Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Ohne Dich war ich Nie
Ohne Dich war ich Nie
Ohne Dich war ich Nie
eBook471 Seiten7 Stunden

Ohne Dich war ich Nie

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Verletzt, enttäuscht und unglaublich wütend über den sexuellen Übergriff durch Alexander, folgt Florentina der Einladung ihrer Jugendliebe Till zu einem Abitur- Nachtreffen in die Eifel. Doch ihr Entschluss wird durch schmerzliche Erinnerungen an den Tod ihres Vaters und der Demütigung des Betruges durch Till überschattet. Als sie auf ihrem Weg den Polizisten Fritz Vossen aus ihrem Heimatort begegnet, deutet dieser an, ihr Vater sei keines natürlichen Todes verstorben. Florentina trifft eine Entscheidung. Das hilflose kleine Mädchen von einst existiert nicht mehr. Als Volljuristin ist sie nun in der Lage den plötzlichen Tod ihres Vaters vor 14 Jahren auf eigene Faust zu
recherchieren und sich ein für alle Mal der Schatten ihrer Vergangenheit zu entledigen. Als sie im Haus ihrer Mutter ihr Vorhaben verkündet, ist die alte Verbundenheit zwischen ihr und Till schnell wieder zu spüren. Gemeinsam beginnen die beiden den Fall aufzurollen, und während sich die Indizien für ein mögliches Delikt häufen, entflammt auch die alte Leidenschaft zwischen ihnen aufs Neue. Doch Ängste und Zweifel lassen sie zurückweichen. Hatte Till sie nicht ausgerechnet mit ihrer größten Feindin Julia betrogen. Und was wissen er, ihre Mutter und die Leute aus dem Dorf über den Tod ihres Vaters? Was wird ihr verschwiegen?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum25. März 2020
ISBN9783347033160
Ohne Dich war ich Nie

Ähnlich wie Ohne Dich war ich Nie

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Ohne Dich war ich Nie

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Ohne Dich war ich Nie - Iris Plum

    Mittwoch, 1 Juli

    Grelles Sonnenlicht durchflutete mein Schlafzimmer, als ich blinzelnd zu meinem Nachttisch schaute, um zu erfahren, wie viel Zeit ich heute wieder vergeudet hatte. Leuchtend rot stachen mir die Ziffern meines Weckers ins Gesicht und teilten mir unverblümt mit, dass es erst kurz nach sechs war. Gähnend rieb ich mir die Augen. Mist. Eine ganze halbe Stunde. Wenn ich nicht endlich Zeit erübrigen würde, um neue Jalousien für mein Schlafzimmerfenster zu kaufen, würde ich wohl den ganzen Sommer über noch vor dem Klingeln meines Weckers aufwachen.

    Die Augen zugekniffen, rollte ich mich auf meinem neuen Boxspringbett auf den Bauch, das Gesicht fest in die Kissen gedrückt. Nein, ich würde nicht aufstehen, trotzte ich meinem wachen Bewusstsein entgegen. Ich würde liegen bleiben, bis der Wecker klingelte, und mich dann in aller Ruhe anziehen. Unruhig wälzte ich mich im Bett.

    Als ich erneut auf die Uhr schaute, stellte ich entsetzt fest, dass ich es geschafft hatte, ganze drei Minuten länger in meinem Bett zu verharren. Resigniert warf ich die Beine über die Bettkante, setzte mich auf und rückte ein Stück nach hinten, um mich an der hellgrauen Schlafzimmerwand anlehnen zu können, als mein Blick auf den Brief mir gegenüber fiel.

    Ich schloss meine Augen und atmete einmal tief ein. Dann stand ich langsam auf und ging hinüber zu dem antiken Sekretär, den mein Vater mir von seiner letzten Toskana-Reise aus Siena mitgebracht hatte. Ein Geschenk zu meinem vierzehnten Geburtstag. Wie von selbst streichelte meine Hand über das alte Eichenholz. Vierzehn Jahre befand sich der Sekretär nun in meinem Besitz. Damals ahnte ich nicht, dass sich nur drei Tage nach meinem Geburtstag meine ganze Welt verändern würde. Nur drei Tage später war er nicht mehr da. Drei Tage später war er tot. Einfach so.

    Ich nahm den Brief in die Hand, ging zurück zum Bett, lehnte mich zurück in die Kissen und schloss erneut meine Augen. Ein zarter Duft von Lavendel stieg mir in die Nase und ich sog den süßlichen Duft tief ein. Der Geruch war nur noch dezent wahrzunehmen. Nicht mehr so penetrant wie noch drei Wochen zuvor, als ich den Brief erhalten hatte, aber immer noch stark genug, um mich in meinen Erinnerungen gefangen zu halten. Erinnerungen, die ich bemüht war in den Tiefen meines Bewusstseins zu verbergen.

    Drei Wochen und vier Tage kämpfte ich nun schon mit mir und jedes Mal ging ich als Sieger hervor. Doch an diesem Morgen scheiterte mein Verdrängungsmechanismus kläglich. Bilder aus meiner Kindheit tauchten vor meinem geistigen Auge auf. Bilder aus einer Zeit, in der jedes Kind so glücklich sein sollte, wie ich es damals gewesen war.

    Ich war erst drei, als meine Eltern den kleinen Delikatessenladen mitten in der Aachener Altstadt eröffnet hatten, in dem sie hauptsächlich Weine aus Italien verkauften. Später, als der Laden florierte, kamen noch Käse, Pasta und Gewürze hinzu, doch es waren die exquisiten Weine, denen die Liebe meiner Eltern galt.

