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Der Bahnhof von Plön
Der Bahnhof von Plön
Der Bahnhof von Plön
eBook453 Seiten6 Stunden

Der Bahnhof von Plön

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Über dieses E-Book

Zusammen mit seinem trollähnlichen Diener haust der anfangs noch namenlose Ich-Erzähler in einem schäbigen New Yorker Apartment und führt dubiose Aufträge für eine Person durch, die sich »der Lotse« nennt. Gegenwärtig soll eine höchst befremdliche Fracht transportiert werden, doch die Arbeit erweist sich als so kraftraubend und sinnentleert, dass der Erzähler beginnt, nicht nur an seiner Aufgabe, sondern auch an sich selbst zu zweifeln. Wer ist er wirklich? Warum ist sein Leben eine Lüge? Und wieso ist er in der Lage, von den USA aus mit der U-Bahn nach Paris, Amsterdam und Kiel zu fahren? Mit »Der Bahnhof von Plön« legt Christopher Ecker sein bislang kühnstes Buch vor – eine verstörende Tour de Force, die gleichermaßen Zeitanalyse, Entwicklungsroman, spannender Thriller, literarische Fantasy und ein philosophischer Exkurs der düstersten Sorte ist. Im Mittelpunkt des ebenso virtuosen wie doppelbödigen Spiels um Trug und Wirklichkeit steht ein schmerzhafter Selbstfindungsprozess: Wenn wir diejenigen sind, die durch unsere Erinnerungen geformt werden, wer sind wir dann, wenn diese Erinnerungen falsch sind?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum18. Feb. 2016
ISBN9783954626960
Der Bahnhof von Plön

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    Buchvorschau

    Der Bahnhof von Plön - Christopher Ecker

    Christopher

    Ecker

    Der Bahnhof

    von Plön

    Roman

    mitteldeutscher verlag

    Inhalt

    Cover

    Titel

    Der Bahnhof von Plön

    Pressestimmen

    Impressum

    E

    igentlich wollte ich mit dem Hotelzimmer voller Leichen beginnen. Aber das ist kein Roman. Das ist die Wahrheit. Und da ich mich nicht der Qual unterziehe, dies alles niederzuschreiben, um jemandem zu gefallen oder um das Niedergeschriebene als Buch gedruckt zu sehen, spricht nichts dagegen, den ursprünglich geplanten Anfang zu verwerfen, der mir im Übrigen auch ein wenig zu effekthascherisch zu sein scheint. Stattdessen werde ich mit einem Vergleich beginnen, der sich mir eben aufdrängte, als ich – bereits mehrere Minuten lang über dem weißen Papier brütend – die Stirn auf die Tischplatte sinken ließ und die Augen im verzweifelten Bemühen schloss, mein Leben aus der Vogelperspektive der Abgeklärtheit zu betrachten.

    Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, schenkten mir meine Pflegeeltern ein Meerschweinchen. Ich erinnere mich noch gut an die Kinderhand, die den Deckel des Käfigs aufklappt, der in der Zimmerecke auf dem grauen Teppich steht. Das Meerschweinchen, das zuvor geschäftig in seinem Häuschen aus Pappe geraschelt hat, scheint die Luft anzuhalten. Die Hand senkt sich in den Käfig, hebt blitzschnell das Häuschen hoch – das Tier duckt sich erschrocken im Licht. Brächte man nun seine Nase nahe an das gesträubte Fell, röche man feuchte, kreatürliche Angst. Und jetzt kommt der Vergleich: Als man mir den Umschlag mit den drei Hotelzimmerschlüsseln aushändigte und ich mir nie hätte träumen lassen, irgendwann einmal als Lehrer zu arbeiten, führte ich mein Leben wie dieses plötzlich seines Hauses beraubte Tier. Und ähnlich dem sich schreckensstarr in die Streu duckenden Meerschweinchen versuchte ich, mir niemals anmerken zu lassen, bar jeglichen Schutzes zu sein. Ich war – und bin es vielleicht noch immer – die ohnmächtige Spielfigur gewisser unbarmherziger Kräfte oder Parteien, über die später, sofern mir das gelingt, Genaueres zu berichten sein wird. Und viel mehr als heute war ich, um es pathetisch auszudrücken, ein aus Zeit und Sinn Gefallener, der unentwegt, ohne es sich selbst eingestehen zu wollen oder zu können, das barmherzige Niedersinken des Häuschens aus Pappe herbeisehnt, einem traumlosen Schlaf vergleichbar, der Frieden schenkt.

    Menschen mit einer derartigen, wahrscheinlich auf früheste Kränkungen zurückzuführenden Einstellung sind die geborenen Untergebenen. Mit solchen Soldaten gewinnt man jede Schlacht: Sie befolgen widerspruchslos selbst die abseitigsten Anweisungen und würden es nie wagen, Fragen zu stellen, die ihnen irgendwer, dessen Macht sie fürchten oder dessen bloße Anwesenheit sie in lähmende Starre versetzt, als Schwäche oder Kritik auslegen könnte. Und ganz allein aus diesem Grund unterbrach ich nicht die Verbindung, als ich an einem bleiernen Oktobernachmittag, den ich am liebsten rauchend und trinkend im Bett verbracht hätte, den Befehl erhielt, mich unverzüglich ins East Village zu begeben. Dort sollte ich ein japanisches Restaurant Ecke East 9th Street und Stuyvesant Street aufsuchen und auf weitere Weisungen warten. »Sie dürfen sich gerne etwas zu essen bestellen«, sagte die mit einem Computerprogramm zur Unkenntlichkeit verzerrte Stimme. Dann lachte sie, was klang, als würde am anderen Ende der Leitung ein Blatt Papier in kleine Stückchen zerrissen, und fügte mit unverhohlenem Spott hinzu: »Oder etwas Nichtalkoholisches zu trinken.«

