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Keine Lust auf Heldentum
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eBook536 Seiten6 Stunden

Keine Lust auf Heldentum

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Über dieses E-Book

Keine Lust auf Heldentum
Jan und seine Kameraden sind junge, polnische Kavalleristen, die ihr Land heldenhaft gegen Hitler und Stalin verteidigen wollen. Sie erliegen jedoch der erdrückenden Übermacht der Feinde.
Nach einer kürzeren sowjetischen Gefangenschaft, die sie bis ans Schwarze Meer nach Odessa verschlägt, werden sie im Frühjahr 1940 im Rahmen eines Austauschs nach Deutschland in die Pfalz (Donnersberggebiet) deportiert. Der Roman schildert in eindrucksvollen Bildern das Ende des 2. Weltkrieges und die erste Nachkriegszeit in der Nordpfalz.

Keine Lust auf Heldentum führt durch die killing fields der Sowjets und Nazis und zeigt die Anfechtungen, die der Mensch aushalten muss, wenn er überleben will. So wird der vorliegende biografische Roman zu einer Heldensaga wider Willen. Er beruht auf Tatsachen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum18. Jan. 2024
ISBN9783758396168
Keine Lust auf Heldentum
Autor

Donald Kulesza-Betzen

Der Autor war Studiendirektor für Geschichte, Politik und Literatur. Er ist Vater zweier erwachsener Kinder. Mit seiner Frau lebt er bei Bad Kreuznach und liest gern und viel. Noch immer hängt er an seinen alten Leidenschaften: Literatur und Geschichte, aber auch Motorrad und Fahrrad fahren. Seit seiner Pensionierung schreibt er vor allem biografische Romane und Gedichte.

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    Buchvorschau

    Keine Lust auf Heldentum - Donald Kulesza-Betzen

    Zur Erinnerung an

    Stefan Kulesza (+)

    Der biografische Roman „Keine Lust auf Heldentum" beruht auf historischen Tatsachen. Die Namen der Figuren wurden grundsätzlich und die Schauplätze der Handlungen teilweise verändert, um die Nachkommen der Charaktere vor allzu großer Neugier zu schützen.

    Ein Roman ist immer ein fiktives Produkt der menschlichen Fantasie und somit niemals ein geschichtstreues Abbild einer toten oder lebenden Person. Selbst der Erzähler, falls er überhaupt erkennbar wird, ist Teil dieser Fiktion. Während der Historiker - so Ranke - bestrebt ist, die Vergangenheit abzubilden, „wie sie eigentlich gewesen ist", strebt der Autor eines Romans eine „höhere" Wahrheit an, die dem Innenleben der Menschen einen breiten Raum zubilligt und somit zu einem tieferen Verständnis der Motive ihres Handelns führt. Das allerdings kann nur die Dichtung leisten. Dichtung und Wahrheit schaffen eine neue Wirklichkeit, die in ihrer Qualität vielleicht über die historische Deskription und Interpretation auf Grund nur harter Fakten hinausreicht.

    Inhaltsverzeichnis

    Kapitel I

    Kapitel II

    Kapitel III

    Kapitel IV

    Kapitel V

    Kapitel VI

    Kapitel VII

    Kapitel VIII

    Kapitel IX

    Kapitel X

    Kapitel XI

    Kapitel XII

    Kapitel XIII

    Kapitel XIV

    Kapitel XV

    Kapitel XVI

    Kapitel XVII

    Kapitel XVIII

    Kapitel XIX

    Kapitel XX

    Kapitel XXI

    Kapitel XXII

    Kapitel XXIII

    Kapitel XXIV

    Kapitel XXV

    Kapitel XXVI

    Kapitel XXVII

    Kapitel XXVIII

    Kapitel XXIX

    Kapitel XXX

    Kapitel XXXI

    Kapitel XXXII

    Kapitel XXXIII

    Kapitel XXXIV

    Kapitel XXXV

    Kapitel XXXVI

    Kapitel XXXVII

    Kapitel XXXVIII

    Kapitel XXXIX

    Kapitel XL

    Kapitel XLI

    Kapitel XLII

    Kapitel XLIII

    I

    Jan wurde in einer eiskalten Januarnacht, am 6.Januar 1917, auf einem kleinen Gut in der Nähe des Dorfes Mecklenburg im heutigen Mecklenburg-Vorpommern geboren. Seine Eltern Piotr und Magda Duda arbeiteten seit etwa einem Jahr auf diesem Gutshof. Sein Vater hatte gute Deutschkenntnisse und betätigte sich neben seiner bäuerlichen Arbeit auch als Dolmetscher, indem er seine polnischen Landsleute beriet, für sie übersetzte und sich auch einschaltete, wenn es mit den deutschen Behörden oder Vorgesetzten irgendwelche Probleme gab. So konnte er sich ein kleines Zubrot verdienen und außerdem ein gewisses Ansehen in seiner Gruppe als Vorarbeiter und Verbindungsmann verschaffen. Es gelang ihm, etwas Geld zu sparen. Ein kleines Startkapital konnte bei einer Rückkehr nach Polen, die die beiden Eheleute für die Zeit nach dem Krieg geplant hatten, durchaus nützlich sein. Wie man schon längst gehört hatte, sollte Polen wieder neu erstehen.

    Trotz der Rücklagen waren die Lebensumstände äußerst dürftig. Alles war zu diesem Zeitpunkt schon Mangelware. Selbst auf dem Gut gab es längst keinen Überfluss an Nahrungsmitteln. Man rang täglich um die nackte Existenz. Aber hier, und das mag zunächst verwundern, waren die allgemeinen Lebensumstände dennoch viel besser als in dem Teil der polnischen Heimat, der damals noch zum Königreich Preußen gehörte. Die Menschen - egal, ob Polen oder Deutsche - lebten von der Hand in den Mund. Man empfand es als höchsten Genuss, wenn man sich den Bauch einmal so richtig vollschlagen oder auch - und das kam nicht selten vor - sich unanständig betrinken konnte. Bacchus vertrieb dann die drückenden Sorgen des Alltags, zumindest für eine gewisse Zeit.

