Geister der Vergangenheit: Erzählungen
Von Klaus Frank
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Buchvorschau
Geister der Vergangenheit - Klaus Frank
Im Dunkel einer Winternacht
Etwas riss mich aus dem Schlaf, der unruhig gewesen sein musste, wie ich feststellte, als meine Hand über das verrutschte Laken strich. Durch das geöffnete Fenster drang eiskalte Luft herein; dennoch glühte mein Gesicht so stark, dass ich befürchtete, Fieber zu haben. Ein Glockenlaut vertrieb die Gedanken, und mir war klar, dass das Läuten der Kirchenglocken mich geweckt hatte.
Ich lehnte mich zurück in das feuchte Kissen und warf einen Blick nach links, wo unter der Bettdecke ein massiger Körper schlummerte. Ich verzog das Gesicht zu einem Lächeln, doch es wurde eher eine Grimasse des Abscheus. Wieder nichts, schoss es mir durch den Kopf, und ich erschauderte unter dem Gefühl des Frusts. Immer wieder traf ich auf Männer, die, einem eitlen Pfau gleich, ihre Großartigkeit priesen, doch nach und nach löste sich der scheinbare Glanz in Wohlgefallen auf, und was übrig blieb, war bestenfalls ein kümmerliches Gerippe aus Lügen und falschen Versprechungen. Woran lag das nur? Lag es an mir?, überlegte ich, obwohl ich mir längst geschworen hatte, derartige Gedanken niemals mehr zuzulassen. Sie führten zu nichts, außer zu Schuldgefühlen, die mich wie eine schwarze Flut in die Tiefe rissen, aus der es kein Entrinnen gab. All die ganzen Nächte voller Tränen und Geflenne und grenzenlosem Hass auf mich selbst.
Dabei wusste ich doch insgeheim, dass es nichts mit mir zu tun haben konnte; ich war, wenn ich es darauf anlegte, sehr charmant und überdies eine gute Zuhörerin. Ich plapperte oder schwätzte nicht drauflos, da ich nur zu genau wusste, dass die meisten Männer dies eher einschüchterte; vielleicht sahen sie dann in ihrem Gegenüber, mochte es noch so hübsch sein, einen feuerspeienden Drachen, der sie zu verschlingen drohte. Dieses Bild vor Augen, gelang mir nun doch ein schwaches Lächeln, das ich in die Dunkelheit verschwendete, die mich umgab wie ein Leichentuch.
Und ja; man konnte mich durchaus hübsch nennen. Jedenfalls hatte ich Komplimente dieser Art oft gehört, und nicht alle konnten eine Lüge gewesen sein. Die Wortwahl änderte sich zwar ständig, je nach Charakter desjenigen, mit dem ich es zu tun hatte, doch am Ende kam das alles aufs Gleiche raus: Du bist hübsch, jedenfalls für ein paar Nächte.
Und dennoch: Das Feuer, loderte es am Anfang auch noch so hoch, erlosch bald zu einem müden Funkeln, dann zu kalter Asche, und die Erkenntnis war immer, dass meine Liebschaften zu nichts taugten, ein Makel gesellte sich zum anderen, als wäre das ein Naturgesetz.
Ich runzelte die Stirn, als ich über den Namen des Mannes neben mir nachdachte. Erst nach einigen Sekunden fiel er mir wieder ein: Peter, ein Name, der so gewöhnlich war wie der Mann selbst: ein Anhänger von Borussia Dortmund, jahrelang im Besitz einer Dauerkarte, sein Lieblingsgetränk war Pils, am liebsten aß er Schnitzel, er hatte zu viele Haare am Rücken und einen beachtlichen Bauchansatz. Ein Name, ein Mann zum Vergessen. Ich hätte es wissen müssen, als er vor mir stand und seinen Namen stammelte.
Ich starrte ihn an, und da sich meine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte ich Konturen seines bleichen Gesichts, das schlaff und eingefallen wirkte.
»Peter«, murmelte ich leise in die Finsternis hinein und achtete darauf, ob der Name etwas in mir berührte, doch da war keine Trauer, kein Ärger. Wozu auch? Es gab schließlich nichts zu bedauern.
Vorsichtig lupfte ich die Bettdecke von Peters Körper. Das Messer steckte immer noch in seiner Brust. Er hatte nur wenig Blut verloren, sah ich, während ich prüfend meinen Blick über das Laken unter ihm inspizierte. Zwar machte ich mir nichts aus verspritztem Blut, aber dennoch vermied ich es gern, in einem besudelten Bett zu schlafen. Ein leises Gefühl der Sympathie durchschlich mich, doch gleich darauf schalt ich mich für diese absurde Empfindung. Die Tatsache, dass Peter in den Sekunden seines Todes nicht sinnlos sein Blut verspritzt hatte, machte aus ihm keineswegs einen besseren Menschen.