    Organisationen wie diejenige, für die ich seinerzeit arbeitete, kennzeichnet seit jeher eine gewisse Melodramatik in der Art der Auftragsvergabe. Doch in diesem Fall gestaltete sich alles mit einer Umständlichkeit, ja Albernheit, die mir heute mehr als nur abstrus erscheint. Den wehenden, bei jedem Schritt aufklaffenden Mantel vor der Brust mit der Hand zusammenhaltend, in der anderen einen warmen Pappbecher mit Kaffee, überquerte ich die 3rd Avenue. Blickkontakt mit niemandem, hupende Taxis, Dampfsäulen aus den Kanaldeckeln. In der East 9th Street blieb ich vor einer Buchhandlung stehen, um den Mantel zuzuknöpfen. Das durchscheinende Spiegelbild im Schaufenster war unrasiert und ungekämmt, und in einem Anflug jäher Erkenntnis begriff ich, dass meine merkwürdig schiefe Körperhaltung an die eines Seemanns erinnerte: Viele Monate lang war sein Schiff in widrigen Gewässern unterwegs gewesen, und nun hat er endlich abgemustert und strebt im Sonntagsstaat dem Heuerbüro entgegen, der Schritt staksend und unsicher, die Beine die muskulösen Seiten eines Dreiecks, das einen leicht vornübergeneigten, bedächtig hin und her pendelnden Leib trägt.

    Nun denn! Das Phantom inmitten der bunten Neuerscheinungen streckte sich, strich die Haare aus der Stirn und trank einen Schluck nach Pappe schmeckenden Kaffees. Dabei fiel mir auf, dass mich von seinem Verkaufsstand an der Straßenecke, höchstens drei oder vier Meter vom Schaufenster der Buchhandlung entfernt, ein schwarzer Hotdogverkäufer in alarmierender Dreistigkeit beobachtete. Ich erwiderte den Blick und zog, wie ich es von meinem Pflegevater gelernt hatte, teils drohend, teils fragend die Brauen zusammen. Sofort senkte der Mann den Kopf und rieb die in fingerlosen Handschuhen steckenden Pranken energisch gegeneinander. Er trug eine lächerliche Wollmütze und die Gerüche, die von seinem Stand zu mir rüberwehten, drehten mir den Magen um: Sauerkraut, gekochte Wurst, verbrannte Zwiebelringe. Ich wusste nicht, wann ich zum letzten Mal etwas gegessen hatte. Vielleicht würde ich nachher tatsächlich eine Kleinigkeit beim Japaner zu mir nehmen. Und dazu ein kaltes Reisbier trinken. Gegen ein Bier dürfte wohl kaum jemand etwas einzuwenden haben.

    Der Schwarze hielt, was ich begrüßte, den Blick weiterhin gesenkt. Ich trank betont gleichmütig meinen Kaffee aus und warf den in der Faust zerdrückten Becher in einen Hauseingang. Es wäre mehr als nur fahrlässig, sich bereits auf dem Weg zu einem Job Schwierigkeiten einzuhandeln. Vor allem, da ich arg wöhnte, ohnehin schon in mehr als genug Schwierigkeiten zu stecken. Ich hatte damals natürlich nicht den Deut einer Ahnung von der wahren Natur der, ich kann das Wort nur wiederholen, Schwierigkeiten, in denen ich steckte wie in einem unsichtbaren, mich in Handeln und Denken einengenden Futteral, und letztendlich geht es mir da heutzutage nur unwesentlich besser, verfolgt doch diese Niederschrift zum einen das Ziel, Licht ins Dunkel eines undurchsichtigen Früher zu bringen, ein Unterfangen, das mir bisweilen vorkommt, als versuchte man, mit einer Taschenlampe ein kathedralengroßes Gewölbe zu beleuchten. Das andere Ziel hat damit zu tun, was ich jetzt tun soll oder tun muss, beziehungsweise damit, ob das, was ich in wenigen Tagen zu tun beabsichtige, richtig ist.

    Das East Village hat viel Himmel. Fast unwillkürlich hob ich das Gesicht dem Offenen entgegen. Der Hinweg hatte mich durch eher himmellose Viertel geführt. Im Gefühl absoluter Verlorenheit war ich meines Weges im eisigen Schatten gegangen, der nur am Grunde atemberaubend tiefer Straßenschluchten herrscht. Kreuzte eine Ost-West-Straße die Schlucht, wurde ich in beglückend warmem Sonnenlicht gebadet und konnte einige Schritte lang die Mütze abnehmen, bevor ich, nach dem Überqueren der kreuzenden Straße, wieder in den Schatten eintauchte, in winterliche Temperaturen. Im East Village, wo die Gebäude weniger gewaltig sind und man Wolken nicht nur zwischen, sondern sogar über den Häusern sieht, erreicht die Sonne fast überall den Boden, und meine Mütze blieb selbst an diesem Oktobertag in der Manteltasche. Es waren hauptsächlich junge Menschen auf der Straße. Tausende von jungen Menschen, die, wie ich neidlos anerkannte, alle zu wissen schienen, wohin sie unterwegs waren. Junge Menschen, die Pläne hatten oder vorgaben, welche zu haben. Junge Menschen mit Absichten, die, auch wenn sie eingebildet sein mochten, dennoch dazu geeignet waren, manch ein niederdrückendes Los ein kleines bisschen ertragbarer zu machen. Die Ovale ihrer Gesichter zogen an mir vorüber. Ein kleiner Hund verbarg die Schnauze in der Achselhöhle seines Frauchens. Eine zerlumpte Gestalt durchwühlte einen Haufen blauer Müllsäcke, das Strandgut der Stadt. Auf dem Asphalt das Schattengeäst der kahlen Bäume. Unten an den Hauswänden leuchtete grell das Rattengift.