    Ich war so sehr in meinen Erinnerungen gefangen, dass ich glaubte, die Gerüche aus dem kleinen Laden riechen zu können, gerade so als wäre mein kleines Schlafzimmer mit italienischen Kräutern angereichert worden. Ein Lächeln schlich sich in mein Gesicht und als ich es bemerkte, zog ich meinen Mund sofort wieder zu einer geraden Linie zusammen. Kurz vor meinem fünften Geburtstag erwarben meine Eltern, durch einen Geschäftsfreund meines Vaters, ein wunderschönes altes Ferienhaus in Guardistallo, einem kleinen Ort, der zu der Gemeinde Pisa gehörte.

    Immer noch, nach so langer Zeit, sah ich ihn viel zu lebendig vor mir. Sah seine braunen Augen, wie sie bernsteinfarben glitzerten, wenn er voller Begeisterung erzählte, dass es von Volterra aus nur noch dreißig Kilometer seien, bis wir unser Ziel erreichen würden. Hätte er gesagt, dass wir noch eine halbe Stunde länger im heißen Auto ohne Klimaanlage aushalten mussten, hätte ich ihn auch sicher verstanden.

    Hinter meinen fest verschlossenen Augen konnte ich sie sehen, die riesigen Lavendelfelder, wie man sie nur in der Provence vermuten würde. Sah, wie sie sich unendlich weit zu erstrecken schienen und den Weg zu unserem Haus mit ihren blau-violetten Farben zierten. Roch ihren angenehmen, frischen Duft, der in mir das Gefühl erweckte, nach Hause zu kommen. Sah, wie glücklich meine Eltern waren, wenn sie am Abend bei einem Glas Wein auf der Terrasse saßen und redeten. Fühlte die zärtlichen Blicke, mit denen sie mir begegneten und die mir sagten, ich sei das Beste und Einzige auf der Welt. Das Einzige, was wirklich zählte.

    In den Sommermonaten begleitete uns oft Tante Sofia. Wir waren nicht wirklich verwandt. Sofia war die alleinerziehende Freundin meiner Mutter. Ihr Sohn Till war nur wenige Monate älter als ich. Ich erinnerte mich daran, dass meine Mutter mir einmal erzählte, Sofias große Liebe und Vater ihres Sohnes sei nach Afrika ausgewandert und habe dort geheiratet. Er hatte ihr sogar eine Einladung zur Hochzeit geschickt. Ich erfuhr nie, ob Sofia wirklich nach Afrika gereist war, doch in jenem Jahr fuhr Till mit uns alleine nach Italien.

    Ich verbot es mir an Till zu denken, doch es gelang mir nicht. Immer wieder sah ich den kleinen Jungen mit seinen großen, braunen Kulleraugen und den wilden dunkelbraunen Locken, die mit meinen um die Wette hüpften, vor mir. Till war nicht einfach nur mein bester Freund. Er war so viel mehr. Er war der Bruder, den ich nie hatte. Und auch wenn ich damals noch sehr jung war, wusste ich doch intuitiv, dass unsere Beziehung etwas ganz Besonderes war. Wenn er sich nicht in meiner Nähe aufhielt, fühlte ich mich seltsam alleine, so als würde ich nur zur Hälfte existieren. Wir gehörten zusammen, waren Eins. Wir waren die Art von Freunden, die ihre Eltern mit erfundenen Abenteuergeschichten zur Weißglut brachten. Till konnte bereits vor der Einschulung lesen, woraufhin wir viel Zeit damit verbrachten, uns Artikel in Zeitschriften anzusehen, die für Kinder gänzlich ungeeignet waren. Ich lernte eine Menge dazu.

    Abgesehen davon, dass ich in den Genuss sämtlicher Männerzeitschriften kam, war ich wohl auch das einzige Mädchen unserer Klasse, das wusste, dass Anakin nicht der neue Mitschüler der Parallelklasse und Batman nicht von einer Spinne gebissen wurde, womit mir die Gunst der Jungs ebenso zuteil wurde, wie die Ablehnung der Mädchen. Doch Till passte auf mich auf. Das tat er immer. Damals.

    Unwillkürlich legte ich meine Hand an mein Knie und begann es zu reiben, den Brief immer noch fest umklammert. Es dauerte eine Weile, bis ich bemerkte, dass ich mich an dem scharfen Papier des Briefumschlags geschnitten hatte. Blut sickerte auf mein Bettlaken und ich stand auf, um mir aus dem Spiegelschrank im angrenzenden Badezimmer ein Pflaster zu holen. Ich nahm das Pflaster aus meiner notdürftigen Hausapotheke, ging zurück ins Schlafzimmer und setzte mich wieder aufs Bett, um die kleine Schnittwunde zu versorgen. Verdammt. Warum musste er mir auch schreiben. Nach all den Jahren.

    Meine Hände zitterten, als ich das Pflaster aus seiner Verpackung befreite, um es auf die Wunde zu kleben. Wie hypnotisiert schaute ich auf mein Knie, unfähig die aufkommenden Bilder auszuschalten, die viel zu real wirkten. Till, wie er besorgt vor mir hockte und sanft die blutige Stelle an meinem Knie küsste, als ein Junge aus einer der oberen Klassen mich derart heftig geschubst hatte, dass ich fiel und mir auf dem aufgerauten Betonboden das Knie aufschürfte. Ich hatte fürchterlich geweint. Till tröstete mich, hielt mich in seinen Armen, bis die Tränen versiegt waren. Dann ging er hinüber zu dem Jungen und verpasste ihm, ohne ein Wort der Vorwarnung, einen solch kräftigen Stoß gegen den Brustkorb, dass der rückwärts mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. Till musste daraufhin zum Direktor und sollte sich bei dem Jungen entschuldigen. Das hat er nie getan. Ich war mächtig stolz auf ihn. Er war mein Prinz in schillernder Rüstung und ich das kleine Mädchen, das es zu beschützen galt. Doch Zeiten ändern sich und nicht jeder war zum Prinzen geeignet.

