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Wenn Regenbogen Schatten werfen: Eine historisch-philosophisch-erotisch-spirituell-genderqueer-romantische Erzählung davon, das Leben voll zu umarmen...und nach dem Leben zu lernen, inwiefern man es nicht voll genug umarmt hat
Wenn Regenbogen Schatten werfen: Eine historisch-philosophisch-erotisch-spirituell-genderqueer-romantische Erzählung davon, das Leben voll zu umarmen...und nach dem Leben zu lernen, inwiefern man es nicht voll genug umarmt hat
Wenn Regenbogen Schatten werfen: Eine historisch-philosophisch-erotisch-spirituell-genderqueer-romantische Erzählung davon, das Leben voll zu umarmen...und nach dem Leben zu lernen, inwiefern man es nicht voll genug umarmt hat
eBook1.298 Seiten18 Stunden

Wenn Regenbogen Schatten werfen: Eine historisch-philosophisch-erotisch-spirituell-genderqueer-romantische Erzählung davon, das Leben voll zu umarmen...und nach dem Leben zu lernen, inwiefern man es nicht voll genug umarmt hat

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Über dieses E-Book

Loui Catherwood ist ein junger, gebildeter Philosoph im späten 18. Jahrhundert: charmant und äußerst begehrt bei den Damen. Was kaum einer weiß: Er entstammt dem Bauernstand. Und was niemand weiß: Loui ist in Wirklichkeit eine Frau. Einzig ihr geliebter Bruder Cedric kennt ihr wahres Gesicht und er würde sie niemals verraten. Nicht einmal, als sich Loui ausgerechnet in Cedrics Frau Hannah verliebt. Loui wird zerrissen zwischen der tiefen Zuneigung zu ihrem Bruder und ihrer leidenschaftlichen Liebe zu Hannah und sie entdeckt mehr und mehr, wie sehr sie die Liebe tatsächlich fürchtet, je greifbarer sie wird. Wie schwer es ihr fällt, eine Frau wirklich als Frau zu lieben, ohne ihre charmante männliche Maskerade. Ein riskantes, erotisches Spiel mit dem Feuer beginnt, bei dem Loui für ihre Abenteuer täglich riskiert, ihr Geheimnis zu offenbaren. Und darauf steht die Todesstrafe...

Dies ist ein Frauenroman, denn Louisa Catherwood ist eine Frau. Es ist jedoch gleichzeitig eine Erzählung, die danach fragt, wie gesunde Männlichkeit, Weiblichkeit, Liebe und Sexualität aussehen könnte. Dementsprechend ist es ein Roman für Männer, Frauen und definitiv für alle Regenbogenspektren dazwischen, denn Loui(sa) Catherwood ist genderqueer.

Es ist eine philosophische Erzählung, denn Loui Catherwood ist begeisterte und beherzte Philosophin, die sich mit Herz, Leib und Seele mit zeitgenössisch-politischen, persönlich-menschlichen und philosophisch-spirituellen Themen auseinandersetzt und auch vor Aspekten des Seins, deren Erforschung für viele Menschen ihrer Zeit noch zur Hexenverfolgung geführt haben, nicht zurückschreckt.

Es ist ein spiritueller Roman, denn es geht um tiefe Lebens- und Sinnfragen und darum, was bleibt, wenn alles, was wir meinen zu kennen und zu sein, stirbt und vergeht - wenn wir unsere irdische Form hinter uns lassen.

Es ist ein erotischer Roman, denn Louisa Catherwood liebt Frauen; leidenschaftlich. Allerdings tut sie dies in überzeugender Verkleidung eines Mannes, was ihre Linse auf Frau-sein und Mann-sein sehr speziell färbt.

Es ist eine Liebesgeschichte, welche das Wesen der Liebe-als-solche sowohl philosophisch als auch psychologisch in tiefer Klarheit erforscht, denn Loui geht allen Dingen grundsätzlich gern auf den Grund.

Es ist eine Geschichte über Identitätsfindung im Bereich der eigenen Persönlichkeit und auf Gender-Ebene. Es ist eine leuchtende Regenbogenflagge für LGBTQ (auch wenn es diese Bewegung im 18. JH noch nicht (offiziell) gab).
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum20. Feb. 2021
ISBN9783753412245
Wenn Regenbogen Schatten werfen: Eine historisch-philosophisch-erotisch-spirituell-genderqueer-romantische Erzählung davon, das Leben voll zu umarmen...und nach dem Leben zu lernen, inwiefern man es nicht voll genug umarmt hat
Autor

Laureena I. Travelay

Laureena I. Travelay schreibt ihre Erzählungen aus einem humanistisch-holistischen, psycho-spirituell-philosophischem Ansatz heraus. Sie schreibt begeistert in Romanform (statt in Sachbuchformat, was ihr Ansatz ja nahelegen würde), weil sie passioniert davon überzeugt ist, dass sich letztendlich alles Spirituelle/Philosophische vor allem in unserem zutiefst-Menschlichen finden, erforschen, fühlen und heilen lässt. Somit lädt sie ihre LeserInnen vor allem dazu ein, sich tief berühren und mitreißen zu lassen, um sich selber auf einer inneren Reise tiefer kennenzulernen. Sie ist per Email gern für Rückmeldungen und Fragen erreichbar: laureenatravelay@gmail.com

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    Buchvorschau

    Wenn Regenbogen Schatten werfen - Laureena I. Travelay

    For Hannah, my gorgeous tulip:

    may our love finally rest in peace.

    Inhaltsverzeichnis

    Prolog

    Zwischen zwei Welten

    Teufelsweib

    Jüngling

    Brüder

    Geschenk

    Verdienstquelle

    Männergespräche

    Herzdame

    Liebhaber

    Held

    Heiratspläne

    Hexe

    Seelenwege

    Ehefrau

    Geliebte

    Hüllenlos

    Fern der Wirklichkeit

    Strohfeuer

    Frauensache

    Wahrheit

    Portal

    Amazone

    Blindheit

    Drohungen & Versprechen

    Familienfest

    Zeichen

    Kerker

    Himmel

    Plan A

    Anmerkung der Autorin (Disclaimer)

    Prolog

    Wenn man fest überzeugt ist, innerhalb der nächsten Stunden zu sterben, ist man mit ein paar sehr essentiellen Fragen konfrontiert. Zumindest geht es mir gerade so. Nicht, dass mir diese Fragen nie zuvor in den Sinn gekommen sind. Einen Großteil meines Lebens habe ich mit ihnen verbracht. Mich ihnen gewidmet. Mich ihnen hingeben. Zeitweise und immer wieder bin ich an ihnen verzweifelt. Manchmal dachte ich, die Antwort sei zum Greifen nah. Dann wieder erschien mir das, was ich in hellen, glückseligen, tiefen, seelenhaften Momenten für Antworten hielt, wie Einbildung oder blanker Hohn, wie Trug und Schein, wie verzweifelte Selbstüberzeugungsversuche. Ich habe mich an diese Fragen geklammert, wann immer ich mich einsam und wertlos fühlte; fehl am Platz, gebrochen und schlichtweg daneben im eigenen Leben. Also häufig. Sie waren mein Anker und mein täglich Brot, meine Überlebensstrategie und meine Berufung und das, was mich bei Verstand hielt, wenn ich drohte, an mir selber und der Realität durchzudrehen.

    Jetzt, im Angesicht des Todes werden sie beinahe ein flehendes Gebet: Gibt es Gott und wenn ja, wie ist ER? Ist ES ein ER? Oder eine SIE? Oder eine ErSie? Ist ErSie freundlich-liebend-wohlwollend-vergebend oder streng-strafend-in-die-Hölleverbannend? Wie kann ich das Göttliche erfahren, ohne über ES nachzudenken? Jenseits meiner allgegenwärtigen Philosophien? Jenseits meines durchaus fähigen Geistes? Wie kann ich ES direkt erfahren, jenseits aller Zweifel? Was ist der verdammte Sinn des Lebens? Wozu war ich hier? Habe ich das Entscheidende vermasselt?

    Es ist wohl kurz nach Mitternacht am 1.1.1800; Sylvester. Neujahr. Die klirrendkalte Winternacht schleicht unnachgiebig an den Burgmauern entlang und sucht nach Lücken und Ritzen, um ins Innere der Gemäuer einzudringen. Geheimnisvoll und leise, neblig und unerbittlich zieht sie ihre Kreise und umgibt alles und jeden mit frostiger Endgültigkeit. Sie verschluckt Geräusche und erstickt jede Hoffnung auf Licht und Wärme. Laue Sommertage erscheinen wie ein naiver, ferner Traum. Wie die eisige Hand des Todes pirscht sich hier ein Kältehauch und dort ein eisiger Zug um meinen nackten Leib. Das Blut sickert beständig weiter. Ich kann es nicht stoppen. Es verlässt meinen Leib mit Pulstempo und bald wird er lediglich noch eine fleischliche Hülle sein und ich werde verschwinden. Meine Hilfeschreie bleiben ungehört oder unbeantwortet. Von Ferne dringt der gedämpfte Lärm der Festlichkeiten dann und wann in meinen Todeskerker vor. Dann wieder ist es unheimlich still. Die wispernden Schatten räkeln sich durch die stockfinstere Nacht und verbreiten eine Atmosphäre tiefer Unsicherheit.

    Hätte man mir als Mädchen erzählt, dass ich einmal in einer prunkvollen Burg mein Ende finden würde, so hätte ich es niemals geglaubt. Dort, wo ich herkomme und meine Kindheit und Jugend verbracht habe, sind Burgen ferner als der Himmel. Ich meine den tatsächlichen Himmel, nicht den Symbolischen, in dem angeblich irgendwo ein Gott oder eine Göttin oder beide zusammen existieren. Ich meine jenen Himmel, der in den meisten Teilen Englands stets tief zu hängen scheint; schwer von wassergetränkten Regenwolken. Dieser Himmel schien in meinem Heimatdorf wesentlich näher zu sein als Burgen, Schlösser und edle Damen in schönen, rauschenden Kleidern. Der wolkenverhangene Himmel war Realität, Burgen, Schlösser und Prunk waren Märchen und Legenden... ähnlich wie jener Himmel mit Gott.