    Kurz darauf ging ich an der verglasten, an einen Wintergarten erinnernden Front des Japaners vorbei und wollte gerade die Eingangstür ansteuern, da sah ich Cal im Inneren des Restaurants an einem Fensterplatz sitzen. Er war einer unserer Männer fürs Grobe. Ein bulliger Typ in den Fünfzigern mit sinnlichen, leicht aufgeworfenen Lippen, großporigen Hängebacken und nach hinten gekämmten grauen Locken. Er hatte einen Brustkorb wie ein Fass und einen Bauch wie eine Basstrommel. Cal, der, wie ich vermutete, Calvin hieß (seinen Nachnamen erfuhr ich nie), gefiel sich darin, mit so wenig Mimik und Gestik wie möglich auszukommen. Und so bewegte er nur ganz leicht den Kopf in einer verneinenden Gebärde, um mir zu bedeuten, das Restaurant nicht zu betreten. Seufzend lehnte ich mich gegenüber dem Eingang an einen rot lackierten Zeitungsautomaten und wartete.

    Nach einer Weile nickte Cal hinter der Scheibe kaum merklich und sogleich löste sich Jermyn aus der an mir vorbeiflutenden Menschenmenge und baute sich mit ausgestrecktem Arm vor mir auf, als müsste ich mich freuen, ihn zu sehen. Im Inneren des Restaurants entfaltete Cal umständlich eine Zeitung, scheinbar ging ihn das Geschehen auf dem Bürgersteig von nun an nichts mehr an. Ich ignorierte den ausgestreckten Arm und tippte mit dem Zeigefinger grüßend an die Schläfe. Jermyn war die rechte Hand des Lotsen. Leider kann ich mich nach all den Jahren kaum noch an Jermyns Aussehen erinnern. So weiß ich lediglich noch, dass er einen kantigen Kopf wie ein Liliputaner hatte, einen vorstehenden knorpeligen Adamsapfel und einen grauen Pferdeschwanz. Er trug wie wir alle Zwirn, doch im Gegensatz zu Cal, dem jeder Anzug zu klein zu sein schien, sah Jermyn stets wie aus dem Ei gepellt aus. Und noch etwas fällt mir ein: Er hatte Augen wie eine in die Ecke gedrängte Ratte. Ich war einmal Zeuge, wie er zwei Flaschen vom Tresen nahm, sie vor der Brust so gegeneinanderschlug, dass die Flaschenböden zerschellten und der Wein wie Blut durch das Valencia spritzte. Niemand beachtete mehr mich, der ich wüste Beschimpfungen ausstoßend auf einem Stuhl stand, oder beachtete mehr Cal, der gekrümmt am Boden lag. Alle Aufmerksamkeit gehörte nun ganz allein Jermyn, der die in tödliche Waffen verwandelten Flaschenleiber anmutig kreisen ließ, während er leichtfüßig wie ein Fechter auf den Parlamentär zutänzelte, der mit einer Beleidigung an meine Adresse und einem Fußtritt in Cals Weichteile seinen Status der Unverletzlichkeit verwirkt hatte.

    »Schön, dass Sie pünktlich sind«, sagte Jermyn.

    Ich wies mit dem Daumen auf das Restaurant. »Cal sitzt da drin.«

    »Der Boden ist heiß.« Jermyn stützte sich mit einer Selbstzufriedenheit, die mich unangenehm berührte, auf den Zeitungsautomaten. »Wir können nicht vorsichtig genug sein. Und glauben Sie bloß nicht, wir hätten vergessen, was letztes Mal passiert ist. Lassen Sie also gefälligst die Finger von den harten Sachen und gefährden Sie nicht erneut alles, weil Sie mal wieder meinen, irgendwelche Zusammenhänge zu durchschauen! Denken Sie nicht nach, mein Bester! Das führt zu nichts. Tun Sie einfach, was getan werden muss! Und das nächste Mal nehmen Sie die

    U-Bahn

    , wenn Sie einbestellt werden! Keiner hat nachvollziehen können, wieso Sie zu Fuß hergekommen sind. Aber was soll’s! Zumindest pünktlich sind Sie ja.« Sein Tonfall wurde geschäftsmäßig: »Vom Starbucks Ecke East 8th Street und 3rd Avenue, wo Sie sich eben einen Kaffee gekauft haben, sehen Sie einen Pizza-Laden. Grün-weiße Markise mit roter Blende. Nicht zu verfehlen.« Er sah auf die Uhr. »In exakt vierzig Minuten wird man Ihnen dort etwas aushändigen.«

    Um die Wartezeit zu überbrücken, setzte ich mich in besagtem Starbucks mit einem Stück Marmorkuchen und einem Kaffee mit Haselnussgeschmack an einen kleinen rechteckigen Tisch, von dem aus ich jenseits einer stark befahrenen Kreuzung den schräg gegenüberliegenden Laden im Blick hatte, in dessen Schaufenster eine grün-rote Neonpizza leuchtete, die wie eine Uhr aussah. Die Längsseiten eines rot umrandeten Viertels der Pizza stellten Stunden- und Minutenzeiger dar. Auf der Uhr war es zwanzig nach zwei. In Wirklichkeit war es später. Neben mir stand ein gutes Dutzend Leute vor der einzigen Toilette an. Öffnete sich die Tür, um jemanden raus- und den Nächsten aus der Schlange reinzulassen, roch es nach Klosteinen und Sagrotan. Der Haselnusskaffee schmeckte abartig. Zwei Tische weiter saß Cal und gab sich unbeteiligt. Ich mochte die Musik nicht, die gespielt wurde. Den Marmorkuchen dagegen fand ich ausgezeichnet, hätte jetzt aber viel lieber rauchend im Bett gelegen und mir einen angezwitschert. Cal, der auch ein Stück Kuchen aß, hatte sich eine Papierserviette in den Kragen gesteckt. Jermyn sah ich nirgends, aber das war ohne Belang.

