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Die dunklen Jahre
Die dunklen Jahre
Die dunklen Jahre
eBook454 Seiten6 Stunden

Die dunklen Jahre

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Über dieses E-Book

Die Ehe von Klara und Ernst ist zu Ende, längst haben sich die Lektorin und der Arzt entfremdet. Doch 1938 ändert sich alles. Die NS-Truppen marschieren in Österreich ein, und Klara will ihren jüdischen Noch-Ehemann nicht im Stich lassen. Für sie, Ernst und die beiden Kinder beginnt ein bitterer Kampf ums Überleben, der sie in die Schweiz und ins von den Nazis besetzte Belgrad führt. Klara beschreibt die Härten dieses Alltags genauso wie die seltenen Momente kleiner Freuden und bewahrt sich dabei einen unbestechlichen Blick auf die politischen und menschlichen Verwerfungen rundum.
Friederike Manners schonungsloser Exilroman ist ein beispielloses Stück Erinnerungsliteratur über eine starke, kämpferische Frau in einer unmenschlichen Zeit.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Atelier
Erscheinungsdatum28. Feb. 2019
ISBN9783990650028
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    Buchvorschau

    Die dunklen Jahre - Friederike Manner

    Autor

    ERSTER TEIL

    Vorher

    Rufst Du mich? Bist Du es, der mich ruft, immer gegenwärtig, niemals zu fassen, immer voll Allmacht, doch nie ein Vater?

    Es ist beinah zu spät; mir ist, als sei es schon immer zu spät gewesen. Ich lief von Dir fort, als ich sah, daß Du die Guten schmachten und die Bösen Dich preisen läßt. Dann wurde ich selber sehr böse. Ich bin so weit von Dir gewesen, voll von Hochmut. Jetzt zwingst Du mich zur Umkehr. Du preßt mir ab, was mein war, Du nimmst, was ich liebte, Du versagst mir, wonach meine Sehnsucht ging. Die große Tat ist Dir gelungen, Du bist Sieger, Du hast den Anspruch auf das kleine Menschenglück, das mir zugeborne, so lange aus mir herausgeprügelt, bis ich seiner spottete. Du konntest mich zur Schuld bringen; aber niemals, niemals konntest Du mich geringer machen, als ich Deinem Willen gemäß war, auch Du vermochtest nicht, mich so tief zu beugen, daß ich den Schmutz liebte, den Sumpf, der mich einsaugt. Die Brocken, die für jeden, der sie aufheben mag, herumliegen, sättigen mich nicht. Je mehr Du mich schlugst, desto tiefer sehnte ich mich nach Vollkommenheit. Schuld ist etwas, das irgendwo steckenbleibt, das irgendwann einmal zu Ende geht, das ungültig und überhöht wird von dem Zwange, Dich zu suchen.

    Ich rechte mit Dir, wie ich immer gerechtet habe, ein Hiob, der sich nicht mit neuem Geld und neuen Kindern zufrieden geben wird. In meiner Hochmut – liebst Du denn die Demütigen? wem gabst Du die Kraft, Dich zu ertragen? – will ich mehr haben als die Gaben dieser Erde.

    Wenn sie von Dir sprachen, hab’ ich Dich lächelnd verleugnet; wenn sie Dich verleugneten, ließ ich sie lächelnd reden. Du warst ja immer in mir, unverratbar, und nie waren wir beide so einig, als wenn sie ihre Kindereien für oder gegen Dich vorbrachten.

    Die Wolken und die Bäume: das war der Anfang. Später kamen dann die Gesichter, in denen ich nach Deinem Zeichen suchte, die Träume auch, die immer schon da waren, und die Sterne und das Strahlen in Deinen tausend Bildern. Heute aber, ausgehöhlt von Leid, werf ich das alles vor Deine Füße und schreie: Gib’s den andern! den andern! Mir gib das eine, das Große, das ich nicht begreifen kann. Hör mich; hör mich. Jedes neue Leid, das Du mir zufügst, ist Bestätigung Deiner selbst – die einzige, die ich je erfuhr.

    Die einzige … Ich habe Dich zwar in Verdacht, daß Du Katz und Maus mit uns spielst; ein nettes Spiel. Du hast andere Gesetze als die, die Du uns auferlegtest und die wir selbstverständlich gebrochen haben. Wundert es Dich, daß wir es taten? Immer hart am Nicht-mehr-Ertragbaren vorbei, am Rande des Abgrundes; Schuld, die wir tun, und Schuld, die wir erleiden; Hammer und Amboß, ein Leben lang. Wundert es Dich, wenn einer aus solchem Gesetz ausspringt?

    Wovon sprach ich? … daß ich nicht immer nur im Elend Dich erfuhr. Deine Türen stehen offen für den, der vorbeigeht; dem Sehnsuchtsblick verschließest Du sie. Und doch gabst Du mir, auch mir, manchmal das Gefühl der Seligkeit, von Dir getragen zur werden, geborgen zu sein.

    Irgendwo steht das Ende, vielleicht ein neuer Anfang; vielleicht kreisen wir noch viele Male um das kleine Menschenglück.

    Wo bist Du? Im großen Rauschen warst Du nicht, auch nicht im Säuseln des Windes. Einmal, einmal öffne Deine Hände, sieh mich mit Deinen Augen an!

