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DER MOLS-ZWISCHENFALL: Der Science-Fiction-Klassiker aus Deutschland!
DER MOLS-ZWISCHENFALL: Der Science-Fiction-Klassiker aus Deutschland!
DER MOLS-ZWISCHENFALL: Der Science-Fiction-Klassiker aus Deutschland!
eBook280 Seiten3 Stunden

DER MOLS-ZWISCHENFALL: Der Science-Fiction-Klassiker aus Deutschland!

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Über dieses E-Book

Mols - stilles Land zwischen dänischen Mooren und Kattegat, Heimat der Geisterseher und Totenbeschwörer, Spiritisten und Sonderlinge. Hier liegt der Schlüssel für den abrupten Umschwung in der marxistischen PSI-Forschung: damals, 1985, als ein geheimnisvolles sowjetisches Forschungs-U-Boot die NATO-Herbstmanöver begleitete, als die bemannte Raumstation Saljut XII aus ihrem Orbit stürzte, als in den Dünen das Labor des PSI-Amateurs Einar Brodersen in Flammen aufging. Was geschah wirklich?

Was verschweigt der sogenannte Molsland-Bericht, der den Internationalen Parapsychologen-Kongress in Oslo erregte?

Der Zwischenfall am Kattegat gibt die überraschende Antwort, belegt mit Zeugenaussagen, Dokumenten, bisher unbeachteten Veröffentlichungen und sensationellen Geheimpapieren...

 

Der Roman Der Mols-Zwischenfall von Reinmar Cunis (* 8. August 1933 in Bremen; † 16. April 1989) erschien erstmals im Jahre 1981 und gilt als moderner Klassiker der Science-Fiction-Literatur aus Deutschland sowie als herausragender Social-Fiction-Roman.

Der Apex-Verlag veröffentlicht Der Mols-Zwischenfall als durchgesehene Neuausgabe.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum11. Juni 2021
ISBN9783748785378
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    Buchvorschau

    DER MOLS-ZWISCHENFALL - Reinmar Cunis

    Das Buch

    Mols - stilles Land zwischen dänischen Mooren und Kattegat, Heimat der Geisterseher und Totenbeschwörer, Spiritisten und Sonderlinge. Hier liegt der Schlüssel für den abrupten Umschwung in der marxistischen PSI-Forschung: damals, 1985, als ein geheimnisvolles sowjetisches Forschungs-U-Boot die NATO-Herbstmanöver begleitete, als die bemannte Raumstation Saljut XII aus ihrem Orbit stürzte, als in den Dünen das Labor des PSI-Amateurs Einar Brodersen in Flammen aufging. Was geschah wirklich?

    Was verschweigt der sogenannte Molsland-Bericht, der den Internationalen Parapsychologen-Kongress in Oslo erregte?

    Der Zwischenfall am Kattegat gibt die überraschende Antwort, belegt mit Zeugenaussagen, Dokumenten, bisher unbeachteten Veröffentlichungen und sensationellen Geheimpapieren...

    Der Roman Der Mols-Zwischenfall von Reinmar Cunis  (* 8. August 1933 in Bremen; † 16. April 1989) erschien erstmals im Jahre 1981 und gilt als moderner Klassiker der Science-Fiction-Literatur aus Deutschland sowie als herausragender Social-Fiction-Roman.

    Der Apex-Verlag veröffentlicht Der Mols-Zwischenfall als durchgesehene Neuausgabe.

    Der Autor

    Reinmar Cunis (* 08. August 1933, † 16. April 1989).

    Reinmar Cunis war ein deutscher Soziologe, Journalist und Autor von Science-Fiction-Romanen.

    Geboren in Bremen, absolvierte Cunis eine Banklehre, studierte anschließend in Berlin und Köln Soziologie, Psychologie und Wirtschaftswissenschaften. Er promovierte im Jahre 1964 mit einer Arbeit in Soziologie über künftige Militärverfassungen in demokratischen Industriestaaten und arbeitete beim NDR.