    Als wir beide älter wurden, war es dann oft an mir, ihm aus der Patsche zu helfen. Mein Gott, wie oft ich seinetwegen gelogen hatte. Bei dem Gedanken daran wurde mir übel. Ständig saß ich vor unserem Direktor und musste mir eine weitere haarsträubende Geschichte ausdenken, nur weil er wieder einmal einem Mädchen imponieren musste. Und jedes Mal nahm ich wie selbstverständlich die Schuld auf mich. Auch wenn mir sein pubertäres Gehabe oftmals den letzten Nerv raubte, musste ich dennoch zugeben, dass wir ein ziemlich gut eingespieltes Team waren. Damals. Doch damals war verdammt lange her.

    Zaghaft nahm ich den Brief wieder in meine Hand und betrachtete ihn skeptisch. Ich wollte ihn nicht öffnen, wollte nichts von all den Geschehnissen in meinem Heimatort erfahren. Herrgott, ich wollte nicht einmal wissen, ob es Sofia gut ging. Und Till war mit Abstand der Letzte, von dem ich wissen wollte, wie es ihm ergangen war. Er hatte den Brief doch bewusst mit Lavendel parfümiert. Er wollte, dass ich mich erinnerte. Als hätte er nicht genau gewusst, was er damit bei mir auslöste. Oh mein Gott. Ich erstarrte. Ein irrationales Gefühl der Angst machte sich in meinem Magen breit. Mein Herz raste und Schweiß sammelte sich auf meiner Stirn. Natürlich war es ihm bewusst. Mama, dröhnte es in meinem Kopf. Wann hatte ich zuletzt mit ihr gesprochen? Vor zwei Wochen? Nein. Es mussten schon über drei Wochen her sein. Mist.

    Ich spürte, wie die Schuldgefühle an mir nagten und die eiserne Ignoranz übermannten, als ich vom Bett aufstand und hinüber zum Sekretär ging, um den Brief dort abzulegen.

    Ich öffnete die obere Schublade und holte den silbernen Brieföffner heraus. Meine Hände schwitzten, als ich den Brief zitternd in die Hand nahm. Kopfschüttelnd dachte ich darüber nach, wie der Brief mich hatte erreichen können, wo er doch in völlig verschnörkelter Schrift und mit Tinte geschrieben worden war. Doch mein Name war immer noch gut lesbar: Florentina Vergossen.

    Eine ganze Weile stand ich wie versteinert da, den Brieföffner in der linken und den Brief in der rechten Hand, unfähig meine Augen auf einen anderen Punkt des Zimmers zu lenken. Jetzt reiß dich zusammen, Florentina, rügte ich mich selbst. Du hast überhaupt keinen Grund, jetzt in Panik zu verfallen. Wäre Mama etwas passiert, hätte sich Sofia oder die Polizei bei dir gemeldet. Ich spürte, wie mein Puls sich beruhigte, nur um Sekunden später erneut zu rasen. Was wenn nicht meiner Mutter, sondern Sofia etwas zugestoßen war? Ich versuchte den Gedanken zu verscheuchen, während ich unwirsch und mit zittrigen Händen den Öffner einmal am oberen Rand des Briefes entlang zog.

    Dann setzte ich mich aufs Bett und erhaschte einen schnellen Blick meines Spiegelbildes, den der antike Barockspiegel aus Eiche über dem Sekretär mir zuwarf. Ich war nicht mehr das kleine Mädchen, das vor zehn Jahren von Roetgen nach München gezogen war. Dieses Mädchen existierte nicht mehr. Ich war eine attraktive junge Frau von achtundzwanzig Jahren, die es geschafft hatte, in kürzester Zeit zu promovieren und jetzt als Volljuristin in einer der besten Kanzleien für Strafrecht praktizieren durfte. Ich hatte einen durchaus erfolgreichen, gutaussehenden Freund, der obendrein auch noch um meine Hand angehalten hatte und dessen Vater mein Mentor war.

    Doch als ich nun mein Spielbild betrachtete, war von dieser attraktiven Person nicht viel übrig. Meine sonst alabasterfarbene Haut wirkte eher aschgrau, meine großen dunkelbraunen Augen lagen in tiefen Höhlen und meine Lippen waren bleich und spröde. Alles andere als hübsch, dachte ich.

    Meine blonden, von hellbraunen Strähnen durchzogenen Haare waren vom Schlaf noch völlig zerzaust und kräuselten sich nun bis zu meinen Schultern hoch. An normalen Tagen opferte ich sogar fünfzehn Minuten Schlaf, um die wilde Lockenmähne zu zähmen. Dank ein paar Pflegeprodukten und mithilfe eines Haarglätters ließen sie sich jedoch in kürzester Zeit und mit minimalem Aufwand in ein gepflegtes, glattes Wunder verwandeln.

    Mit einer Körpergröße von einem Meter sechsundsiebzig und einem Gewicht von zweiundsiebzig Kilogramm hatte ich zwar keine Modelmaße, doch ich konnte mich durchaus sehen lassen, auch wenn meine Mutter stets behauptete, ich sei unterernährt. Als ich mich nun betrachtete, war ich fast geneigt ihr zuzustimmen. Mein Körper hing schlaff auf dem Bett und durch das seidene, ärmellose T-Shirt schimmerten meine Rippen hindurch. Da spielte es auch keine Rolle, dass ich nur zu gut wusste, dass hinter dieser Fassade ein durch und durch trainierter Körper steckte, den ich einem disziplinierten Training von vier Mal wöchentlichem Laufen unterzog.

    Ich schaute an mir herunter. Na ja, meine Oberweite war nicht gerade in den Genuss des Üppigen gekommen und bei einer Körbchengröße von 75 A konnte es mir wohl auch niemand verdenken, dass ich schon das ein oder andere Mal über eine Brustvergrößerung nachgedacht hatte. Allerdings blieb es auch nur bei dem Gedanken, da meine Vernunft jedes Mal siegte, sobald mir der Gedanke zu gefährlich wurde. Aber alles in allem war ich normalerweise zufrieden mit meinem Erscheinungsbild. Ja, ich wäre sogar so weit gegangen zu sagen, dass ich eine durchaus attraktive Erscheinung war, die nichts, aber auch gar nichts mit dem Mädchen von einst gemein hatte.

