mochte.

    Er hatte den Großteil seines Lebens in Landfall verbracht. Er war während der Revolution zum Mann herangewachsen, hatte während des Wiederaufbaus am Hafen Händler und Touristen um ihr Geld betrogen, und jetzt, wo er auf die dreißig zuging, diente er in der Geheimpolizei der Kanzlerin – den Blackhats, wie sie gemeinhin genannt wurden. Man sollte meinen, dachte er sich verbittert, dass ich inzwischen gelernt hätte, im Sommer nach Norden zu gehen.

    Er nahm einen tiefen Schluck von dem Bier und schaute auf seine Taschenuhr. Elf Minuten nach. Früher Morgen, Sommer und Leute, die zu spät kamen. Das perfekte Dreiergespann, um ihm die Laune zu verhageln.

    Und wenn er bei dieser verdammten Hitze erst einmal schlechte Laune hatte, würde das den Rest des Tages auch so bleiben.

    Er zwang sich ein Grinsen aufs Gesicht und blickte auf die leere Kneipe. »Du musst keine schlechte Laune haben«, sagte er. »Kopf hoch. Es könnte schlimmer sein. Du könntest draußen sein.«

    »Guter Punkt«, antwortete er sich selbst und setzte eine ernste Miene auf. »Außerdem gibt es hier drinnen Bier vom Fass, und der Besitzer taucht erst gegen Mittag auf.«

    »Du«, sagte er mit seiner glücklichen Stimme, als er den Rest seines Bieres austrank und sich hinter die Bar begab, um sein Glas nachzufüllen, »wirst sehr betrunken sein.«

    »Ja. Ja, das werde ich.«

    Er fragte sich häufig, was die Leute wohl dachten, wenn sie mitbekamen, wie er Selbstgespräche führte. Wahrscheinlich, dass er ein Irrer war. Aber als junger Mann war er viel allein gewesen, und Dinge laut auszusprechen, half ihm, seine Gedanken zu ordnen und die Langeweile in den langen, heißen fatrastanischen Nächten zu bekämpfen. Außerdem war es in seinem Beruf besser, die Leute auf Abstand zu halten.

    Er war bereits bei seinem dritten Bier, als die Tür endlich aufging und ein junger Mann auftauchte. Zögerlich warf er einen Blick in die Kneipe, die Beine angespannt, als würde er gleich davonlaufen wollen. Er warf einen Blick über die Schulter, bevor er rief: »Hallo?«

    »Ja, ich bin hier drüben«, sagte Michel und winkte. »Du bist zu spät.«

    »Ich konnte den Ort nicht finden.«

    »Dumme Ausrede.«

    »Wie bitte?«

    Michel hielt sein Bier hoch und betrachtete den jungen Mann durch das Glas. Den jungen Mann? Den Jungen, das traf es eher. Er konnte nicht älter als sechzehn sein, er hatte kaum Haare am Kinn. Er war klein für sein Alter und ein bisschen übergewichtig, aber er hatte die Art von Allerweltsgesicht, mit der er in der Menge untertauchen konnte. Ganz ähnlich wie Michel, was keine Überraschung war. Immerhin war das das Erste, wonach die Blackhats bei einem Spion Ausschau hielten.

    »Eine dumme Ausrede«, wiederholte Michel. Der junge Mann trug eine Hose mit hohem Bund, eine kurz geschnittene Jacke und einen Schal, den er wie eine billige Version eines Halstuchs trug. Solche Aufmachung war seit drei Jahren aus der Mode, und es irritierte Michel. »Wenn du eine Adresse nicht finden kannst, wirkst du entweder wie ein Idiot oder wie ein Arschloch. Beides kann hin und wieder nützlich sein, aber nicht so häufig, wie man denken würde. Niemand mag einen Idioten oder ein Arschloch, und zuallererst musst du sympathisch rüberkommen, sonst wirst du überall auffallen.«

    Der junge Mann warf einen verwirrten Blick durch die Kneipe; seine Augen waren ein wenig geweitet, so als sei er gerade in die Höhle eines Verrückten gestolpert. »Du bist Mikkel?«, fragte er.

    »Michel«, korrigierte ihn Michel, wobei er die zweite Silbe seines Namens betonte. »Mie-Kell. Mein Name reimt sich nicht mit ›Pickel‹.«

    »Alles klar«, sagte der junge Mann langsam. »Ich bin Dristan. Bist du der Kerl, der mir beibringen soll, wie man ein Spion wird?«

    »Sympathische Menschen«, fuhr Michel fort und ignorierte die Frage, »sind informiert. Sie sagen Bitte und Danke. Sie fragen nach dem Weg. Sie sind pünktlich. Du wirst all das sein, weil du sonst deine Arbeit nicht machen können wirst. Im besten Fall werden dich die Leute, die du observieren sollst, abweisen. Im schlimmsten Fall finden sie heraus, dass du nicht der bist, der du behauptest zu sein, und sie töten dich sehr langsam.« Michel seufzte. Er trank sein Bier aus und sagte sich, dass es sein Letztes gewesen sein sollte. »Du bist kein Spion«, sagte er. »Du wirst etwas sein, das wir einen ›passiven Informanten‹ nennen. Du wirst jemand anders werden und in ein völlig anderes Leben eintauchen, das nicht dein eigenes ist, und Informationen über Unruhen, Verbrechen und Verschwörungen gegen die Regierung an deinen Vorgesetzten weiterleiten.«

    Dristan wirkte mehr als nur ein wenig nachdenklich. Er blieb verunsichert stehen und wirkte immer noch so, als würde er jeden Moment davonlaufen wollen.