Ich umfasste den Griff des Messers, das bis zum Heft in seiner Brust steckte. Das Herausziehen einer tief im Fleisch sitzenden Klinge erzeugte in meinen Ohren stets ein einzigartiges Geräusch, das ein leises, aber unwiderstehliches Grauen in mir weckte; am ehesten war es noch vergleichbar mit einem leisen Schmatzen, als säße unter dem Bett ein Kind mit schlechten Manieren. Sorgfältig wischte ich die Klinge an der Bettdecke ab und legte sie beiseite.
Mit einem Gähnen schlüpfte ich aus dem Bett, und sogleich spürte ich die Kälte, die im Raum herrschte. Der böige Wind bauschte die Gardine auf und umschlang mich mit seinen eiskalten Fingern. Ich schloss die Augen und genoss diese Liebkosung. Ich mochte den Winter mehr als alle anderen Jahreszeiten. Mir graute bereits vor dem nahenden Frühling. Am liebsten waren mir die froststarren Nächte, die so finster und freudlos waren wie das Grinsen eines Wahnsinnigen und nicht enden wollten und irgendwann in sonnenlose und schlappschwänzige Tage übergingen. Oft lag ich während solcher Nächte reglos in meinem Bett und hing meinen Gedanken nach oder lauschte in die Stille hinein, die manchmal klang wie das Flüstern und Raunen toter Seelen. Dann war ich ein anderer Mensch, ein besserer Mensch, der Ambitionen hatte, die weit über das hinausgingen, was das Leben zu bieten hatte.
Ich verließ das Schlafzimmer und schlurfte in die Küche, in der es wärmer war. Stirnrunzelnd überblickte ich den Raum, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Die Schränke und Geräte waren alt, die Wände vergilbt. Ich musste dringend die Zeit zum Renovieren finden, doch ich wusste genau, dass ich mich dazu nicht würde aufraffen können. Die Küche stammte noch aus der Zeit, als meine Eltern hier gelebt hatten. Meine Mutter war schon lange tot, danach lebte ich mit meinem Vater hier. Ich blieb bei ihm, bis er starb, und nach seinem Tod nahm ich mir vor, das Haus ganz nach meinen Wünschen einzurichten. Leider hatte ich das bis heute nicht geschafft. Beinah erzürnt starrte ich auf eine grüne Kachel neben dem Spülbecken, die gesprungen war, nachdem mein Vater vor vielen Jahren ein Loch zu bohren versucht hatte.
Ich glaubte, das Brennen wieder auf meiner Wange zu spüren. Seine Ohrfeige, die ich für mein hämisches Kichern kassiert hatte, war heftiger als alle anderen gewesen; ich war zu Boden gestürzt und bis zur Wand gerutscht, wo ich mir heftig den Kopf am Heizkörper anschlug. Blut, das aus meiner aufgeplatzten Lippe tröpfelte, vermischte sich mit dem aus der Wunde am Hinterkopf. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich weinend auf die Beine kommen, während mein Vater die zerstörte Kachel anstarrte, genau wie ich es nun ebenfalls tat.
Warum sah die Küche immer noch so aus wie zu Lebzeiten meiner Eltern? Immer noch dieselben scheußlichen Bilder, die unwirkliche Landschaften zeigten. Unter mir quietschte der braungraue Linoleumboden, der an einigen Stellen wellig oder aufgeplatzt war. Nicht nur hier in der Küche, sondern im gesamten Haus war es so, verbesserte ich mich mit einer Nachdrücklichkeit, als wolle ich mir selbst wehtun. Ich schlief im Schlafzimmer meiner Eltern, in ihrem Bett, wobei ich jedoch stets darauf achtete, auf der Seite meiner Mutter zu liegen. Ich kicherte wie ein kleines Kind: Peter lag tot und blutig auf Vaters Seite, wie ihm das nur gefallen hätte.
Ich wischte die unguten Gedanken beiseite und steuerte auf die große Tiefkühltruhe zu, die summend in einer Ecke der Küche stand. Sie hatte mindestens zwanzig Jahre auf dem Buckel und war für mich vollkommen überdimensioniert. Doch meine Eltern, die beide die Auswirkungen der Kriegsjahre erlebt hatten, legten immer großen Wert darauf, dass möglichst viele Vorräte vorhanden waren, zumeist aus dem eigenen kleinen Garten hinter dem Haus, der seit Jahren vollkommen verwildert war. Ich wusste, ich hätte mich auch um den Garten kümmern sollen, doch fand ich nie die Gelegenheit dazu. Außerdem war ich keine talentierte Gärtnerin, das wusste ich aus eigener Erfahrung. Mein Vater meinte immer mit seiner sarkastischen Stimme, dass ich einfach zu dumm für die einfachsten Dinge sei, und daher ließ ich mich zu seinen Lebzeiten nur selten im Garten blicken, und jetzt sah ich keinen Grund mehr, ihn aufzusuchen. Was hätte ich dort tun sollen? Der Garten gehörte den Tieren und Insekten mehr als mir.