    Der Pizza-Laden befand sich im Erdgeschoss eines imposanten Klotzes von vierstöckigem Eckhaus. Es war grau gestrichen, doch zwischen den Etagen lief jeweils ein roter Streifen um das Gebäude, weshalb es mich irgendwie an eine Cremetorte erinnerte. Im Erdgeschoss gab es Geschäfte, das Imbiss Lokal und ein Ale House; die Etagen darüber nahm, wie grüne Leuchtreklamen an der Fassade und Banderolen auf dem Dach verrieten, ein Hotel ein, dessen Eingang ich von meinem Platz neben der gut besuchten Toilette nicht sehen konnte. Meine Gedanken schweiften ab, verloren sich … weiße Hirsche … silberhell läutende Glöckchen an golddurchwirkten Satteldecken … prachtvolle Banner flatternd im Wind … Eine Bewegung ließ mich aus meinen Träumereien auffahren. Cal hatte den Kopf gehoben und sah mich eindringlich an: Es war demnach höchste Zeit aufzubrechen.

    Das Hotel hatte früher übrigens Valencia Hotel geheißen. Ein Name mit einem gewissen Beiklang. Wer sich dafür interessiert, wird bei seinen Recherchen auf William S. Burroughs, Thelonious Monk, John Coltrane und Charles Mingus stoßen. Aber diese Leute haben nichts mit meiner Geschichte zu tun, nichts mit meinem Leben. Auch der Serienmörder Joel Rifkin nicht, der berüchtigte Chainsaw Ripper. Eines seiner Opfer war die neunzehnjährige Barbara M. Jacobs. Sie, vermutlich ein leichtes Mädchen, hatte, und jetzt schließt sich der Kreis, im Valencia gearbeitet. Recherchieren Sie das gerne nach, wenn Sie mögen. Man hat Rifkin nur durch Zufall erwischt. Bei einer Verkehrskontrolle mit einer halb verwesten Nutte auf der Ladefläche seines Pickups. Über Serienmörder findet man inzwischen alles im Netz. Es spielt ebenfalls keine Rolle, dass sich in dem Pizza-Laden, dem ich mich nun gemessenen Schrittes näherte, einst das legendäre Sagamore befunden hatte, wo Jack Kerouac, von dem ich immer mal was lesen wollte, ein- und ausging und billigen Kaffee trank. Damals wusste ich das alles nicht und betrat daher den Laden in der frivolen Leichtherzigkeit des Unwissenden. Und Sie vergessen jetzt am besten den ganzen Quatsch, den ich eben vor Ihnen ausgebreitet habe! Nichts läge mir ferner, als irgendwen belehren zu wollen. Manchmal kommt halt der Lehrer bei mir durch.

    Die Theke des Schnellrestaurants flößte Respekt ein. Sie war gut fünf Meter lang und beinahe enzyklopädisch vollgestopft mit allem nur erdenklichen Fastfood. Ein Deckenventilator bewegte die überhitzte Luft und drückte einen Geruch von verbranntem Käse und frischem Hefeteig auf die Köpfe nieder. Hinter der Theke standen mehrere einschüchternde Gestalten mit weißen Schürzen. Die Ärmel ihrer ebenfalls weißen

    T-Shirts

    waren weit über die schwellenden Bizepse hinaufgerollt. Nur ein Lebensmüder würde hier auf die Idee kommen, eine Reklamation vorzubringen. Die Typen sahen erst mich, dann den Schmächtigsten unter ihnen an. Der trat widerstrebend vor und sagte mit leiser Stimme: »Ihre Bestellung ist fertig. Kommen Sie!«

    Wir gingen auf die Kasse zu. Er hinter dem Tresen, ich davor. Er war etwas älter als ich und sah mit seinem abgeklärten Gesichtsausdruck und der glatten Rasur wie ein Studienrat aus, der sich als Koch verkleidet hat.

    »Ich bin nur ein Mittelsmann«, sagte er. »Ich habe mit euch nichts zu tun.«

    »Ich bin auch nur eine Art Mittelsmann.«

    »Ich weiß, wer Sie sind, also verarschen Sie mich nicht! In diesem Umschlag sind drei Schlüssel. Zimmerschlüssel. Über uns befindet sich …«

    »Ein Hotel. Da ist ein Hotel. Ich weiß. Geben Sie schon her!«

    Ich steckte den Umschlag in die Manteltasche.

    »Bagels mit Frischkäse und Kresse.« Er reichte mir eine Papiertüte. »Die sind für den Portier.« Er räusperte sich voller Unbehagen. »In der Tüte sind«, er zögerte, »nicht nur Bagels mit Frischkäse.«

    »Ich verstehe. Danke. Haben Sie sonst noch was für mich?«

    »Nein.« Er atmete gepresst aus. »Kommen Sie bitte nie wieder her! Ich weiß, wer Sie sind, oder sollte ich besser sagen, ich weiß, was Sie sind.«

    »Und ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Die Geheimnistuerei machte mich fuchsig. »Ich fasse mal kurz zusammen, ob ich alles richtig mitbekommen habe. Ich soll also ins Hotel.« Ich deutete vage zur Decke. »Ich habe Bagels und noch etwas Mysteriöses«, ich schüttelte mit der Faust die Tüte zwischen unseren Gesichtern, »für den Pförtner. Und«, ich klopfte auf meine Hüfte, »ich besitze nun einen Umschlag mit drei Schlüsseln. Richtig?«