    Michel fuhr fort: »Zieh dich nicht an wie ein Dandy aus der Unterschicht. Dadurch fällst du auf, und du willst nur selten auffallen. Trage eine kurze Hose und ein Hemd in einer hellen Farbe. Vielleicht eine Schiebermütze. Du kannst nie damit falschliegen, dich wie ein einfacher Arbeiter zu kleiden.« Michel wedelte mit dem Finger in die Richtung von Dristans Kopf. »Dieses Gesicht, das du machst: dieser zögerliche, nervöse Ausdruck. Du solltest anfangen, daran zu arbeiten, das nicht zu machen. Das ist verdächtig. Also, sag mir, wie du heißt.«

    »Habe ich doch schon gesagt, ich heiße Dristan.«

    »Nein«, sagte Michel und schlug mit der Handfläche auf den Tisch. Dristan zuckte zusammen. »Sag mir, wie du heißt.«

    »Ich heiße Dris…« Dristan hielt inne. »Ich heiße, äh, Plinnith.«

    Er hat das schneller durchschaut als die meisten, denen ich das beibringe. »Plinnith? Was ist denn Plinnith für ein Name? Das ist ein dämlicher Name.«

    Dristan starrte ihn an, so als würde er sich fragen, was genau er hören wollte, als seine Augen plötzlich aufblitzten. »Oh, Oh! Plinnith. Das ist brudanisch.«

    »Kommst du aus Brudania?«, befragte ihn Michel weiter.

    »Nein. Meine, äh, meine Mutter ist Brudanierin. Sie kommt aus einem Fischerdorf in Brudania.«

    »Ach ja? Mein bester Freund kommt aus einem Fischerdorf in Brudania. Vielleicht kommen sie aus demselben Ort.«

    »Ich weiß nicht mehr, wie der Ort hieß.«

    »Oh, das ist wirklich schade. Was machst du hier in Landfall, Plinnith?«

    »Mein Vater war ein Bauer, draußen bei Redstone. Er ist letzten Herbst gestorben, also hat mich meine Mutter in die Hauptstadt geschickt, um Arbeit zu finden.«

    Michel stellte dem Jungen fast fünf Minuten lang Frage um Frage, einschließlich Details, für die normale Leute sich niemals interessieren würden, bevor er es endlich gut sein ließ. Er beendete das Spielchen und zapfte sich noch ein Bier. »Gar nicht so schlecht«, sagte er.

    Der Junge strahlte ihn an.

    »Auch gar nicht so gut«, fuhr Michel fort. »Ich habe kein verdammtes Wort davon geglaubt.«

    »Aber du weißt schon, dass ich kein Bauernsohn namens Plinnith bin«, protestierte Dristan.

    »Tue ich das?« Michel zuckte mit den Schultern. »Du hast keine Ahnung, was ich weiß. Es ist deine Aufgabe, mich davon zu überzeugen, dass du der bist, der du behauptest zu sein.« Er schwenkte das Bier im Glas herum und wünschte sich zum tausendsten Mal, dass es einen besseren Weg gäbe, das hier zu tun. Ständig kamen Straßenkinder, die den Blackhats beitreten wollten. Die meisten von ihnen wurden einfache Schläger, die jeden aufmischten, der sich gegen die Kanzlerin aussprach. Die intelligenten wurden vielleicht politische Vermittler oder Bürohengste. Der Rest wurde Informant und spionierte eben die Bevölkerung aus, die von der Kanzlerin regiert wurde.

    Informanten hatten die gefährlichste Aufgabe und bekamen die wenigste Ausbildung. Welchen Nutzen hatte schließlich ein Informant, der dabei gesehen wurde, wie er sich mit einem bekannten Blackhat traf? Das Beste, worauf sie hoffen konnten, waren ein paar Tage an einem abgelegenen Ort mit jemandem wie Michel – einem erfahrenen Informanten, der lange genug am Leben geblieben war, um ein Bürokrat zu werden. Die Leute wussten natürlich, dass Michel ein Blackhat war. Sie wussten nur nicht, dass er die Karriereleiter erklommen hatte, indem er seine Nachbarn verraten hatte.

    »Pass auf«, sagte Michel. »Es geht darum, eine Beziehung zu den Leuten aufzubauen.«

    »Was bedeutet das?«, fragte Dristan.

    »Du und ich, wir beide sind Kressianer, richtig? Ich meine, wir nennen uns Fatrastaner, aber auch wenn wir hier geboren wurden, unsere Großeltern wurden in den Neun geboren. Folgst du mir noch?«

    »Ich denke schon?«

    »Also, vielleicht haben unsere Großeltern auf dem alten Kontinent sich gehasst. Vielleicht kamen deine aus Kez, meine waren Adroner. Todfeinde. Aber sobald sie den Ozean überquert hatten, hatten sie etwas gemeinsam. Sie haben ihren alten Hass begraben und nennen sich jetzt einfach nur noch Fatrastaner. Nicht wahr?«

    Dristan wirkte nicht beeindruckt. »Ich denke …«

    Michel fiel ihm ins Wort. »Sie haben eine Beziehung zueinander. Sie haben herausgefunden, was sie gemeinsam haben, und haben zusammengearbeitet. Während der Revolution haben sich alle von uns, die sich als Fatrastaner gesehen haben, mit den Palo zusammengetan, um gegen die Kez zu kämpfen. Noch ein Beispiel dafür, wie man eine Beziehung über einen gemeinsamen Feind aufbaut.«

    »Aber die Fatrastaner und die Palo hassen sich jetzt.«

    »Stimmt. Weil sich Gefolgschaften ändern, sobald sie nicht mehr nützlich sind. Denk dran, Informanten müssen unauffällig sein. Du musst so tun, als stündest du auf derselben Seite wie die Leute um dich herum. Das erfordert ein wenig Schauspiel, und ein guter Schauspieler wird dir sagen, dass der beste Weg, sich in einen Charakter hineinzuversetzen, der ist, nach Gemeinsamkeiten zu suchen, selbst wenn der Charakter der Bösewicht ist. Um Informationen über Staatsfeinde zu sammeln, muss man selber wie ein Staatsfeind denken, sich wie einer verhalten.« Er machte eine ausschweifende Geste. »Das ist die Spionagekunst, im Großen und Ganzen.«

    »Ich dachte, wir sind keine Spione.«

    »›Informantenkunst‹ ist kein Wort«, sagte Michel. Er kniff die Augen zusammen, schaute zur Theke und überlegte, ob er sich noch etwas zu trinken holen sollte. Vielleicht nur ein halbes Glas.