    Als Kinder haben mein Bruder und ich manchmal, wenn wir nicht einschlafen konnten, gemeinsam fantasiert, wie wir wohl einmal sterben würden. Mein Bruder war sich sicher gewesen, ein großer Krieger zu werden; einer mit einer schicken Uniform, den die Damen anhimmeln werden, wenn er nur an ihnen vorüber stolziert. Am liebsten wollte er nirgendwo anders sterben als in einer wichtigen Schlacht. Ich hab ihn damals um seine Klarheit und Zielstrebigkeit beneidet. Damals, als ich 10 Jahre alt war. Ich selber hatte keine Idee gehabt, unter welchen Umständen ich mal sterben würde. Mein Bruder hatte gesagt, Frauen würden häufig im Kindsbett sterben. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es zu dieser Zeit gewesen sein muss, dass ich beschlossen hatte, ganz sicher niemals Kinder zu bekommen.

    Aber wer hätte jemals ahnen können, dass ich schließlich im Kerker einer solchen wunderbaren, prunkvollen Burg verenden würde? Wer hätte ahnen sollen, dass ich diejenige von uns Geschwistern sein würde, die brutal umgebracht werden würde? Als Resultat einer ganz persönlichen Lebensschlacht; eines Feldzugs um Liebe und Leidenschaft, um Geheimnisse, Wahrhaftigkeit und Reue. Was mich im Angesicht meines sicheren Todes nicht loslässt, sind die immer selben Fragen. Sie kreisen in meinem Kopf. Unaufhaltsam. Unbeantwortet. Folternd. Habe ich die falsche Wahl getroffen? Bin ich an den entscheidenden Weggabelungen meines Lebens falsch abgebogen? Habe ich feige Prioritäten gesetzt? Jene Chance meines Lebens verstreichen lassen, für die ich eigentlich hier war? Habe ich etwas aufgeben, was eigentlich mein Schicksal, meine Seelenwahl gewesen war, es zu erfahren und leben? Für nichts? Für falschen Anstand und eine gelebte Lüge? Aus Feigheit und Bequemlichkeit? Hätte ich den Preis zahlen sollen, der mir einst unvorstellbar erschienen war? Hätte ich mich anders entschieden -für Mut, Risiko und Liebe statt für verlogene Harmonie, feige Sicherheit und vermeintliche Loyalität-; wo wäre ich jetzt, in diesem Moment, statt in einem Burgkeller meinem Tod in die Augen zu schauen, der mich aus den Schatten des Kerkers zu belauern scheint?

    Ich verspreche hiermit sowohl meiner eigenen Seele (sollte es so etwas geben) als auch Gott und Seiner Gemahlin (und was weiß ich, ob die beiden wirklich so existieren, wie ich sie mir vorstelle und wünsche oder ob ich stattdessen entweder im endlosen Nichts ertrinken oder in der Hölle schmoren werde, nachdem mein Körper gestorben ist) feierlich und bebend, ich werde Antworten auf diese Fragen finden. Ich werde in allen Welten des Seins danach suchen, im Innen und im Außen, in künftigen Zeiten und jedem Jetzt, bis ich die Antwort SEIN kann. Dies ist kein Versprechen aus Verzweiflung. Es ist keine Abbitte einer Atheistin, die auf die letzten Lebenssekunden doch noch Gott anfleht. Ich meine es ernst. Ich will die Antworten für mich! Nicht um dem Göttlichen zu gefallen.

    Was sie wohl auf meinen Grabstein schreiben werden? Die Wahrheit oder die Lüge? Und was ist was? Die öffentliche Wahrheit wäre für mein Herz und Selbstempfinden gelogen. Meine Wahrheit wäre eine offizielle, gesellschaftliche Lüge. Geschweige denn von dem Skandal. Ich muss fast lachen bei der Vorstellung, wenn meine geheime Wahrheit publik würde.

    Aber was ist schon wirklich Wahrheit? Ist sie wahrlich kennbar innerhalb der Mysterien und Geheimnisse der Schöpfung? Gibt es objektive Realität als Kontext unserer subjektiven Empfindung? Ist Wahrheit auch findbar in tiefer Liebe und jähem Hass; in Enttäuschung und Verrat; in menschlichen, wandelbaren Emotionen? Oder lediglich in der Nüchternheit des stillen Geistes? War es mein fataler Fehltritt, von den bekannten, vorgegebenen Wegen abzukommen? Von meinem kühnen Herzen zu verlangen, im Chaos und Risiko schwimmen zu können? War es vermessen, mich von dem leiten zu lassen, was mein Herz für richtig hielt, statt dem zu folgen, was die Welt für mich vorgesehen hatte? Vielleicht bist du in der Wahrheit angekommen, wenn Wahnsinn Normalität wird und Hoffnung in jenes Vertrauen hinein stirbt, dass das Unkennbare deine tiefste Essenz ist.

    Also, nur dass du es gleich weißt: Dies hier ist eine Geschichte, keine Erfindung. Es ist eine Erzählung, keine Fiktion. Es ist meine Geschichte. Sie handelt von meiner sehnsüchtigen Suche nach dem Blick hinter das, was die Welt „Norm" nennt. Von der Suche nach Wahrheit. Nach Wachstum. Nach Erkenntnis. Sie handelt von der Sehnsucht nach dem Erwachen aus den eigenen verschleiernden Mechanismen unseres Geistes. Nach Lebendigkeit des Herzens. Nach seelischer Freiheit. Nach dem, was du denkst, das bist du, bis du erkennst, was du in Wahrheit schon immer warst. Vom Hunger nach Leidenschaft und Bedeutung. Nach Berührung und Liebe. Was also auch immer letztendlich Wahrheit sein möge, ich hoffe, du lässt dich von meiner Lebensgeschichte irgendwo zwischen meiner subjektiven Erinnerung und nüchternen Fakten berühren; vielleicht findet die Realität zwischen diesen beiden Polen einen gemeinsamen Nenner in nicht-widerspruchsfreier Non-Polarität; wo Herzwissen und Fakten zu einer Einheit verschmelzen, selbst wenn sie inhaltlich das Gegenteil behaupten.

    Zwischen zwei Welten

    Vielleicht ist es das Beste, wenn ich mit meiner Erzählung am Anfang beginne. Aber es ist gar nicht so leicht zu eruieren, was „am Anfang bedeutet. Eine meiner vertrautesten Freundinnen in diesem Leben würde jetzt sagen: „Der Anfang war deine Seelengeburt und die hast du bestimmt gerade nicht im Gedächtnis! Stimmt. Ebenso wie meine sicherlich zahlreichen und nicht ganz harmlos verlaufenden Leben vor diesem hier. Je mehr ich mich damit befasst habe, desto tiefer wuchs die Überzeugung in mir, dass wir Seelen -nicht lediglich vergängliche Fleischhaufen in Menschform- sind und als Seelen zahlreiche irdische Leben verleben. Dass wir immer wieder hierher zurückkehren, um zu lernen. Um in neuer Form und Gestalt, in einer anderen Zeit weiter zu wachsen. Um erwachsen zu werden als Kinder des Göttlichen. Um zu heilen. Jene Ängste zu heilen, die uns im Weg stehen, klar zu erkennen, wer und was wir sind und woher wir kommen und warum es uns überhaupt gibt.

    Ich wünschte, ich könnte mit Klarheit sagen, was in diesem Leben der Anfang vom Ende war. Das würde enorm dabei helfen, herauszufinden, wo genau ich falsch abgebogen bin. Doch auch das erscheint mir momentan ungreifbar und undurchsichtig. Also schön. Lasst uns „Anfang" der Einfachheit und Vollständigkeit halber so definieren, dass ich bei meiner Kindheit dieses Lebens beginne. Meines Lebens als Louisa Catherwood.

    Zu meiner Geburt schrieb man das Jahr 1771. Ich wurde Mitte August geboren, im Sternbild der Löwin. Das hat mir immer gefallen. Denn ich habe gekämpft wie eine Löwin. Wenn ich an diese Zeitepoche denke, von der ich heute –knapp drei Dekaden später- weiß, dass dort die vielfältigen Wurzeln meines jetzigen Elends liegen, überkommt mich ein eigenartig mulmig-melancholisch-nostalgisches Gefühl. Habt ihr euch je darüber Gedanken gemacht, wie eklatant eure Kindheit und all die kleinen und großen Verletzungen, Demütigungen, Bedrohungen und Beschämungen, die euch dort widerfahren sind, bis zu eurem Ableben eure Gefühle und Entscheidungen, eure Verhaltens- und Gedankenmuster, eure Verliebtheiten und Abneigungen, eure Interessen und Wünsche und schließlich sogar eure Todesumstände beeinflussen?

    Himmel, jetzt rede ich schon wieder vom Tod!

    Meine Kindheit!

    Meine Kindheit war zwiegespalten. Das umfassende Gefühl, das bis heute bleibt, ist, dass ich in zwei gänzlich verschiedenen Welten gelebt habe: Da war die Zeit mit meinem Bruder und die Zeit ohne meinen Bruder. Das waren die beiden wichtigsten Kategorien und alles, was mein Universum ausmachte, orientierte sich daran. Denn diese Kategorien bedeuteten gleichsam: Da war die Zeit der Freude, des Austauschs, der Neckereien, der inneren und äußeren Freiheit und Ausgelassenheit und die Zeit der Enge, der Verpflichtung, der Maskerade und des Unterdrückens, wer ich bin. Da war die Zeit der Träumereien und Visionen, des Verständnisses und der Liebe und da war die Zeit der Angst, der kaum zu unterdrückenden Wut und des Ekels.