    »Gehen Sie bitte! Sie machen mir Angst!«

    »Ich würde Ihnen gerne noch eine Frage stellen. Und dann bin ich weg.«

    »Nein, bitte, gehen Sie jetzt!«

    »Die Frage ist doch naheliegend. Was sind das für Schlüssel und …«

    Der andere schnitt mir das Wort ab: »Gehen Sie! Ich weiß, was Sie gerade vorhaben. Sie versuchen, mir eine Falle zu stellen, und dann komme ich nach Hause und meine Frau ist tot und der alte Mann, der mir die Tür öffnet, ist mein Sohn. Es war abgemacht, dass ich jemandem den Umschlag und die Tüte gebe. Hätte ich gewusst, dass Sie derjenige sein würden, hätte ich natürlich abgelehnt. Das … das ist … kein Geld der Welt ist das wert!«

    Als Nächstes erinnere ich mich daran, vor dem Schnellrestaurant auf dem Bürgersteig zu stehen. Die Straße hieß, was mich einen Augenblick lang befremdete, Saint Marks Place und war von kahlen Bäumen gesäumt. In der Hand hielt ich eine an mehreren Stellen vom Fett durchscheinende Papiertüte, in der sich zwei Frischkäse-Bagels mit Kresse und, wie ich mittlerweile herausgefunden hatte, eine dicke schmierige Rolle mit einem Gummiband zusammengehaltener Geldscheine befanden. Cal saß noch immer im Starbucks auf der anderen Seite der Kreuzung. Er hatte keine Serviette mehr im Kragen. An dem Drehständer neben mir machte sich Jermyn zu schaffen, als interessierte er sich brennend für die zum Verkauf angebotenen Baseballkappen und Sonnenbrillen. Er redete eindringlich mit sich selbst oder, was wahrscheinlicher war, mit mir. Ich trat einige Schritte vor zum Bordsteinrand, ließ den Blick noch einmal zweifelnd zum grünen Straßenschild am Ampelmast hinauf-, dann halbwegs zufriedengestellt die Straße in östlicher Richtung hinabschweifen und entdeckte nur wenige Meter entfernt – unter einem gewölbten Vordach – den Eingang des Hotels.

    Die zweiflügelige Glastür stand offen, und ein schmaler Gang führte tief ins Gebäude hinein zu einer steilen Treppe nach oben. Ich selbst bin mein größter Feind. Auf der Treppe nahm ich, während ich zwei Stufen auf einmal hochstieg, das Geld aus der Tüte und steckte es – mit einem schnellen Blick zur Kamera an der Decke – in die Hosentasche. Wollte jemand Geld von mir, sollte er mich gefälligst darum bitten! Das Gespräch mit dem verkleideten Lehrer im Pizza-Laden hatte mich böse gemacht. Außerdem ärgerte ich mich, keinen Flachmann mitgenommen zu haben.

    Der Portier hockte im ersten Stock hinter einer dicken Glasscheibe wie ein Postbeamter. Er hatte einen schmalen Oberlippenbart und wenig Haare auf dem Kopf. Seine glänzende Stirn wölbte sich vor wie ein waagerecht liegendes Ei. Am Kragen seines hellroten Wollpullunders klemmte eine verspiegelte Sonnenbrille. Er schwitzte. Er war mir auf Anhieb unsympathisch und erinnerte mich, was vermutlich an der wichtigtuerischen Art lag, wie er hinter der Plexiglasscheibe hockte, an den unfreundlichen Beamten des Postamts, wo ich als Kind häufig mit meiner Pflegemutter gewesen war: An einer Wand mehrere Telefonzellen, an einer anderen Glasrahmen mit Briefmarken und darunter ein

    RAF-Fahndungsplakat

    mit Fotos, die genauso angeordnet waren wie die Briefmarken in den Rahmen darüber. Ich hob die Papiertüte und sagte: »Ich habe etwas für Sie.«

    Der Portier öffnete irgendwie beleidigt die Tür neben der Glasscheibe, nahm die Tüte entgegen, setzte sich wieder auf seinen Drehstuhl.

    »Wollen Sie nicht reinschauen?«, fragte ich.

    »Ich habe auf dem Bildschirm gesehen, dass Sie was rausgenommen haben.«

    »Und? Ist das ein Problem für Sie?«

    »Ich weiß nicht«, sagte er. »Hier geht es nicht um mich.«

    »Also ist es kein Problem für Sie.«

    »Ich weiß nicht.«

    »Sagen Sie’s mir bitte, sobald Sie’s wissen. Und was jetzt? Haben Sie mir was auszurichten oder sollte ich Ihnen nur das Abendessen bringen?«

    »Ich lasse Sie rein. Ich lasse Sie raus. Ich stelle keine Fragen.«

    »Schön, dass wenigstens einer von uns beiden weiß, was er zu tun hat.« Ich schüttelte die klimpernden Schlüssel aus dem Briefumschlag in die hohle Hand. Nummern waren in die fast quadratischen Schlüsselköpfe geprägt. Eine Nummer begann mit einer Eins, die andere mit einer Zwei, die dritte mit einer Drei. Ein Zimmer in jedem Stockwerk, folgerte ich und musste den Gedanken wohl laut ausgesprochen haben, denn der Portier schüttelte den Kopf und wiederholte: »Ich lasse Sie rein. Ich lasse Sie raus. Ich …«

    »Ja, ja. Sie stellen keine Fragen. Das habe ich begriffen. Aber das heißt ja nicht automatisch, dass Sie keine beantworten. Und deshalb habe ich Sie eben gefragt, ob alle drei Zimmer in unterschiedlichen Stockwerken liegen. Aber ich pfeife, ehrlich gesagt, auf Ihre Antwort. Auf all Ihre Antworten pfeife ich. Ich kenne Leute wie Sie. Postbeamte. Bankangestellte. Filialleiter in Supermärkten. Das macht alles die Scheibe mit euch! Glotzen Sie nicht so betroffen! Sie brauchen das nicht zu verstehen! In einem Loch wie diesem gibt es bestimmt keine Minibar! Zehn Kanäle mit Pornos, aber kein Branntwein im Kühlschrank! Friss deine Bagels mit Frischkäse und verreck dran! Ich werde mir jetzt erst einmal die drei Zimmer ansehen.«