    Zwei Dinge suchte ich von Kindheit an: das Wunder schlechthin, das Wunder, einmal aufzuwachen und zu wissen: alles ist gut; und Erkenntnis. Heute weiß ich, daß diese beiden Gebete einander ausschließen. War es sündhaft, daß ich das Wunder erflehte? Ich war lange nicht zu enttäuschen, ich suchte es in Menschengesichtern, in allem, was schön, wahr und gut ist. Daß diese drei eines seien, haben wir gelernt – welch eine Irrlehre! Ein Leben genügt nicht, um sie zu löschen. Ich ging dem Wunder entgegen bis an die Grenzen meiner Kraft. Jetzt aber bin ich müde.

    Wenn Du mich nicht liebst (ich liebte Dich immer, und am innigsten, wenn ich Dich anklagte), dann zertritt mich, und es mag alles umsonst gelebt und gelitten sein. Liebst Du mich dennoch und kannst Du mir verzeihen, dann tu an mir, was ich nicht begreife und nicht erbitten kann. Alles, was sie von Dir sagen, ist gering vor dem, was ich von Dir ahne, ist nicht einmal ein Symbol. Gib den andern, was sie erflehen, und ich werde den Kopf nicht hinwenden und auf sie blicken, sondern nur auf Dich, auf Dich. Was ich bin und habe, sei ihnen gegeben, den andern, den Meinen; obgleich erlahmt, lieb’ ich sie mit einer Liebeskraft, die nur Du kennst. Ihnen gehöre Traum und Träne; Dir aber die Wirklichkeit, die ich nicht träumen kann, es sei denn, Du schenkest sie mir.

    Mein Kleiner, mein Kleiner … Seit Friedels Krankheit ist die Welt verändert. Meine Zuversicht ist gebrochen, und ich will sterben. Nie wieder wird ein Tag kommen, an dem ich ohne Angst erwache; ich werde nie vergessen können, daß die Erde wankt.

    Ich erinnere mich an den Tag des Reichstagsbrandes. Friedel lag im Spital, in seine Fieberträume eingesponnen, abgemagert bis auf die Knochen. Ich saß neben ihm und tat das einzige, was ich tun konnte, um für den nächsten Augenblick Boden unter den Füßen zu gewinnen: ich las, ich wollte vergessen, die Gedanken betäuben, die sich um Friedel drehten und um jenen andern, um das lügnerische Antlitz, das mein Leben so sehr aufgewühlt hatte. Jetzt war er fort, jener andere – um seine Seelenruhe wiederzufinden, wie er sagte; um die meine war ihm weniger bang. Ich sehnte ihn mit allen Fasern zurück. Ich war nicht klug genug, um zu begreifen, daß, was einmal zerstört ist, zerstört bleibt – daß verlorenes Vertrauen die Liebe vergiftet. Ich war zu zerquält, um Vertrauen oder Güte oder Gemeinsamkeit zu suchen. Hatte nicht auch ich selber dies alles ausgelöscht, um einem trügerischen Gesicht nachzurennen? – Gottfried oder Thomas, stand die Schicksalsfrage in mir, und ich antwortete hartnäckig: Friedel. Friedel. Mag alles andere zugrunde gehen, das Kind muß leben … Aber etwas in mir rief den andern Namen.

    Ich warf mich dem Tod entgegen, der Krankheit, der tückischen und idiotischen Naturgewalt. Nur ein wenig, um ein Zehntel Grad nur soll das Fieber sinken! Ich konzentrierte all meinen Willen in meiner Hand, die das zukkende Händchen hielt. Mein Leben, mein Blut, meine Gesundheit nimm …

    Es ist spät. Die Schwester schickt mich fort. Ich löse die Finger ganz langsam aus Friedels Hand … Wenn er nur nicht aufwacht … Als ich die Tür schließe, schreit er auf: »Mama! Mama! Geh nicht fort! … Laß mich nicht allein! …«

    »Gehen Sie, er beruhigt sich gleich«, drängt die Schwester. Ich stehe im Gang, ich höre ihn schreien … Wenn sich die Erde jetzt auftäte und mich verschlänge, ich dankt’ es ihr.

    Daheim finde ich einen Brief von Thomas, einen jämmerlich verlogenen Brief; er enthält nicht die geringste Antwort auf meine qualvollen Fragen – reine Literatur.

    »Hast du die Zeitung gelesen?« fragt Ernst. Ja, ich las sie auf der Straßenbahn. Der Reichstag brennt, las ich. Es zuckt in mir auf, daß dieser Brand auch mein Leben bedrohe … Mag es so sein!

    Bücher, Schlafmittel, ab und zu eine Droge … Irgendwie lebt man doch weiter. Nach vielen Wochen kommt auch Friedel wieder heim, aber ein ganzes Jahr noch lastet die Drohung über mir, er könnte sein Leben lang ein Krüppel bleiben. Gottlob, daß er zu klein ist, um zu verstehen, was das heißt.

    Ich träume von Krieg und Bomben, immer wieder den gleichen Traum: es ist Nacht, Bomben fallen, die Straßen sind voll Feuer. Ich laufe, stürze, renne weiter, an glühenden Mauern vorbei, und schreie nach den Kindern. Ernst klopft an die Wand: »Schrei nicht so, es ist nur ein Traum – du wirst die Kinder wecken!«

    Krieg … Ich erinnere mich noch daran, ich weiß noch vieles, aber ich kann nicht mehr spüren, wie es war. Vielleicht war ich damals noch zu klein, meine Erinnerung reicht nicht so weit zurück. »In späteren Jahren fällt einem vieles wieder ein, was man vergessen zu haben glaubte«, sagt Ernst. Diese »späteren Jahre« – muß ich sie noch erleben?

