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Die Am Meer Wohnen: Eine Familie aus Pommern sucht ihren Weg
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eBook296 Seiten4 Stunden

Die Am Meer Wohnen: Eine Familie aus Pommern sucht ihren Weg

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Über dieses E-Book

»Die am Meer wohnen« bezieht sich auf Pommern, eine Region, die etymologisch «am Meer gelegen« bedeutet, und auf die neue Heimat der Protagonistin: Kiel. Wie der Romantitel, so spiegelt auch die Kleinstadt Schönlanke eine trügerische Idylle.
Die auf wahren Begebenheiten basierende Geschichte erzählt von den Herausforderungen einer zehnköpfigen Familie. August Radke, Inhaber eines kleinen Lebens- mittelgeschäfts, und die jüngste Tochter Brigitta durchleben schicksalhafte und verstörende Ereignisse während der Zeit des Nationalsozialismus, der Nach- kriegszeit und des Lebensabschnitts in der sowjetisch besetzten Zone und späteren DDR.
Die Autorin verarbeitet Themen der Ethik, Politik, des Glaubens und Leids und verwebt den Alltag der Radkes mit dem Lokalkolorit Hinterpommerns, heute zur Woiwodschaft Polen gehörig, sowie der Städte Leipzig und Kiel.
Das Buch ist ein unbedingtes Ja zum Leben, gegen das Vergessen, für die Freundschaft mit Polen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum30. Nov. 2020
ISBN9783752696417
Die Am Meer Wohnen: Eine Familie aus Pommern sucht ihren Weg
Autor

M.A. Köllner

Martina Anett Köllner absolvierte erfolgreich das Studium der Kunstgeschichte und Romanistik in Kiel und Hamburg. Ihre berufliche Laufbahn gestaltete sie hauptsächlich im Vertrieb amerikanischer Unternehmen der Informationstechnologie, seit 1991 bei der IBM Deutschland. Sie ist verheiratet und lebt in Bayern. Mit dem vorliegenden Roman ermöglicht sie sich ihren langgehegten Wunsch, das Schicksal ihres Großvaters und ihrer Eltern nachzuzeichnen.

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    Buchvorschau

    Die Am Meer Wohnen - M.A. Köllner

    Martina Anett Köllner absolvierte erfolgreich das Studium der Kunstgeschichte und Romanistik in Hamburg und Kiel. Ihre berufliche Laufbahn gestaltete sie hauptsächlich im Vertrieb amerikanischer Unternehmen der Informationstechnologie, seit 1991 bei der IBM Deutschland. Sie ist verheiratet und lebt in Bayern.

    Mit dem vorliegenden Roman ermöglicht sie sich ihren langgehegten Wunsch, das Schicksal ihres Großvaters sowie die Kindheit und Jugend ihrer Eltern nachzuzeichnen.

    Meinen Eltern Bruno Joseph

    &

    Brigitta Eva Ottilie

    Inhalt

    Der Kaufmann

    Butter statt Kanonen

    Adelheid

    Flieg, Brigitta, flieg

    Glacéhandschuhe

    Pommernland, abgebrannt

    Sieger und Schweinsköpfe

    Bis ans äußerste Meer

    Ausweisung

    Neubürger

    Ein Wiedersehen

    Flüchtlinge

    Der Kaufmann

    Bevor man eine Leiter besteigt, sollte man sich vergewissern, ob sie an der richtigen Wand steht.

    Volksweisheit

    Heute wird sich sein Schicksal wenden. An diesem sommerlich warmen Junimorgen 1933 in Schönlanke, einem beschaulichen Städtchen von knapp 10 000 Einwohnern im Bezirk Netzekreis, nahe der polnischen Grenze. Nachdenklich schlendert August Radke bei tiefblauem Himmel in die Moltkestraße 10, wo ihn ein jungfräulicher, unmöblierter Ladenraum erwartet, den er innerhalb der nächsten Viertelstunde besichtigen wird. Vielleicht, ja hoffentlich, ist er der zukünftige Inhaber.

    Sein Vater, dessen Vornamen er trägt, hätte sich über das Vorhaben seines Ältesten gefreut. Die hellgrünen wachen Augen, das schmale Gesicht, eine hohe, nahezu faltenfreie Stirn und die schmale Nase mit hohem Rücken verleihen ihm das Aussehen eines Intellektuellen, obwohl er der Arbeiterklasse angehört. Aufgrund seiner schlanken Figur wirkt er bei 1,80 Meter jugendlich und hochgewachsen, im besten Mannesalter von 43 Jahren, mit dunklen, straff nach hinten frisierten Haaren. Seinen Schnauzer, den er seit mehr als zwanzig Jahren trug, hat er sich mittlerweile auf den modischen Zweifingerbart gestutzt. Sein gepflegtes Äußeres legt er auch privat nicht ab, was ihm bei seiner Bewerbung zum Vorteil gereichen wird. Nach kurzem Fußmarsch begutachtet er die Lage des Hauses. Die Straße mündet gleich um die Ecke in den Marktplatz, das ist strategisch günstig, es gäbe ausreichend potentielle Käufer. Der Hausbesitzer heißt Albert Döhring, Ortsgruppenleiter der NSDAP. Ein typischer Vertreter dieser aufgeblasenen Parteifunktionäre mit goldenem Abzeichen: ein Goldfasan. August hat sich umgehört: ein Genussmensch soll er sein, übergewichtig, penibel, durchtrieben. Wie vermag er ihn zu überzeugen? Sich anzubiedern widerstrebt ihm zutiefst, gleichwohl gibt es zahlreiche familiär weniger belastete Interessenten, die ihm das Wasser abgraben könnten. Dass er in Kürze das siebte Kind ernähren wird, bindet er dem Eigentümer nicht auf die Nase. