Notgeil
Von Jürgen Müller
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Über dieses E-Book
Mirko Kohaupt möchte sich als Schnitzer und Drechsler eine Existenz aufbauen. Nur hat er die Rechnung ohne seinen Bruder Mirco gemacht, der mittels pornografischer Poster berühmt werden will. Mirko ringt noch im Fassung, da steht bereits die erste Sex-Darstellerin vor der Tür.
Coverbild: Bob Alex/Shutterstock.com
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Buchvorschau
Notgeil - Jürgen Müller
ZUM BUCH
Mirko Kohaupt möchte sich als Schnitzer und Drechsler eine Existenz aufbauen.
Nur hat er die Rechnung ohne seinen Bruder Marco gemacht, der mittels pornografischer Poster berühmt werden will.
Mirko ringt noch um Fassung, da steht bereits die erste Sex-Darstellerin vor der Tür.
Coverbild: Bob Alex/Shutterstock.com
1. Kapitel
»Herr Kohaupt?«
»Ja, bitte?«
»Ich bin Estelle«, stellte sie sich vor und schwieg erwartungsvoll, als müsste ihm ihr Name alles sagen.
Mirko hatte sich umgewandt und blickte in ein Paar braune Augen, wie er sie noch nie gesehen hatte.
Sie ruckten.
Mit winzig kleinen Bewegungen glitten die Augäpfel hin und her, als hätte sie vergessen, wie man einen Punkt fixiert.
Mirko kam sich vor wie ein Pendel, dessen Bewegungen sie folgte, und doch stand er still, wie vom Schlag gerührt.
Was für eine Frau!
Sein Blick irrte hinab in ihren Ausschnitt.
»Oh nein!«, rief sie. »Ich mache es mit Dildos und Vibratoren, wenn gewünscht auch mit Schälgurken und Rüben, sofern nicht verdorben und von länglicher Form, einzelnen Exemplaren oder kleinen Bündeln von Karotten, Schwarzwurzeln oder Spargel, wenn geschält oder wenigstens geputzt. Auch Türklinken, Kerzen und Schuhanzieher sind genehm, Letztere am besten schön stabil und durchgehend geriffelt oder genoppt. Ansonsten treibe ich es vor der Kamera gerne mit Frauen, und da mit Zunge und Fingern, Fuß oder Faust und auch mal mit einem Strapon, wie man bei uns im Geschäft einen Umschnall-Dildo nennt. Mehr aber ist nicht! Ein Schwanz aus Fleisch und Blut kommt nicht infrage! Von den erwähnten Sachen abgesehen gehört meine Möse nur meinem Zukünftigen, und damit ist es mir ernst! Sie brauchen sich gar nichts einzubilden. Außer fotografieren läuft nichts!«
›Meinem Zukünftigen‹, hatte sie gesagt.
Verdammt! Sie war vergeben.
»Ich hoffe, er weiß es zu würdigen!«, entfuhr es Mirko.
»Ich habe ihn noch nicht kennen gelernt«, sagte sie leise und sah ihn wieder so merkwürdig an, »aber wenn er vor mir steht, werde ich es wissen.«
Statt sich zu freuen, dass sie noch frei war, kam ihm nun der Sinn ihrer ersten Worte zu Bewusstsein.
Er wurde rot.
»Psst!«, sagte er. »Nicht so laut.«
Verstohlen schaute er zum Gehsteig. Hoffentlich hatte es niemand gehört.
»Welche Fotos?«, fragte er.
»Wie – welche Fotos? Sie sind nicht Marco Kohaupt? Aber es ist doch die Stimme von vorhin ... Hm? Ihr Vater ist der Fotograf? Ich hatte mein Kommen telefonisch angekündigt; warum empfängt er mich nicht? Hier ist doch ›Am Hunnengraben 9‹, oder? Stimmt die Hausnummer nicht?«
Sie zog einen Ausdruck hervor und blickte verständnislos darauf.
Marco Kohaupt?, durchfuhr es Mirko. Ich glaube es nicht!
Er entriss ihr den Zettel, als ginge es um sein Leben.
Es war eine Anzeige des Wand-Web, Rubrik: ›Wer-Was-Wo‹.
»Marco Kohaupt, professioneller Fotograf«, las er halblaut, »Adresse blablabla, sucht junge, schlanke Sex-Darstellerin mit starker weiblicher Ausstrahlung, rasiert, nur ohne Silikon, für Farbposter der Extraklasse. Kein männlicher Partner, nur Einführung eines außergewöhnlichen Gegenstandes. Ein Sortiment an passender Reizwäsche ist mitzubringen: Mini-Tanga, Büstenhebe, Strapse, Overknee-Stiefel und -strümpfe, etc. Schminkkenntnisse sind erwünscht. Zahle 100 Euro pro begonnene Stunde plus Fahrtkosten für die billigste Verbindung. Geschätzte Dauer: fünfzehn Minuten.«
»Professioneller Fotograf«, wiederholte er. »Professionell! Ich erinnere mich, dass er Mitglied im Fotozirkel unserer Schule war und dies und das geknipst hat, Enten und Blumen und hin und wieder auch mal Leute. Aber das ist Jahre her. Mit einer Kamera, einer eigenen gar, habe ich ihn seither nie gesehen.«
»Geknipst ...? Sagten Sie: geknipst?« Estelle schien einer Ohnmacht nahe oder einem Wutausbruch.
»Und dafür stehe ich früh um drei auf und fahre den halben Tag durch die Lande! Geknipst! Ich möchte von einem Profi ins rechte Licht gestellt werden, endlich mal auf einem Poster oder wenigstens auf großformatigen Fotos zu sehen sein, in einer Ausstellung, bekannt werden, berühmt, lukrative Aufträge erhalten ...«
»Reingelegt!«, schrie sie. »Wie oft denn noch! Immer wieder falle ich auf solche Typen rein, die einen nur ins Zimmer locken wollen und dann sonst was von einem verlangen! Und ich hatte mich so gefreut, dachte, endlich sei der Durchbruch da, sei Schluss mit diesen albernen Sex-Bildergeschichten, wo ich bisher nur winzigklein zusammen mit vielen andern Darstellern zu sehen war, mit den Heften zweifelhaften Charakters oder den Angeboten für billige, schmuddlige Sex-Filmchen, die ich immer wieder ablehnen muss ...«
Sie fing sich wieder. »Wenn es sich so verhält, bekomme ich mein Fahrgeld zurück und eine Aufwandsentschädigung in Höhe von wenigstens 50 Euro. Falls nicht, sehe ich Ihren Vater vor Gericht! Haben Sie das verstanden?«
»Bruder«, sagte er. »Marco ist mein Bruder. Und ich verstehe nicht, weshalb er so etwas tut. Es sei denn ...«
Er mochte es nicht wahrhaben, aber plötzlich sah er sich, Marco und die ganze 3 b im Deutschen Hygiene Museum in Dresden, gleich neben Stadion und Zoo, wenn er sich recht erinnerte, die Gläserne Frau umringen, hörte Frau Pahls Erklärungen, und alles bekam auf einmal Sinn.
»Seht her«, sagte Frau Pahls, »schaut auf den Kopf der Gläsernen Frau! Das Großhirn eines jeden Homo sapiens bestand aus zwei Hälften, verbunden durch Millionen Nervenfasern, dem sogenannten Balken. Um Herr einer Krankheit namens Epilepsie zu werden, trennte man versuchsweise diese Verbindung; das Verhalten der Patienten jedoch blieb normal. Staunend und ungläubig erkannten die Ärzte, dass der damalige Mensch sozusagen über zwei Hirne verfügte, jedes mit eigenem Bewusstsein, die unter dem Kommando der linken Hirnhälfte eng zusammenarbeiteten, aber auch bis zu einem gewissen Grad unabhängig voneinander handeln konnten. Die eine Hälfte zum Beispiel erfasste Einzelheiten und redete wie ein Wasserfall, die andere sah das Ganze und war stumm. Beim Gehen sah es so aus, dass die linke Hirnhälfte das rechte Bein bewegte, und die rechte Hirnhälfte das linke Bein. Erstaunlich, dass diese Menschen überhaupt vom Fleck kamen und nicht ständig stolperten, nicht wahr?«
Die Jungen grölten und die Mädchen kicherten, und alle versuchten sie, mit nur einem Bein zu laufen, während sie das andere nachschleiften oder seltsame Schlenker vollführten.
Frau Pahls ließ sie gewähren und sah ihnen schmunzelnd zu. Dann fuhr sie in ihrem Vortrag fort.
»Selbstverständlich war dies kein akzeptabler Zustand. Deshalb versuchte die Evolution schon lange, ihn zu ändern. Zum einen erzeugte sie immer wieder Schlangen mit zwei Köpfen und bei den Menschen Zwillingskinder, die auf verschiedene Weise aneinandergewachsen waren. Aber auch diese so genannten siamesischen Zwillinge verfügten jeweils über doppelte Hirne.
Zum anderen stritten die beiden Bewusstseine in den Köpfen dieser armen Menschen mitunter heftig um das Vorrecht. Es kam immer wieder zu ›gespaltenen Persönlichkeiten‹ und zur ›fremden Hand‹, die ein Eigenleben zu führen begann, sich weigerte,