    In dieser Welt des Mangels und der Not, es war der dritte Kriegswinter, erblickte er das Licht der Welt. Niemand nahm davon Notiz. Keine Salutschüsse wurden abgefeuert. Keine Champagnerkorken knallten in der Nacht, um das „frohe" Ereignis anzuzeigen. Wer interessierte sich in dem Dorf Mecklenburg für die kleine polnische Familie, für die einfachen Landarbeiter auf dem Rittergut, denen nun ein Sohn geboren wurde? Die Mutter hatte eine normale Geburt. Der Sohn war ein gesundes Kind, das ihr angeblich ähnlichsah. Beide Eltern freuten sich über den familiären Zuwachs. Jan war das erste Kind dieser eigentlich noch jugendlichen Mutter, nach heutigen Maßstäben betrachtet. Sie war gerade erst 19 Jahre alt, während sich ihr Gatte auf die dreißig zu bewegte.

    Leider war ihre Ehe von Anfang an nicht unbedingt eine glückliche Liebesheirat. Es gab deutliche Spannungen und immer wieder Sorgen um das liebe Geld. Piotr hatte einen verschwenderischen Hang, vor allem, wenn er zu tief in das Wodkaglas geschaut hatte. Dann machte er auch Schulden, die er schließlich durch zusätzliche Arbeit und Sparsamkeit abstottern musste. Ansonsten setzte er sich für seine Familie unermüdlich ein. Arbeitsscheu war er nie. Vielleicht für seine Verhältnisse zu intelligent, litt er darunter, nicht recht voranzukommen. Sein vielleicht größter Fehler war, dass er dazu neigte, ein Heißsporn zu sein. Er kritisierte heftig die unsozialen, autoritären politischen Zustände in seiner Heimat, dem „neuen" Polen. Die Enttäuschung muss gewaltig gewesen sein. Ein nationalistischer Traum von einer goldenen Zukunft für alle Polen war früh geplatzt.

    Manchmal redete er sich beinahe um Kopf und Kragen. Er war geradlinig und unbeugsam. Das sind Charaktereigenschaften, mit denen man die Gunst der Vorgesetzten kaum erringt. Folglich blieb er auch beruflich auf der unteren Sprosse und machte keine Höhenflüge. Diese Ernüchterung führte bei ihm zu der Ansicht, dass man auch mit Bildungsanstrengungen kaum etwas erreichen könne. Die bourgeoise Geburt entscheide allein über den Lebenserfolg oder auch die verhassten Beziehungen, die man habe oder entbehre, eine leider grundfalsche Einstellung, die sich für seinen Sohn und seine später geborene Tochter nicht segensreich auswirken sollte.

    Die allgemeinen Lebensbedingungen verschlechterten sich gegen Ende des Krieges rapide. Für die polnischen Arbeiter in der deutschen Landwirtschaft änderte sich zunächst nicht viel. Piotr und Magda waren wegen ihres Fleißes und ihrer Deutschkenntnisse gefragt und deswegen auf dem Gut bei den Herrschaften, aber auch bei ihren polnischen Landsleuten nicht unbeliebt. Das Verhältnis zu den Deutschen, vor allem zu der Obrigkeit, war lange ungetrübt. Man brachte dem Kaiser eine gewisse Verehrung entgegen. In Brest-Litowsk wurde über das Territorium des neuen Polen verhandelt. Die Gebiete wurden praktisch ganz aus dem ursprünglich zaristischen Russland geschnitten.

    II

    Nach dem unerwarteten Gesuch um einen Waffenstillstand auf der Grundlage der 14 Punkte des amerikanischen Präsidenten Wilson im Januar 1918 veränderte sich die Lage der polnischen Arbeitskräfte. Die Versorgung der deutschen Bevölkerung mit Lebensmitteln gelang immer weniger. Tausende von Deutschen, vor allem die Alten und Schwachen und danach die städtische Bevölkerung schrammten hart an der Hungersnot vorbei. Auf dem Schwarzmarkt wurden Agrarprodukte wie Butter, Fleisch, selbst Kartoffeln zu astronomisch überhöhten Preisen oder im Tausch gegen wertvolle Waren umgesetzt. Viele aber blieben dabei auf der Strecke und waren froh, mit Steckrüben über den Winter zu kommen. Die kleine Familie Duda hatte etwas zurückgelegt, so dass die große Not zunächst ausblieb. Allerdings verspürte Piotr eine wachsende Feindseligkeit der deutschen Dorfbewohner und Arbeiter auf dem Gut gegenüber den Polen. Vor allem neidete man ihm seine gehobene Stellung, die sich aus der schon erwähnten Dolmetschertätigkeit ergab. Die einfachen Landarbeiter glaubten, dass er sich raffiniert beim Gutsherrn eingeschmeichelt hätte. Öfter hörte er hinter seinem Rücken Äußerungen wie: ‚Was wollen diese Polacken noch hier? Diese Schmarotzer leben auf unsere Kosten. Wir brauchen sie doch überhaupt nicht.‘

    Politisch rechtsgerichtete Kräfte heizten die antipolnische Stimmung an. Der Kampf um die Grenzen eines neuen polnischen Staates geriet außer Kontrolle. Es kam zu blutigen Gefechten zwischen den Chauvinisten auf beiden Seiten. Mord und Totschlag vergifteten das Verhältnis zwischen den Völkern. Zurückkehrende deutsche Soldaten suchten selbst ein Auskommen auf den großen Gütern im Osten. Dabei stand selbstverständlich die Hoffnung auf eine bessere Lebensmittelversorgung im Vordergrund der Überlegungen. Die Spannungen nahmen also täglich zu. Unerträglich wurde die Situation, als die Bestimmungen des Versailler Vertrages die Deutschen materiell wie auch psychisch niederdrückten. In Deutschland griff die Verzweiflung um sich.

    Da vor allem Deutschland wertvolle Gebiete an das neu entstandene Polen des Versailler Vertrages abzutreten hatte, war die Stimmung von Anfang an und während der ganzen Zeit der Weimarer Republik belastet. Alle Parteien waren sich darin einig, dass die deutsche Ostgrenze ungerecht war und niemals anerkannt werden konnte.