    »Du wirkst älter, als du aussiehst«, bemerkte Dristan.

    Michel ging um die Theke herum zum Zapfhahn. »Das liegt daran, dass ich weiß, wovon ich rede. Bring dir Selbstbewusstsein bei – oder wenigstens, wie man es vortäuscht –, und jeder wird dich für zehn Jahre älter halten, als du es bist. Es hilft auch, sich auf sein Handwerk zu verstehen, und in diesem Fall ist es mein Handwerk, ein Auge zu haben auf das Volk unserer Kanzlerin.« Michel hielt das Glas an das Fass und wartete ein paar Momente, bevor er den Zapfhahn aufdrehte.

    Dristan schien ein guter Junge zu sein. Vielleicht war er gerade clever genug, um ein paar Jahre Spionage zu überstehen. Michel würde ihn noch ein, zwei Tage lang ausbilden, aber er hatte sich bereits entschieden, gegenüber Silberrose Salacia – der Person, die Dristans Berichte entgegennehmen würde – eine Empfehlung für den Jungen auszusprechen. Leider war in seiner Branche die Methode »Schmeiß sie ins kalte Wasser und hoffe, dass sie schwimmen können« die effizienteste Ausbildung. »Was hast du von dem Ganzen?«, fragte er. Er füllte ein zweites Glas und schob es den Tresen hinunter zu Dristan.

    »Ich bekomme eine Rose, oder nicht?«

    Die Rosen waren die Dienstabzeichen der Blackhats, die Medaillen, die ihnen ihre Namen gaben – eine Eisen- oder Bronzerose bedeutete einen niedrigen Rang, Messing oder Silber waren mittlere Ränge, und Gold – nun, Goldrosen bildeten die Elite der Blackhats, die in alle Geheimnisse und Machenschaften der fatrastanischen Regierung eingeweiht waren. Sie führten das Land im Namen der Kanzlerin und hatten das Vermögen des Kontinents in der Hand. Jeder wollte eine Goldrose haben. Nur wenige bekamen eine.

    Aber selbst eine Eisenrose konnte einen riesigen Aufstieg bedeuten für jemanden wie Dristan, der aus den Slums kam. Wenn Dristan ein, zwei Missionen überlebte, würde er vielleicht direkt zur Messingrose aufsteigen.

    »Abgesehen von der Rose«, sagte Michel.

    Dristan nahm einen Schluck und schaute einen langen Moment auf seine Hände. »Die Blackhats werden sich um meine Schwestern kümmern«, sagte er dann. »Sie werden dafür sorgen, dass sie genug zu essen haben, ein Dach über dem Kopf haben und nicht im Hurenhaus landen. Selbst wenn ich sterbe, werden sie sich um sie kümmern, solange ich loyal bleibe.«

    Michel nickte. Das hörte man häufig genug. Es gab eine Menge furchtbarer Geschichten über die Blackhats – wovon das meiste stimme –, aber sie kümmerten sich um ihre Leute. »Einen Rat habe ich für dich«, sagte er. »Du hast gerade ein Leben, eine Familie, glückliche Erinnerungen?« Er streckte seine Hand aus und zeigte auf unsichtbare Dinge in seiner Handfläche.

    »Ja.«

    »Wenn du deine Mission beginnst, musst du jemand komplett anderes werden. Denk nicht mal für eine Sekunde an dein altes Leben, sonst verrätst du dich vielleicht in einem schwachen Moment. Iss, schlaf, atme und denk sogar wie Plinnith, der Bauernsohn, oder wer auch immer du sein wirst.« Er ballte die Faust. »Nimm all diese schönen Erinnerungen, steck sie in eine kleine Murmel in der hintersten Ecke deines Gehirns und würdige sie keines Blickes, bis die Mission erledigt ist. Ich bin kein Informant mehr – nur ein mittlerer Blackhat, der im Dienste der Kanzlerin steht –, aber ich habe mal in deinen Schuhen gesteckt. Der Murmeltrick hat mir geholfen, es durchzustehen.«

    »Du warst ein Spion – ich meine, ein Informant?«

    »Was meinst du, warum ich hier sitze und dir das alles erzähle? Ich war dreimal ein verdeckter Informant, was zweimal zu viel ist für jemanden, der nur in einer einzigen Stadt operiert. Es ist ein Wunder, dass mich beim zweiten und dritten Mal niemand wiedererkannt hat. Aber das heißt auch, dass ich mit diesem Kram viel Erfahrung habe, weshalb ich ein paar Stunden Zeit bekomme, meine Erfahrung an jemanden wie dich weiterzugeben.«

    »Warum hast du es gemacht?«

    Michel dachte einen Moment lang über die Frage nach. »Ich habe es für die Rose gemacht, wie du.« Er steckte seinen Daumen durch das Band um seinen Hals und zeigte Dristan das silberne Medaillon, das jederzeit gegen seine Brust baumelte. »Ich habe es auch für Fatrasta getan«, sagte er aufrichtig. »Weil ich einen Unterschied machen wollte.«

    »Hast du einen Unterschied gemacht?«

    »Komm mich besuchen, wenn du deine erste Mission erledigt hast, und dann erzähle ich dir von der Pulvermagier-Affäre.« Michel schaute sich sein halbvolles Glas an und stellte es auf der Theke ab. Er ärgerte sich mehr als nur ein bisschen über sich selbst. Vier Gläser Bier vor sieben Uhr morgens waren zu viel, selbst für seine Verhältnisse.