    Vermutlich hatte ich eine ganz gewöhnliche Kindheit. Meine Eltern waren Bauern. Feld- und Vieharbeiter. Leibeigene des alles überragenden Hochadels. Domestiziert und unterdrückt wie Tiere. Zu Arbeit versklavt, in Angst abgerichtet, bis jeglicher Widerstand erstickt und gebrochen war. Darauf konditioniert, zu dienen und sich zu unterwerfen; sich als dümmer, schlechter, minderwertig zu empfinden und gleichzeitig damit abzufinden, dass dies eine per Geburt gegebene Realität war. Umgeben von einfachen und zumeist tief unzufriedenen Männern und Frauen und einfältigen, mal frechen, mal gehorsamen Kindern; von Kühen und Schafen und Pferden; von Heu und Stroh und Ratten und dem Gestand nach Fäkalien von Mensch und Vieh. Durchdrungen von der beständig nagenden Angst, dass die diesjährige Ernte und der Gewinn aus Schafswolle und Viehfleisch nicht zum Überleben reichen würde. Dass unsere immensen Abgaben an den Lord des Landkreises überragend viel höher sein würden, als wir es zahlen können würden. Dass wir das bisschen Land, das Vater bewirtschaftete, verlieren würden. Die Atmosphäre von Armut und Mangel webte sich durch unseren gesamten Alltag und war so normal, dass ich sie lange überhaupt nicht wahrnahm. Sie störte mich auch nicht. Ich mochte die weite, wilde Natur rings um die Felder und Stallungen. Ich liebte die Freiheit, die ich damit verband. Ich störte mich nicht an harter, körperlicher Arbeit. Nicht, solange mein Bruder in der Nähe war. Nichts, solange Vater so weit wie möglich weg war.

    Ich glaube, ich war nicht älter als vier und mein Bruder Cedric acht, als er die ersten Bücher lesen konnte und mir von anderen Orten dieser Welt zu erzählen begann. Es war ein seltenes Privileg, die Sonntagsschule der Gegend besuchen zu dürfen. Cedric war dies vergönnt, weil er -für einen Jungen vom Landeaußergewöhnlich helle war, wie der Pfarrer zu betonen pflegte.

    „Das muss er von seiner Mutter haben...", flüsterten so manche bösen Zungen hinter Vaters Rücken und meine Augen wurden jedes Mal größer, wenn ich so einen Spruch vernahm. Es beruhigte mich, so etwas zu hören. Von Erwachsenen. So waren Ced und ich nicht die einzigen, die Vater dumpf und einfältig fanden. Mutters Vorfahren waren Franzosen gewesen und vielleicht waren die ja heller als englische Bauern, wer weiß?

    Abends, im Dunkeln, wenn die Eltern schon schliefen, erzählte mir Ced flüsternd von all den Unfassbarkeiten, die sich irgendwo da draußen auf der Erde abspielten, während wir in unserem armseligen Dasein festhingen. Im Laufe der Jahre unserer Kindheit berichtete er von der Boston Tea Party und dem beginnenden Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Von politischen Aufständen und gesellschaftlichen Tumulten auf Europas Kontinent. Von gewagten Diskussionen über revolutionierte Gesellschaftsformen in den philosophischen Kreisen unserer Zeit. Als ich etwas älter war unternahmen wir gewisperte, fantastische Gedankenausflüge in große Städte und ferne Länder, hin zu Universitäten, in denen es unzählige Bücher mit unvorstellbarer Weisheit gab und an alle Orte, an denen es kluge, wichtige, gebildete, reiche, schöne Menschen gab. Cedric erzählte mir von Burgen und Schlössern und von feinen Damen und Herren, die in ihren galanten Kleidern edle Feste veranstalteten, vornehme Tänze tanzten und außerordentliche Speisen genossen. Damals beschloss ich, dass ich all das später sehen würde und genau so leben würde!

    Wenn ich heute daran zurückdenke, steigt in mir die Frage auf, ob ich in diesen Monaten und Jahren meiner Kindheit einfach eine gute Erinnerung daran hatte, dass meine Seele genau diesen Weg für dieses Leben vorhatte, um was-auch-immer zu lernen oder ob mein zweifellos starker Wille mich dorthin gebracht hat, weil ich es mir aus meinem kindlichen Elend heraus nun einmal in meinen Dickschädel gesetzt hatte? Gibt es einen Seelenplan? Oder Schicksal? Eine Vorbestimmung? Oder hat nichts einen tieferen Sinn, als den, dass Menschen eben Entscheidungen treffen? Versucht mein verzweifelter Verstand mir jetzt, in der Stunde ohne Hoffnung, einzureden, dass es vorbestimmt und gewollt war, damit all das Leid und die furchtbare Angst einen Sinn ergeben? Es ist nicht leicht, den Tod zu verdrängen, wenn er blechern an die Tür hämmert…

    Meine Kindheit! Das, was ich als Erstes und mit Abstand am gründlichsten lernte, war, dass einem als Mädchen in dieser Welt keine Rechte, keine Freiheit und kein Eigenwert zustehen. Und kein Besitz. Wenn eine Frau „Glück" hatte, wurde sie selber mit Haut und Haaren der Besitz eines Edelmannes, was bei meiner ärmlichen Herkunft sehr unwahrscheinlich war, obwohl ich als kleines Mädchen angeblich eine Augenweide gewesen bin. Zumindest sagte mein Bruder das über mich. Und Mutter steckte mich mit Vorliebe in hübsche, selbst genähte Kleidchen und verwendete viel Zeit und Energie darauf, mir Manieren beizubringen, die sich für ein Mädchen schickten. Das bedeutete vorrangig Schweigen und den Blick zu senken, sobald Männer in der Nähe waren.

    Ich fürchte, ich habe meine Mutter ziemlich umfassend enttäuscht. Ich war ein Wildfang. Und mein hübsches Kleidchen war meist am Abend zerrissen, wenn ich es am Morgen neu anbekommen hatte. Ich hatte harte Rivalität zu bestehen: Mein Bruder Cedric war vier Jahre älter als ich, größer, stärker und ich liebte ihn vor allem dafür, dass er mich nie schonte, weil ich Mädchen und seine kleine Schwester war. Wir hatten täglich Kraftproben und Wettkämpfe auszufechten und ich hielt mich nicht schlecht. Auf Bäume kam ich genauso schnell wie er und rennen konnte ich ebenfalls wie der Blitz. Auf dem Pferd ohne Sattel im wilden Galopp reiten wie ein Junge -mit je einem Bein auf jeder Seite- hatte er mir schon beigebracht, als ich gerade mal sicher auf zwei Beinen stehen konnte (fern von den Augen unserer Mutter natürlich!). Und mit seinen eigenen schmächtigen und gleichsam schützenden Armen um mich geschlungen. Beim Schwimmen und Bogenschießen hielt ich ebenfalls mit Leichtigkeit und Leidenschaft mit. Nur im Nahkampf endete ich regelmäßig keuchend auf dem Rücken liegend, mit seinem so viel schwereren Körper auf meinem; seinen großen Händen um meine Handgelenke, die er über meinem Kopf zusammenhielt und mich angrinste.

    „Nun, Schwesterchen, du musst dich anstrengen, sonst wirst du nie so stark wie ich!" Seine Schokoladenaugen blitzten mich voll warmem Feuer an und er sprang auf und zog mich behände mit sich auf die Beine.

    „Ich werde ganz sicher mal so stark wie du!, trotzte ich. „Und so groß! Und so hübsch!

    Darüber lachte er. „So hübsch?"

    „Ja, Mama sagt immer, du bist ihr hübscher Junge."

    Er rollte mit den Augen. „Natürlich sagt sie das: Ich bin ihr einziger Sohn!"

    „Ich bin auch ihre einzige Tochter und sie sagt so was nie zu mir!", konterte ich prompt; ich war auch mit rund zehn Jahren schon sehr schlagfertig.

    „Ich glaube, so was sagen eher Mütter zu Söhnen und Väter zu Töchtern", erwiderte er leise und griff einen Stock vom Boden auf, um damit auf die nahestehenden Sträucher einzupeitschen.

    Ich sah ihm einen Moment nachdenklich dabei zu, bevor ich mir selber einen Stock nahm und ebenso kraftvoll auf Sträucher einpeitschte, um dann bockig zu antworten: „Vater wird so was erst recht nie zu mir sagen! Er hasst mich."

    Cedric wandte mir seine Augen zu. Ich konnte damals nicht sagen, warum, aber ich liebte seine Augen. Wahrscheinlich vom ersten Hineinschauen an, nur dass ich mich an diesen Moment auch als Zehnjährige nicht mehr erinnern konnte. Ceddys Augen fühlten sich unendlich vertraut und liebevoll an. Nach Heimat, was immer das sein mag. Und ich hatte immer das Gefühl, dass er mich sehen konnte. Wirklich sehen. Nicht nur anschauen. Mein Herz sehen. Fühlen, was ich fühle, ohne dass ich ihm erklären muss, was in mir vorgeht. Aber ich glaube, das Wichtigste, was ich in Cedrics Augen sehen konnte, war, dass er mich liebte. Und das war mein Anker. Mein Rettungsring durch all die dunklen Stunden meiner Kindheit.

    Als er mich in diesem Moment ansah, wusste ich schon bevor er sprach, dass seine Worte mich über das Wissen trösten würden, bei Mama nur die ewige Nummer zwei zu sein und von Papa ohnehin nur Schmerz und Demütigung zu empfangen. Ced schenkte mir ein herzliches und sehr charmantes Lächeln und sagte: „Loui, du bist die schönste, klügste, liebste und beste Schwester, die ein Junge je hatte!"

    Ich weiß nicht mehr, ob ich damals weinte, aber später in meinem Leben habe ich über diesen Satz oft geweint. Er ist in mein Herz geschrieben und mir persönlich bedeutend heiliger als alle heiligen Schriften der Kirche zusammen. Dieser eine Satz sprach zu mir in jeder dunklen, einsamen Stunde meines Lebens. Es reichte, dass Ceddy mich so sah, denn ich wusste, er sah mich ohnehin viel besser, klarer und deutlicher als Mutter und Vater. Ganz sicher kannte er mein Herz sehr viel tiefer und besser als der Pfarrer, der meine Beichten abnahm. Und wenn ich für Ced schön und klug und liebenswert war, genügte das.