    Piotr war durchaus politisch interessiert. Im Grunde seines Herzens war er ein polnischer Nationalist. Aber wegen seiner deutschen Sprachkenntnisse und mehrjährigen Arbeitsaufenthalte kannte er Deutschland und die Deutschen. Er schätzte die preußisch-deutsche Gründlichkeit und hasste die „germanische" Überheblichkeit. Als Pole musste er oft Beleidigungen und Zurücksetzungen erdulden. Vielen Deutschen fehlte es an Respekt den Polen gegenüber. Manche fürchteten die Polen, weil man sich natürlich bald klar wurde, welche Folgen eine Niederlage für Deutschland und Preußen im Osten haben könnte. Am Ende hatten Piotr und seine Frau den ständigen Zank und die sich deutlich abzeichnende Not satt. Dann, im Frühjahr 1919, hörten sie auch von der großartigen Aufbruchsstimmung in ihrem Heimatland und der relativ günstigen Versorgung mit Lebensmitteln. Allerdings drohten im Westen wie im Osten militärische Auseinandersetzungen. Piotr war in seiner Grundauffassung pazifistisch veranlagt. Seine Frau war ziemlich unpolitisch und sehr katholisch. Sie neigte - wie übrigens viele Polinnen – zur Bigotterie. Als Jan noch ein kleines Kind war, erzählte sie ihm von einer Marienerscheinung. Sie hätte die Gottesmutter nicht leibhaftig gesehen, jedoch ihre Gegenwart deutlich gespürt. Diese Vision ließ sie monatelang nicht zur Ruhe kommen. Schließlich vertraute sie sich einem Priester an, der ihr allerdings dringend riet, ja nichts zu anderen Gemeindemitgliedern zu sagen. Er war davon überzeugt, dass sich Jans Mutter in eine Art Hysterie hineingebetet hatte. An eine Gegenwart Mariens im Gebet glaubte er bei der einfachen Landfrau nicht. Also schwieg sie und sprach nur mit engsten Familienangehörigen darüber.

    III

    Im September 1919 kehrte die Familie Duda nach Polen zurück und ließ sich in der Kleinstadt Poddębice nieder. Sie liegt in der Woiwodschaft Łódź am Fluss Ner. Poddębice ist heute Sitz des Powiats Poddębicki und Hauptort einer Stadt- und Landgemeinde.

    Piotr kaufte ein kleines Haus und einige Äcker dazu. Poddębice war damals noch überaus ländlich geprägt und ist es auch heute noch. Es war selbstverständlich, dass man neben der Heimarbeit noch einige Felder bestellte, um genug Nahrungsmittel zur Verfügung zu haben. Man muss sich eine altertümliche, bäuerliche Hauswirtschaft vorstellen. Die Menschen pflanzten Kartoffeln und Gemüse an, pflegten einen großen Garten und hielten einige kleinere Haustiere: Ziegen, Stallhasen, Hühner und meist noch einige Schweine. Ein Schwein wurde für den Eigenbedarf geschlachtet, ein weiteres nach dem Mästen auf den lokalen Märkten verkauft.

    Piotr hatte Schulden gemacht, die aber überschaubar waren und mit Fleiß und Sparsamkeit langsam zurückbezahlt werden konnten. Am Ende dieses Jahres wurde die Schwester Veronica geboren. Mit diesem glücklichen Ereignis war die kleine Familie komplett. Weitere Geschwister hat Jan nicht gehabt. Doch nach dem familiären Höhepunkt im November erfolgte der jähe Absturz im Februar 1921 mit der schweren Erkrankung der Mutter. Sie begann mit einem nicht ernst genommenen, grippalen Infekt, der damals jederzeit den Tod bedeuten konnte. Welch ein grausames Schicksal hätte die kleine Familie mit dem vorzeitigen Tod der Mutter treffen können? Doch es kam zum Glück nicht zum Äußersten. Magda erholte sich langsam - ein über Monate dauernder schlimmer Zustand, der alle an den Rand der Katastrophe führte. Piotr war nicht stark genug, die ganze Last zu tragen und neigte in dieser spannungsreichen Zeit sehr dem Alkohol zu, so dass die kleinen, absolut hilflosen Kinder schlecht versorgt waren. Hier sprang die Kirchengemeinde ein. Ein katholischer Pfarrer engagierte sich und versuchte alles, um den verzweifelten Vater wieder aufzurichten, der den Mut fast gänzlich verloren hatte. Langsam normalisierte sich die Lage: die Mutter gesundete, Piotr riss sich zusammen und kümmerte sich jetzt erneut um seine Familie. Magda war geschwächt, ihr Immunsystem lädiert und ihre Lunge war geschädigt. Sie neigte seitdem zu Infektionen und erkrankte auch in den Folgejahren häufiger an Lungen- und Rippenfellentzündungen, die in einer Zeit, in der es noch keine Sulfonamide oder Penicillin gab, immer wieder lebensbedrohliche Ausmaße annehmen konnten.