    Dieser Schein bürgerlichen Lebens ist Lüge. Was ich tat, ist nicht mehr gutzumachen. Ich fühle mich schuldig, aber ich finde keine Reue. Ich sehe kein Ziel, nicht einmal einen Weg. Mir ist, als ginge ich einem Abgrund entgegen.

    Für alles, was geschieht, gibt es wohl vielfache Ursachen – Ursachen der Außenwelt, erkennbare, die auf Taten und Haltung der Menschen beruhen, auf Geld und Politik, und andere, tief verborgen in uns. Die Erde wankt: wir leben alle nur noch provisorisch, fährt es mir manchmal durch den Kopf; obwohl ich die Dämonen fürchte, sehne ich sie doch auch herbei. Das ist das Leben eines Desperados: Möge die Welt zerfallen! Ich bin ausgehöhlt von Schmerz, den ich selber verschuldete. Was soll mir der falsche Frieden dieses umhegten Lebens?

    1934 … Anna weckt mich; ich hatte mich nach dem Mittagessen schlafen gelegt, um zu vergessen – der Tag ist so lang. »Das Licht ist aus«, sagt sie, »irgend etwas ist los.« Ich raffe mich aus meiner Lethargie auf. Schließlich gibt es doch noch eine andere Welt außer der meinen.

    Streik, Aufstand, Revolution – vielleicht wird es ernst.

    Im Jahr zuvor war eine Demonstration, ein Elendszug verzweifelter Gestalten gewesen. Ruth hatte mich mitgenommen. »Diesmal gehen Sozialdemokraten und Kommunisten mitsammen«, hatte sie gesagt – ich konnte den Bruderkampf niemals ganz begreifen. Es war Winter. Nichts mehr von dem festlichen Auftrieb früherer Jahre, nur noch Hunger, Arbeitslosigkeit, Erschöpfung. »Laß mich heimgehen«, bat ich. »Es tröstet mich nicht, zu sehen, daß auch andere unglücklich sind. Ich kann ihnen nicht helfen, und die paar Brocken, die ich schenken kann, sind nichts in diesem Meer von Elend …« Ruth flammte auf: »Wenn alle das sagen …« – »Hör, du, ich glaube, es liegt an der Schöpfung selbst.«

    Das war im Vorjahr gewesen, kurz vor der Auflösung des Parlaments. Jetzt, da die Schlacht bevorsteht, bin ich selber kampfbereit.

    Die Straßenbahnen stehen still. Ich wandere zum Vorwärts-Gebäude, als ob von dort etwas zu erhoffen wäre – mir wird kaum bewußt, wohin ich gehe. Ein anderes Haus ist in gefährlicher Nähe, das Haus, in dem Thomas einst wohnte. Ein dichter Polizeikordon sperrt die Straße ab. Ich gehe weiter in die Stadt; dort spannen sie Stacheldraht. Gegen welchen Feind? frage ich spöttisch; aber die mürrischen Soldaten antworten nicht. So gebe ich es auf: ein nutzloser Weg mehr in meinem nutzlosen Leben. Ernst kommt mir entgegen, er verzichtet heute auf sein Café. »Die Kinder rufen nach dir«, sagt er. Anna steht in der Wohnungstür. »Es wird geschossen, und Sie waren so lange fort« – sie ist ein einziger Vorwurf. In ruhigen Zeiten gibt es mitunter Meinungsverschiedenheiten zwischen uns, wenn es aber böse wird, dann halten wir zusammen.

    Die Detonationen werden häufiger. Um acht Uhr abends setzt Artilleriefeuer ein. In immer gleichen Abständen fallen die Schüsse, ganz nahe von uns. Die Kinder schlafen lange nicht ein. Zum erstenmal in ihrem Leben hören sie Geschütze.

    Aus Angst vor Splittern haben wir die Rouleaux geschlossen, wir sitzen bei Kerzenlicht. Anna kann es nicht fassen: »Man kann doch nicht mitten in der Stadt drauflosschießen!« Ich habe Ernst nie so ruhelos gesehen; er wandert durch die Zimmer, hängt am Telephon. Die Kinder schreien immer wieder aus dem Schlaf auf. Ich versuche, mich auf mein Buch zu konzentrieren, aber ich muß jeden Satz dreimal lesen, ehe ich ihn verstehe.

    Ernst ist ungeduldig. »Ich gehe fort, ich halte es hier nicht aus! Und du sitzt und liest –!« – »Ja – was soll ich denn tun?« – Aber ich weiß sehr genau, was ich tun sollte: hinausgehen und mitkämpfen. Oder ist auch das nur Desperadotum?

    Ich mag nicht reden. Alles, was zu sagen ist, wurde schon längst gesagt. Wir sind vollkommen einig, aber was nützt das? In früheren Zeiten war Krieg viel einfacher, da konnte man ein Messer nehmen, mit der Faust kämpfen, mit Zähnen und Nägeln. Ich kann nicht einmal schießen – ja um die Wahrheit zu sagen, ich habe Angst davor, ein Gewehr in die Hand zu nehmen. Vielleicht müßte man auch das lernen.