    Er betrachtete mich, wie ein Junge einen Knaller beobachtet, dessen Lunte abgebrannt ist, und der nun, ohne zu explodieren, auf der Straße liegt. Dick und rot liegt er auf dem Asphalt, und die Lunte ist abgebrannt, und er geht nicht hoch, und er geht einfach nicht hoch. Mein Durst war kaum noch auszuhalten. Auf dem Bildschirm, der vorne in der Portiersloge schräg in einer Ecke hing, sah man flirrende Bilder in körnigem Schwarzweiß: die Eingangstür von innen, die steile Treppe, die ich eben hoch gekommen war, andere nicht minder steile Treppen und mehrere menschenleere Korridore wie in einem jenseitigen Laufhaus. Ehe ich mich brüsk abwandte, deutete ich mit dem Kinn auf den Bildschirm und sagte: »Viel Spaß beim Zukucken!«

    Abgesehen vom Umgang mit meiner Vergangenheit und mit, ich drücke mich jetzt ganz vorsichtig aus, vielem, was mein wahres Wesen und meine Bestimmung betrifft, bin ich weder ein leichtgläubiger Mensch noch auf den Kopf gefallen. Ich begriff daher sofort, dass das Hotel in früheren Zeiten ein Bordell ungeheuren Ausmaßes gewesen sein musste: Lange, beidseitig von hoch aufgerichteten Türen gesäumte Gänge führten kreuz und quer durch das Gebäude wie Wäscheleinen zwischen den dicht an dicht stehenden Häuserzeilen einer sizilianischen Kleinstadt. Ich konnte mir gut die Hundertschaften von Freiern vorstellen, die mit hochgeklapptem Kragen und schamhaft gesenktem Kinn an den einladend geöffneten Türen vorbeigeschlichen waren, um dann und wann einen gierigen Blick in eines der Zimmer zu wagen, wo sich eine sehr junge drogenabhängige Nutte in schwarzer Leibwäsche auf einem verwanzten Bett räkelte oder gerade schwankend aus dem Bad kam und mit einem glasigen Blick aus ihren dunklen Augenhöhlen zweifelnd zur Tür sah, einem rechteckigen Rahmen, in dem sich ein Mann nach dem anderen zeigte, unterschiedlichste Männer jeglichen Alters und jeglicher – wenn überhaupt – Profession in einem Zustand mühsam gezügelter, kaum von Todesangst unterscheidbarer Erregung, aber allesamt Männer, die sie ansahen wie aus dem Käfig entkommene Affen und die für sie, die sie schwankend im Zimmer stand und sich, ohne sich dessen bewusst zu sein, mit den Fingernägeln in beiden Armbeugen kratzte, alle der eine Mann oder Menschenaffe waren, der sie vor gar nicht allzu langer Zeit an den Haaren hinter den Schuppen im Garten gezerrt hatte, wo niemand ihre Schreie hörte, als das Fleisch riss.

    Ich war fest davon überzeugt, dass hier noch immer stundenweise vermietet wurde, begegnete aber bei meiner sich ausgesprochen schwierig gestaltenden Zimmersuche keiner Menschenseele. Alle Türen waren geschlossen, und die einzigen Geräusche in diesem labyrinthischen Zickzack aus türgesäumten Korridoren waren meine eigenen Schritte auf dem Linoleum und das leise Klimpern der Schlüssel in meiner Hand. Es roch stickig nach ungelüftetem Mietshaus. An den unmöglichsten Stellen führten Treppen mit altersschwachen Holzgeländern nach oben, und jedes Mal, wenn ein Korridor einen scharfen Knick machte, hing eine Kamera an der Decke.

    Das erste Zimmer, zu dem ich einen Schlüssel hatte, lag gegenüber einer ungewöhnlich schmalen Tür mit einem grünen Notausgangschild, hinter der sich, wie ich später herausfinden sollte, eine enge Wendeltreppe hinab in den Keller schraubte. Ich klopfte dreimal kurz hintereinander, wartete einen Augenblick ab und schloss, während ich erneut klopfte, die Tür auf: Das Zimmer war leer. Keine Möbel. Kein Bett. Kein Vorhang. Nicht einmal ein Teppich lag in dem kahlen, fast würfelförmigen Raum. Dort, wo sich ehemals der Heizkörper befunden hatte, ragte ein oben mit der Zange zusammengedrückter Rohrstummel aus dem Boden. Weitaus mehr wunderte ich mich jedoch darüber, vom Fenster auf den Cooper Square sehen zu können. An den Fußgängerampeln stauten sich junge Menschen auf dem Bürgersteig. Der Verkehr floss zäh und träge wie erkaltende Lava. In den Scheiben des wegen etwas, das ich vergessen hatte oder damals wusste und heute vergessen habe, berühmten Cooper-Union-Gebäudes spiegelte sich der grau bewölkte Himmel. Das Fenster ließ sich nicht öffnen. Das untere Drittel nahm der klobige, aus dem Haus ragende Kasten einer defekten Klimaanlage ein. Ein Missverständnis, dachte ich. Nichts weiter. Hätte man mir eine Falle stellen wollen, hätte man es viel geschickter und effektiver angestellt.

    Dennoch bereute ich nicht zum ersten Mal an diesem Tag, keine Waffe mitgenommen zu haben, und trat mit der Schuhsohle gegen die Tür des Badezimmers. Diese schwang nach innen und knallte an die gekachelte Wand. Auch das Bad war leer. Ich vergewisserte mich, dass niemand hinter dem Duschvorhang lauerte und setzte mich, nachdem ich die Zimmertür von innen abgesperrt hatte, auf den schwarzen Plastikklodeckel und rauchte eine Zigarette. Ich rauchte nachdrücklich und konzentriert, als chiffrierte ich einen komplizierten Code, und aschte in das Waschbecken vor meinem Gesicht. Rissiges Porzellan. Klebriges Porzellan. Aus dem Siphon drang der Modergeruch uralter Rohrsysteme, an deren verkrusteten Wänden sich Ratten ihre nassen Leiber blutig scheuern, an deren trichterförmigen Verengungen sich Fäkalien stauen, und durch durchgerostete Bogenstücke sickern widerwärtige Flüssigkeiten in den Stein, um ihn Tropfen für Tropfen auszuhöhlen und das ganze Gebäude allmählich aufzuweichen wie ein Stück Weißbrot, das man für ein Kind in heiße, gezuckerte Milch tunkt.