    „Komm, spring auf, Prinzessin!" Er stellte sich mit dem Rücken vor mich.

    „Glaubst du auch, dass sich die Mädchen mal alle um dich reißen werden, wie Mutter immer sagt?" Ich ließ meinen Stock fallen und sprang behände auf seinen Rücken. Er umfasste meine Beine mit seinen kräftigen Händen; unser tägliches Ritual: Auf dem Heimweg von unseren Abenteuern durfte ich auf seinem Rücken reiten.

    Er zuckte mit den Schultern. „Du weißt, ich will nicht heiraten, Loui! Ich will zur Armee!"

    Ich zupfte die vielen kleinen Blätter und Ästchen aus seinem bronze-braunen Haar. „Mutter will, dass du heiratest und ihr viele Enkel schenkst. Aber nur die Beste unter den Besten darf dich zum Mann bekommen. Ich äffte den Tonfall unserer Mutter nach, wenn sie beim Gemüseputzen und Kochen darüber plapperte, wie sie sich Cedrics Zukunft ausmalte. Von meiner sprach sie nie. „Wie schenkt man jemandem Enkel, Ced?

    Doch er beantwortete meine Frage nicht, sondern wechselte das Thema: „Und um dich werden sich sicher mal die Männer reißen, Loui. Du bist doch jetzt schon eine hübsche kleine Prinzessin!"

    „Ich bin keine Prinzessin. Ich bin ein Bauernmädchen. Eines, das für immer mit Zöpfen herumlaufen wird. Irgendwann werden sie mich zwingen, einen Mann zu heiraten, den ich nicht kenne. Und dann werde ich im Kindsbett sterben." Ich ließ es melodramatisch klingen und hoffte auf sein Mitleid.

    „Magst du deine Zöpfe nicht?", fragte Ceddy jedoch, abermals dem Thema ausweichend.

    „Nein. Sie sind lästig. Ich wünschte, ich könnte mein Haar so tragen wie du! Ich wuschelte in seinem dichten, braunen Haar umher, das ich mittlerweile von Blättern und Ästen befreit hatte und das stets wundervoll nach Heu und frischer Luft duftete und in weichen Wellen seine Ohren umschmeichelte. „Dann müsste ich auch nicht heiraten und im Kindsbett sterben.

    Dieses Mal biss er an. Seufzend. „Loui, nicht jede Frau stirbt im Kindsbett!" Er klang ein wenig genervt. Sicher bereute er es inzwischen bitterlich, mir jemals davon erzählt zu haben. Vielleicht nervte es ihn aber auch nur, dass seiner kleinen Schwester so ein finsteres Schicksal bevorstand.

    Die morsche Hütte, in der wir lebten, kam in Sicht und ich wollte ihm sagen, er solle anhalten, damit wir noch eine Weile nur für uns sein konnten. Nur wenn wir allein waren, nannte er mich Loui. Ich mochte diesen Spitznamen bedeutend mehr als Louisa. Nur wenn wir allein waren, konnte ich sein, wie ich war und mich nicht für Mama und Papa verstellen und das wohlerzogene Mädchen spielen. Ich hatte Angst, dass ich irgendwann, wenn Ceddy ausziehen und heiraten oder in die Armee gehen würde, vergessen würde, wer ich in Wirklichkeit war. In seine Augen zu schauen und wie er mich ansah, halfen mir, mich zu erinnern, wer ich in Wahrheit war. Da fühlte ich mich echt und real. Und ich konnte alles sagen, was mir gerade auf der Zunge lag und fragen, was mein Herz dringend wissen musste. Egal, ob ich ihn manchmal nervte oder er aufrichtig interessiert an meinen Worten war, er lachte mich niemals aus oder gab mir das Gefühl, dumm zu sein. Er nahm mich ernst. Und er fand mich wichtig. Wir verstanden uns blind und ohne Worte, Ceddy und ich.

    „Du hast selber gesagt, dass viele da sterben und dass es sein kann, dass ich da mal sterbe, während du im Krieg kämpfst wie ein Mann. Und ich habe nicht mal eine Wahl, oder? Das ist einfach so unfair!" Ich trat mit meinen Beinen in sein Hinterteil, als sei er mein Pony Fred.

    „Autsch!" Er gab mir einen Klaps auf meine Füße, doch ich überhörte seinen Protest.

    „Mein Kampf wird sein, den Mann auszuhalten, den Vater mal für mich aussucht!"

    Nun lachte er wieder. „Wo schnappst du denn so was auf, Loui?"

    „Von Mutter. Die hat´s neulich zur Dicken Maria gesagt: Dass sie es mit Vater aushalten muss, weil ihr Vater es so wollte. Sie sagte, wenn man ihr vor der Ehe erklärt hätte, was eheliche Pflichten bedeuten, hätte sie sich entweder im Fluss ertränkt oder sie wäre als Nonne ins Kloster gegangen."

    Cedric schwieg und das ärgerte mich; ich wollte dringend seine Anteilnahme für mein hartes Schicksal erhalten. Das würde es aushaltbar machen; zu wissen, dass er mitgefühlt hatte, wie grauenvoll es für mich sein würde. Darum blieb ich dran: „Was sind eheliche Pflichten, Ceddy? Was muss man da noch machen außer Kochen, Putzen und Tiere und Kinder füttern?"

    Er drehte seinen Kopf, bis er mir kurz in die Augen sehen konnte. Ich war mir nicht sicher, aber ich glaubte, ein ziemlich spitzbübisches Schmunzeln über sein hübsches Gesicht huschen zu sehen. Doch es war zu flüchtig, um gewiss zu sein. Er wandte seinen Blick wieder nach vorn und sagte entschlossen: „Das erkläre ich dir in ein paar Jahren, Louisa!"

    Ich rollte mit den Augen. Wenn er mich bei meinem richtigen Namen nannte, bedeutete das, dass er den großen Bruder heraushängen ließ und ich den Schnabel halten sollte. „Ich krieg´s schon irgendwie vorher raus!", murmelte ich trotzig.

    Er lachte gutmütig. „Davon bin ich überzeugt. Dann nickte er nach vorn. „Schau, Vater ist wieder heim. Sicher wird er uns noch Unmengen an Extraarbeit aufbrummen.

    Aus Ceddys Mund klang es, als sei es eine Last, ich aber freute mich. Es bedeutete, den Abend mit Ceddy gemeinsam verbringen zu können. Und das waren die kostbaren Stunden meiner Kindheit. Die rettenden. Die lebenswerten.

    „Hey! Kinder! Beeilt euch!", brüllte die Stimme unseres Vaters uns entgegen, sobald er uns entdeckt hatte. Seine Stimme war rau, heiser und tief und klang wie die eines wütenden Bullen.

    „Er hat wieder getrunken, oder?", flüsterte ich Cedric ins Ohr, obwohl wir noch weit von den Stallungen und dem Schober entfernt waren, wo ich Vater torkeln sah.

    Ceddy nickte stumm und beschleunigte seinen Schritt. Mein kleiner Körper verspannte sich sofort und der Griff meiner Arme und Beine um meinen Bruder herum verstärkte sich, als wolle ich mich an ihm festklammern. „Nicht schneller gehen. Bitte!", flehte ich wispernd.

    Cedrics Hände streichelten nervös über meine Fesseln, die er zuvor locker in seinen Händen gehalten hatte. „Wenn wir trödeln, wird´s nur noch schlimmer, das weißt du doch, Loui!"

    „HEY! Cedric! Louisa! Kommt sofort hierher und helft mir mit dem verdammten Viehzeug, ihr faulen Bälger!" Vater stolperte und schwankte vor dem Pferdestall umher.

    „Ich will nicht zu ihm", wimmerte ich. „Wenn er besoffen ist, prügelte er noch schneller und noch grundloser drauf los. Egal, wie gut ich die Arbeit mache und egal wie schnell und gründlich, er findet immer einen Grund, mich zu schlagen…"

    „Ich lass dich nicht mit ihm allein!", versprach Ceddy tapfer, auch wenn sein schmaler, jugendlicher Körper gegen die bullige Gestalt unseres Vaters keine reale Chance hatte. Auch er geriet viel mehr nach unserer hübschen, zierlichen Mutter.

    Wir erreichten den Stall und Vaters kleine, Schlamm-farbene Augen starrten uns glasig und modderig entgegen. Er stand auf eine Mistgabel gestützt und sah uns missmutig und abschätzig an. „Wo habt ihr euch wieder herumgetrieben, Herrgott noch mal!? Cedric, lass sofort deine Schwester herunter! Warum trägst du sie immer auf deinem Rücken? Sie ist wirklich alt genug, allein zu laufen! Du verhätschelst sie. Sie wird unmöglich zu verheiraten sein, wenn du sie so verwöhnst!"

    „Ja, Vater. Wie war es in der Stadt?" Cedric ließ mich sanft zu Boden gleiten und ich blieb hinter seinem Körper versteckt stehen.

    „Wo seid ihr gewesen? Wo treibt ihr euch immer herum?", bellte Vater statt auf Cedrics freundliche (und von mir ablenkende) Frage einzugehen.

    Ich klammerte mich an Ceddys Hemd fest und merkte, wie mein Körper zu zittern begann. Doch Cedric blieb ganz ruhig und seine warmen, braunen Augen schauten Vater artig an, als er antwortete: „Ich versuche gerade, Louisa das Fischen beizubringen. Unten, am Fluss im Wald. Ist das nicht in deinem Sinne, Vater? Ich dachte, es könnte klug und sinnvoll sein, damit sie es kann, wenn ich mal weggehen sollte. Später."