    Ich nahm den Briefumschlag wieder auf und während ich eine weiße Hochglanzkarte hervorzog, hämmerte mein Herz so fest gegen meinen Brustkorb, dass ich Angst hatte, es würde jeden Moment zerspringen. Was ich sah, raubte mir förmlich den Atem. All die Angst, die ich noch vor wenigen Minuten verspürt hatte, war wie weggeblasen und machte nun einem mindestens ebenso großen Gefühl Platz. Wut. Unbändige Wut. Wie konnte er nur? Dieser elende Dreckskerl! Mein Blick glitt über das Foto, das auf der Vorderseite der Karte zu sehen war. Meine Jahrgangsstufe. Ein Wasserzeichen verlief diagonal darunter, auf dem groß Abi 2005 stand. Aus einem ersten Impuls heraus wollte ich die Karte zerreißen und dahin befördern, wo sie hingehörte – in den Müll. Doch die Neugierde siegte und gedemütigt von meiner Schwäche klappte ich die Karte auf und begann zu lesen.

    Abi 2005 - Liebe Florentina, es sind nun schon 10 Jahre vergangen und mir kommt es vor, als sei es gestern gewesen, unsere Schulzeit. Menschen verändern sich, werden erwachsen, ziehen in die Welt hinaus … Diese Feier ermöglicht es uns, noch einmal zurückzusehen, mit dem Wissen, was heute aus uns geworden ist. Also Floh, gib dir einen Ruck und komm. Wenn auch nicht um meinetwillen, dann wenigstens deiner Mutter zuliebe. Die Party beginnt um acht Uhr und findet am Samstag, den 04. Juli, auf dem Gutshof von Leonardos Eltern statt. Du erinnerst Dich? Ich denk an dich, alles Liebe, Dein Till

    Was? Er schickte mir eine Einladung? Hatte ich nicht deutlich genug gesagt, dass ich ihn nie wieder im Leben sehen wollte? Wo hatte er überhaupt meine Adresse her? Da kam ja wohl nur eine Person in Frage. Wie konnte er es wagen? Wie konnte es meine Mutter wagen, nach allem was geschehen war, diesem selbstgerechten Idioten meine Adresse zu geben? Ich wusste, es war ein Fehler den Brief zu öffnen. Ein einfacher Anruf, Florentina. Ein einfacher Anruf, um deine Ängste aus dem Weg zu räumen, hätte gereicht. Und während ich mir erlaubte, meinen wütenden Gedanken freien Lauf zu lassen, klingelte mein Telefon.

    Ich ging in den kleinen Flur, der das Schlafzimmer mit dem Wohnzimmer verband, und nahm den Hörer von der Station, die auf einem kleinen Holz-Sideboard stand. »Florentina Vergossen«, meldete ich mich und erschrak über die Feindseligkeit in meiner Stimme.

    »Hallo, mein Liebes. Sag mal, ist alles in Ordnung bei dir? Hast du Sorgen? Seit Tagen versuche ich dich zu erreichen, was um alles in der Welt ist denn nur los? «

    Hatten eigentlich alle Mütter eine Direkt-Hotline zu den gegenwärtigen Emotionen ihrer Kinder? Unsanft ließ ich mich auf den Rattanstuhl neben dem Sideboard fallen. Sie wollte allen Ernstes wissen, was los war? Na, zurzeit wohl eine ganze Menge. Du musst doch total durch den Wind sein, wenn du dieser Kröte gestattest, Post zu mir zu schicken, schrie ich sie in meinem Geiste an.

    »Nein, Mama, alles gut. Ist nur ein bisschen früh am Morgen und ich bin gerade erst aufgestanden«, sagte ich stattdessen. »Ich hätte mich ganz bestimmt in den nächsten Tagen gemeldet. «

    »Ach Kleines, du arbeitest einfach zu viel. Es wird höchste Zeit, dass du einmal abschaltest, und wo wir schon davon sprechen… hast du den Brief erhalten? «

    Ach, der Brief? Klar, Mama, während ich hier sitze, halte ich ihn in der linken Hand, während die rechte ihn just in diesem Moment in tausend Stücke zerreißt.

    »Ja, ich halte ihn gerade in der Hand. Die Einladung zum Abi-Nachtreffen, ist ja eine ziemliche Überraschung! Sag mal, hast du Till meine Adresse gegeben? « Ich hörte, wie sie am anderen Ende nach Luft schnappte, und wartete geduldig.

    »Ja, wieso fragst du? Durfte ich das nicht? Till hilft mir ab und zu mit den Reparaturen am Haus und mit all dem Computerzeug. Du weißt ja, dass ich von all dem keine Ahnung habe. Und Sofia ebenso wenig. Bei einer Gelegenheit hat er mir von dem bevorstehenden Treffen erzählt und mich gebeten, dir eine Einladung zukommen zulassen. Da dachte ich mir, es ist doch albern, wenn ich dir schreibe, das sollte er gefälligst selber machen. «

    Heuchlerin.

    »Wusstest du, dass er die Party allein geplant hat?«

    Nein, und es interessiert mich auch nicht. Aber mit Partys kannte er sich ja früher schon bestens aus. Ohne meine Antwort abzuwarten, redete meine Mutter weiter, was auch gut so war, denn ansonsten hätte ich womöglich Sachen gesagt, die ihr die Schamröte ins Gesicht getrieben hätten.