    Die Schwäche der Mutter überschattete das Familienleben und erzeugte eine depressive Grundstimmung, unter der die Kinder litten. Sie flüchtete sich in die Religion. Ohne diesen festen Glauben an Gott wäre sie wahrscheinlich verzweifelt und zu Grunde gegangen. Die Kinder suchten daher auch die Nähe zur Kirche. Jan wurde schon recht früh Messdiener. Trotz dieser engen Bezüge zum Katholizismus bedeutete die religiöse Inbrunst der Mutter für ihn nichts. Der religiöse Funke sprang nicht über. Er hatte viel Leid gesehen und fragte sich, wie ein gütiger Gott all dies zulassen konnte. Vor allem hatte er den Glauben an die göttliche Gerechtigkeit verloren. Wenn man mit ihm über Gott und die Rolle der Kirche sprach, erkannte man seine grundsätzliche Skepsis. Er verbarg seine innersten Überzeugungen nicht. Vor allem hasste er abgrundtief alle Formen der Heuchelei. Noch in seinen letzten Lebensmonaten war er davon überzeugt, dass es eine Auferstehung egal in welcher Form - oder ein Weiterleben nach dem Tod nicht geben könne. Er betonte immer wieder die absolute Vergänglichkeit, die Einmaligkeit des Lebens ohne die geringste Hoffnung, dass es einen Gott gebe, einen Weltenrichter, der sich um uns Menschlein kümmere. Insoweit legte er ein atheistisches Bekenntnis ab. Dennoch war er niemals kirchenfeindlich gesinnt. Seine Einschätzung war durch und durch nüchtern, materialistisch geprägt. Die katholischen Riten bedeuteten ihm wenig bis gar nichts. Auf einen geistlichen Zuspruch oder Stärkung im Sinne der „letzten Ölung" wollte er in der Sterbestunde verzichten. Seine standhafte Überzeugung war: nach dem Ableben lösen wir uns auf und haben die ewige Ruhe. Es wird so sein, als ob wir niemals da gewesen wären. Die Vergänglichkeit war für ihn eine unumstößliche Tatsache. Dennoch hatte er keine Angst vor dem Tod. Er war von Grund auf mutig. Ihm war es vergönnt, ein sehr langes Leben führen zu können. Folglich nahm er das Sterben als einen natürlichen Vorgang an, und zwar ohne zu jammern und zu klagen. Mit fast hundert Jahren ist man lebenssatt. Ob man auch lebensüberdrüssig ist, bleibt eine offene Frage. Man kann nur Vermutungen anstellen.

    Als Jan das siebte Lebensjahr vollendet hatte, begann der Schulbesuch. Man muss sich die damalige ländlich geprägte, polnische Volksschule äußerst einfach vorstellen. Das Schulgebäude, in dem sich zwei Unterrichtsräume befanden, würde man heute als abbruchreif ansehen. Es gab für die Schüler eine kaum benutzbare Toilette. Selbstverständlich ohne Klopapier und Seife, kein fließendes Wasser, sondern einen verschmutzten Eimer, in dem man seine Hände unter Umständen wusch. Die Möbel waren ebenfalls in einem schlechten Zustand. Sie stammten noch aus dem 19. Jahrhundert. Weiterhin existierte kaum pädagogisches Material. Bildungswirksame Utensilien waren die Landkarte Polens, eine Fahne und ein Kreuz, vor dem die Schüler häufig beten mussten. In der Regel begann der Unterricht mit einem patriotischen Lied oder einem Treuegelöbnis, das von einem Schüler andachtsvoll gesprochen werden musste.

    Die Unterrichtsmethode war streng, geradezu militärisch. Bei Verstößen gegen die Schuldisziplin wurde mit dem Stock zugeschlagen. Oft wurden ältere Schüler beauftragt, die Prügelstrafe an den kleineren Kindern zu vollziehen. Sie taten das ohne Murren. Manche durchaus mit Freude, ja Begeisterung. Verleumdungen, Denunziationen beim Lehrer oder Pfarrer, Übergriffe jedweder Art waren an der Tagesordnung und machten den Unterricht für die wehrlosen und jüngeren Schüler schnell zur Hölle. Lernfreude konnte so auf keinen Fall aufkommen. Jeder war froh, wenn der langweilige Schultag endlich vorüber war und ihm eine Tracht Prügel erspart blieb.

    Die Volksschullehrer waren in der Regel schlecht ausgebildet, auf jeden Fall ohne ein nennenswertes pädagogisches Studium. Meistens handelte es sich um ehemalige Unteroffiziere oder auch Polizisten, die wegen körperlicher Gebrechen eine solche - in der Regel - ganz schlecht bezahlte Stelle bekamen. Noch heute fallen die niedrigen Bezüge auf, die man den polnischen Lehrern zumutet. Die Einkommen stehen an letzter Stelle in der Europäischen Union.

    Diese „Pädagogen" genossen kein hohes gesellschaftliches Ansehen. Man kannte ja ihre Unbildung und wusste, dass sie nur kärglich entlohnt wurden. Das damalige Lehrergehalt im unteren Segment der polnischen Gesellschaft reichte ohne Zusatzverdienst nicht aus, um eine Familie vernünftig ernähren zu können. Zu den wenigen Privilegien der Dorfschullehrer gehörte das mietfreie, armselige Häuschen oder auch nur eine einfache Dienstwohnung über dem Schulsaal. Zur Aufbesserung seines Einkommens erhielt der fest angestellte Lehrer ein Stück Land, aufgeteilt in einen großen Garten und einen Kartoffelacker, der im Besitz der Gemeinde blieb. Wann immer er frei hatte, arbeitete er auf dem Feld und zwang auch seine Schüler, ihn zu unterstützen. Das Ganze war unter dem Namen Schulgarten als pädagogisches Konzept getarnt. Wer beim Lehrer beliebt sein wollte, brachte häufig kleine Geschenke mit oder machte sich im Garten nützlich. Wie schon angedeutet, war die Bildung defizitär. Der Kanon der Fächer war stark eingeengt. Als wichtig wurde der Religionsunterricht angesehen, der teilweise von den Pfarrern übernommen wurde, und die Vermittlung der elementaren Bildung wie einfaches Rechnen, Lesen und Schreiben. Außerdem wurde man stramm auf den polnischen Nationalismus ausgerichtet. Im Klartext hieß dies, den Russen und den Deutschen zu hassen, denn beide Nachbarnationen wurden als gefährliche Erbfeinde der Polen angesehen. Die grundsätzlich negative Einstellung dem Nichtpolnischen gegenüber bekamen auch die vielen Minderheiten im damaligen polnischen Staatsgebilde zu spüren. Schon früh wurden die Kinderseelen durch einen übertriebenen und haltlosen Chauvinismus vergiftet. Jan berichtete, dass seine Lehrer und selbstverständlich auch die Geistlichen abscheuliche Geschichten über Ukrainer, Zigeuner und Juden verbreiteten. Es waren die üblichen Klischees über so genannte Ritualmorde, Kindesentführungen, Vergewaltigungen und andere schwere Verbrechen. Zigeuner wurden grundsätzlich als minderwertige, arbeitsscheue Betrüger und Diebe verunglimpft. Die Wut auf die Juden war in der Regel eher religiös motiviert. Wirtschaftliche Gründe spielten hierbei keine große Rolle; denn der polnische Jude war in der Mehrheit arm und vegetierte am Rande der Gesellschaft. Warum hätte man auf ihn neidisch sein sollen? Hoch im Kurs standen im Gegensatz dazu die jüdischen Mädchen und Frauen, die man für schön und charmant hielt und von denen man annahm, dass sie amouröse Abenteuer mit den Christen durchaus nicht verschmähten. Es war also weit verbreitet, sich insgeheim eine jüdische Freundin zuzulegen.