    Mit 17 Jahren veröffentlichte er seine erste Kurzgeschichte und schrieb anschließend für Zeitungen und Zeitschriften. Im Jahre 1966 schließlich wurde sein erstes Hörbild Alpträume und Wunschbilder im NDR-Rundfunk ausgestrahlt.

    Reinmar Cunis drehte auch Fernseh-Reportagen zu wirtschafts- und sozialpolitischen Themen und war überdies einige Jahre Projektgruppenleiter bei der Fernsehspielabteilung des Norddeutschen Rundfunks.

    Sein erster Science-Fiction-Roman Livesendung erschien 1978. In ihm geht es um den Besuch eines Außerirdischen, der allerdings von der betriebsblinden Presse nicht wahrgenommen wird. Cunis' zweiter Roman Zeitsturm wurde im Jahre 1979 veröffentlicht: Er befasst sich mit dem Thema Zeitreise mittels Drogen und ist vom Werk so unterschiedlicher Autoren wie Philip K. Dick und J. G. Ballard beeinflusst.

    Zu Reinmar Cunis' Lieblingsthemen gehörten außersinnliche Wahrnehmungen, Teleportation, psychedelische Drogen, Psi-Phänomene und Leben nach dem Tod.

    Als seine herausragendsten Werke gelten Am Ende eines Alltags (1982), eine Sammlung von Kurzgeschichten, sowie der Roman Wenn der Krebsbaum blüht (1987).

    Für die Kurzgeschichte Polarlicht wurde er 1986 mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet.

    Der Apex-Verlag widmet Reinmar Cunis eine umfangreiche Werkausgabe.

    DER MOLS-ZWISCHENFALL

      Vorbemerkung

    Vor zwei Jahren tauchte auf dem Internationalen Parapsychologen-Kongress in Oslo ein Schriftstück auf, das viel Aufsehen erregte und bald unter der Bezeichnung Molsland-Bericht von PSI-Forschem in Westeuropa, in Lateinamerika und in den USA als Sensation herumgereicht wurde. Das Papier trug ein Datum des Jahres 1985, war aus den Geheimakten der damaligen sowjetischen Abwehr entwendet worden und auf mysteriöse Weise nach Oslo gelangt. Einige hielten es für gefälscht, weil es ihrer Meinung nach zu viele Details brachte, die in den achtziger Jahren unmöglich der Moskauer Akademie der Wissenschaften mitgeteilt worden wären. Die meisten aber glaubten, nun endlich eine Erklärung für den völligen Umschwung in der sowjetischen PSI-Forschung in Händen zu halten, der seit zwanzig Jahren festzustellen ist.

    Da sich die Kollegen vom ehemaligen Wassiljew-Institut in Leningrad stets in Schweigen geübt hatten, war man bisher auf politische Spekulationen angewiesen gewesen. Kreml-Analytiker waren im Laufe der Jahre zu immer fantastischeren Vermutungen gelangt, warum in den osteuropäischen Staaten den Wissenschaftlern, die Telepathie, Hellsehen und Präkognition untersuchten, die Arbeit unmöglich gemacht worden war – und das zu einem Zeitpunkt, als die marxistische Parapsychologie weitaus bedeutendere Erfolge aufzuweisen hatte als die Forschung in der westlichen Hemisphäre. Ich will all diese Vermutungen nicht noch einmal aufgreifen. Mich hat aber dieses Dokument, das zweifellos echt ist, nicht zufriedenstellen können.

    Ich bin deshalb den wenigen darin enthaltenen Fakten nachgegangen und habe mich in diesem idyllischen Landstrich an der dänischen Kattegatküste, der Mols genannt wird, gründlich umgesehen. Es leben noch einige Zeugen, und sie haben mir bereitwillig auf meine Fragen geantwortet. Ich habe Notizen und Aufzeichnungen gesammelt und Briefe, die ich im Wortlaut wiedergeben darf, ebenso Auszüge aus den damals in Aarhus erschienenen Parapsychologischen Heften. Sehr aufschlussreich war für mich auch weiteres sowjetisches Geheimmaterial, das ich in Dänemark durch einen merkwürdigen Zufall entdeckte. Allen, die mir bei meinen Recherchen geholfen haben, danke ich an dieser Stelle, besonders Frau Hedwig Brodersen, die trotz ihrer 79 Jahre nicht müde wurde, mir aus ihrer Vergangenheit zu erzählen. Leider ist sie vor wenigen Wochen gestorben, ohne das Ergebnis meiner Arbeit gesehen zu haben.

    Mir ist klar, dass auch meine Version des Mols-Zwischenfalls einige Fragen offenlässt. Die Thesen des dänischen PSI-Amateurs, auf den ich durch das Osloer Dokument aufmerksam wurde, sind heute genauso wenig zu beweisen wie vor zwanzig fahren. Vielleicht verwirren auch einige Behauptungen Frau Brodersens die Zusammenhänge eher, als sie im streng naturwissenschaftlichen Sinn zu klären. Man sollte aber diese Zeugenaussagen nicht mit dem naiven Hinweis verwerfen, die Molsländer gälten in Dänemark als belächelnswerte Spinner und Sonderlinge, und eigentlich seien sie alle geistig etwas beschränkt und deshalb nicht ernst zu nehmen. Solche Vorurteile gegenüber Bevölkerungsgruppen in Randgebieten gibt es in jedem Land; meist sind sie dadurch entstanden, dass sich diese Menschen wegen ihrer besonderen geographischen Lage mehr mit sich selbst als mit ihren Nachbarn beschäftigt haben. Und um esoterisch veranlagte, introvertierte Menschen hervorzubringen, eignet sich das Molsland ebenso gut wie Schottland, die Bretagne oder Ostfriesland.

    Amelinghausen, den 19. Januar 2005

    Reinmar Cunis

      ERSTER TEIL

    Erstes Kapitel

    Die Wörter tropften in die stickig-feuchte Enge des Bugraums, klirrend sprangen sie über die verknoteten Rohrleitungen, durch Schotte und Luken, über Messgeräte und Papier.

    »Drei«, sagte Fedor Rade, dann: »Rot, Kreis, viernullsieben.« Kurze Pause. »Krasnoznamennyi Baltyskij Flot. Zehn Uhr siebenunddreißig.«

    Der rotgesichtige Versuchsleiter neben ihm sah auf die Stoppuhr, zeichnete den Zettel ab und verschloss ihn sorgfältig in einer Kassette. Radek blieb unbewegt sitzen, mit geschlossenen Augen und kaum hörbarem Atem. Durch die Stahlwände des U-Bootes liefen hohle, schlürfende Geräusche, es roch nach Öl, Schweiß und Scheuerseife.

    Längst hatte Oberstleutnant Tscherengoff, fernab im kühlen Laborraum des Forschungsschiffes, die vorbereitete Botschaft empfangen, leicht verzerrt und nicht ganz störungsfrei.

    »Drei«, hatte er Ilitschews Stimme im Kopfhörer vernommen, »Rot, Kreis, viernullsieben, Krasnoznamennyi Baltyskij Flot. Zehn Uhr siebenunddreißig.« Dann, wie eine Korrektur: »Zehn Uhr dreißig.«

    Sie hatte es um 10 Uhr 30 gesagt.

    Tscherengoff nickte. Sieben Minuten, vier und dreiundvierzig Zehntel Sekunden schneller, las er genau ab und gab die Daten in einen Speicher. Zufrieden blickte er aus dem Bullauge des Labors und verfolgte eine Möwe, die im Gleitflug vorbeizog. Das 45.000 Tonnen große Forschungsschiff Kosmonaut Juri Gagarin kreuzte wenige Meilen vor Rostock, gerade so weit von der Küste entfernt, dass seine charakteristischen Aufbauten vom Ufer her nicht mehr auszumachen waren. Die vier großen Parabolantennen und die über hundert feinen, bizarren Stabantennen reckten sich aus dem Schiff in einen milchig-weißen Herbsttag, so als ob sie alle dem Hörspiel lauschten, das aus der Ostsee aufstieg und vom Himmel zurückkam.