    In dem deckellosen Plastikmülleimer neben der Toilette fand ich ein Paar roter Gummihandschuhe, die mir passten, eine leere Zigarettenschachtel der Marke, die ich rauchte, und eine aus einem alten Buch gerissene Seite mit einem langen Gedicht über jemanden, der seine Zunge hüten solle und nie sprechen oder singen dürfe, egal, was er hier, was auch immer mit diesem Hier gemeint war, sehe, weil er sonst nicht dorthin zurückkehren könne, wo er herkomme und eigentlich hingehöre, was sehr schwer für ihn sein werde, da er als Dichter ja immer singen müsse. Wenig später nahm ich die erstbeste Treppe nach oben. Ein mittelalter Mann mit einer Reisetasche und einem über den Arm gelegten Mantel kam mir entgegen und ging an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen, derweil ich mich mit seitlich ausgestreckten Armen an die Wand des Treppenhauses drückte. Seine Reisetasche scheuerte kurz an meinen Knien wie ein unterwürfiger Hund. Irgendwo lief lautstark ein Fernseher. Ich sah dem Mann nach und wartete, bis seine Schritte nicht mehr zu hören waren, ehe ich weiter die Treppe hinaufstieg.

    Das zweite Zimmer, zu dem ich einen Schlüssel hatte, lag erfreulicherweise direkt gegenüber der Treppe, die, was ungewöhnlich für die Bauweise des Hotels war, nicht im zweiten Stock endete, sondern weiter nach oben in den dritten führte. Ich klopfte mit der Faust einmal an die Tür und sperrte sie gleichzeitig auf. Auch dieses Zimmer war bis auf zwei große Seitenteile eines Pappkartons, die an der Wand lehnten, leer. Wieder gab es keinen Heizkörper. Wieder ließ sich das Fenster, das diesmal allerdings in einen Hinterhof blickte, nicht öffnen. Und wieder war die Klimaanlage defekt. Im Badezimmermülleimer lag ein weißes Stückchen Porzellan oder Zahn. Ich sperrte die Zimmertür von innen ab, setzte mich auf den Klodeckel, drehte das kleine, scharfkantige Stückchen geistesabwesend zwischen Daumen und Zeigefinger und rauchte erneut eine Zigarette, wobei mich die Vorstellung zunehmend zu amüsieren begann, in wenigen Minuten auch im Bad des dritten Zimmers eine Zigarette zu rauchen, wenn es sich ebenfalls, wovon ich zu diesem Zeitpunkt ausging, als leer erweisen würde. Und dann bliebe es mir nicht erspart, dem Lotsen eine Nachricht zukommen zu lassen, dass hier irgendjemand etwas ganz gehörig missverstanden hatte. Und dann? Dann würde ich mir etwas Hochprozentiges kaufen und mich zu Hause mit dem Aschenbecher auf der Brust ins Bett legen und mir einen genehmigen.

    Voller Vorfreude auf das bevorstehende Besäufnis erreichte ich das Obergeschoss, den letzten der drei Schlüssel einführbereit in der Hand, den Arm ausgestreckt wie ein angreifender Fechter. Das dritte Zimmer lag über dem zweiten und war daher von allen dreien am leichtesten zu finden. Ich klopfte nicht an, sondern schloss unmittelbar die Tür auf. Doch dieses Zimmer war nicht leer. Ich stand im Türrahmen und hatte Mühe, das, was ich sah, zu verstehen oder überhaupt zu verarbeiten. Ich sah zwar, was sich in dem Raum befand, aber sah es zugleich auch nicht, als hätte die schiere Ungeheuerlichkeit dessen, was sich meinen Augen darbot, mit einem gewaltigen Schlag mein Erkenntnisvermögen außer Kraft gesetzt. In schlechten Romanen kneifen sich Leute in derartigen Situationen in die Wange oder, wenn der Autor sein Handwerk etwas besser versteht, in den Handrücken, um sich zu vergewissern, dass sie nicht träumen. Ich brauchte mich nicht zu kneifen. Ich wusste, dass ich wach war. Stattdessen presste ich mein wie ein kleines, weiches Buch aufgeklapptes Stofftaschentuch vor Mund und Nase und setzte behutsam einen Fuß auf die einzig freie Stelle des Raums, den etwa eineinhalb Meter langen, schmalen Gang nämlich, der von der Tür ins Zimmer führte. Rechts hing auf Augenhöhe ein Garderobenhaken aus Messing mit zwei Zinken an der Wand. Links lag das offen stehende Bad. Niemand lauerte darin. Keine Falle. Ich schloss die Zimmertür leise hinter mir, lehnte mich dagegen, horchte in mich hinein.