    Ich kann das alles nicht fassen. Als ich ein Kind war, war Krieg – später, als ich denken lernte, war Österreich ein Land, in dem es Freiheit gab, und sie war selbstverständlich wie die Luft, die ich atmete. In den letzten Jahren war das anders geworden, ich hatte lernen müssen, politische Zusammenhänge zu verstehen. Heute spürte ich ganz tief, was Freiheit bedeutet – etwas, das voller Fehler und Gefahren ist, aber das einzig Mögliche, die Grundlage des Lebens.

    Diese Tage, diese schweren, düsteren Tage – warum sitze ich daheim? »Es schießt«, sagt Stella, »geh nicht fort, Mami!« Aber ich kann es daheim nicht aushalten, mit einemmal habe ich keine Angst mehr vor den Kugeln, die durch die Straßen pfeifen. Einmal gerate ich ins Gedränge, die Polizei »macht von der Waffe Gebrauch«, die Leute stieben auseinander, zuletzt stehe ich allein auf dem Platz. Ein Polizist fährt auf mich los – soll ich ihm sagen, daß er ein Bluthund ist? Es ist vielleicht nicht einmal wahr. – Das Ganze ist ein blutiger Hohn. In ein paar Häusern, ein paar Stadtvierteln kämpfen sie einen verzweifelten Kampf, und wir sehen zu und reden darüber.

    Und dann ist es zu Ende. Ein paar Namen flammen auf: Weisel, Wallisch, Münichreiter, den sie sterbend hängen. Er war schwer verletzt und wäre von selbst gestorben, wenn man ihm ein wenig Zeit gelassen hätte.

    Ein paar hundert Menschen, vielleicht mehr, wandern ins Konzentrationslager nach Wöllersdorf. Viele sind Krüppel geworden, Familien haben den Ernährer verloren. Viele werden aus ihren Stellungen entlassen, manche fliehen – einige kommen wieder zurück, sie können in der Fremde nicht leben und lassen sich lieber einsperren.

    Es ist, als hätte ein großer Brand begonnen, an allen Ecken und Enden züngelt es empor. Das Unrecht tritt den großen Zug durch die Welt an, und die Menschen ducken sich und schweigen. Wenn sie sich ganz klein machen, vielleicht wird man sie dann nicht entdecken. Als ob es nicht im Grunde gleichgültig wäre, ob einer zu Unrecht stirbt oder Hunderttausende; es ist nur ein gradueller, kein prinzipieller Unterschied.

    »Denk’ ich an Deutschland in der Nacht –«

    Ein einziges Mal, als ganz junges Mädchen, habe ich ein Stück von Deutschland gesehen, flüchtig nur, vom Zug aus. Das Rheinland habe ich noch gut in Erinnerung: die kegelförmigen Berge, spitze Kirchtürme, der Strom mit den vielen Schiffen, Wind aus dem Westen. Damals liebte ich nur das Land und wußte nicht, daß auch die von Menschen geschaffenen Städte ihre Schönheit haben.

    Später träumte ich viele Male den gleichen Traum: ich gehe über breite, besonnte Straßen, die vor Sauberkeit blenden. Viele Menschen sind unterwegs, Autos, Wagen, es ist ein Werktag voll Arbeit; doch ist Stille in der Luft, Heiterkeit, beinahe Glück. Ich gehe an den Menschen vorbei. Da lockt eine Seitengasse: Stufen, die zu einer Kirche emporführen, Gemäuer links und rechts, ein Goldregenbaum wirft leuchtende Zweige in die Luft … Dies ist das Traum-Deutschland, nirgendwo in der Welt zu finden. Und doch muß es da sein, mir ist, als hätte ich einmal in einem dieser kleinen Häuser neben der Kirche gewohnt. Werde ich es niemals finden – in diesem Leben nicht und in keinem späteren? … Träume werden nicht wahr, aber vielleicht tragen sie ihre Wahrheit in sich.

    »Denk’ ich an Deutschland in der Nacht –«

    Nichts bindet mich an die Nation, vieles aber an seine Kultur. Dies alles ist nun vergiftet.

    Ich lese von den Taten des Dritten Reiches, ich weiß, daß jedes Wort wahr ist – ja daß Worte nicht ausreichen, um das Grauen zu beschreiben. Ist dies der Dämon, an dem die Welt zum Chaos auseinanderbrechen wird? Ist es unausweichlich und schicksalhaft, daß dies geschieht, oder liegt es an unserer – auch an meiner – Feigheit? Und doch bin ich von Natur aus nicht feig. Mir war immer wohler, wenn ich kämpfen konnte. Jetzt kann ich nur noch Ieiden.

    Thomas, den ich längst nicht mehr liebe – so behaupte ich vor mir selber –, ist immer noch in meinen Gedanken. Die Jahre gehen dahin, dies Leben ist vertan. Ernst, der einzige, der meiner Liebe wert wäre und sie braucht – was tue ich ihm an! Ein Menschenalter wäre nötig, um es gutzumachen. Wir versuchen uns zu trennen, und es ist vergeblich; wir versuchen, einen neuen Anfang zu finden, und es ist vergeblich. Die Kinder – die Kinder und das Geld. Aber sind es wirklich nur die Kinder und das Geld? Etwas anderes bindet uns noch stärker – Eide, die nie geleistet wurden.