    Vater knurrte etwas dazu, das hätte bedeuten können, dass er nicht total dagegen war und ich schaute bewundernd zu Cedric auf. Es war bestimmt das sechste Mal, dass er Vater die Geschichte vom Fischen-Beibringen auftischte. Vater „Suffkopp", wie gemeine (und ehrliche) Zungen aus der Kirche gehässig zu zischeln pflegten, konnte sich kaum etwas länger als ein paar Minuten merken und da er sich ohnehin eigentlich überhaupt nicht für uns Kinder interessierte, genügte es meist, wenn man ihn für diesen einen Moment überzeugte, ablenkte und beschwichtigte. Es war ja auch überhaupt nicht gelogen: Cedric hatte mir allerdings das Fischen beigebracht. Nur war das ungefähr sechs Jahre her. Und er tanzte geschmeidig mit seinen rotierenden Ausreden darüber, was er Mutter oder Vater erzählte, wie wir angeblich sinnvoll unsere Zeit miteinander verbrachten, während wir unsere fast täglichen Ausflüge unternahmen. Die Wahrheit war: Wir taten meist alles andere als das. Natürlich gingen wir auch mal fischen, wenn wir Lust dazu hatten. Aber meistens machten wir irgendwelchen wundervollen Blödsinn, für den Mutter und Vater keinerlei Verständnis gehabt hätten. `Zeitverschwendung´ hätten sie es genannt. Auf Bäumen rumklettern, Baumhäuser bauen, Vögel beobachten und ihre Laute nachahmen und versuchen, sie an ihren Stimmen und an ihrem Gefieder zu erkennen. Uns Fantasiegeschichten ausdenken und über die Zukunft spinnen und wie es sein wird, wenn wir erwachsen sind. Zusammen Bücher lesen. Wir hatten ein ganzes Versteck voller Bücher, die wir nach und nach in eines unserer Baumhäuser geschmuggelt hatten. Eine eigene kleine Bibliothek. Wann immer Cedric Vater in die Stadt begleiten durfte, ergatterte er auf ominösen Wegen ein neues Buch für uns...

    „Jetzt verschwende keine Zeit mehr mit Dummheiten, sondern fang an zu arbeiten!, blaffte Vater. „Du auch, Mädchen! Die Boxen sind in einer halben Stunde ausgemistet und die Gäule gefüttert, verstanden? Trödelt nicht rum! Eure Mutter wartet mit dem Essen! Damit warf er Cedric die Mistgabel entgegen und taumelte in Richtung Heuschober davon.

    Ich atmete tief aus. Cedric drehte sich zu mir und nickte zum Stall hin. „Los, auf geht’s, Kleines!"

    Ich beeilte mich, ihm zu folgen. Wenigstens würde Vater nicht bei uns sein. Wenn wir beide allein im Stall waren, Ced und ich, dann konnte die Arbeit Spaß machen! Ich griff nach einer Mistgabel und betrat die erste Box. Ich lauschte auf Vaters trampelnde Schritte und sein lautes Rülpsen von draußen und wartete akribisch, bis er weit genug von uns entfernt war.

    „Wie fällt dir nur immer so eine gute Antwort ein, wenn er so streng und böse aussieht?", fragte ich flüsternd und mit großer Bewunderung in der Stimme.

    Er grinste. „Jahrelange Übung."

    Eine der ersten Lektionen, die Cedric mir erteilt hatte, war, was ein Geheimnis ist. Und von da an hatten wir unzählige Geheimnisse vor Mutter und Vater gehabt und ich habe nie auch nur eines verraten oder auch nur aus Versehen etwas ausgeplaudert; nicht mal als zweijähriges kleines Mädchen. Mein Herz musste essentiell verstanden haben, dass es wichtig war, einzig Ced -und ihm allein- zu offenbaren, wer und was ich wirklich war und was ich wirklich fühlte und wollte und dachte. Es war zum Beispiel geheim, dass Ceddy mir lesen, schreiben und rechnen beibrachte, sobald er es beherrschte. Im Wald, am Flussrand, in unserem Baumhaus übte und paukte er all das mit mir, was er selber in der Sonntagsschule nach der Kirche lernte. Ich verstand erst viel später, was für ein wunderschönes Geschenk er mir damit gemacht hatte, meine geliebte Natur; mein Herzenssymbol für Freiheit, Liebe und Frieden gleichzeitig zu meiner Schule des Lebens und der Quelle von Weisheit zu machen. Zu der Musik von zwitschernden Vögeln, zirpenden Grillen, rauschenden Baumkronen und dem plätschernden Bach unseres Waldes zeigte er mir all seine klugen Bücher und erklärte mir die Bilder und Texte darin. Denn er fand es genauso ungerecht wie ich, dass ich all das eigentlich nicht lernen durfte, nur weil ich ein Mädchen war.

    „Du bist klüger und gescheiter als die meisten Jungs, mit denen ich sonntags zusammen pauke, also wäre es törichte Verschwendung deines Geistes, dich nicht zu unterrichten", pflegte er mit diesem wundervoll aufmüpfigen Schmunzeln in seinem Gesicht zu sagen.

    Außerdem war es geheim, dass wir beide unseren Vater fürchteten und verabscheuten. Ich ein wenig mehr als Cedric, denn ich bekam mehr Schläge ab als er. Weil ich ein Mädchen bin. Denn Mädchen sind von Natur aus schlecht. Das steht schon in der Bibel. Wir tragen die Schuld für alles Übel und für die Sünde.

    „Ich wünschte, ich hätte diese Eva aus dem Garten Eden persönlich gekannt", sagte ich zu Cedric.

    „Warum das?"

    „Naja, ich hätte ihr gesagt, sie solle diese spannenden Gespräche mit dieser Schlange im Geheimen führen. Und den Apfel im Geheimen essen. So dass die dummen Menschen ihr später nicht die Schuld daran geben können."

    Ced runzelte die Stirn. „Aber Gott hat sie doch bestraft. Wie sollte sie es vor Gott geheim halten?"

    Ich schüttelte vehement den Kopf. „Ich glaube nicht, dass Gott so dumm ist! Schau, er bestraft mich ja auch nicht, weil ich lesen lernen will. ER kann also nichts dagegen haben, dass Frauen etwas lernen und verstehen wollen!"

    Für Sätze wie diesen pflegte mich Vater zu verprügeln. Natürlich behielt ich sie mehr und mehr für mich und lernte, dass Ced es zwar klug und sinnvoll fand, was ich sagte, dass Vater es aber für eine Ungezogenheit oder gar Sünde hielt, die bestraft werden musste. Und wann immer Vater mit seinen Schlägen auf mich zielte, warf Ced sich vor mich.

    „Warum straft mich Vater für eine Sünde, Ced? Wenn, dann müsste doch Gott mich strafen! Ich verstehe das nicht. Es ist dumm! Warum mischt Vater sich Gottes Angelegenheiten ein? Ist das nicht eine Sünde?", beharrte ich hernach tapfer, während wir gegenseitig unsere Wunden versorgten. Ich wusste, Ceds Herz stimmte mir zu, auch wenn er mich immer wieder ermahnte, so etwas nicht laut zu sagen.

    Außerdem war es geheim, dass wir fast jede Nacht eng umschlungen in einem Bett lagen und Cedric mir behutsam die Ohren zuhielt, während ich zitternd in seinen Armen lag und weinte, weil ich Mutters leises, ersticktes, leidvolles Wimmern aus dem Schlafbereich nebenan nicht ertragen konnte. Ich war Cedric später noch lange dankbar, dass er mir noch nicht damals erklärt hatte, dass es ihre verhassten `ehelichen Pflichten´ waren, die ihr diese schmerzerfüllten, gequälten Laute entlockten.

    „Vater ist in letzter Zeit immer häufiger in der Stadt..., bemerkte ich leise und begann eifrig, den Pferdemist vom sauberen Stroh zu trennen. Ich war hochgewachsen für mein Alter und Geschlecht und meine Arme waren von jahrelanger harter Arbeit kräftig. Stall- und Feldarbeit fiel mir leicht und ich mochte sie – an Ceddys Seite. „Weißt du, warum?

    Ced warf mir aus der angrenzenden Pferdebox einen Seitenblick zu. „Er ist politisch aktiv. Das hab ich dir doch schon erzählt. Er versucht, sich mit anderen Bauern zu organisieren, um für gerechten Lohn und insgesamt mehr Rechte zu kämpfen." Er wirkte wortkarg.

    „Aber warum muss er dafür so viel Bier und Schnaps trinken? Und warum bleibt er in letzter Zeit ständig über Nacht dort? Früher war er nur tagsüber weg..." Ich erinnerte mich sehr genau, dass Vater Cedric kürzlich einmal mitgenommen hatte, als er über Nacht in der Stadt geblieben war. Und ich würde niemals sein verstörtes Gesicht vergessen, als er wieder zurückgekommen war.

    „Sie treffen sich eben in Pubs… das ergibt sich da so... beeil dich, Loui! Wir dürfen nicht trödeln!" Er entleerte seinen Wassereimer extra schwungvoll in den Pferdetrog und ging hinaus zum Brunnen, um neues Wasser zu holen.

    „Ich mach ja schon!", maulte ich und schaufelte doppelt so schnell, bis die Muskeln meiner Arme schmerzvoll brannten. Die Pferde schnauften einvernehmlich vor sich hin und jene, die bereits von Ced gefüttert worden waren, vergruben schmatzend ihre Mäuler in ihren Trögen.

    Meine Neugierde ließ mir keine Ruhe. „Ced? Was machen sie genau in den Pubs? Nur reden und trinken? Den ganzen Tag? Abends auch?"

    Er sah nicht zu mir rüber. Aber ich sah sein Gesicht versteinern. Es tat mir weh, ihn daran zu erinnern, was ihm so offensichtlich zugesetzt hatte, aber ich wollte es auch wissen. Ich mochte es nicht, wenn er etwas wusste, was ich nicht wusste; wenn er etwas erlebte, was er nicht mit mir teilte oder sogar extra vor mir geheim hielt. Es fühlte sich falsch an. Wir waren diejenigen, die Geheimnisse vor Mama und Papa hatten.