    Plötzlich gab es ein dumpfes Geräusch, und als Michel den Kopf drehte, wurde die Kneipentür plötzlich aufgeworfen.

    Ein vertrautes Gesicht schaute herein. Es gehörte einem Mann, der ein schwarzes, langärmliges Hemd mit einer Reihe schwarzer Knöpfe an der linken Brust und eine passende schwarze Hose trug – die übliche Uniform der Geheimpolizei der Kanzlerin. An seinem linken Ärmelaufschlag fehlte ein Knopf, was Michel furchtbar irritierte. Er trug eine Messingrose, die gut sichtbar an seinem Hemd prangte. »Agent Bravis, Sir«, sagte er.

    »Da soll mich doch … Verdammt noch mal, Warsim, das hier ist ein sicherer Unterschlupf. Hier bilde ich Informanten aus. Wenn die Leute dich hier reinkommen sehen, in dem Aufzug und um diese Uhrzeit …« Michel stieß mehrere Flüche aus. Seine schlechte Laune war endlich dabei, sich zu bessern, und dann musste Warsim auftauchen und seinen Lieblingsunterschlupf unbrauchbar machen. »Was zur Grube gibt’s denn?«

    Warsim senkte den Kopf und verzog das Gesicht. »Tut mir leid, Sir. Ich hatte keine andere Wahl. Sie haben eine Vorladung zum Büro des Großmeisters erhalten. Fidelis Jes will Sie sehen.«

    »Warum?« Michel war völlig perplex. Er war keine Goldrose. Er hatte nichts mit dem Großmeister zu schaffen. Kalter Schweiß lief ihm über den Rücken. »Er will mich sehen? Er hat namentlich nach mir gefragt?«

    »Das wurde mir so gesagt.«

    Michel schob sein Bier von sich und hoffte verzweifelt, dass er genug Zeit haben würde, um nüchtern zu werden. Zur Grube, er war schon wieder nüchtern. Ins Büro des Großmeisters gerufen zu werden, war, wie in die Bucht geworfen zu werden. »In Ordnung. Um wie viel Uhr?«

    »Sie haben einen Termin um acht Uhr fünfzehn.«

    Michel schaute auf seine Uhr und dann hinüber zu Dristan. »Raus mit dir«, sagte er. »Der Unterricht ist abgesagt.«

    »Soll ich morgen wiederkommen?«

    »Nein. Wenn alles glattläuft, werde ich dich bald finden kommen, und dann machen wir weiter mit deiner Ausbildung.«

    »Und wenn es nicht glattläuft?«

    Michel schaute noch mal auf die Uhr. Der Großmeister. Verdammte Grube. »Dann vergiss, dass wir uns je getroffen haben.«

    KAPITEL 3

    »Fortschritt.«

    Es war ein unscheinbares Wort, das nicht einmal besonders gut auf der Zunge lag, aber es wurde so häufig in der Zeitung abgedruckt, dass man meinen könnte, dass es der Name des neuen Gottes von Fatrasta war. Als ob Fatrasta, ein Land von zerstrittenen Immigranten, eine zweimal gestohlene Nation aufgebaut auf industrialisierter Ausbeutung, jemals seinen eigenen Gott hervorbringen könnte. Landfall, die Hauptstadt von Fatrasta, würde einen Gott durchkauen und wieder ausspucken, und es würde kaum in den Zeitungen stehen.

    Styke saß eingezwängt auf einer unbequemen Holzbank in einem engen Gang. Ein halbes Dutzend andere saßen auf derselben Bank – gebrochene, geschlagene Männer, die zwanzig Jahre älter aussahen, als sie waren. Sie starrten den Boden oder die Decke an, um Blickkontakt zu vermeiden, und beteten entweder oder waren in ihren eigenen, verzweifelten Gedanken versunken. Durch ein hohes, vergittertes Fenster strömte Licht herein, und in einem Raum in der Nähe hustete sich jemand die Lunge aus dem Leib.

    Auf Stykes Schoß lag eine zerlesene, vier Monate alte Zeitung, auf deren Titelseite das Wort FORTSCHRITT in Großbuchstaben gedruckt war. Er dachte mehrere Minuten über das Wort nach und überlegte, ob er die Zeitung zerreißen solle, um seiner Abscheu Luft zu verschaffen, aber es war schwierig genug, in den Arbeitslagern eine Zeitung zu bekommen, und für diese hatte er eine ganze Wochenration Tabak getauscht.

    Stattdessen holte er ein halb fertig geschnitztes Stück Holz hervor und packte es, so fest er konnte, mit seiner verstümmelten linken Hand. Er fing an, das Holz mit seiner Rechten mit einem kleinen Messer zu bearbeiten, das er aus dem Speisesaal gestohlen hatte. Mit dem Daumen auf dem Rücken der Klinge schabte er mechanisch Stücke ab, während er las.

    Die Zeitung berichtete, dass adronische Söldner schwer damit beschäftigt waren, das »Grenzland zu zähmen«. Drei weitere Arbeitslager wurden in Landfall eröffnet, um Platz zu schaffen für die Verurteilten, die aus den Neun herübergeschifft wurden. Im Palo-Viertel waren Unruhen ausgebrochen nach der Hinrichtung eines jungen Radikalen. Der Handel mit Kez hatte sich immer noch nicht wieder normalisiert, obwohl ihr Bürgerkrieg vor sechs Jahren geendet hatte.