    »Also Kind, wie sieht es aus. Wann genau kommst du denn? Ach, ich freue mich wahnsinnig, dich endlich einmal ein paar Tage um mich zu haben. Sofia ist schon ganz aus dem Häuschen.«

    Was? Ich sollte nach Roetgen? Keine zehn Pferde würden mich dorthin bekommen. Und schon gar nicht für ein paar Tage. Oh Gott, ich war ja schon dankbar, wenn ich nur einen Tag überstand. Bei dem Gedanken daran bekam ich eine Gänsehaut und wie von allein überkreuzten sich meine nackten Beine.

    »Sofia plant schon ein gemeinsames Abendessen. Ganz klein und in familiärer Runde, nur wir zwei Alten, Till und du.«

    Stopp! Jetzt hatte sie den Bogen überspannt. Ich musste eingreifen, bevor sie sich in etwas verrannte, was nie und nimmer passieren würde.

    »Mama, Sofia gehört nicht zur Familie! Ebenso wenig wie ihr Sohn!« Ich versuchte so viel Gewicht wie nur irgend möglich in meine Stimme zu legen, was mir durchaus auch gelang, doch leider führte das Ergebnis nicht zu dem Ziel, das ich mir erhofft hatte.

    »Florentina, wie kannst du es wagen«, fuhr meine Mutter mich an. Die Kälte kroch jetzt schon meinen Nacken herauf. »Tante Sofia war immer für dich da. Nach dem Tod deines Vaters war sie nicht nur mir eine große Stütze. Nur durch ihre Hilfe konnten wir den Laden behalten, das weißt du genau!«

    Na toll, das Gespräch entwickelte sich genau in die entgegengesetzte Richtung. »Mama, ist ja schon gut. So habe ich es nicht gemeint. Rege dich bitte nicht so auf. Sicher würde Sofia sich freuen, mich noch einmal zu sehen, und sicher können wir das bald einmal nachholen. Was hältst du denn von der Idee, zu mir nach München zu kommen? Sofia kann dich begleiten und wir drei verbringen ein paar wunderschöne Tage hier bei mir.«

    Ich wartete, ließ ihr Zeit, meinen Vorschlag zu überdenken, doch das Resultat, das ich mir erhoffte, blieb aus. Nur ihr leises Atemgeräusch verriet mir, dass sie den Hörer noch nicht aufgelegt hatte, und so versuchte ich noch einen Trumpf auszuspielen.

    »Ich habe noch Karten für die Zauberflöte, die wollten wir schon bei deinem letzten Besuch vor elf Monaten gemeinsam besuchen.« Oh nein, schoss es mir durch den Kopf. Ich hatte meine Mutter seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen. Sicher, wir telefonierten, wenn auch nicht in regelmäßigen Abständen, aber wir erkundigten uns immer, wie es dem anderen ging. Zumindest handhabte sie es so. Florentina, du bist eine schreckliche Tochter, dröhnte es in meinen Ohren. Inzwischen hatte die Gänsehaut von meinem ganzen Körper Besitz ergriffen. Ich zwang meine Beine dazu, sich vom Stuhl zu erheben, und angelte meine Sweatshirt-Jacke vom Kleiderständer gegenüber, tapste barfuß in meine Küche, genau genommen war es nur eine Küchenzeile, die durch eine Theke vom angrenzenden Wohnzimmer abgetrennt wurde, setzte den Wasserkocher an, nahm den löslichen Kaffee aus dem Schrank über der Spüle und griff nach der danebenstehenden Tasse. Mist! Schon wieder kein vernünftiger Kaffee. Während ich all den Dingen nachging, lauschte ich immer wieder am Hörer, was mir zu der Kälte auch noch Nackenschmerzen bescherte, um letztendlich festzustellen, dass meine Mutter nicht gewillt war, irgendetwas zu meinem Vorschlag zu sagen.

    Ich brauchte ganz eindeutig Koffein. Als ich das Warten nicht mehr aushielt, fragte ich ganz leise: »Mama, bist du noch da? Mama?« Nach weiteren zehn Sekunden des Schweigens antwortete meine Mutter dann endlich, doch da war mein schlechtes Gewissen bereits zur Hochform angelaufen.

    »Schon gut, Liebes, du musst nicht kommen«, wimmerte sie. »Ich dachte nur … ach, ist ja auch egal.«

    »Was? Was dachtest du? Nein, es ist nicht egal! Mensch, Mama … weinst du? Warum weinst du denn jetzt?«

    Scheiße! Scheiße! Scheiße! Das war zu viel. Ich spürte, wie ich einknickte, und es ärgerte mich.

    »Weißt du was, wenn es dir so wichtig ist, dann komm ich«, sagte ich brüsk. Dann etwas sanfter: »Aber bitte, bitte hör auf zu weinen. Hörst du?«

    Allein die Vorstellung, dass sie meinetwegen in Tränen ausbrach, hätte gereicht, um mich über meinen Schatten springen zu lassen. Ganz abgesehen von dieser dröhnenden Stimme in meinem Kopf, die mich gnadenlos rügte, ein selbstgerechtes egoistisches Luder zu sein. Ich bebte innerlich, hoffte sie würde doch noch ein Einsehen haben und zu mir nach München kommen, als ich vorsichtig Luft holte, um einen letzten Versuch zu unternehmen, auf meiner Entscheidung zu beharren. Als ich ein weiteres Seufzen hörte, teilte ich ihr stattdessen mit, wann ich in Roetgen ankommen würde.

    Das Wimmern, das ich nur allzu gut in meinen Ohren hörte, verstummte augenblicklich. Ja, ihre Stimme frohlockte förmlich, als sie sagte: »Weißt du, ich könnte dich ja am Flughafen abholen? Das wäre für dich doch bequemer und nicht so gefährlich wie mit deinem kleinen Käfer.«

    Den Bruchteil einer Sekunde dachte ich ernsthaft darüber nach, entschied mich dann jedoch dafür, selber mit dem Auto zu fahren. Ich wollte nicht abhängig sein. Mit dem Auto war ich flexibler. Außerdem verschaffte ich mir damit die Freiheit, sämtliche Begegnungen mit der einen oder anderen Person, so kurz wie möglich ausfallen zu lassen.