    „Jap!" Er klang kurz angebunden und schroff und das allein sagte mir, dass das nicht die ganze Wahrheit war.

    „Glaub ich dir nicht."

    Nun sah er zu mir rüber und rollte mit den Augen. „Louisa, du nervst! Kannst du nicht ein Mal lockerlassen?!"

    „Mmh-mmh!" Ich schüttelte den Kopf und schaffte es, ein wenig bedauernd dreinzuschauen, während es mir überhaupt nicht leidtat.

    Er seufzte tief und sagte dann ernst: „Ich kann es dir nicht sagen, Loui. Dafür bist du noch zu klein! Mutter würde schrecklich schimpfen, wenn sie wüsste, dass ich dir so was erzähle." Er runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf wie über einen schrecklich absurden Gedanken.

    Nun musste ich lachen. „Sie würde auch schimpfen, wenn sie wüsste, dass du mir lesen beibringst!, erwiderte ich stur. „Und rechnen. Und auf Bäume klettern. Und reiten wie ein Mann. Und Bogenschießen. Und...

    „Louisa, nein!", sagte er entschlossen.

    „Das ist gemein!", rief ich und stampfte mit dem Fuß auf. Das Pferd hinter mir schreckte auf und wieherte nervös.

    „Schscht! Willst du, dass Vater kommt?", zischte Cedric.

    Ich erschrak und sank in mich zusammen. „Nein. Natürlich nicht. Aber ich finde es gemein, dass ich Sachen nicht wissen darf, nur weil ich kleiner und jünger bin." Dieses Argument stimmte ihn immer nachdenklich und ich wusste, er fand es auch unfair. Listig fügte ich hinzu: „Und wahrscheinlich darf ich es erst recht nicht wissen, weil ich ein Mädchen bin!"

    Das war eine nahezu unschlagbare Waffe bei Ced. Und richtig. Er verzog das Gesicht und zuckte dann ergeben mit den Schultern. „Fein, ich sag´s dir! Aber wenn du dann Angst kriegst oder dich ekelst, denk dran, dass du es wissen wolltest!"

    „Natürlich! Ich grinste breit und stapfte zur nächsten Pferdebox, um sie extra gewissenhaft zu entmisten. „Also...? Ich warf ihm einen schnellen Blick über die Boxwand hinweg zu und glaubte, ihn erröten zu sehen. Auf jeden Fall wandte er seinen Blick stoisch dem Pferdemist zu.

    „Sie … sind mit Frauen zusammen."

    „Wie; mit Frauen zusammen? Was für Frauen? Was machen sie mit denen? Warum dürfen Frauen überhaupt in so ein Pub?!? Frauen dürfen doch sonst kaum irgendwo hin..." Ich war gleichermaßen verwirrt, entrüstet und aufgeregt.

    Ced seufzte erneut tief und unglücklich. „Es... wie soll ich dir das erklären? Diese Frauen sind glaube ich nicht da, weil sie die Pubs so toll finden. Sie sind selbstverständlich nicht da, um selber politisch zu diskutieren. Auch nicht, um zu trinken, soweit ich mich erinnere. Sie sind da, weil die Männer wollen, dass sie da sind."

    Ich hörte auf, Mist zu schippen und stierte Cedric verständnislos an. Meine Welt stand Kopf. „Vater will, dass da Frauen sind? Vater hasst Frauen!"

    Cedric schüttelte den Kopf, sein Gesichtsausdruck nahezu verzweifelt. „Die sind... das sind spezielle Frauen. Sie... sind glitzernd. Mit viel Schmuck und bunten Kleidern an und bunter Farbe im Gesicht."

    „Farbe im Gesicht?", fragte ich entgeistert.

    „Ja, sie haben ganz rote Lippen und rote Backen und blaue oder schwarze Farbe auf den Augen. Da oben drauf! Er deutete auf seine Augenlider. Dann blickte er mich streng an: „Los, weitermachen! Halt dich ran! Sonst erzähle ich nicht weiter.

    Ich zwang mich, im doppelten Tempo zu arbeiten. „Warum haben die Farbe im Gesicht? Und warum will Vater, dass die da sind?"

    Cedric zuckte mit den Schultern. „Weiß ich auch nicht genau. Aber Vater und seinen Freunden hat das glaub ich gefallen. Sie haben diesen Frauen fast ihr ganzes Geld gegeben."

    „Sie haben ihnen Geld gegeben? Wo wir doch jeden Taler hier zuhause brauchen und Mutter stets jammert, sie habe zu wenig, um auf dem Markt für uns Essen zu kaufen? Warum das denn?" Ich war so erstaunt und gebannt, dass ich erneut in meiner Arbeit innehielt.

    „Damit diese Frauen mit ihnen den Abend verbringen, glaub ich. Und die Nacht. Mach weiter, Loui!", ermahnte er mich in einem Atemzug mit seiner Erzählung.

    „Die Nacht? Aber was machen sie denn die ganze Zeit mit denen?" Ich schleuderte Pferdeäpfel in die Karre auf dem Gang.

    „Naja, die Frauen haben auf den Schößen der Männer gesessen und die ganze Zeit ganz albern gelacht oder andere komische Geräusche gemacht. Und ein paar Mal haben die Männer den Frauen auf den Hintern gehauen. Oder so vorne an … die Brüste gegriffen. Die sind aber auch schon fast aus den bunten Kleidern rausgepurzelt." Er wurde feuerrot und schaute mich nicht an.

    „Was ist rausgepurzelt?", fragte ich verwirrt; so verlegen kannte ich meinen Bruder überhaupt nicht.

    „Die Brüste. Die Kleider waren irgendwie zu eng. Oder zu klein. Fast die ganze Brust hat rausgeguckt. Bei allen Frauen dort. Also, bei diesen... Glitzernden."

    „Warum das denn? Wenn ihnen Männer so viel Geld geben, warum kaufen sie sich dann keine passenden Kleider?"

    Er sah mich nachdenklich an. „Weißt du, ich glaube, die Männer haben denen gerade deshalb das Geld gegeben, weil sie es mögen."

    „Was?"

    „Die raushängenden Brüste, Himmel noch eins, du bist doch sonst nicht so schwerfällig im Kopf!, schimpfte er. „Vater hat die ganze Zeit gelacht und da immer wieder hin gegriffen und die Frau auf den Mund geküsst und so. Zuhause ist er nie so fröhlich wie mit diesen Frauen.

    Ich runzelte verdattert die Stirn. Ich konnte mir Vater überhaupt nicht fröhlich vorstellen! „Vater hat die Frau geküsst? Glaubst du, Mutter weiß, was er da in den Pubs macht?"

    Cedric verzog das Gesicht. „Nee, ich glaub nicht. Vater hat mir streng verboten, es dir oder Mutter zu sagen, wo wir waren und was wir gemacht haben. Sie denkt halt, er redet einfach mit den anderen Bauern. Ich glaub nicht, dass sie mehr weiß. Oder nachfragt."

    Ich dachte darüber einen Augenblick nach, dann überlegte ich: „Aber vielleicht würde es Mutter gar nicht stören…" Ich brach ab und musste unwillkürlich an Mutters nächtliche gequälte Laute denken.

    „Ja, vielleicht." Cedric schien ähnliches zu denken.

    „Und das haben die die ganze Nacht gemacht? Denen auf die Brüste geschaut, auf den Po gehauen und mit ihnen gelacht?" Ich verstand überhaupt nicht, was daran spannend sein sollte.

    „Nein. Er klang unglücklich und als wäre er unendlich erleichtert gewesen, wenn ich nicht weiter nachgefragt hätte. „Sie haben auch noch Karten gespielt. Und die Frauen haben sich dann immer mehr ausgezogen. Je nachdem, wer gewonnen und verloren hat.

    „Sie haben sich ausgezogen? Ich war hin und her gerissen zwischen Spannung und Entsetzen. „Hast du hingeguckt? Wie sahen sie aus?

    Er stöhnte. „Na, wie nackte Frauen eben aussehen…" Er wurde abermals sehr rot im Gesicht und wandte mir seinen Rücken zu, als er Wasser in den Trog meines Ponys Fred schüttete.

    „Und dann?", bohrte ich weiter nach.

    „Dann haben die Männer die Frauen angefasst. Überall…"

    „Überall?!?" Beinahe hätte ich meine Mistgabel fallen gelassen.

    Er nickte wieder und schüttete Körnerfutter in den zweiten Trog in Freds Box.

    „Hast du auch eine angefasst?", erkundete ich neugierig, stellte die Mistgabel weg und begann, den Gang zwischen den Boxen zu fegen. Ich war stolz auf mich: Trotz des unsäglich spannenden Gesprächsthemas war ich beinahe fertig.

    Er schüttelte vehement den Kopf. „Nein! Ich wollte nicht. Und getraut hab ich mich auch nicht. Vater wollte, dass ich es tue. Er hat immer wieder gelacht und der einen Frau gesagt, sie soll sich zu mir setzen, aber mir war das unheimlich."

    „Das wär´s mir auch!, sagte ich mitfühlend und aus vollem Herzen. Das brachte ihn zum Lachen. Und ich fragte weiter: „Und dann?

    „Irgendwann spät nachts sind die Männer dann auf ihre Zimmer gegangen. Und die Frauen haben sie mitgenommen. Vater hat seine Glitzerfrau auch mit auf unser Zimmer genommen."

    „Mit ins … Bett?"

    Er nickte.

    „Und hat sie dann auch so … du weißt schon… gewimmert und geweint … wie Mama, wenn sie mit Vater im Bett ist?"

    Nun schüttelte er den Kopf. „Nein, sie hat die ganze Zeit gekichert und ihm Sachen zugeflüstert. Ich hab nicht verstanden, was! So eilig, wie er das hinzufügte, klang es vor allem so, als wolle er meine Nachfrage schon im Keim ersticken. „Und Vater hat die ganze Zeit gekeucht. So wie mit Mutter auch.