    Zwischen meinen Schuhen lag Reis auf dem Boden. Das Taschentuch wurde vom Atmen warm und feucht. Das schwindende Tageslicht, das den Raum gelblich erhellte, fiel durch ein lukenähnliches Fenster am Ende eines tiefen Schachtes an der Zimmerdecke. Ich vermutete, und das war mein erster halbwegs klarer Gedanke, dass es sich hierbei um keinen Schacht in einem immens dicken Flachdach handelte, sondern um einen auf das normal flache Dach gestülpten Aufsatz. Der Reis bewegte sich. Ich federte, wobei mein Mantelsaum wispernd über den Boden wischte, in die Hocke. Kein Reis. Lebendige Maden. Und tote Fliegen. Und gekräuselte Haare, wie sie am Rand von Urinalen kleben. Und winzige, tonnenförmige Fliegenpuppen. Mein Mantel bauschte sich am Boden und warf obszöne Falten. Ich richtete mich auf, klopfte und schüttelte Maden und Schamhaare vom Stoff, klappte das warme Taschentuch, das nicht einmal annähernd Schutz vor dem beißend scharfen, fast erstickenden und zugleich organisch fauligen Geruch bot, zusammen und steckte es in die Hosentasche.

    Als weitaus schlimmer als den infernalischen Gestank empfand ich jedoch das leise, den Raum wie Flüssigkeit erfüllende Geräusch: ein raschelndes Rauschen und Zischeln, das mich an rieselndes Wasser erinnerte oder an das Korn, das der, ich zitiere aus einem meiner Lieblingsgedichte, Worfler mit rhythmischer Gebärde auf seiner Schwinge wirft und wendet. Dieses Geräusch, das ich mein Lebtag nie vergessen werde und auch jetzt beim Schreiben dieses Berichts deutlicher erinnere als den Gestank, stammte, wie ich Jahre später beim Vortrag eines forensischen Biologen erfuhr, von den Maden, stammte von den Tausenden auf und inmitten des Leichenbergs umherkriechender Maden, stammte von den Abertausenden hungriger Maden, deren weißliche, wulstig segmentierte Leiber dieses betäubende, fast einlullende Rauschen erzeugten, wenn sie sich auf ihren Fresspfaden begegneten und in blinder Gier und ohne voneinander zu wissen ihre Körper scheuernd aneinander rieben.

    Um es kurz zu machen: Der ganze Raum war voller Leichen. Es waren so viele, dass ich mich außerstande sah, ihre Anzahl zu schätzen. Hunderte, dachte ich, wenn nicht sogar mehr. Vor mir erhob sich ein riesiger Berg aus faulendem Fleisch. Männer, Frauen, Kinder. In allen Stadien der Verwesung. Hier eine zur Klaue verformte, behaarte Hand, dort das geblähte Gesicht eines Engels im blonden Lockenbett. Hier die eingefallenen Wangen eines Greises, dort die Apfelbacken eines Knaben, eingeklemmt zwischen einer bräunlich verfärbten Männerwade und einem mageren Rücken, dessen pergamentartige Haut ein Grat spitz hervorstehender Wirbel fast bis zum Reißen spannte. Fußsohlen reckten sich mir violett schillernd entgegen. Finger krümmten sich mit arthritischen Knöcheln. Männerbeine ragten auf wie Masten. Bleich und prall quollen Frauenschenkel.

    Schwarz lag auf weiß, Mensch auf Mensch, und aus den Ritzen in dem Fleischberg ergossen sich Haarschöpfe aller Farben und Länge wie erstarrte Wasserfälle. Schamlos klaffende Gesäße reckten sich mir entgegen, und hier und dort klemmten zwischen den ohne ersichtlichen Plan übereinandergeschichteten Leibern die runzlig-faltigen oder grotesk geschwollenen Geschlechtsteile von Ungeheuern. Und wohin ich auch sah: Gesichter. Der Mensch kann nicht anders, als überall Gesichter zu erkennen. In Wolken, in Tapetenmustern, in der Maserung eines Holztischs, in der Laubkrone eines Baums, der sich im Wind wiegt. Doch die Gesichter, die ich hier sah, waren keine eingebildeten Gesichter. Ich sah alte Gesichter, junge Gesichter. Mal mit geschlossenen, nach innen schlaff durchhängenden Lidern, die keine Augäpfel zu bergen schienen, mal mit dem stieren Glasmurmelblick eines Schweinskopfs in der Auslage der Dorfmetzgerei. Und Münder sah ich, in denen fett und feist die Zunge hinter gelben Zahnreihen klemmte. Andere Münder dagegen waren wie vernarbte Wunden in der Ledermaske einer Vogelscheuche oder sie waren schwarze schmerzverzerrte Höhleneingänge.

    Ich schmeckte Verwesung auf der Zunge und beim Schlucken hinten am Gaumen. Mein Kragen wurde zu eng. Gerne hätte ich ein vulgäres Lied gesungen oder wäre lautstark brüllend auf der Stelle gesprungen wie ein zorniges Kind. Alles nur, um diesem Raum zumindest geistig für eine Weile zu entkommen. Beide Handflächen an die Seitenwände des ins Zimmer führenden Gangs gepresst, stand ich leicht vornübergeneigt inmitten der kriechenden Maden, kämpfte gegen den Brechreiz an und versuchte nachzudenken. Es war, als hätte ein Riese die Leichen genommen, einen formbaren Brei, und mit Wucht in die linke Zimmerecke geschmiert. Dort türmten sich die Körper bis zur Decke; zur anderen Raumseite hin sank die Oberfläche des Haufens steil ab und stieß etwa in Hüfthöhe an die rechte Zimmerwand. Die meisten Leichen waren nackt oder wenig bekleidet, und plötzlich, als zerrisse jählings der Vorhang der Welt und man erblickte dahinter mit Ehrfurcht gebietendem Grausen die unmaskierte Wirklichkeit, wusste ich, was man von mir erwartete – und was ich tun würde: Man erwartete von mir, die Leichen von hier aus in das Zimmer im ersten Stock zu transportieren, wobei mir der Raum im zweiten Stock als eine Art Zwischenlager dienen sollte. Und was ich tun würde, war auch klar: Ich würde jetzt schnellstmöglich was Hochprozentiges kaufen und mich zu Hause mit dem Aschenbecher auf der Brust ins Bett legen und mir einen hinter die Binde kippen. Und zwar so gründlich, dass ich die

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