    Er ist besser als ich; er kämpft darum, mir verzeihen zu können. Ich aber will keine Verzeihung, lieber will ich in alle Ewigkeit schuldig sein. Er ist unerschöpflich in der Kraft seines Mitgefühls, aber ich will sein Mitgefühl nicht – ich kenne den Preis, den er unbewußt dafür fordert, und ich kann ihn nicht bezahlen; ein Schelm, der mehr gibt, als er hat. Alle werden mich verurteilen, nur ich weiß, wie es kam. Ich habe jahrelang um Ernst geworben, auf eine dumme und heftige Art, aber doch geworben und ihn geliebt. Dann kam das Kind, das kleine Mädchen, das Geschöpf, das ich erschuf, um es zu lieben und geliebt zu werden. – Vielleicht sollten Frauen nicht Mütter werden, ehe sie Frauen geworden sind.

    Wenn Ernst mich ansieht, mit Augen, die vor Schmerz und Verlangen dunkel sind, möchte ich bis ans Ende der Welt fliehen. Ich greife ihn an, ich verteidige mich mit scharfen und beißenden Worten, aber ich weiß, daß ich schuldig bin – immer ist der schuldig, der weniger liebt. »… Hammer oder Amboß sein …« Und dann gingen wir hin und wurden Hammer!

    Hinter den lauten Worten stehen andere, leise, die nicht erbittern, aber furchtbar weh tun. Laß mich, sage ich, laß mich – alles Glück der Erde für dich, aber quäle mich nicht länger mit deiner Forderung, die ich nicht erfüllen kann. In seinen Augen lese ich die Antwort: Sagtest du nicht einmal, du wolltest mit mir zusammen altern? Ich habe dir deine Treueschwüre nicht abverlangt, du gabst sie freiwillig … Damals wolltest du sie nicht haben, sie waren dir nur peinlich, antworte ich lautlos, und jetzt erinnerst du mich daran. Ich kann sie nicht halten, Ernst, verzeih …

    Ich stürze mich in Arbeit wie in einen Abgrund. Wenn ich nur Geld verdienen, wenn ich eines der Kinder nehmen und fortgehen könnte! Welches der Kinder aber? Ich habe nicht so viele, daß ich eines entbehren könnte, und ich kann sie ihm nicht fortnehmen, nicht diese einzige Lieblichkeit aus seinem Leben reißen.

    Wir wollten keine Bürger sein. Wir schworen einander Wahrhaftigkeit zu. Wir wollten Freiheit! Heute seh’ ich es ein: hätte ich mich an die verachtete »bürgerliche Übereinkunft« gebunden gefühlt, dies wäre nie geschehen – ich hätte resigniert, hätte mein kleines Glück, meinen lauwarmen Herd bewahrt … Nein! Dies soll mir niemals leid tun. Auch daran wären wir beide zerbrochen.

    Die Abende sind böse – wenn einer müßig sitzt und wartet, daß man ihm das eine, eine Wort sagt, vor dem alle Worte der Erde gering sind, und der andere kann es nicht sagen, weil es Lüge wäre und weil er weiß, wie mehr solches Mitleid sich an beiden rächt … »Es ist deine beste Eigenschaft, daß du nicht lügst«, sagt Ernst. Es klingt wie Hohn. Bin ich denn besser, weil ich nicht lüge?

    Ein gemeinsames Ziel – im Geistigen sind wir fast immer einig. Tage und Wochen vergehen ruhig, bis dann doch wieder einer ausbricht und mit zwei Sätzen zerstört, was wir mit so viel Mühe bauten.

    Freiheit! Freiheit! … Nur der ist frei, der weise seinen Willen beherrscht. Nur der ist frei, der nicht Unrecht tut.

    Soll ich an dieser idiotischen Geschichte zugrunde gehen? Sieh die Dinge einmal von der kühlen Seite an, Klara! Eine unglückliche Ehe – du selber trägst die Hauptschuld. Du warst niemals geduldig, kaum gerecht. Du liebtest deinen Mann zu heftig, du wolltest – wie gewöhnlich – zuviel. Als du weniger wolltest, begann er dich zu lieben. Es ist schon ein paarmal in der Weltgeschichte vorgekommen, daß Menschen aneinander vorbeigeliebt haben. Später verliebtest du dich in einen andern. Er zahlte mit Kleingeld, und du brachtest gleich die ewige Seligkeit zum Einsatz mit. Verliere dich nicht in dem Labyrinth deiner Irrtümer, nimm sie als gegeben an. Bescheide dich. Bist du noch immer nicht klug genug, um zu wissen, daß es nicht auf »das Große« ankommt? Geh über deine Leiden endlich zur Tagesordnung über! …

    Einige Tage lang gelingt es, und dann reißt mich ein Traum, der ewig wiederholte Traum, »es sei alles wieder gut«, wieder aus der mühsam erkämpften Ruhe. O mein Freund, um meine Liebe auszulöschen, müßte ich mich selber auslöschen!

    Wenn ich morgens erwache, wenn der erste Schimmer der Bewußtheit mich trifft, dann kommt eine Gestalt auf mich zu, die deinen Namen trägt. Ich möchte in den Schlaf zurückfliehen, dessen böseste Träume doch weniger dunkel sind als das Wissen, daß ich dich verloren habe. Ich liege still, ich will dich und die ganze Welt vergessen. Langsam kommt die dunkle Gestalt näher, faltet Flügel, breitet sie auf meine Brust. Tränen rinnen aus meinen geschlossenen Augen und wecken mich vollends auf.