    Rings um den grauen Schiffsleib dehnte sich gläsern das Meer und spiegelte die Aquarellfarben der Luftschichten wider, lachshelle Wolkenstreifen mit quellenden Schattierungen, im Westen wie mit Messing eingefasst, weiter nördlich setzten sie einen Hauch von Bronze an. Irgendwo dort, unter diesem bronzenen Helm über Dänemark, räkelte sich der hundert Meter lange Bauch des Forschungs-U-Bootes, und dazwischen stampften die Zerstörer und Tragflügler, Schnellboote und Fregatten des NATO-Herbstmanövers durch die anglerstille See. Es war, als fände hier eine Vorstellung in der Badewanne statt; die Herren im Galadress beugten sich sachkundig und mit glänzenden Augen über ihr milliardenschweres Spielzeug und stippten mit gepflegten Fingern an die grau und braun gepinselten Masten, Brücken, Kanonen und Raketenwerfer, und sie blinzelten, um tief darunter die sowjetische U 83 auszumachen, die in ihrem Code Victor II hieß. Sie gehörte zu ihrem Spiel; erstaunt wären sie gewesen, hätten sie diesen Zaungast nicht gehabt, der so tat, als ob er ganz zufällig im Kattegat schwämme.

    Wieder meldete sich die leicht verzerrte Stimme in Tscherengoffs Kopfhörer, wieder früher als festgesetzt.

    »USS Plainview«, gab sie die amerikanische Bezeichnung mit stark russischem Akzent durch, »AG, EH, One. Achtundfünfzig Knoten. Bestückung: Vier Fla-Raketenwerfer. Zehn Uhr einundvierzig.«

    Tscherengoff wusste bereits, was nun folgte.

    »Zehn Uhr vierunddreißig.«

    Die Kontrolluhr über seinem Arbeitsplatz stimmte mit der zweiten Angabe überein. Sieben Minuten und fünf Sekunden später zeichnete der Versuchsleiter im U-Boot den Zettel ab und legte ihn ebenfalls in seine Kassette. Oberleutnant zur See Radek fiel wieder in scheinbar unbeteiligtes Schweigen.

    Tscherengoff lachte über die Manöverdaten. Sollten die Offiziere auf den NATO-Schiffen nur glauben, sie würden beobachtet! Ihre Sensoren hatten längst das U-Boot ausgemacht: mit Sicherheit wurde es auch mit den Funksprüchen in Zusammenhang gebracht, die über die Ostsee strichen, bevor sie von den tausend Ohren der Juri Gagarin eingefangen wurden.

    Admiral Sinowjeff, sowjetischer Beobachter der NATO-Herbstmanöver im Kattegat, hatte vermutlich sein sparsames Lächeln aufgesetzt, um zu verbergen, dass auch er nicht erklären konnte, auf welche Weise die Funksprüche aus dem tief getauchten Boot die Oberfläche erreichten.

    Denn auch Sinowjeff wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, dass in der U 83 Fedor Radek saß, mit einer zusätzlichen Dosis Adrenalin in den Adern und beeinflusst von dem ersten, nach Tscherengoffs eigenen Entwürfen gebauten Gravitationsverstärker. Außer dem Genossen Oberstleutnant auf der fernab liegenden Kosmonaut Juri Gagarin wussten es nur der schwitzende Versuchsleiter, der bei jedem Spruch auf die Stoppuhr sah, den Zettel abzeichnete und ihn verschloss, und der ebenfalls verschwitzte, brillengesichtige Uniformierte neben ihm, der bedächtig Zettel für Zettel aus einer Mappe zog und ihn Radek reichte. Der prägte sich die Daten ein, sprach sie laut, langsam und konzentriert und gab den Zettel zur Abzeichnung weiter, genau sieben Minuten und vier Sekunden später als sein eigenes, stratosphärengedämpftes Echo in Tscherengoffs Kopfhörern.

    Und auch der dritte Parapsychologe wusste es, der in einem noch engeren Raum neben diesem Echo saß, das Peter Ilitschew hieß und die Augen ebenso geschlossen hielt wie Fedor Radek drunten im Meer. Ilitschew, rosig, pausbäckig und jung, bewegte die breiten Lippen wie Kiemen, wenn er sprach, und was er sagte, hatte der blasse Fedor Radek gedacht.