    Styke grunzte. Dem Inhalt jeder Zeitung nach zu urteilen, die er in die Hände bekam, hatte sich die Welt in den zehn Jahren seit seiner Verhaftung nur wenig verändert. Sie war immer noch voller Gier, Gewalt, Armut, Wut und wenig sonst. Er richtete seine Aufmerksamkeit von der Zeitung zu dem Stück Holz in seiner Hand und verbrachte die nächsten paar Minuten damit, Details in das weiche Kiefernholz zu schnitzen.

    Er hielt sein Werk hoch und betrachtete es im Morgenlicht. Kein schlechtes kleines Kanu, befand er. Es war schmal, glatt und so lang wie seine Handfläche, und die Außenseite war mit Palo-Zeichen verziert. Er pustete die Späne von seinem Arm, dann faltete er die Zeitung zusammen und zwang sich, aufzustehen. Er machte ein finsteres Gesicht, als sein rechtes Bein ein paar Sekunden zu lange brauchte, um seinem Befehl zu gehorchen.

    Er ging zu der Tür, die zum Hof führte, und öffnete sie einen Spalt. Direkt vor der Schwelle wartete ein junges Mädchen, obwohl man sie unter der Maske aus Dreck und Schmutz, die ein Leben in einem Arbeitslager mit sich brachte, leicht für einen Jungen hätte halten können. Sie war barfuß und trug ein altes Hemd von Styke, das sie am Hals und der Hüfte zusammengebunden hatte, damit es nicht herunterfiel. Sie sah aus wie ein verhungernder Spatz, dem man die Hälfte seiner Federn ausgerissen hatte.

    »Celine«, flüsterte er.

    Das Mädchen hob den Kopf und drehte sich zu ihm. »Ben! Bist du rausgekommen?«, fragte sie aufgeregt.

    Styke schüttelte den Kopf. »Bin noch nicht mal drinnen gewesen«, antwortete er. »Hier.« Er schob das Kanu durch den Spalt, bevor eine Wache bemerken konnte, dass die Tür offen war. »Könnte ein paar Stunden dauern.«

    »Ich warte.«

    Styke schloss die Tür leise und humpelte zurück zu seinem Platz. Er unterdrückte ein Stöhnen, als er sich wieder auf die harte Bank setzte. Einer der anderen Sträflinge warf einen Blick zur Tür, dann zu ihm, senkte dann aber schnell wieder seinen Blick.

    Nur ein paar Minuten vergingen, bis eine Tür am anderen Ende des Ganges aufging und eine Wache erschien. Styke konnte sich nicht an seinen Namen erinnern, aber er wusste, dass er damals vor dem Krieg in der Militärpolizei der Kez-Armee gedient hatte. Er war ein großer Mann, größer als die meisten, und hatte Unterarme, die so dick waren wie Pulverfässer. Der Wachmann schaute sich den armen Haufen auf der Bank an und ließ dabei seinen Prügel abwesend kreiseln. Wie die anderen Wachen trug er einen sonnenblumengelben Überwurf, der den fatrastanischen Militärjacken nachempfunden war, die Styke selbst vor langer Zeit getragen hatte.

    Der Wachmann funkelte Styke an. »Du da«, sagte er. »Sträfling 10642. Du bist dran.«

    Styke rappelte sich auf und hinkte auf den Wachmann zu.

    »Beeil dich mal ein bisschen«, sagte der Wachmann. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«

    Ich frage mich, dachte Styke im Stillen, wie du wohl ohne Arme aussehen würdest.

    »Zur Grube«, keuchte der Wachmann, als Styke endlich neben ihm stand, »du bist ganz schön groß, was?«

    Styke wandte seinen Blick ab. Er wusste, welche Art von Aufmerksamkeit seine Größe auf sich zog. Niemals die gute Art, zumindest nicht hier drinnen. Die Wachen neigten dazu, an den größten Sträflingen ein Exempel zu statuieren, damit niemand aus der Reihe tanzte.

    Ich könnte dich zerquetschen wie einen Käfer. Der Gedanke kam ungebeten, und Styke unterdrückte ihn schnell. Hier drinnen war kein Platz für solche Gedanken. Er war ein Vorzeigesträfling und würde das auch weiterhin bleiben, bis er seine Zeit abgesessen hatte, sonst müsste er sich hier zu Tode arbeiten. Kurz blitzte eine Erinnerung vor seinem geistigen Auge auf – blutbefleckte Panzerhandschuhe um seine Fäuste, ein Schwert in der Hand und ein Ulanenlied, das er aus voller Kehle sang, während er sich zu Fuß durch die feindlichen Grenadiere kämpfte, von denen jeder Einzelne so groß war wie dieser arrogante Wachmann. Er blinzelte, und die Vision war verschwunden.

    Endlich machte der Wachmann einen Schritt zurück und hielt Styke die Tür auf. Er wies ihm den Weg zu einem weiteren staubigen Gang, in dem es nur ein einziges Fenster gab. »Erste Tür rechts.«

    Styke folgte seinen Anweisungen und fand sich schnell in einem kleinen Raum mit Backsteinwänden wieder. Er erinnerte ihn an den Beichtstuhl in einer Kresim-Kirche, doch anstelle des geflochtenen Sichtschutzes befand sich zwischen ihm und dem nächsten Raum ein schweres Eisengitter über dem Fenster. Darüber war ein Schild angebracht, auf dem in großen Buchstaben BEWÄHRUNG stand. Der Raum war gut beleuchtet, wahrscheinlich damit der Richter sich das Monster gut anschauen konnte, das er auf die Welt loslassen würde.

    »Setzen Sie sich bitte«, sagte eine Stimme hinter dem Eisengitter.

    Styke setzte sich auf einen niedrigen Holzschemel und hörte nervös, wie er unter seiner Masse ächzte.