    »Lass gut sein, Mama. Ich komme mit dem Auto. Am Freitag muss ich noch einmal kurz in die Kanzlei, da bin ich ungebundener, wenn ich den Wagen nehme, und außerdem kann ich beim Fahren herrlich abschalten.« Und mich innerlich auf meinen Tod vorbereiten.

    »Wir sehen uns dann am Wochenende, in Ordnung?«

    »Gut, Liebes. Pass auf dich auf. Ich liebe dich«. »Ich dich auch. Tschüss!«

    Bis Freitag blieben mir ja noch zwei Tage. Genügend Zeit, meine Sachen zu packen und alles Notwendige in der Kanzlei zu regeln, wie zum Beispiel meine Kündigung entgegenzunehmen.

    Mittlerweile war auch mein Kaffeewasser fertig und ich schüttete den Kaffee hinein, rührte um, nahm einen Schluck und stellte ihn dann wieder zur Seite. Igitt! Ich musste unbedingt einkaufen. Sollte ich den Aufenthalt in der Eifel überleben, würde mich womöglich durch dieses Zeug noch das Zeitliche segnen.

    Da der Kaffee den gewünschten Effekt verfehlte, ging ich mürrisch ins Bad, duschte und fischte im Anschluss meinen neuen braunen Rock und eine cremefarbene Bluse aus dem begehbaren Kleiderschrank im Schlafzimmer. Die farblich dazu passenden Pumps fand ich nach langem Suchen unter meinem Sofa im Wohnzimmer. Die Stimme meiner Mutter drang zu mir durch und ermahnte mich zu essen. Ich verabscheute es, morgens schon feste Nahrung aufzunehmen, doch nach dem Telefonat hatte ich die Stimme meiner Mutter viel zu präsent in meinen Ohren. Also angelte ich mir einen Apfel aus der Obstschale, steckte den Stecker meines Haarglätters in die Steckdose und aß gewissenhaft meinen Apfel, während der Zauberstab vorglühte. Mir blieben noch sieben Minuten, bis Alexander hupend vor meiner Tür erscheinen würde, um mit mir gemeinsam in die Kanzlei zu fahren. Seit unserer Studienzeit waren wir nun schon befreundet, auch wenn ihm das Wort Freund mehr als nur missfiel. Aber ich konnte mich einfach nicht dazu durchringen, ihn als meinen Verlobten zu bezeichnen, zumal wir in getrennten Wohnungen lebten. Und das im 21. Jahrhundert. Da hätte das Zusammenleben ohne Trauschein und vorherige Anmeldung zur Eheschließung doch als das Selbstverständlichste überhaupt gelten sollen. Doch Alexander schätzte seine konservativeren Ansichten und wies bei jeder Gelegenheit darauf hin, dass unsere Kriminalitätsrate deutlich geringer ausfallen würde, wenn die Menschheit Werte und Tradition beibehalten würde. Und genau diese Tradition machte mich zu einer Verlobten, zu seiner Verlobten. Zur Verlobten von Alexander von Hohenbusch, Anwalt für Strafrecht.

    Na gut, ein klein wenig machte mich das auch stolz, aber wirklich nur ein klitzekleines bisschen. Wir kannten uns jetzt schon seit fast acht Jahren. Kurz vor meinem neunzehnten Geburtstag hatte ich, sehr zum Leidwesen meiner Mutter, einen Studienplatz in München erworben, woraufhin ich sofort umgezogen war.

    Ein Jahr später lernte ich dann Alexander kennen. Er studierte genau wie ich Jura und wir begegneten uns in diversen Vorlesungen. Zu der Zeit kellnerte ich in einem der zahlreichen Szene-Cafés ganz in der Nähe des Englischen Gartens, das er des Öfteren mit seinem Vater besuchte. Es war nun wirklich nicht Liebe auf den ersten Blick, genau genommen auch nicht auf den zweiten oder dritten. Es war vielmehr so, dass ich seine Aufrichtigkeit und Strebsamkeit bewunderte. Seine Ideale und Wertschätzung, die er Menschen gegenüber aufbringen konnte, selbst wenn diese Menschen oftmals den Respekt der Gesellschaft verloren hatten.

    Als er mich eines Tages fragte, ob ich ihn in die Oper begleiten würde, war ich ziemlich aufgeregt. Nie zuvor hatte ich eine Oper von innen gesehen, abgesehen davon, dass ich auch noch niemals zuvor auf die Idee gekommen war, eine Oper zu besuchen.

    Es war faszinierend und unglaublich schön. Von diesem Tag an, sahen wir uns regelmäßig. Tauschten Ideen, redeten, lernten. Oft trafen wir uns in meinen Pausen an der Isar. Während ich den Surfern zusah, die sich ihrem unermüdlichen Ritt auf der künstlich angelegten Welle hingaben, nutzte er die Zeit, um sich in neue Themen einzuarbeiten. Wir harmonierten perfekt. Alexander war genau der Mann, den meine verletzte Seele brauchte, und ich war exakt die Freundin, nach der er gesucht hatte. Ein echter Kumpel. Es dauerte dann noch weitere zwei Jahre, bis aus uns ein Paar wurde.

    Vor dem Haus ertönte ein lautstarkes Hupen. Ich war gerade im Begriff, meinen neuen rosafarbenen Lippenstift aufzulegen. Das Hupen riss mich derart aus meinen Gedanken, dass ich anstelle der Lippen einmal quer den Mundwinkel erwischte. Na toll, jetzt musste ich auch noch Zeit darauf verwenden, das Ausmaß meiner Verwüstung zu beseitigen, was wieder zur Folge hatte, dass das Gehupe immer öfter ertönte und mit Sicherheit schon sämtliche Nachbarn dazu animiert hatte, neugierige Blicke aus ihren Fenstern zu werfen.