    Ilitschew schwebte, nur wenige Gramm schwer, eingebettet in das tintige Blau des Planeten, zufrieden wie ein gestillter Säugling zwischen dem Tageslicht der Lüfte und der nächtlichen Weite der Sterne. Die zärtliche Bewegung des Raumschiffs Saljut XII wiegte ihn, Fröhlichkeit spielte über seinen Mund. USS Plainview? Dieses Wort war ihm von den Lippen gekommen, es war Radeks Wort, und Ilitschew hatte es nachgesprochen, ohne zu verstehen. Es war schwierig und sicher bedeutend, aber verstanden hatte er es nicht.

    Als die Möwe wieder am Bullauge vorbeischoss, krächzte sie bösartig, stieg in weitem Bogen zum Horizont auf und kam im Sturzflug zurück. Ihr krummer, vergilbter Schnabel riss eine tiefe, schwarze Wunde in die frische Haut des Wassers, wütend schmetterten ihre Flügelspitzen auf und nieder und schlugen Wellenring auf Wellenring, dann stieß sie einen zweiten Krächzer aus und verschwand; die jähe Zeichnung im Wasser verebbte. Tscherengoffs Blicke waren starr geworden, sein maskenhaftes Gesicht klebte auf dem dicken Fensterglas.

    Ein leichter Windzug bewegte die altersschwache Holztür der Hütte, die Angeln knarren, leise raschelt das Papier.

    »Drei«, wiederholt Einar Brodersen, als ob er aus einem schweren Traum erwacht, »rot, Kreis, vier-null-sieben. Krasnoznamennyi Baltyskij Flot. Zehn Uhr siebenunddreißig.« Er versteht so viel russisch, um die Angaben zu begreifen und aufzuschreiben, aber er zögert. »Nein«, sagt es in ihm, »zehn Uhr dreißig.«

    Beide Daten stimmen nicht mit seiner Armbanduhr überein.

    Die knarrende Tür schlägt wieder gegen den Rahmen, öffnet sich erneut, Minuten wehen herein.

    »USS Plainview«, sagt Brodersen mit russischem Akzent, »AG, EH, one. Achtundfünfzig...«

    Er stockt.

    »Einundvierzig...«

    Dann überschwemmen ihn Eindrücke; schwitzende Gesichter, Uniformen, vierunddreißig, hämmert es in seinem Hirn, und Furcht kriecht ihm unter die Haarwurzel.

    Zweites Kapitel

    Zum ersten Mal machte er sich die Mühe, diesen ungeschlachten Kirchenbau näher zu betrachten, und eine Mühe war es schon, denn das Gebäude war unhandlich, viel zu groß geraten und schutzlos obendrein. Mürrisch blickte der kantige Turm über die wenigen, reetgedeckten Häuser des Ortes, die sich zwischen den Höhenrücken im Osten und den nassen Wald jenseits der Landstraße schmiegen, ein Stelzenturm mit Treppengiebel, auf dem die roten Dachziegel Wie eine speckige Seemannsmütze sitzen, und – Lehmann hatte davon gehört – eine Seefahrerkirche war sie auch gewesen, früher, als das Kattegat noch bis an die sandigen Höhen heranreichte, und dem Schutzheiligen der Seeleute war sie gewidmet, Sankt Nikolaus. Nun gab es keine See und keinen Hafen mehr, Dünen hatten sich davorgelegt, und der Wind mit dem brackigen Salzgeruch blieb dort draußen, nur Reste schalen Wassers hatten sich hinter der Kirche gesammelt und dämmerten zwischen Birken und Schilf. Ein vergessener See voller Mücken und Krähen, Überreste einer anderen Zeit wie der hochbeinige Kirchturm, den man einst abgerissen und neu gebaut hatte; warum, wussten die Leute von Draaby nicht mehr.

    »Es hat etwas mit Tod zu tun«, hatte Brodersen gesagt, »nur so kann ich es formulieren, aber erklären kann ich es nicht.«

    »Mit Tod?«, fragte Lehmann. Unwillkürlich blickte er hinauf zu den Gräbern, die sich im Schatten der Kirche duckten. »Dein eigener, Einar?«

    Der Lehrer zögerte. Sie gingen den laubbedeckten Weg hinter der Kirche zu Ende, vom See stiegen Krähen auf, ganze Schwärme farbloser Krähen.