    Der Tag ist voll Lärm, Hast und Arbeit. Du stehst fern in einem Winkel. Aber wohin immer ich blicke, ich weiß, daß du da bist. Wenn ich dich minutenlang vergesse – und es kostet unendliche Mühe, dich zu vergessen, ich muß mit aller Kraft daran denken, nicht zu denken –, dann rächst du dich, kommst mit vervielfachter Gewalt und bedrängst mich. Zurück in den Winkel, Lemur eines Gefühls! Du lebst nicht mehr, vergeblich habe ich meinen Atem in dich verhaucht, und wenn ich dich fassen wollte, würdest du dich in meinen Armen verflüchtigen.

    Die Stimme am Telephon aber ist etwas Wirkliches, sie gehört einem lebendigen Menschen an, und es ist schwer, sich vorzustellen, daß sie einmal weich und voll Liebe war. Schwer? Nein, es ist leicht. Ich will den Tonfall nicht mehr hören, will jede Erinnerung daran zerstampfen, mit den Fäusten zerhämmern – besser noch, du stehst als Gespenst im Winkel.

    Und doch treibt mich eine unerklärliche Gewalt zu dir. (Unerklärlich? fragt eine zynische Stimme …) Es drängt mich, dir Worte zu sagen, wie »Ich bin in Sorge um dich« und »Ich will dich sehen«. Dich sehen? Warum nicht? Du bist ja da, gehst herum, sprichst, issest, lachst zuweilen. Und ich dachte, du seist nur noch ein Schemen!

    Da sitzest du neben mir, ich könnte dein Gesicht sehen, wenn ich aufblickte. Du sprichst zu mir, ich aber spreche ins Leere und versuche nur, das Zittern meiner Hände vor dir zu verbergen. – »Warum zitterst du?« hast du mich einmal zornig gefragt. »Man könnte meinen, ich hätte dich geschlagen!« – »Wenn du mich liebtest, dürftest du mich auch schlagen«, antwortete ich, »aber so weit geht meine Liebe nicht, daß ich auch noch diese Kosten bezahlen würde …«

    Wir gehen heim, es ist kalt, es regnet, du trägst meine Tasche; die beiden aufgespannten Schirme schaffen einen Abstand. Bitterkeit und gestauter Schmerz sind nahe daran, aus mir herauszubrechen … Hörst du mich? Hörst du mich? O höre mich, dies eine Mal noch! Komm wieder, sei wieder da – nicht mehr als Schatten … Der Schatten selbst ist barmherziger als du, er bedroht mich, er ist etwas Wirkliches …

    Ich schließe das Tor auf. »Geh jetzt, gute Nacht, es ist spät –« Vermagst du wirklich zu gehen? … Es könnte doch sein, daß die Schallwellen, die dein Ohr erreichen, tiefer dringen, daß du – durch ein Wunder – die unausgesprochenen Worte hörst, dich ihrer erbarmst. Warum bist du mit mir gegangen? Es regnet doch! Du sprichst und sprichst – ich bin wieder verstummt.

    Es ist Nacht. Träume drohen mir, vielleicht auch dir – was weiß ich davon! Du erzählst sie mir nicht, fragst mich nicht nach den meinen. Geh, geh – oder bleibe. Wenn du aber gehen willst, dann tu es rasch, denn nicht einen Augenblick länger kann ich die Qual dieses Abschiednehmens ertragen, in dem Hunderte vergangener Trennungen eingeschlossen sind, jede gleich herzzerreißend und jede für immer.

    Du bist gegangen. Die Treppe ist dunkel, aber ich sehe die Dunkelheit nicht. Ich gehe wie blind über die Stufen, schließe die Tür auf und sperre wieder ab, entkleide mich, ordne dies und das, lauter mechanische Bewegungen, die mein Hirn nicht ausfüllen. Ein Schlafmittel würde jetzt helfen – aber es dauert zu lange, ehe der milde Taumel einsetzt, und morgen muß ich arbeitsfähig sein. Nur Arbeit hilft … Die Augen sind müde, die Hände wollen die leichte Nadel nicht halten, ich finde die Stelle nicht, wo sie einstechen soll – – – o Gott, wo sind die Bäume, die ich jetzt fällen möchte, so wie ich gefällt wurde … ein Gleichnis schaffen …

    Ich spüre die Kälte nicht, obgleich meine Haut sich schaudernd zusammenzieht. Das Herz tut mir weh.

    Die Nacht ist dazwischen. Morgen stehst du wieder als Gespenst im Winkel.

    Ruth kommt oft zu uns. Sie hat die Kinder gern, und die Kinder hängen an ihr. Stella schmeichelt: »Du bist so schön, Ruth – – noch schöner als die Mama«, und tröstet mich: »Weißt du, sie ist halt auch ein bisserl jünger.« Friedel läßt sich in lange technische Diskussionen mit ihr ein, über »Bootologie« – ein Boot, das ohne Motor, Segel oder Ruder angetrieben werden kann, ständig phantasiert er davon; sie versteht ihn sogar, obwohl er ein wenig undeutlich spricht; er hat es immer so eilig. Er stößt mit der Zunge an, er »zuzelt«. Geduldig sagt sie ihm vor: »Sonne, mit s – Sonne!« – »Fonne.« – »Sonne, Friedel, nicht Fonne. Sssonne!« – »Fonne.« – »Sssonne, Friedel!« – »Weißt du, Tante Ruth, du sagst es, wie du willst, und ich sag’ es, wie ich will …«

    Stella ist sehr labil, allzu empfindsam. Sie ist auch körperlich zart, im Gegensatz zu Friedel, der bis zu seiner Krankheit ein lächerlich dickes Baby war, und ein wenig langsam in ihrer ganzen Art – nur sprechen hat sie sehr früh gelernt. Sie ist so schön – »ein Gesichterl wie eine Prinzessin«, wie meine Mutter einmal sagte, und es ist wirklich das Gesicht einer Märchenprinzessin, mit strahlenden Farben – sie heißt ja auch: das Heckenroserl – und veilchenblauen Augen; die hat sie von meinem Vater. In den Brauen aber, die über dem Näslein zusammenstreben – dem ach zu kurzen Näslein, in das es hineinregnet –, erkenne ich Ernst wieder; sonst kann ich nicht finden, daß sie ihm ähnelt, es ist mein Kind, das ich in einer Art wilder Schöpferlust gebar – und manchmal auch ein wenig meine Karikatur.