    Ich verzog das Gesicht. „Das ist ja ekelhaft! Wie kann man da noch kichern, wenn er diese Geräusche macht? Pfui!" Ich schüttelte mich.

    In diesem Moment kam Vater in die Stallung gepoltert und brüllte: „Warum zum Teufel seid ihr noch immer nicht fertig? Hab ich euch nicht gesagt, ihr sollt euch beeilen? Muss ich euch erst windelweich schlagen, damit ihr spurt?"

    Wir versuchten, ihn milde zu stimmen und zu beschwichtigen und ihm zu versichern, dass wir sofort fertig wären, doch -wie üblich, wenn er getrunken hatteerreichten ihn unsere Worte und Beteuerungen nicht. Auch nicht unser Flehen, bevor er zum ersten Schlag ausholte. Auch nicht meine panischen Schreie.

    „Vater, es ist meine Schuld!, rief Ced dazwischen, als Vaters fleischige Pranke mich am Kopf traf. „Ich hab die ganze Zeit mit ihr gesprochen. Ich hab sie abgelenkt. Bitte… Vater…! Ich fühlte, wie Ced versuchte, den großen, kräftigen Leib unseres Vaters von mir wegzuzerren, doch es gelang ihm nicht.

    „Was musst du dich immer für diesen kleinen Satansbraten einsetzen, Cedric? Er holte erneut aus und sein Schlag trieb mir die Tränen in die Augen. „Was macht sie mit dir, dass du ihr so verfallen bist? Du solltest dich als Mann vor Frauen in Acht nehmen, Sohn! Sie sind teuflisch und gefährlich!

    „Vater, bitte! Lass sie doch in Ruhe! Sie hat nichts getan! Sie ist doch nur ein kleines Mädchen", schrie Ced außer sich und ich sah selbst durch die Schläge hindurch, wie er mit Vaters starken Armen rang, um ihn von mir abzubringen.

    „Halt dein Maul, du dummer Junge! Ich verbiete dir, deine Schwester zu verteidigen, wenn ich sie züchtige und ihr zukommen lasse, was sie für ihre Schandhaftigkeit verdient!", bellte Vater und schlug mich erneut.

    Ich schloss meine Augen. Doch bevor alles schwarz wurde, sah ich Ceddys verzweifelte Augen und dieser Blick gab mir die Kraft, auszuhalten, was unvermeidlich war. Ich pflegte die Zeit zu vergessen, wenn Vater mich prügelte. Es war manchmal, wenn ich meine Augen schloss, als würde ich die Schläge nicht mehr fühlen. Als wäre ich wieder draußen im Wald, mit Ced, in Sicherheit und Freiheit und Liebe. Als ginge meine Seele auf Reisen, während mein Körper geschändet wurde. Und so bekam ich es nur durch eine dichte Nebelwand mit, als Vater schließlich taumelnd und stinkend von mir abließ und uns anbrüllte:

    „Ich will euch heute nicht mehr in meinem Haus sehen. Ihr könnt hier im Dreck bei den Viechern schlafen. Und zu essen gibt es auch nichts!" Dann flog die Stalltür hinter ihm ins Schloss und wir atmeten auf.

    Ced stürzte zu mir hin und nahm mein Gesicht in seine Hände. „Wo tut´s weh, Loui? Hat er dich doll verletzt? Lass mich sehen!"

    Ich hielt ihm bereitwillig und leise wimmernd mein Gesicht hin und er untersuchte es emsig von allen Seiten und aus jeder Perspektive. „Du wirst wieder mal ein schwarzes Auge kriegen. Und hier auf dem Wangenknochen hat er dich auch übel erwischt. Das gibt einen riesigen blauen Fleck. Ich hole kaltes Wasser…"

    Er stand auf und entschwand aus meinem Blickfeld, um gleich darauf mit einem kalt getränkten Tuch zurückzukehren. Er setzte sich auf einen Strohballen und winkte mich zu sich. „Komm her…" Er zog mich auf seinen Schoß und drückte mir behutsam das kalte, nasse Knäuel auf mein puckerndes, schmerzendes Auge. Ich wimmerte weiter und schluchzte und Cedrics freie Hand strich mir sanft und tröstend über den Rücken. Immer wieder. Bis es nicht mehr wehtat.

    Irgendwann später nachts schlich sich Mutter zu uns raus und stellte uns Brot und Käse und eine Kanne Milch hin. „Lasst ihn die Sachen morgen nicht sehen, hört ihr, Kinder?, warnte sie uns eindringlich flüsternd. Wir nickten eifrig und sie drückte uns je einen Kuss auf die Stirn. „Ihr müsst besser auf ihn hören, Kinder. Besonders wenn er … aus der Stadt zurückkommt. Wir nickten wieder und sie strich Cedric über den Kopf. „Schlaft gut, meine Kleinen."

    „Gute Nacht, Mutter. Danke für das Essen!", murmelte Cedric und wir sahen ihr schweigend nach, wie sie in ihrem weißen, bodenlangen Nachthemd und mit dem dicken, langen, geflochtenen Zopf, der ihr fast bis zum Po reichte, davon schlich wie ein Nachtgespenst.

    Ich seufzte schwer. „Ich wünschte, Mutter wäre stärker! Und größer. Und lauter. Dann könnte sie uns vor Vater beschützen."

    Cedric nickte stumm und nahm das Brot in seine Hände, um es in zwei große Stücke zu zerbrechen. Er gab mir das Größere. „Hier, Loui, damit du groß und stark wirst und dich selber gut beschützen kannst!"

    Ich grinste, obwohl mein Gesicht dabei höllisch schmerzte. „Ja, ich werde so groß und stark wie du."

    „Aber ich kann dich auch nicht beschützen", sagte er traurig.

    „Du bist ja auch noch ein Junge. Wenn du erst ein Mann bist, wirst du größer und stärker als Vater sein. Und so will ich dann auch werden!" Ich war schon wieder abenteuerlustig und vergnügt; mit Cedric im Stall zu schlafen war keine Strafe für mich. Es war besser als im Haus, wo Mutter so furchtbare Geräusche von sich gab und weinte und Vater dazu keuchte. Hier waren wir nur für uns und in diesem Zustand war meine Welt ein Paradies.

    Um uns herum duftete es nach Heu und Stroh und die warmen Leiber der Pferde dufteten auch. Das wohlige, schläfrige Schnauben der Tiere gefiel mir und noch viel mehr, dass Ced und ich hier bis spät in die Nacht reden konnten, ohne geschimpft zu werden. Ich liebte es, dass Ced mich zum Schlafen eng an sich ziehen würde und wir die ganze Nacht so liegen bleiben würden. So fühlte ich mich sicher und geborgen. Im Haus durften wir das nicht. Ced achtete akribisch darauf, dass jeder von uns zur Morgenstunde wieder in seinem eigenen Bett lag. Denn ein Mal hatte Vater uns am Morgen zusammen in meinem Bett vorgefunden, weil Ced mich getröstet hatte und wir darüber einfach eingeschlafen waren und es hatte schrecklichen Ärger gegeben. Ich habe damals nicht verstanden, warum.

    Später habe ich mich oft gefragt, ob ich die Zeit mit Cedric irgendwie hätte noch besser oder intensiver nutzen können, wenn ich gewusst hätte, dass er früh von zuhause weg und in die Armee gehen würde, um die britischen Kolonien auf den anderen Kontinenten zu verteidigen, erweitern, erobern oder was auch immer die Soldaten dort in der Ferne taten; ich habe es nie begriffen. Doch meine Antwort war immer dieselbe: Wir hätten uns nicht näher sein können, nicht enger verbunden, nicht inniger miteinander verwoben, als wir es gewesen waren. Für mich brach die wahre Hölle erst aus, als er ging. Ich hatte als Mädchen immer geahnt, dass ich allein mit meinem Vater gestorben oder dem Irrsinn verfallen wäre. Doch erst als Ced weg war und ich niemanden mehr hatte, der sich vor mich stellte oder mich tröstete, nachdem es vorbei war, brach das Ausmaß an Horror über mir zusammen.

    Teufelsweib

    Louisa, was beim Allmächtigen hast du dir dabei gedacht?!" So begannen in meiner Jugend die meisten Sätze meiner Mutter mir gegenüber. Das erste Mal hörte ich diese Floskel als sie mich kurz nach Cedrics Auszug in seinen Klamotten aus dem Wald reiten sah. Ich hatte eigentlich angenommen, sie sei mit Vater zum Markt gefahren und ich hätte genug Zeit, mich später wieder umzuziehen, doch ihre Migräne hatte sie ans Bett gefesselt -zumindest solange, bis Vater alleine vom Hof gefahren war- und so sah sie mich in Ceddys dunklen Kniebundhosen, seinen weißen Kniestrümpfen und seinem schwarzen Arbeitshemd auf unser kleines Cottage zu reiten. Ich hatte auch meine Haare so aufgerollt, dass sie vollständig unter Cedrics brauner Mütze verschwanden und Mutter muss wohl gedacht haben, sie sähe einen Geist.

    Sie stand gerade vor der Tür, um Teppiche zu klopfen, ließ diesen aber abrupt fallen, um ihre Hände in theatralischem Entsetzen auf den Mund zu schlagen und mich dann hysterisch ins Haus zu zerren, als fürchte sie, jemand könne mich in diesem Aufzug sehen. Was absurd war, denn hier lebte sonst niemand, der uns hätte sehen können; die nächsten Bauern waren Meilen von unserem Hof entfernt. Wir hatten keine direkten Nachbarn. Doch Mutter war auch bei Kirchbesuchen stets sehr darauf bedacht, was andere Leute über sie und uns Kinder denken mochten und dieser Wahn verließ sie ganz offensichtlich auch nicht, wenn unsere einzigen Zuschauer Schafe waren.