    Als ich dann endlich so weit war, schnappte ich mir meine Aktentasche, nahm im Vorbeifliegen die Jacke vom Kleiderständer und rannte die vierundsechzig Treppenstufen im Hausflur hinunter, was mir nicht nur ein strahlendes Lächeln einbrachte, sondern garantiert auch Schweißflecken unter den Achselhöhlen meiner cremefarbenen Bluse.

    »Guten Morgen, Schlafmütze«, lächelte Alexander mich an, während er bereits die Beifahrertür seines Volvos für mich geöffnet hielt.

    »Von wegen Schlafmütze. Wenn ich dir jetzt erzähle, dass ich bereits seit zwei Stunden wach bin, würdest du mir glauben?», fragte ich und stieg ein. Alexander schloss die Tür und stieg auf den Fahrersitz.

    »Selbstverständlich würde ich dir glauben«, antwortete er verschnupft. Irritiert schaute ich in seine stahlblauen Augen, die seine Worte Lüge straften. Er verzog den Mund zu einem amüsierten Lächeln, beugte sich zu mir hinüber und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

    »Besser du sagst jetzt kein Wort mehr, deine Augen verraten dich ohnehin«, sagte ich ein wenig zu säuerlich.

    Es war ja nicht seine Schuld, dass ich so spät dran war. Im Grunde war ich auch gar nicht sauer auf ihn, sondern auf mich. Ich wusste, dass ich mit ihm reden musste. Aber das konnte ich nicht. Nicht während wir im Auto saßen auf dem Weg zur Arbeit. Hätte ich mich darauf eingelassen, wäre es ganz sicher nicht bei einem unverfänglichen Gespräch geblieben. Alexander konnte sehr hartnäckig sein und ich war weder in der Verfassung, mit ihm zu streiten, noch hatten wir die Zeit, die wir für eine derartige Unterhaltung ganz sicher gebraucht hätten.

    »Hey, bis jetzt habe ich dir lediglich einen guten Morgen gewünscht«, erwiderte er, während sein Blick auf die Uhr am Armaturenbrett glitt. »Es sind jetzt exakt acht Uhr zehn. Wenn meine exzellenten mathematischen Fähigkeiten nicht über Nacht verschwunden sind, bedeutet das, du bist seit fünf Uhr fünfzig wach. Soweit ich mich entsinnen kann, muss schon einiges geschehen, bevor du mit deiner Nachtruhe so verschwenderisch umgehst. Also Florentina, raus mit der Sprache. Was ist los? Gab es vielleicht ein Erdbeben, das mir entgangen ist?«

    Seine wunderschönen Augen starrten mich mit unverhüllter Neugier an. Fasziniert betrachtete ich die langen dichten Wimpern, die seine Augen umrundeten.

    »Nein, kein Erdbeben, auch keine Stürme oder andere Naturgewalten. Ich bin nur eher aufgewacht, um dann viel zu viel Zeit in Sachen zu investieren, die ich für gewöhnlich aufschiebe. Das ist alles«, log ich und mein schlechtes Gewissen nagte zum zweiten Mal an diesem Morgen an mir. Genau genommen war es ja gar keine Lüge, beruhigte ich mich. Ich hatte lediglich die Wahrheit umschrieben. Alexander warf mir einen schnellen Blick zu und musterte mich skeptisch, bevor er seinen Blick zurück auf die Straße vor uns warf.

    Wir waren bereits kurz vor dem Deutschen Museum, da lenkte er den Volvo auf einen der vielen Busparkplätze gegenüber dem Museum und brachte ihn zum Stehen. Sanft berührten seine Hände mein Gesicht, als er meinen Kopf zu sich herumdrehte.

    »Florentina, was ist denn los? Hat es was mit dem Brief zu tun, der seit Wochen bei dir herumliegt?«

    Ich zwang mich zu einem Lächeln, während ich seine Frage bejahen wollte und darüber nachdachte, wie ich ihm meine Entscheidung, das Wochenende in Roetgen zu verbringen, mitteilen sollte.

    »Nein, eigentlich eher mit meiner Mutter…« Weiter kam ich nicht. Alexander hatte seinen Sicherheitsgurt gelöst. Kaum dass ich den Mund geöffnet hatte, lagen auch schon seine kühlen Lippen auf meinen. Der Kuss, zunächst federleicht, wurde schon kurze Zeit später immer intensiver, drängender. Ich fühlte mich unbehaglich, wollte auf die Art von Kuss nicht eingehen. Verhalten legte ich meine Hände auf seinen Brustkorb und rückte ein Stück von ihm ab.

    »Alexander, nicht. Wir kommen zu spät.«

    Er sollte meine miesepetrige Laune nicht auf sich beziehen. Aber ich hatte auch Angst davor, ihm den wahren Grund zu nennen. Er würde außer sich vor Wut sein und das aus gutem Grund. Schließlich wollte er ein romantisches Wochenende mit mir verbringen und nicht mitansehen, wie seine zukünftige Braut sich ohne ihn auf den Weg zu ihrem Exfreund begab. Ich schloss meine Augen, holte einmal tief Luft und wollte gerade eine Erklärung für mein abweisendes Verhalten abgeben, da wurde ich schon wieder unterbrochen.

    »Entschuldige Schatz, ich wollte nicht…«

    Was wollte er nicht, mich küssen? Wie von selbst zog sich meine rechte Augenbraue nach oben.

    »Ich wollte dich bereits von dem Moment an küssen, als du zu mir ins Auto gestiegen bist. Allerdings sollte mein Kuss dich nicht erschrecken. Es ist nur… ich hab dich so wahnsinnig vermisst, letzte Nacht. Verzeih, dass ich dir nicht zugehört habe. Fang noch mal an.« Er hob zwei Finger in die Luft und ballte die restlichen zu einer Faust. »Ich schwöre feierlich dir zuzuhören.«

    Sein Schwur wärmte mir das Herz. Alexander ließ sich nur selten zu derartigen Kindereien hinreißen. Lächelnd schaute ich in sein gespielt reumütiges Gesicht, während meine Hand durch seine kurzen blonden Haare fuhr.