    In ihr ist viel Gerechtigkeitsgefühl – wir nennen sie neckend den »Staatsanwalt« –, doch es ist die gleiche allzu heftige Art Gerechtigkeitsgefühl, die ich selber habe. Aber ist die Wahrheit nicht immer intolerant?

    Die Kinder sind sehr verschieden voneinander; Stella liest viel und lernt gern Gedichte auswendig, Gottfried aber ist aller Literatur abhold und redet am liebsten von Autos und Eisenbahnen. Wenn ich böse auf ihn bin, verdächtige ich ihn als künftigen Herrenmenschen, als »Generaldirektor«. Ruth verweist es mir. »Wenn Friedel so weich wie Stella wäre, er wäre als Mann unmöglich. Was an ihr süß und bezaubernd ist, wäre bei ihm lächerlich.« – »Du suchst halt immer noch das Männliche«, sage ich etwas spitzig. Ruth empfindet sicherlich den Stich, aber sie ist nie beleidigt. Es wäre herrlich, eine Freundin zu haben, wenn man ihr ganz vertrauen könnte. Sie ist vielleicht nicht ganz ohne Weiberbosheit, hat in der Sache mit Thomas wohl auch ein wenig ihre Hand im Spiel gehabt – zumindest hat er sich mit ihr »ausgesprochen«. Ich habe es nicht gern, wenn andere sich über mich »aussprechen« – was zu sagen ist, sag’ ich schon lieber selbst. – Wenn es ums Geschlecht geht, werden die Menschen alle zu Viechern, stelle ich erbittert fest; die Erbitterung richtet sich auch gegen mich selbst.

    Es besteht zwischen Ruth und mir eine Vereinbarung: von Politik wird nicht gesprochen. Aber immer wieder durchbrechen wir die Grenze und werden hitzig. »Für mich ist der Kommunismus, was für einen Christen die katholische Kirche ist« – davon ist sie nicht abzubringen. »Niemand hindert dich, den Kommunismus zu verwirklichen, Ruth – teile, was du hast, mit dem nächsten Arbeitslosen an der Ecke.« – »Das ist nicht realpolitisch gedacht. Das verstehst du nicht –« – »Nein, ich will es auch gar nicht verstehen. Kann denn, was sittlich falsch ist, politisch richtig sein?« – »Gewiß –« – »Warum verteidigt ihr dann das Unrecht und stellt es als Recht hin? Es war nicht recht, Trotzkij für einen Verräter zu erklären – ich wähle dieses Beispiel, damit du mir nicht vorwirfst, ich sei reaktionär.« – »Trotzkij hatte seine Aufgabe erfüllt und wäre ein Schädling der Revolution geworden: er hätte Rußland gespalten.«

    Hier kann ich nicht mit. Ich kann nicht einmal mehr glauben, daß die Gleichung: Sozialismus = irdische Gerechtigkeit, aufgeht. Etwas anderes ist es, gegen einen gemeinsamen Feind zu kämpfen.

    Ruth ist temperamentvoll und sehr begabt, sie spielt und singt entzückend. Wenn sie eine Geschichte erzählt, ist sie bezaubernd. Ein wenig neidisch, aber zugleich hingerissen höre ich ihr zu. Manchmal haben wir Gäste, und dann gibt es Diskussionen über alles, was in der Welt Platz hat, und noch ein wenig mehr. Früher hat mir das Spaß gemacht; jetzt fühle ich mich tief ermüdet – es bleibt doch jeder bei seiner Ansicht, wozu das Gerede?

    Die Arbeit frißt mich auf. Anna besorgt den Haushalt, ich kümmere mich um die Kinder, es gibt immer so viel zu nähen und zu flicken. Übrigens nähe ich gern – es ist so schön, wenn ein Kleidungsstück entsteht. Jetzt kommt noch andere, bezahlte Arbeit dazu.

    Es ist gut, daß ich diese Arbeit habe. Ernsts Arbeitskraft sinkt, und er wird niemals lernen, was Geld wert ist. Ich verzichte ohne Klage auf jeden Luxus, mir liegt nicht viel an schönen Kleidern für mich selbst, aber es tut mir weh, wenn ich die Kinder schlecht angezogen sehe, und ich knausere nicht gern an Kleinigkeiten. Anna soll weiter ihren ordentlichen Lohn bekommen – was sie an seelischer Kraft, an Aufopferung und Geduld hergibt, kann ich ohnedies nicht bezahlen; und es gibt Dinge, mit denen ich nicht sparsam umgehen kann – immer brennt in der ganzen Wohnung das Licht.