    Was sie nicht wissen oder auch nur ahnen konnte, war, dass ich in eben jenem Aufzug ins Dorf geritten war, um bei der Postsammelstelle meinen wöchentlichen Brief von Cedric abzuholen. Ich konnte es Woche um Woche nicht abwarten, von meinem Bruder zu hören. Er konnte uns nur ein Mal im Jahr, zu Weihnachten, besuchen. Für wenige Tage. Und den Rest des Jahres trauerte ich jeden Tag und jede Nacht um seine Abwesenheit und wartete sehnsüchtig auf jedes Lebenszeichen, jede Kontaktaufnahme. Er schrieb mir mit loyaler Regelmäßigkeit, emsiger Detailliertheit und herzlicher Offenheit. Es war fast, als würden wir noch immer miteinander reden können. Nur jetzt eben über das Papier unter unseren Federn. Wenn ich seinen Brief abholte, gab ich meinen nächsten Brief bei der Post auf und so waren wir in langsamen, aber beständigem Austausch. Ein weiteres Geheimnis. Meine Eltern ahnten rein gar nichts davon. Die Dame bei der Poststelle war reizend und verschwiegen. Sie verriet mich nicht. Und wenn sie sich über meinen seltsamen Aufzug wunderte, so sagte sie nichts. Vielleicht schlussfolgerte sie einfach, dass es zum Reiten bequemer war.

    Meine Mutter hingegen war umso entsetzter und verstörter. Sobald ich von meinem Pony abgestiegen war und Mutter mich in den kleinen, dunklen Wohn- und Essraum geschoben hatte, in den man quasi hineinfiel, sobald man zur Haustür hineinkam, blickte sie entsetzt an mir hinab und flüsterte: „Was beim Allmächtigen hast du dir dabei gedacht?"

    Ich hasste es, wenn sie den Allmächtigen ins Spiel brachte. Oder dessen Mutter. Oder irgendeine heilige Jungfrau. Ich mochte sie allesamt nicht. Ich ahnte, dass ich dafür wahrscheinlich irgendwann in die Hölle kommen würde, aber das war nach meiner Ansicht immer noch besser, als bei diesen Gestalten im Himmel zu verweilen. Denn was der Allmächtige und die Jungfrau so zu sagen hatten, hörte sich an, wie eine Mischung zwischen meiner Mutter, meinem Vater und dem Pfarrer aus der Kirche. Und deren Bilder vom Menschen, der Welt, dem Leben und Moral waren mir allesamt suspekt und unsympathisch. Deshalb beschloss ich frühzeitig, mich umzuhorchen, wo es nur ging, um andere Bekanntschaften zu machen, als den Allmächtigen, den unser Pfarrer persönlich zu kennen schien -zumindest gab er sich als direkten Gesandten und Vermittler des Allmächtigen aus. Und Bekannte des Dorfpfarrers wollte ich gar nicht näher kennenlernen. Und schon gar nicht wollte ich mich an sie mittels Gebete mit meinen intimsten Wünschen, Hoffnungen und Sorgen wenden.

    „Was soll ich mir dabei schon gedacht haben, Mutter? In meinen Kleidern kann ich weder richtig reiten, noch auf einen Baum steigen, noch vernünftig fischen, noch rennen … Ceddys Klamotten verstauben hier eh nur, also…?", entgegnete ich ihr aufmüpfig.

    Was sie nicht wissen konnte und ich ihr bestimmt nicht erklären würde, war, dass ich mich Ced in seinen Kleidungsstücken ein wenig näher fühlte. Es war dann ein wenig mehr, als sei er immer noch bei mir. Als würden wir nach wie vor gemeinsam durch den Wald reiten oder in unserem Baumhaus sitzen und Bücher lesen. Er hatte alle seine Bücher für mich hier zurückgelassen. Und ich behütete sie so sorgfältig, als seien sie Schätze und las sie wieder und wieder, um dann mit Ced stumme innere Gespräche und Diskussionen darüber zu führen.

    „Es schickt sich nicht für ein Mädchen, in Männersachen herumzulaufen, Louisa!", tadelte Mutter mich. „Was denkst du dir nur dabei?" Sie klang nie wirklich streng, eher müde und überfordert.

    Ich blickte sie verständnislos an. „Was soll daran schlecht sein? Es ist bequemer!"

    Mutter musterte mich besorgt. „Was daran schlecht sein soll? Mädchen, es steht sogar direkt in der Bibel: `Eine Frau soll keine Männerkleider tragen und ein Mann keine Frauenkleider anziehen; denn wer dieses tut, ist für den HERREN, deinen Gott, ein Gräuel!´ Sie sah wirklich verängstigt aus; als fürchte sie gar nicht primär, was die Leute denken könnten, sondern der HERR. „Hast du denn überhaupt keine Angst vor der Hölle, Mädchen? Was du da tust ist eine Sünde!

    Ich runzelte die Stirn und für einen kleinen, kurzen, verzagten Moment verspürte ich Angst. Dann aber kehrte das zurück, was ich seit jeher tief in meinem Herzen verspürte: Wenn das Gotteswesen jene allmächtige Liebe ist, als die ich IhnSie fühle, könnte es IhmIhr nicht gleichgültiger sein, was ich an Kleidung trage; einzig, wer ich in meinem Herzen bin, ist von wahrem Belang. Ich schwieg; stur und resigniert in einem.

    „Schau dich doch nur mal an, Louisa! Du siehst aus wie ein Knabe!", versuchte meine Mutter einen neuen Kurs, der umso mehr zum Scheitern verurteilt war. „Du solltest längst mehr wie eine junge Frau ausschauen! Ich verstehe das nicht; wieso werden deine Brüste nicht größer? Ich habe doch auch größere Brüste! Und wir geben dir doch genügend zu essen. Und was ist mit deiner Monatsblutung? Kommt sie endlich regelmäßig?" Sie betrachtete mich kritisch von oben bis unten, als suche sie nach einer Lösung; einem Rezept gegen all meine Störungen und Unzulänglichkeiten. Wie um alles in der Welt waren wir jetzt von meiner ungewöhnlichen Aufmachung zu diesem unangenehmen Thema gelangt?

    „Nein. Aber ab und zu, entgegnete ich salopp. „Und ich hab keine Ahnung, warum ich kleinere Brüste habe als du. Es stört mich nicht. Mach dir keine Sorgen. So muss ich wenigstens kein Korsett tragen, um sie zu halten! Was mich persönlich anging, so war ich unglaublich froh, nicht so regelmäßig zu bluten wie andere Jungfrauen in meinem Alter und kleine, feste Brüste zu haben, anstatt solche, die Männer wie mein Vater ständig anstarrten.

    „Na, nun geh und zieh dich rasch um, bevor Vater heimkehrt. Wenn er dich so sieht, gibt es mächtig Ärger!" Ihre Augen wurden weich und ich wusste, sie wollte genau so wenig wie ich, dass er mich bestrafte.

    Ich zog mich hinter den Vorhang zurück, der meine Schlafnische von der Wohnstube trennte und zerrte achtlos eines der unbequemen Kleider aus dem winzigen Kabuff aus Brettern hervor, der als meine Garderobe diente. Ich zwängte mich unwillig hinein und steckte meine Haare zu einem ordentlichen Knoten auf. Dann gesellte ich mich zu Mutter in die Küche, um ihr beim Abendessen zu helfen. Die Küche war nur wenig größer als der Platzangst erregende Wohnraum, doch auch hier gab es nur zwei winzige Fenster und Regale und Ablagen aus dunklem Holz, so dass das ganze Cottage stets düster, eng und unfreundlich wirkte. Zudem war es feucht und kühl und roch stets etwas modrig. Ich konnte es mit jedem Tag weniger abwarten, es endgültig hinter mir zu lassen.

    „Tiffany! Ich bin zurück!", bellte Vater schon von den Stallungen aus herüber. Sinn und Zweck davon war, dass wir das Essen serviert haben sollten, bis er die Pferde abgespannt und die Kutsche in den Schober gebracht hatte.

    In den allerersten Wochen nach Cedrics Abreise hatte Vater seine Briefe von der Post mit dem Rest unserer Nachrichten (nicht dass es jemals viele gewesen wären...) abgeholt und mir mit deutlicher Abscheu im Gesicht überreicht: „Warum zum Teufel schickt der Junge dir Briefe, Louisa? Es ist wirklich nicht normal, wie ihr Geschwister aneinanderklebt. Dass das nicht mal ein Ende nimmt, nun, da er bei der Armee ist!" Er hatte abfällig den Kopf geschüttelt. „Ich hab meinen Schwestern nie auch nur einen Brief geschrieben. Ich hab nicht mal deiner Mutter Briefe geschrieben, als ich am Anfang unserer Ehe zur Armee musste! Er hatte verächtlich gelacht. „Nun, nicht, dass sie die Briefe hätten lesen können, die dummen Weibsbilder! Was schickt dir der Bursche in diesen Umschlägen?! Malt er dir Bilder? Sein Gelächter war noch hässlicher geworden.

    So, wie er betont hatte, niemals irgendwem einen Brief geschickt zu haben, klang es, als sei er stolz darauf, so ein starker Mann zu sein, der sich nicht zu Sentimentalitäten wie Briefeschreiben herabließ. Ist es nicht eigenartig, wie sehr es von unserem ganz persönlichen Wertesystem abhängt, was wir als gut und schlecht, erstrebenswert und verachtenswert, wahr und falsch erachten? Mir war das lange nicht klar und ich dachte einfach, er sei dumm und herzlos. Aber irgendwann ging mir das Licht auf, dass jeder Mensch tatsächlich tut, was er für richtig und wahr hält. Erschreckend! Bizarr!

    Seine Reaktion war dermaßen verstörend und demütigend gewesen, dass ich ihm fortan stets zuvorgekommen war und Cedrics Briefe abgefangen hatte, bevor Vater sie abholen konnte. Doch ich wurde nicht müde, ihm jede Woche nach dem Markt entgegen zu rennen und zu fragen:

    „Hast du Post von Cedric dabei?"

    Er sah mich finster an und grinste dann fies: „Nein, du dummes Gör. Wie lange willst du mich das noch fragen? Der Bursche ist

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