    »Kindskopf«, schalt ich ihn, immer noch lachend. »Besser wir fahren jetzt erst einmal in die Kanzlei, sonst geben die dort noch eine Vermisstenanzeige auf. Wie wäre es, wenn du heute Abend zu mir kommst? Wir bestellen uns was zu essen und ich schwöre feierlich dir alles, was mir gerade durch den Kopf geht, haarklein zu erzählen.« Alexanders Lachen, als ich seinen Schwur imitierte, war Balsam für meine Seele.

    »Hört sich gut an. So gegen zwanzig Uhr?«

    »Perfekt.« Ich beugte mich zu ihm hinüber und hauchte ihm einen Kuss auf den Mund, während er den Wagen bereits startete.

    Gegen acht Uhr fünfunddreißig erreichten wir, mit einer fünfzehnminütigen Verspätung, die Kanzlei, was durchaus noch im Rahmen lag, da die ersten Termine erst gegen neun Uhr anstanden und die Sekretärinnen auch noch nicht in ihren Büros waren. Allerdings hatte Friedrich von Hohenbusch, Alexanders Vater und mein Chef, noch eine Besprechung angeordnet, in die wir nun hineinpolterten. Friedrich saß mit weiteren drei Kollegen am Kopfende des großen Konferenztisches und schaute belustigt zu uns hinüber. Bevor Alexander etwas sagen konnte, wünschte ich allen einen Guten Morgen und setzte direkt eine Erklärung hinterher, indem ich mich für mein Verschlafen entschuldigte. Zwei meiner Kollegen warfen sich belustigte Blicke zu. Den Penny für ihre Gedanken konnte ich mir sparen. Ich wusste auch so, dass sie dachten, Alexander und ich hätten unserem Liebesspiel kein Ende bereiten können.

    Jedoch ersparten sie mir ihre Witzeleien und im Großen und Ganzen verlief die Besprechung dann auch ruhig und fallspezifisch. Termine wurden abgeglichen und einzelne Fälle noch kurz vorgestellt. Als ich gerade dabei war, meine Unterlagen in die Tasche zu stecken, stand Friedrich plötzlich vor mir, legte seine linke Hand auf meine Schulter und bat mich um eine kurze Unterredung.

    »Einen Moment noch, Florentina. Heute Morgen erhielt ich einen äußerst merkwürdigen Anruf von einer Frau, die sich mir mit Schönfeld vorstellte. Sagt dir der Name etwas?«

    Irritiert schaute ich zu ihm hinauf. Friedrich von Hohenbusch war mindestens zehn Zentimeter kleiner als ich, und das mit flachen Schuhen, was seine starke körperliche Präsenz nicht im Entferntesten minderte. Es war die Aura, die von ihm ausging und derer er sich nur allzu bewusst war. Im Gegensatz zu seinem gütigen Gesichtsausdruck vermittelte sie Stärke und eiserne Entschlossenheit. Instinktiv rückte ich mit meinem Stuhl ein Stück zurück, bis ich die Tischplatte an meinem Rücken spürte.

    »Schönfeld?« Sofort ratterte mein Gedächtnis sämtliche Namen von Personen herunter, die es irgendwann einmal abgespeichert hatte, doch eine Person mit diesem Namen wollte mir einfach nicht einfallen.

    »Es tut mir leid, Friedrich, aber nein, der Name sagt mir nichts. Sollte er?«

    Friedrich nahm den Arm von meiner Schulter und setzte sich neben mich, während mein Blick zu Alexander wanderte, der beharrlich auf seinem Platz uns gegenüber verharrte, unterdessen alle anderen den Raum bereits verlassen hatten.

    Eindringlich schaute Friedrich mich an. Gerade so als könnte er, wenn er nur beharrlich weiter starren würde, geradezu in mein Bewusstsein dringen. Seltsam. Was hatte es mit diesem Namen auf sich?

    »Ich frage dich, weil sie dich treffen möchte«, sagte er schließlich. »Und zwar ausschließlich dich.« Er legte eine Pause ein und wartete. Doch alles, was ich ihm geben konnte, war ein resigniertes Schulterzucken.

    »Weißt du, Liebes, es ist schon merkwürdig. Eine Frau wie diese ist mir in all den Jahren noch nicht untergekommen. Und weiß Gott, bis dahin dachte ich bereits, alles erlebt zu haben. Sie bestand darauf, ausschließlich mit dir in Kontakt zu treten. Angeblich würdest du sie kennen. Ich soll dir ausrichten, sie schaffe es vor Freitag nicht in die Kanzlei und bitte dich daher um ein Treffen am Freitagvormittag um elf Uhr dreißig im Café Zentral.«

    »Café Zentral? Das Café am Englischen Garten. Da habe ich während meiner Studienzeit gearbeitet«, sinnierte ich laut. »Vielleicht kenne ich sie daher.«

    Friedrich schaute mich aufmerksam an. »Ja, meine Liebe. Daran habe ich mich auch erinnert. Wie sollte ich auch nicht. Schließlich kam ich dort zu dem Vergnügen, meine zukünftige Schwiegertochter kennenzulernen. Bitte Florentina, denke noch einmal in Ruhe nach. Möglich, dass dir der Name ja doch noch einfällt. Normalerweise denke ich über potenzielle Mandanten, die derart dominant auftreten, nicht so intensiv nach. Doch diese Frau war nicht einfach nur dominant. Sie wirkte völlig aufgelöst und war durch nichts davon abzubringen, nur mit dir in Kontakt zu

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1