    Durch sein aufbrausendes und teilweise auch störrisches Wesen eckte Jan häufig an. Schlägereien mit anderen Schülern und auch Beschimpfungen, Stockhiebe seitens der erzürnten Lehrer konnten so nicht ausbleiben. Häufig zitierten sie die genervten Eltern und beschwerten sich über sein angeblich renitentes Verhalten. Heute würde man sein aufsässiges Benehmen völlig anders beurteilen und auch nach den Ursachen fragen. Ein sozial-integrativer Unterrichtsstil hätte sicherlich viel zu einer Verbesserung der Atmosphäre im Klassenzimmer beigetragen. Damals aber wollte man aber den unbedingt angepassten, folgsamen Schüler. Kreativität, Intelligenz und Ehrlichkeit standen eben nicht im Vordergrund. Heuchelei und Unterwürfigkeit machten sich bezahlt. Seine Noten waren deshalb in der Regel schlecht. Sein „störrisches" Verhalten wurde heftig getadelt. Unterstützung von zu Hause gab es nicht. Er wurde auch dort nur beschimpft und bestraft. Leider war auch das Verhältnis zwischen den beiden Geschwistern angespannt. Veronica erkannte seine Schwächen und verhöhnte ihn, denunzierte ihn bei der Mutter oder dem Vater und erzählte auch verlogene Geschichten über ihn. Einmal behauptete sie, er hätte aus der Geldbörse der Mutter einige Groschen entwendet, um sich Bonbons und Tabak zu kaufen. Als sein strenger Vater ihn damit konfrontierte, rannte er vor Angst aus dem Haus und versteckte sich. Er kam zwei Tage nicht zurück. Seine Eltern suchten ihn überall in der Nachbarschaft und überlegten schon, ob sie nicht die Polizei einschalten sollten. Es bestand die nicht unberechtigte Sorge, er könne sich etwas angetan haben. Nach der Pubertät, in der Jugendzeit, verschlimmerten sich die Konflikte. Jan schien außer Rand und Band zu sein. Nun sollte man die Schuld nicht nur bei ihm suchen. Sicherlich war er ein Starrkopf und schnell beleidigt. Tragisch waren aber auch die lieblose Erziehung im Elternhaus und die Prügelschule, die man eigentlich nur mit Hass und Abscheu betrachten konnte.

    IV

    Im Alter von dreizehn Jahren - in der Regel die Zeit der Schulentlassung im Polen der Vorkriegszeit schien sein Leben eine jähe Wende zu nehmen. Plötzlich ergab sich eine ganz neue Perspektive. Ein Verwandter väterlicherseits war aus Argentinien zurückgekehrt und schlug seinen Eltern vor, den Sohn nach Südamerika mitzunehmen. Er hätte dort in einer kleinen Fleischfabrik einen Beruf erlernen und danach sofort eine Stelle antreten können. Zbigniew war Metzger. Polnische Wurst- und Fleischwaren galten in Argentinien als Delikatesse. Jans Zukunft schien so gesichert. Die ganze Familie war wie elektrisiert und alle überlegten hin und her. Jan selbst war nicht unbedingt abgeneigt. Dennoch war eine solche Entscheidung für einen jungen Menschen, er war ja noch ein Kind, äußerst dramatisch und schwerwiegend. Er kannte Zbigniew überhaupt nicht; denn als er zwei oder drei Jahre alt war, war dieser Verwandte schon nach Argentinien ausgewandert. Sein Vater hatte vor allem, wenn es der Familie finanziell schlecht ging, von ihm erzählt und immer wieder voller Bewunderung von seinem angeblichen Wohlstand, ja, seinem vermeintlichen Reichtum geschwärmt. Die Mutter war dann doch nicht so begeistert, ihren einzigen, wenn auch schwierigen Sohn, nach Südamerika zu schicken. Sie hätte ihn wohl kaum mehr gesehen. Schließlich hing sie an ihm, obwohl er sie immer wieder enttäuschte, vor allem auch, als er nach einem Streit mit einem Priester nicht mehr Ministrant sein wollte. Gab es da einen pädophilen Übergriff? Piotr war damals außer sich und wollte zur Polizei gehen. Magda hielt ihn mit allen Mitteln davon ab. Sie wollte keinen Skandal. Dieser Kaplan soll schwul gewesen sein und hatte sich den Messdienern unsittlich genähert. Er wurde in eine andere Diözese versetzt.

    Magda hätte nie das Geld aufbringen können, Jan in Argentinien zu besuchen. Piotr hätte auch keine Schiffsreise finanzieren können. Eine so kostspielige Überfahrt lag außerhalb ihrer finanziellen Möglichkeiten. Jan rang sich durch, in Polen zu bleiben. Der südamerikanische „Onkel" spielte in seinem Leben keine Rolle mehr. Die Kontakte brachen irgendwann ab. Vier Jahre nachdem Zbigniew nach Argentinien zurückgekehrt war, verschwand er spurlos. Angeblich wurde er im Streit von einem seiner Kollegen und Teilhaber an der kleinen Fleischfabrik abends in einem Kühlraum erstochen. Das jedenfalls behauptete Piotr. Den Leichnam seines Bruders hat man trotz genauer polizeilicher Recherchen nie gefunden. Später entstand das ekelhafte Gerücht, dieser Kollege, ein Landsmann aus Lemberg, hätte seine Leiche zu Hackfleisch verarbeitet. Einen Mordprozess und eine Verurteilung gab es aber nicht, weil keine gerichtsverwertbaren Beweise vorlagen. Die Staatsanwaltschaft erhob keine Anklage. Doch die Gerüchteküche kochte weiter. Es kam schließlich zu einer kurzfristigen Verhaftung dieses verdächtigen Kollegen. Zbigniew lebte als Junggeselle allein. Angeblich hatte er keine Feinde. Man konnte sich sein Verschwinden überhaupt nicht erklären. Die argentinische Polizei tappte vollständig im Dunklen und stellte nach einigen Jahren die Fahndung ein. Manchmal verschwinden Menschen spurlos.