    Die Arbeit freut mich, obgleich ich ihren wirklichen Wert nicht hoch einschätze. Es ist ein Handwerk im Geistigen. Der Literaturbetrieb unserer Zeit ist korrupt, viele von denen, die ihn führen, gingen besser mit Schuhbändern hausieren. Sie fragen niemals: Ist das Werk gut? Sie fragen nur: Wird es Geld einbringen? Der Name ist wichtiger als die Leistung, die Empfehlung einträglicher als das Können, der Rahmen eindrucksvoller als das Bild. Kleine Talente werden hinaufgelogen, die Prominenten sitzen fest in ihren Sesseln, die Phrase triumphiert. Wozu darüber reden? Viele wissen davon, viele haben den Kampf gegen die Windmühlen gekämpft; einige wurden sogar dadurch groß – dann waren sie meistens nicht mehr ehrlich.

    Es ist eine Binsenwahrheit, daß in unserem Land die Künstler beinahe niemals in Anlehnung an das Bestehende groß geworden sind, sondern immer im Widerstand, im Kampf, in der Auflehnung. Später, als sie tot waren, hatten sie oft Erfolg – aber wer mag wissen, wie viele unbekannt zugrunde gegangen sind?! – Wie hätte Schubert sich gefreut, wenn er nur den zehnten Teil der »Dreimäderlhaus«-Tantiemen bekommen hätte!

    Ich sprach oft mit Christian darüber. Natürlich kam die Rede auf Goethe, die große Ausnahme. Nicht einmal das Elend sei ein sicheres Kriterium des Künstlertums, sagte Christian. Es gebe Künstler, die satt würden und trotzdem Künstler seien, und andere, die hungerten und es doch nicht zum Künstlertum brächten …

    Auch Christian ist nun oft sehr bitter. Es geht ihm allzu schlecht, er ist gezwungen, seine Zeit mit Stundengeben zu vertun. »Abends bin ich dann wie ausgeronnen und komme nicht mehr zu meiner eigenen Arbeit«, klagt er. »Und doch gibt es kaum etwas Rührenderes als so ein junges Ding, dem man alte Weisheit erklärend beibringt. Wie ein Vogeljunges, das den Schnabel aufsperrt, war Dita, als ich ihr unlängst von Cäsar erzählte.«

    »Christian, ich habe nichts dagegen, wenn Sie auch mir etwas von Cäsar erzählen. Meine Bildung besteht aus Lükken – früher waren nicht einmal die Lücken da.«

    »Auf Bildung kommt es nicht an, Klara, das wissen Sie doch … Sie haben das Unerlernbare. Mir fiel unlängst ein, wie traurig es sei, daß menschliche Bindungen so brüchig sind. Welch ein Menschenverbrauch in wenigen Jahren … In früheren Jahrhunderten kam man ein ganzes Leben mit zwei, drei Freunden aus; jetzt wechselt man die Freunde jedes halbe Jahr und hat zuletzt keinen. Sie, Klara, sind die einzige Ausnahme.«

    Ich erröte vor Glück. Es ist nun drei Jahre her, seit ich Christian kenne. Eigentlich denke ich an diese erste Stunde nicht gern zurück. Ich wurde hingeschickt, er brauche eine Hilfskraft, hieß es. Ich witterte teils Geld, teils Sensation, und lief hin und blies mich auf … Er ließ mich ruhig reden. »Ich höre gerne Geschichten, und ich erzähle gerne Geschichten«, sagte er schließlich lächelnd, und dann zeigte er mir voll Stolz die Aussicht aus seinem Fenster – eine Aussicht, die über halb Wien hinweggeht. Das Zimmer ist eigentlich ein Atelier, mönchisch kahl. Es enthält nur eine Couch, einen großen, rohen Tisch, zwei Sessel, ein Pult und einen Gaskocher. Der Schrank steht wohl im Vorzimmer, dachte ich. Später kam ich darauf, daß Christian keinen Schrank braucht; er besitzt kaum mehr als das, was er am Leibe trägt.

    Ich hörte dann lange nichts von ihm; er hatte ja kein Geld, um jemanden zu bezahlen, damit er seine Manuskripte abschriebe. Einmal aber war mir sehr weh zumute, und da ging ich einfach hin, um mich auszuweinen. Es kam übrigens nicht zum Weinen, ja nicht einmal zu Geständnissen. Diesmal sprach Christian, und ich vergaß mein kleines Elend vor der unendlich reichen Welt, die sich vor mir öffnete – und die, ich wußt’ es plötzlich, immer auch die meine gewesen war, trotz Liebe und Unglück, trotz Schmerz und Sorge. Ich hatte es Ernst manchmal in meinem Herzen vorgeworfen, daß er allzusehr nach innen lebte – auf meine Kosten, wie ich trotzend feststellte; denn ich mußte meine eigene Träumerei aufgeben, um das Außen zu halten. Jetzt lernte ich, daß es nicht Träumerei ist, die jene andere Welt ausmacht. Traum ist der Jugend gemäß, ist vielleicht eine selten gestattete Flucht und Zuflucht, aber unwürdig des Erwachsenen.

    Ich erinnere mich, wie untüchtig ich in den ersten Ehejahren war. Ich schlief gerne bis Mittag, und dann tat ich auch nicht viel, außer wenn es unbedingt sein mußte. Ich war immer müde, und manchmal habe ich mich mit dem Besen in der Hand hingesetzt und gelesen. Es wurde selbst Ernst zuviel, er beklagte sich oft. Später fiel ich dann ins andere Extrem,

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