    Brodersen sagte: »Ja. Nein. Ich kann es nicht deuten. Ich glaube, der Tod von vielen, sehr vielen Menschen.« Und dann sagte er noch: »Im Krieg.«

    Lehmann dachte an den Tag, als die fremden Soldaten das Land überrannten, sie brachten feiste Männer in Braunhemden mit und Schergen, die nach Stiefelwichse und Haarpomade stanken. Damals waren viele jüdische Flüchtlinge hier vom Molsland aus über das gefährliche stille Wasser gezogen, mit leisen Rudern und spurlos im Nachtwind, und von denen, die sie hinüberbrachten, kehrten einige nicht zurück ins Dorf, vielleicht begrub man sie in fremder Erde wie die britischen Flieger, die hier oben neben der großen Kirche in dänischem Boden lagen.

    Und er sagte laut: »Krieg! Das geschieht jeden Tag auf der Welt.«

    Hanns Lehmann war Realist, meinte, die nüchterne, messende Betrachtungsweise seinem Beruf schuldig sein zu müssen. Die struppigen, grau gewordenen Augenbrauen beschatteten tiefliegende, kritische Augen, und wer ihn kannte, wusste auch, dass die ironisch-spöttischen Falten drumherum aus vielen Jahren oft unerfreulicher wissenschaftlicher Arbeit stammten. Sie zeigten, dass er Abstand gewonnen hatte. Lehmann nahm das Wunderbare als natürlich hin und das Böse als Ausdruck menschlicher Schwäche. Geburt und Tod betrachtete er als vorgegeben, als Teil eines Programms der Geschichte und unvermeidlich wie das Resultat eines Computers. Und was sich die Menschen antaten, hatten Geburt und Erziehung ihnen unverwischbar eingestanzt. Ein mechanistisches Prinzip, aber ein überaus brauchbares, von dem er meinte, dass es vorurteilsfrei sei.

    Hanns Lehmann war Professor für ein höchst vorurteilsbeladenes Fach: Er lehrte in Aarhus Parapsychologie.

    Die Fältchen um seine Augen traten stärker hervor: »Wir leben in ständiger Furcht vor dem Krieg«, sagte er herablassend, und er sagte es so, als beträfe es ihn gar nicht, sondern als sei es ein Lehrsatz, den er seinen Studenten einbläute. »Dieses ganz groteske Gleichgewicht des Schreckens hat es nie vermocht, uns in der Sicherheit des Friedens zu wiegen. Entspannung, Abrüstung, Schlussakte von Helsinki, alles dummes Zeug! Niemand kann auf seine Ideologie verzichten, die ihm sein geistiges Korsett liefert, und schon gar nicht auf die Waffen, die ihm den Fortbestand dieser Ideologie garantieren sollen. Wozu also das ganze Gerede, das nur der menschlichen Eitelkeit dient! Krieg steckt immer in uns selbst, und solange er dort steckt, wird es ihn geben.«

    Doch Brodersen schien ihm gar nicht zugehört zu haben. Er starrte auf das Laub, das sich unter den Birken sammelte, und sah es nicht.

    »Es waren nichts als sinnlose Zahlen, ein Code, dazwischen militärische Bezeichnungen, denen absichtlich der Zusammenhang fehlte. Und doch spürte ich den gewaltsamen Tod, von dem sie berichteten.«

    Jetzt legte ihm Lehmann begütigend die Hand auf die Schulter. »Wir können uns von diesen Vorstellungen nie mehr frei machen«, sagte er. »Wenn wir einen militärischen Ausdruck hören, meinen wir bereits das verkohlte Holz von Ruinen zu riechen, und die Schreie verzweifelter Frauen hallen in unseren Ohren. Das steckt in uns, solange wir leben! Wir waren jung und aufnahmefähig, in unserer Psyche lässt sich das nie mehr löschen.«

    Wieder stiegen Krähen aus dem Schilf, unflätig laut wie eine Horde von Strolchen. Wind, der vom Wald herüberkam, roch nach Schimmelpilzen. Brodersen schüttelte den Kopf.