    Nachdem der argentinische Traum geplatzt war, suchten sie eine Lehrstelle in der unmittelbaren Umgebung. Jan war körperlich recht schwach, schlank wie eine Gerte. Er hatte die kleine Statur der Mutter geerbt und schien deswegen für eine anstrengende, körperliche Arbeit nicht besonders geeignet. Welche Möglichkeiten gab es damals in Polen für einen jungen Menschen aus bescheidenen Verhältnissen ohne einen höheren Bildungsabschluss? Im Grunde war die Auswahl ziemlich eingeschränkt. Man war froh, in irgendeinem Handwerk unterkommen zu können. Meistens bekam man nur eine gute Lehrstelle, wenn man entsprechende Beziehungen hatte. Begehrte Ausbildungsberufe - ihre Zahl war gering - kamen für die Mehrzahl der Aspiranten überhaupt nicht in Frage, es sei denn, die Eltern konnten das geforderte „Lehrgeld" bezahlen. Um es noch einmal in voller Deutlichkeit zu sagen: Ein Lehrling bekam keinerlei finanzielle Unterstützung während seiner Lehrjahre. Im Gegenteil, er musste seinem Meister eine bestimmte, vorher ausgehandelte Summe bezahlen, um an eine Ausbildungsstelle heranzukommen. Wenn die Eltern hierzu nicht in der Lage waren, gab es eben keinen Lehrvertrag. Man konnte als Ungelernter lediglich in einer Fabrik unterkommen oder versuchen, bei einem Bauern als Landarbeiter häufig nur saisonal beschäftigt zu werden. In waldreichen Gegenden nahm man das harte Los des Köhlers oder schlecht bezahlten Waldarbeiters in Kauf. Deshalb sehnten nicht wenige junge Menschen ohne klare Perspektive ihre Militärzeit herbei. In der Armee lebte es sich vergleichsweise angenehm. Als Soldat lernte man vielleicht einen anderen Teil Polens kennen, hatte ein vernünftiges Essen, eine saubere Unterkunft und ein kleines Taschengeld. Mit einer schmucken Uniform konnte man dann auf Urlaub zu Hause noch die schönen Mädchen beeindrucken. Da dieser neu entstandene polnische Staat nicht zuletzt auch den siegreichen Soldaten seine Existenz verdankte, stand alles Militärische in hohem Ansehen.

    Auch Jan träumte trotz oder gerade wegen der pazifistischen Neigungen seines Vaters vom Soldatenleben. Ebenso wie es sich ein junger, völlig naiver Mensch ausmalt: Abenteuer, Heldentum und ein abwechslungsreiches Leben fern von den monotonen und verhassten Abläufen eines grauen Alltags. Lustig ist das Soldatenleben, aber nur in Friedenszeiten. Dieser Erkenntnis sollte er bald teilhaftig werden. Sie hat ihn für den Rest des Lebens geprägt.

    Nahezu ein halbes Jahr blieb ihm gar nichts Anderes übrig, als die Zeit zu vertrödeln und kleine und lächerliche Geschäfte zu machen, um einige Groschen zu verdienen, die die Familienkasse aufbesserten. Die polnische Wirtschaft befand sich zu dieser Zeit im Abschwung, und die soziale Lage der Menschen verschlechterte sich. Jeder Verdienst war willkommen und auch nötig. Geld stinkt nicht. So versuchte er sich sogar als Verkäufer für Streichholzschachteln und Schuhcreme. Ein pfiffiger Geschäftsmann verpasste ihm einen Bauchladen und schickte ihn zum Hausieren los. Diese Arbeit war erniedrigend und brachte kaum etwas ein, da Jan schüchtern war und die Menschen nicht beschwatzen konnte, gerade ihm etwas abzukaufen. Neben ihm stand die Konkurrenz und pries zungenfertig die gleiche Ware an.

    Schließlich fand er eine Lehrstelle als Herrenfriseur. Der Friseurmeister und Barbier hatte kein Lehrgeld von den Eltern gefordert und versprach, ihn gut auszubilden. Obwohl wenig geachtet, konnten Friseure im Polen der Vorkriegszeit ein überdurchschnittliches Einkommen erzielen; denn es war üblich, ein großzügiges Trinkgeld zu geben. Das kam durch die Gewohnheit, im Laden offen zu zeigen, was man dem Friseur vor den Augen der anderen Kunden zusteckte. Wer zu kleinlich war, blamierte sich. Schon ein Lehrling konnte mit etwas Trinkgeld rechnen, wenn er zum Abtupfen nach der Rasur warme Handtücher herbeiholte oder die Kleidung ausbürstete und andere kleinere Verrichtungen vornahm, die die Kunden neben dem Hauptgeschäft immer erwarteten. Da es fast an jeder Ecke einen Friseurladen gab, überbot man sich, die meist recht kritischen Kunden in jeder Weise zufriedenzustellen. Leider verhielt sich Jan nicht kriecherisch genug, um durch Liebedienerei und Unterwürfigkeit viel Taschengeld zu bekommen. Seine für einen Friseurlehrling viel zu stolze Haltung missfiel seinem Lehrherrn. Schon nach wenigen Monaten wollte er ihn deshalb wieder loswerden. Dazu fehlte ihm aber der Mut. Er befürchtete, dass die nichtjüdische Kundschaft ihm vielleicht anlasten würde, einen katholischen Jungen weggeschickt zu haben. Jan fühlte sich immer weniger am richtigen Platz und ging mit Widerwillen an seine tägliche Arbeit im Friseurladen. Sein Arbeitgeber war kleinlich und geldgierig. Wenn er witterte, dass er einige Groschen von Kunden erhielt, zwang er ihn, dieses Taschengeld wieder herauszugeben. Jan war aber schlau genug, diesen alten Geizkragen zu überlisten. Inzwischen war ihm auch klar, warum er kein „Lehrgeld" bezahlen musste. Sein Chef holte aus ihm heraus, was ihm an materiellem Vorteil durch diesen Verzicht entgangen war. Das Verhältnis zwischen ihm und Jan war gespannt und entwickelte sich zeitweise zu einem regelrechten Katz- und Mausverhältnis. Vielleicht hoffte er, dass der junge Mann seine Stelle von selbst aufgeben würde. Dann wäre er den Widerspenstigen los und könnte jemand einstellen, der sich unterwürfiger verhielt. Doch da irrte er sich. Jan war zäh, auch wenn er am liebsten alles hingeworfen hätte. Das aber wollte er vor allem seiner Mutter nicht antun, die er abgöttisch liebte.