    Es folgten mehrere Momente der Stille, bis Styke seinen Blick vom Boden hob, um durch das Eisengitter zu schauen. Er hatte diesen ganzen Prozess schon zweimal durchgemacht, er wusste also, wie das Spielchen lief. Bewährungsrichter war immer derjenige hochrangige Lagerverwalter, der gerade Zeit hatte, was bedeutete, dass die Entscheidung zwischen Freiheit und zwei weiteren Jahren Knochenarbeit gewaltig davon abhing, ob die Person heute Morgen mit dem richtigen Fuß aufgestanden war.

    Was Styke auf der anderen Seite des Gitters sah, brachte sein Herz zum Singen.

    »Raimy?«, fragte er.

    Vier-Daumen Raimy war kein beeindruckender Anblick. Sie war eine Frau mittleren Alters, klein und unscheinbar, der eine Brille an einer Kette vom Hals hing und die einen Anzug trug, der in einem Arbeitslager noch als schick durchging. Sie war die Buchhalterin des Lagers und die Quartiermeisterin. Da Styke einer der wenigen Sträflinge war, die lesen, schreiben und rechnen konnten, hatte er ihr bei mehr als einer Gelegenheit mit den Büchern geholfen. Er mochte die Ruhe in ihrem Büro, wo Celine auf dem Boden spielen und er sich von Ärger fernhalten konnte.

    Raimy hustete. Sie blätterte durch ihre Papiere und hob ihren Bleistift auf, den sie prompt fallen ließ, sodass er über den Schreibtisch und auf den Boden rollte. Anstatt ihn zu holen, griff sie vorsichtig einen neuen aus ihrer vorderen Jackentasche und probierte die Spitze aus.

    »Benjamin«, sagte sie.

    »Wie geht’s dir, Raimy?«, fragte er.

    Sie schenkte ihm ein fahles Lächeln. »Der Husten ist schlimm. Du weißt, wie das ist mit dem Staub an solch trockenen Tagen. Wie geht’s deinem Knie?«

    Styke zuckte mit den Schultern. »Tut weh. Ein Freund von mir hatte mal diesen Husten, damals im Krieg. Er hat Honig in seinen Whiskey getan. Dadurch ist er auch nicht ganz weggegangen, aber er hat sich eindeutig weniger elend gefühlt.«

    »Werde ich mir merken.« Sie räusperte sich, was zu einem Hustenanfall führte, dann blätterte sie sich noch mal durch ihre Papiere, bevor sie in formellem Ton fortfuhr. »Sträfling 10642, Benjamin Styke. Ihre Bewährungsanhörung nach zehn Jahren hat begonnen. Gibt es irgendjemanden, der für Sie plädiert?«

    Styke warf einen Blick durch den winzigen Raum. »Ich darf keine Briefe schreiben oder mit der Außenwelt kommunizieren, ich bin mir also nicht sicher, ob überhaupt jemand weiß, dass ich noch am Leben bin.«

    »Ich verstehe«, sagte Raimy. Sie hakte ein Kästchen auf dem Papier vor ihr ab. »Keine Fürsprecher«, murmelte sie, bevor sie in ihrem formellen Ton fortfuhr. »Benjamin Styke, Sie wurden vor ein Erschießungskommando gestellt, weil Sie während der Revolution Befehle Ihrer Vorgesetzten missachtet haben. Durch die Gnade der Kanzlerin wurde Ihre Strafe auf zwanzig Jahre Zwangsarbeit verringert. Ist das korrekt?«

    »Verringert würde ich nicht sagen«, sagte Styke. Er hielt seine verstümmelte Hand hoch und spreizte seine Finger, so weit er konnte. »Sie haben es zweimal versucht, bevor sie entschieden haben, dass es leichter wäre, mich Gruben graben zu lassen, als mich mit Kugeln zu durchlöchern.«

    Raimy machte große Augen, und ihr formeller Ton verschwand. »Zwei Salven vom Erschießungskommando? Ich hatte ja keine Ahnung.«

    »Das war mein Verbrechen«, bestätigte er und nahm seine Hand wieder herunter. »Und meine Strafe.«

    Raimy hustete, ließ wieder den Bleistift fallen und nahm einen neuen heraus, bevor sie ein Kästchen abhakte. »In Ordnung. Nun, Mr. Styke, ich habe die letzte Stunde damit verbracht, Ihren Fall zu prüfen. Wenn man bedenkt, dass die, äh«, sie räusperte sich, »die durchschnittliche Lebenserwartung eines Insassen im Arbeitslager Sweetwallow nur etwa sechs Jahre beträgt, haben Sie sich ganz gut gehalten.«

    Styke merkte, dass er bis zur Kante seines Schemels vorgerückt war, und er ignorierte die Proteste seines schmerzenden Knies, als er sich noch weiter vorlehnte. »Wurde meine Bewährung bewilligt?«, keuchte er. Er wagte es nicht, das Hochgefühl zu zeigen, das in ihm aufstieg.

    »Ich denke …« Raimy wurde von einem plötzlichen Klopfen an der Tür auf ihrer Seite des Gitters unterbrochen. Sie runzelte die Stirn, legte ihren Bleistift vorsichtig ab und stand auf, um sie zu öffnen. »Einen Moment«, sagte sie zu ihm, dann ging sie vor die Tür.

    Styke konnte gedämpfte Stimmen von der anderen Seite des Raumes hören, aber sie waren nicht laut genug, um etwas zu verstehen. Plötzlich wurden die Stimmen lauter, bis Raimy einen Hustenanfall bekam. Dann folgte Stille, und Raimy kam wieder in den Raum.