    »Das meine ich nicht.« Und heftiger sagte er: »Nein, das ist es ganz und gar nicht. Ich fühlte den Krieg, der noch kommen wird, den Krieg, der uns alle ergreift und vernichtet, den Krieg mit seinem brüllenden Tod und der langen, modrigen Leere.«

    Amüsiert blieb Lehmann stehen.

    »Lass das nicht die mächtigen Herren hören, die da oben die protzige Kirche hinstellen ließen, du armer Schulmeister. Lange, modrige Leere! Sagst du das zu deinen Schülern, wenn sie dich nach dem Jenseits fragen?«

    Brodersen drehte sich zu ihm um, und zum ersten Mal an diesem Tag sahen sich die beiden voll an.

    »Die Zeit!«, sagte Brodersen mit Nachdruck. »Was mir Angst machte, war, dass es noch erst geschehen wird! Sie dachten nicht an den Krieg, der gewesen ist, an den Feldzug der größenwahnsinnigen Germanen.« Und ganz leise fügte er hinzu: »Es war der Computer, der ihnen die Fahne vorantrug.«

    »Aber wir sind doch von der Vergangenheit belastet, wenn wir an die Zukunft denken!«, sagte Lehmann dozierend.

    Brodersen schüttelte unwillig den Kopf. »Du verstehst mich nicht. Sie sprachen von einer Zeit, die nicht die meine war. Nicht Zukunft oder Vergangenheit, nichts in meinem Lebenslauf. Verschoben, begreifst du das? Herausgehoben aus unserer Zeitebene, um Minuten nur, aber unüberbrückbar.«

    Lehmann kannte Brodersens Eifer, und er fühlte, dass es etwas Wichtiges war, das den Freund beschäftigte. Aber er konnte nichts damit anfangen.

    »Es ärgert dich, dass du es nicht erklären kannst?«, sagte er aufs Geratewohl, und wenn er sich richtig entsann, hatte Brodersen drauf nicht mehr geantwortet, er hatte überhaupt nichts mehr auf diesem Spaziergang gesagt. Stumm waren sie am See weitergegangen, das Laub raschelte, und die Krähenschar kehrte lärmend ins Schilf zurück, und erst sehr viel später, als Lehmann im Auto saß und nach Aarhus zurückfuhr, war ihm aufgefallen, dass Brodersen sich nicht bemüht hatte, den Vorgang zu beschreiben.

    Als er jetzt wieder, unschlüssig noch, zwischen dem alten, leeren Schulhaus und der großen, leeren Kirche stand, fiel ihm endlich der Satz ein, den Einar ganz zu Anfang gesagt hatte.

    »Ich darf das nicht für mich behalten, es ist zu wichtig, deshalb musst du mir zuhören, Hanns.«

    Hanns Lehmann wandte sich von der Kirche ab und ging zum See hinunter. Nichts hatte sich hier seitdem verändert.

    Drittes Kapitel

    Die kleine Bäckerei an der Hauptstraße zitterte; mitten durch Draaby polterten olivgrüne Fahrzeuge in langen Kolonnen, Lastwagen mit olivgrünen Jungs, die rotwangig und ungewaschen aussahen, gewaltige Lafetten mit Geschützen, dazwischen Geländewagen mit ganz ernsten, olivgrünen Offizieren. Hedvigs Augen folgten dem Bataillon, sie genoss das erhebende Schauspiel, dann seufzte sie tief und wandte sich wieder ihrer Geldtasche zu, aus der sie gerade zwei Kronen für den unvermeidlichen, täglichen Kranzkuchen fingern wollte.

    In diesem Augenblick flog die Tür auf, ein stürmischer Kanonier rempelte sie an, Tasche und Geldstück fielen zu Boden. Kaum dass sich die Ordonnanz entschuldigt hatte, war sie auch schon wieder draußen, bewaffnet mit mehreren Kuchenstangen und einer Tüte voller

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