    Sein Chef wurde immer dreister und nutzte ihn kräftig aus. Jedenfalls zwang er ihn, alle möglichen Arbeiten, die im Haus anfielen, vor oder nach den Geschäftsöffnungszeiten zu übernehmen. Dazu gehörte auch das Reinigen eines ekelhaften Ziegenstalls und das Ausleeren einer stinkenden Latrine, die sich als kleines Gartenhäuschen getarnt, neben dem Laden befand. Auch Kunden verrichteten dort ihre Notdurft. Da es außer einem bereitgestellten Wassereimer keine Spülung gab, stank es erbärmlich. An Sommertagen musste man erst mit Fliegenschwärmen kämpfen, bevor man die heruntergekommene, stets mit Urin oder Kot verschmutzte Toilette benutzen konnte.

    Vielleicht infizierte er sich bei der Reinigung der unhygienischen Latrine, die ihm oblag. Es war ein schwüler Sommertag im Jahre 1932, als er plötzlich Schweißausbrüche und hohes Fieber bekam. Er brach zusammen und konnte sich vor Schwäche nicht mehr auf den Beinen halten. Die heftigen Symptome brachten den hinzugezogenen Arzt schnell auf die richtige Diagnose. Jan hatte sich mit Typhus angesteckt. Die Krankheit grassierte schon seit Wochen in Poddębice und der Umgebung. Es hatte schon einige Todesfälle, vor allem unter den Alten und Schwachen, gegeben. Als die Seuche auf ihren Höhepunkt zusteuerte, schloss man Schulen, Badeanlagen und öffentliche Bedürfnisanstalten. Einige städtische und dörfliche Brunnen versiegelte und versperrte man. Die Gesundheitsbehörden waren der Ansicht, dass die teilweise unhygienischen Brunnen die Hauptschuld an der rapiden Ausbreitung der gefährlichen Infektion hätten. Eine wirksame Therapie gab es nicht. Man isolierte Kranke und hoffte, dass die mit dem Tode ringenden Menschen die schwere und äußerst gefährliche Krankheit nach einigen Wochen überwinden würden. Wenn jemand starb, war das eben Gottes Wille. An den unsauberen Verhältnissen, den eigentlichen Ursachen der Infektionen änderte sich kaum etwas. Einige Brunnen, bei denen man Wasserproben gezogen und in einem Labor in Łódź eindeutig Typhusbakterien nachgewiesen hatte, wurden abgedichtet. So wollte man verhindern, dass Schmutz- und Abwasser in die Trinkwasserversorgung einsickerte. Diese Maßnahmen und die sinkenden Temperaturen im Herbst ließen die Zahl der Neuerkrankungen sprunghaft zurückgehen. Im Frühjahr war die Seuche zum großen Teil überwunden. Die schlimme Infektionskrankheit hatte jedoch viele Opfer gefordert. Eine genaue, amtlich verbürgte Zahl der verstorbenen Menschen wurde nie veröffentlicht. Jan war jung und zäh. Sein starker Lebenswille half ihm sicher, den Typhus zu besiegen. Nur weil seine Mutter auf äußerste Sauberkeit achtete, wurden die anderen Familienmitglieder verschont. Allerdings dauerte seine Rekonvaleszenz recht lange. Es blieb eine gewisse Schädigung des Organsystems zurück. Sie muss allerdings nicht ausgeprägt gewesen sein, sonst hätte er ein so hohes Alter nicht erreichen können. Seine fromme Mutter glaubte, dass ihre inbrünstigen Gebete ihn gerettet hätten. Er war davon nicht unbedingt überzeugt.

    Jan hielt trotz der schlechten Arbeitsbedingungen durch und legte seine Gesellenprüfung erfolgreich ab. Da er einen durch und durch verzeihenden Charakter hatte, grollte er seinem ehemaligen Lehrherrn nicht lange. Sein Verhältnis zu ihm verbesserte sich zum Schluss seiner Lehrzeit sogar in einer überraschenden Weise. Wahrscheinlich schätzte er Jans Fleiß und wollte ihn trotz der früheren Spannungen behalten. Jedenfalls bot er ihm eine Übernahme als Geselle an. Jan lehnte jedoch dankend ab. Er hatte ganz andere Pläne und konnte sich nicht vorstellen, ein Leben lang in diesem Beruf zu arbeiten.