Ich hob den Deckel der Kühltruhe, und Eiseskälte wehte mir ins Gesicht. Die Truhe war beinah randvoll gefüllt mit Plastiktüten, die zugeschweißt waren und kleine Ein-Personen-Portionen enthielten. Auf allen Tüten befanden sich Etiketten, auf denen ich den Inhalt geschrieben hatte: Leber, Schinken, Brust. Manchmal bedauerte ich, dass ich nicht ausführlicher geworden war; ich vermochte nicht zu sagen, mit wessen Brust die Tüte, auf die ich starrte, nun wirklich gefüllt war. Ich nahm an, dass es das Fleisch von Marcus war, von dem ich mich vor ungefähr sechs Monaten getrennt hatte, doch sicher war ich mir nicht. Ich nahm mir vor, die Tüten, die ich mit Peter füllen wollte, ausführlicher zu beschriften: Name und Datum mussten mit auf das Etikett. Ich wusste nicht, ob in der Truhe noch ausreichend Platz für die neuerliche Ladung war; zumindest wäre sie danach bis zum Rand gefüllt. Entweder musste ich in nächster Zeit mehr Fleisch verschlingen oder es irgendwo verscharren. Meine Eltern hatten mich jedoch stets gelehrt, keine Lebensmittel zu verschwenden, und ich hatte diesen Leitspruch so sehr verinnerlicht, dass ich keinen Unterschied machte zwischen einem Schwein und einem Mann.
Zuunterst lugten einige völlig vereiste Tüten hervor, von denen einige aufgeplatzt waren, sodass ihr unansehnlicher Inhalt verstreut am Boden der Truhe lag. Voller Missmut blickte ich auf die Überreste meines Vaters, der mir auch lange nach seinem Tod das Leben so schwer wie möglich machte. Aber nun dämmerte mir, dass für ihn nicht länger Platz in der Gefriertruhe war.
Das war eine weitere Aufgabe, die auf mich wartete. Ich zog eine Schnute und schloss die Truhe. Im Keller befand sich altes Schlachterwerkzeug meines Großvaters, der in einer Schlachterei gearbeitet hatte. Es war, inklusive einer kolossalen Knochenmühle, tadellos in Schuss, weil ich es pfleglich behandelte. Damit wäre es relativ einfach, Peter zu zerlegen. Das Schwierigste war, ihn in den Keller zu zerren, weil er nicht gerade ein Leichtgewicht war. Da ich wusste, wie unsauber die Arbeit war, entkleidete ich mich vollständig. Das Blut konnte ich leicht mit dem Gartenschlauch entfernen; sowohl von den Instrumenten, dem Kachelboden und von meinem Körper, der nach getaner Arbeit so erhitzt wäre, dass er unter den eiskalten Wasserstrahlen zu dampfen begänne.
Ich klatschte in die Hände, was einem unsichtbaren Zuschauer gewiss wie ein Startsignal vorgekommen wäre, denn gleich darauf verschloss sich mein Gesicht zu einem Ausdruck höchster Konzentration, die meine Aufgabe mir in den nächsten Stunden abverlangen würde.
***
Zwei Monate später, der Frühling verkürzte zu meinem Leidwesen die Nächte, die mir mehr Freude bereiteten als früher Sonnenschein und Vogelgezwitscher und emsige Eisverkäufer. Die Gefriertruhe war ein wenig leerer geworden, aber nicht sehr viel, da ich die Überreste meines Vaters einfach nicht hatte anrühren können.
Ich war sehr aufgeregt, das vermochte ich nicht zu verhehlen. Aufgescheucht wie eine alte Jungfer eilte ich von Raum zu Raum und versuchte hier und dort etwas zu verschönern oder zumindest dekorativ umzugestalten. Vermutlich vergebene Liebesmüh, doch ich war zu aufgewühlt, um innezuhalten. Ich erwartete Besuch.
Diesmal war ich voller Zuversicht, dass der Mann sich nicht als solch ein Einfaltspinsel erweisen würde wie die anderen Besucher vor ihm. Zwar hatte ich bislang lediglich übers Internet mit ihm angebandelt, doch er machte einen äußerst sympathischen und gebildeten Eindruck auf mich. Er vermochte sich gewählt auszudrücken, beinah blumig wie ein Mann aus einem vergangenen Jahrhundert, und hatte einen erlesenen Geschmack, wenn es ums Essen und Trinken ging, und auch seine kulturellen Interessen entsprachen ganz den meinen. Mehr noch als diese Indizien war es jedoch sein Name, der mich schier verzauberte.
»Valentin«, sagte ich leise und wiederholte mehrmals seinen Namen. Ein Mann, der so hieß, musste einfach ein besonderes Exemplar sein.
Ein gehetzter Blick auf die Uhr, kaum noch fünfzehn Minuten, bis die vereinbarte Zeit anbrach. Ich