    Sie hatte ein neues Stück Papier in der Hand, das sie vorsichtig auf dem Schreibtisch ablegte und dann unter den Rest seiner Akte schob. Sie starrte den Tisch an, während sie nervös mit einem Finger darauf trommelte.

    Styke wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, aber es konnte nichts Gutes sein. Er fiel jetzt fast von seinem Schemel und wollte durch das Gitter greifen, um sie zu schütteln. »Die Bewährung«, sagte er helfend.

    Raimy schien aus ihrem Tagtraum aufzuwachen und schaute lächelnd zu ihm hoch. »Ah, wo war ich? Tja, nun, ich habe gute und schlechte Neuigkeiten, Mr. Styke. Die schlechte Nachricht ist, dass ich Ihnen nach bestem Gewissen keine Bewährung bewilligen kann.« Sie redete schnell weiter: »Die gute Nachricht ist, dass ich Ihnen einen Transfer zu einem Arbeitslager mit einem weniger … gefährlichen Ruf anbieten kann. Zwanglosarbeit, wie manche von uns es nennen.« Sie gluckste nervös, musste husten und fuhr dann fort. »Die Betten sind weicher, die Arbeitsstunden kürzer und die Räumlichkeiten besser.«

    Styke starrte sie an; sein Herz sank ihm in die Hose. »Ein anderes Arbeitslager?«, fragte er tonlos. Er war wie gelähmt, so als hätte ihm jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt. »Es geht um mein Leben. Meinst du, es kümmert mich, ob mein Bett ein bisschen weicher ist?«

    Raimy tropfte eine Schweißperle von der Schläfe.

    »Ich weiß, dass du mich rauslassen kannst«, sagte Styke und versetzte der Wand mit seiner guten Hand einen Klaps. Das Geräusch ließ Raimy zusammenfahren. »Ich weiß, dass es von deiner Entscheidung abhängt. Ich habe mich zehn Jahre lang zusammengerissen. Ich habe mich ohne Widerworte verprügeln lassen, ich habe gehungert, wenn der Haferschleim dünn war. Verdammte Grube, ich habe dir sogar das Lesen beigebracht, als du dir deine Stelle als Quartiermeisterin des Lagers erschummelt hast. Ich dachte, wir seien Freunde, Raimy.«

    Raimy blieb still sitzen. Ihre Hände lagen flach auf dem Tisch, ihre Augen waren starr nach vorne gerichtet wie bei einem Reh, das im Garten überrascht wurde. Ihre einzige Bewegung war ein heftiges Zittern, das sich durch ihren ganzen Körper zog. »Es tut mir leid«, sagte sie leise.

    »Es tut dir leid? Was tut dir leid?«

    »Ich wusste nicht, dass du der Ben Styke bist.«

    »Was soll das heißen, der Ben Styke? Was glaubst du, wie viele es von uns gibt?« Styke stand auf und vergaß durch seine Wut fast sein schmerzendes Knie. Sein Kopf kratzte an der Decke der Bewährungszelle. Aus irgendeinem Grund machte ihn das Zittern, das Raimys Körper erschütterte, nur noch wütender. Sie hatten unzählige Stunden in ihrem unbewachten Büro verbracht, sogar manchmal zusammen Witze gerissen. Und jetzt zitterte sie vor Angst, obwohl sie hinter einem Eisengitter war? »Sind wir Freunde?«, forderte er.

    »Ja«, quietschte Raimy.

    Styke wickelte seine gute Hand und die zwei funktionierenden Finger seiner schlechten Hand um die Gitterstäbe. Er packte fest zu und riss das Gitter mit einem ordentlichen Ruck aus der Wand. Raimy stand der Mund offen, aber sie blieb vollkommen starr, während er das Gitter beiseitelegte und sich über ihren Schreibtisch lehnte. Er wühlte durch ihre Papiere, bis er das letzte fand.

    Es war eine Notiz auf Briefpapier aus dem Büro der Kanzlerin. Es standen drei Sätze darauf:

    Der Wilde Ben Styke, ehemals Oberst Styke von den Wilden Ulanen, ist ein gewalttätiger Mörder, der mehrere Kriegsverbrechen begangen hat. Ihm muss die Bewährung verwehrt werden. Verkaufen Sie es glaubhaft.

    Unterschrieben war die Notiz von Fidelis Jes, dem Chef der Geheimpolizei der Kanzlerin.

    Styke konnte hören, wie jemand im Gang rief. Sie hatten den Lärm mitbekommen, und schon bald wurden die Rufe begleitet von den schweren Schritten der Wachen. Styke knüllte das Papier zusammen und schnippte es Raimy ins Gesicht. »Dann kannst du verdammt noch mal aufhören, zu zittern. Ich tue meinen Freunden nicht weh.«

    Er wandte sich von ihr ab, breitete die Arme weit aus und wartete darauf, dass die erste Wache durch die Tür kam.

    KAPITEL 4

    Michel war in einer winzigen, abgelegenen Nachbarschaft namens Proctor, etwa anderthalb Meilen westlich und gute sechzig Höhenmeter vom Hafen entfernt, genau in der Mitte der Hochebene von Landfall. Proctor, in dem hauptsächlich pensionierte Veteranen und kleine Immigrantenfamilien lebten, war kein toller Teil der Stadt, aber es war auch kein Slum wie die Greenfire-Tiefen. Die meisten Leute konnten Proctor nicht auf der Karte finden, und das machte es zu einem guten Ort, um sich Ärger vom Hals zu halten. Oder, wie in Michels Fall, jemand anderem Ärger vom Hals zu halten.

    Fidelis Jes will Sie sehen.