    V

    Im Juni 1937 erhielt Jan ein interessantes Schreiben, das sein Leben grundlegend verändern würde. Es war ein Gestellungsbefehl zur Musterung. Seine Mutter und sein Vater waren eigentlich davon überzeugt, dass er nicht zum Militärdienst eingezogen werden würde, da er recht kränklich war. Jedenfalls hatte die lebensbedrohliche Typhusinfektion ihre Spuren hinterlassen. Damals legte man beim Militär noch großen Wert auf einen athletischen Körperbau. Ideal erschien den Musterungsbehörden der sportliche Typ, drahtig, mit kräftigen Muskeln und hochgewachsen. Man nahm den Rekruten nackt in Augenschein und verlangte körperliche Vorführübungen wie z. B. Kniebeugen und Liegestützen, um die Wehrtauglichkeit beurteilen zu können. Aus heutiger Sicht blieb so ein Musterungsvorgang ziemlich an der Oberfläche und ist mit einer heutigen medizinischen Untersuchung nicht vergleichbar. Das Hör- und Sehvermögen wurden geprüft, und nach kurzer Beratung der Kommission, der mehrheitlich Sanitätssoldaten im Range von Unteroffizieren angehörten, verkündete man die Tauglichkeit oder die Ausmusterung. Danach wurde der Kandidat in ein stereotypes, nur wenige Minuten dauerndes Gespräch verwickelt, damit man seine sprachlichen und geistigen Fähigkeiten erkennen konnte. Allgemeinbildung, gute Kenntnisse im Lesen und Schreiben und mathematische Fähigkeiten konnte man bei dem äußerst niedrigen Standard der polnischen Volksschule kaum erwarten. So war es üblich, dass das Militär auch noch die Aufgabe der elementaren Bildung der künftigen Soldaten übernahm. Man zielte recht bescheiden auf selektiv geschulte Männer, die man mit einfachen militärischen Aufgaben betrauen konnte. Oberster Grundsatz war, dass der Soldat seinen Offizieren bedingungslos gehorchte. Hierin äußerte sich die Loyalität gegenüber dem Vaterland. Die Befehlskette sollte unter allen Umständen reibungslos funktionieren. Das Feindbild war ganz klar. An den polnischen Grenzen lauerten die bis an die Zähne bewaffneten Deutschen oder Russen. Beide hassten die Polen aus tiefster Seele. Jan war daher jederzeit bereit, das geliebte Vaterland zu verteidigen.

    Jan als 18jähriger Rekrut (polnischer Militärausweis)

    Jan als 18jähriger Rekrut (polnischer Militärausweis)

    Der so genannte polnische Korridor, der schmale Zugang Polens zur Ostsee, zerriss die Einheit des deutschen Territoriums und schnitt Ostpreußen vom übrigen Reichsgebiet ab. Auch die prekäre Situation in Danzig stellte sich als permanenter Zankapfel zwischen Polen und Deutschen dar. Man hatte diese bedeutende Ostseestadt, die zu 90% von Deutschen bewohnt war und unbedingt mit dem Deutschen Reich verbunden sein wollte, unter ein so genanntes Völkerbundmandat gestellt, da man es nicht wagte, sie an Polen zu übergeben. Die Deutschen waren mit dieser künstlichen Regelung gänzlich unzufrieden und hofften, dass dieser im höchsten Maße rechtswidrige Status ihrer blühenden und schönen Stadt bald aufgehoben werden könnte. Sollte nicht das Selbstbestimmungsrecht für alle Nationen gelten? Oder wurde es nur dort angewendet, wo es den Siegermächten des Ersten Weltkriegs opportun erschien? Jans Vater hatte fast ein ganzes Jahr auf einer Danziger Werft gearbeitet und damals gutes Geld verdient. Leider büßte er dort seine Stelle ein, weil er angeblich im Sinne Polens politische Agitation betrieb, obwohl er sich nur als Gewerkschafter für seine Landsleute engagierte.

    Polen gebärdete sich vor dem Zweiten Weltkrieg streng antikommunistisch. Die Mentalität aller Polen verabscheute den Bolschewismus und die imperialistischen Bestrebungen der Sowjetunion. Daher war man auch nicht willens, Zugeständnisse zu machen, als es darum ging, Stalin als Verbündeten für eine alliierte Allianz gegen Hitlerdeutschland zu gewinnen. Die Verhandlungen mit der Sowjetunion am Vorabend des Zweiten Weltkrieges scheiterten schließlich auch an der Ablehnung der Polen, der Roten Armee ein Durchzugsrecht durch polnisches Gebiet einzuräumen. Einmal im Land, glaubte man, sie nicht mehr loswerden zu können.

    In dieser spannungsreichen Zeit handfester kriegerischer Bedrohung begann also Jan seinen Wehrdienst in einer polnischen Kavallerieeinheit im Osten des Landes. Das 24. Kavallerieregiment hatte seinen Standort in Rowno, heute Riwne, Wolhynien. Damit war er recht weit von seinem Heimatort Poddębice entfernt. Geschmerzt hat ihn das nicht; denn er wollte aus der bedrückenden Enge des Elternhauses heraus in die weite Welt. So versprach das Soldatenleben fern der Heimat einen willkommenen Neubeginn. Als politisch unbedarfter Mensch hatte er keine richtigen Vorstellungen von dem drohenden Unheil, das sich langsam zusammenbraute. Er konnte nicht wissen, dass er schon bald um seine nackte Existenz würde kämpfen müssen. Niemals hätte er angenommen, dass er sein Heimatland im Zuge der kriegerischen Ereignisse auf immer verlassen müsste. Noch schien der Friede gesichert. Hitler hatte in einer Kehrtwendung die Weimarer antipolnische Außenpolitik zumindest scheinbar beendet und einen versöhnlichen Kurs eingeschlagen. Völlig überraschend bot er den Polen einen Nichtangriffspakt an. Damit war langfristig ein Ausgleich zwischen den verfeindeten Staaten denkbar. Für die Deutschen, die in der Weimarer Zeit die neue polnische Westgrenze entschieden ablehnten, war es schlechterdings unfassbar, dass gerade ein durch und durch revisionistischer Politiker, Speerspitze des äußerst rechten Spektrums, mit den Polen ein solches Abkommen schloss, das die fest zementierten Positionen der Vergangenheit mit einem Schlag zu überwinden schien. Doch dieser Vorschlag einer friedlichen Koexistenz lag schon einige Jahre zurück. Inzwischen hatten sich die internationalen Beziehungen grundlegend gewandelt. Deutschland ging von einer eher revisionistischen zu einer unverhohlenen imperialistischen Politik über.

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