    Diese Worte nagten an Michels Nerven auf eine Weise, wie es nur wenige Sätze vermochten. Es war erst eine Stunde her, dass er seine Unterrichtsstunde abgesagt hatte, und er hielt inne, um die Notiz zu lesen, die Warsim ihm gegeben hatte. Sie stand auf Briefpapier, auf dem eine Platinrose eingeprägt war. Die Unterschrift war unverwechselbar. Nur zwei Leute in Fatrasta hatten eine Platinrose. Fidelis Jes und die Kanzlerin selbst.

    Was konnte der Großmeister mit einer Silberrose wollen? Michel hatte Fidelis Jes bei vielen Gelegenheiten im Hauptquartier gesehen. Sie hatten sogar schon mal ein paar Worte gewechselt. Aber Michel war noch nie in sein Büro bestellt worden.

    Vielleicht, überlegte er, war es ein Irrtum. Oder vielleicht würde er im Büro des Großmeisters jemand anderen treffen. Eine quälende Angst in seinem Hinterkopf sagte ihm, dass er sich der falschen Person gegenüber verplappert hatte und jetzt wegen Staatsverrats angeklagt werden würde. Er wollte diesen Gedanken als lächerlich abtun, doch selbst die loyalsten Blackhats waren nicht über jeden Zweifel erhaben. Aber wenn es so wäre, entschied er sich schließlich, wäre er sicherlich in einer Zelle aufgewacht.

    »Das falsche Wort zur falschen Zeit«, murmelte er vor sich hin, »kann dich in dieser Stadt den Kopf kosten.«

    Er lächelte seinem Spiegelbild im Schaufenster eines Geschäfts in der Nähe beruhigend zu. »Du bist ein verdammt guter Blackhat. Dir wird nichts passieren.«

    »Sagst du so. Erledige einfach diese Sache, und danach kannst du losgehen, um dir vom Großmeister den Schädel einschlagen zu lassen.«

    Er schaute auf seine Taschenuhr. Sein Treffen mit dem Großmeister war in fünfundvierzig Minuten. Er wollte früh da sein, dachte er, während er das Haus auf der anderen Straßenseite betrachtete, aber manche Dinge waren wichtiger als die Arbeit, und das hier gehörte dazu. Es war eine Aufgabe, mit der er eigentlich bis heute Abend hatte warten wollen, aber je nachdem, wie sein Gespräch mit Fidelis Jes lief, würde er vielleicht nicht die Gelegenheit dazu haben. Er überquerte die Straße, nahm die Gasse zur Hintertür und betrat das Gebäude, nachdem er das Schloss mit der Klinge seines Messers aufgestemmt hatte.

    Das kleine Haus war nichts Besonderes. Oben war ein Zimmer mit einem Hochbett. Der Tisch und beide Stühle waren bedeckt von alten Groschenromanen. Beim Fenster stand ein leerer Schaukelstuhl, über dessen Lehne ein roter Schal gelegt war. Die Luft roch stark nach Lavendel, wahrscheinlich um den Schimmelgeruch zu übertünchen. Er brauchte nur einen Moment, um die Quelle von Letzterem zu finden – ein durchnässter Stapel Bücher in der Ecke, über dem die Decke die typischen gelblichen Streifen aufwies, die auf ein undichtes Dach hinwiesen.

    Michel seufzte und räumte ein paar der Bücher weg, um Platz zu schaffen für die Kiste mit Essen, die er unter dem Arm trug. Er machte einen schnellen Rundgang durch das kleine Haus und notierte sich Risse im Putz, eine zweite undichte Stelle im Dach und dass einer der Stühle von einer Menge eng gewickelter Schnur zusammengehalten wurde.

    Er beugte sich nach vorne und rieb mit seinen Fingern sanft über einen Riss in der Scheibe des Vorderfensters, als er eine kleine, mollige Frau entdeckte, die die Straße entlangging. Ihr langes, rotbraunes Haar wurde an den Schläfen grau, und ihr Kleid war abgenutzt. Sie ging mit schnellen, entschlossenen Schritten und hatte einen Beutel mit Groschenromanen in einer Hand. Sie winkte und lächelte jeden an, an dem sie vorbeikam.

    Es ist der Monatserste, erinnerte sich Michel. Der Tag, an dem die Buchläden ihre neuen Schundhefte rausbrachten.

    »Du solltest Hallo sagen«, sagte er zu sich selbst.

    »Zur Grube damit. Ich habe keine Zeit.«

    »Du bist ein furchtbarer Sohn.«

    »Ich weiß.«

    Er rannte zur Hintertür und schlüpfte in die Gasse, gerade als er seine Mutter laut ihre Nachbarn begrüßen und den Schlüssel in die Vordertür stecken hörte.

    Eine Welle der Erleichterung überkam ihn, als er zur Hauptstraße zurückkehrte und sein knappes Entkommen hinter ihm lag. Besuche bei seiner Mutter endeten unweigerlich in Streit, und das konnte er jetzt nicht gebrauchen, nicht wenn ihm ein Treffen mit dem Großmeister bevorstand.

    Ein Gedanke kam ihm. Vielleicht waren seine Jahre an harter Arbeit bemerkt worden. Vielleicht erwartete ihn im Büro des Großmeisters gar keine Bestrafung, sondern eine Belohnung. Er blinzelte durch eine Schweißperle, die in sein Auge getropft war, und spielte die kurze Fantasie in seinem Kopf durch. Er könnte zur Goldrose befördert werden. Seine Freunde würden nie wieder für ein Bier bezahlen müssen. Seine Verwandten würden in großen Häusern in der Nähe des Kapitols wohnen.

    Er würde seiner Mutter keine Kisten voller Essen mitbringen, weil sie ihre Pension auf Groschenromane verschwendete.

    Er unterdrückte den Gedanken; er wagte es nicht, zu hoffen, und entschied sich, seine beste Miene aufzusetzen. Was auch immer Fidelis Jes wollte, Michel würde professionell bleiben. Der Großmeister ließ sich nicht

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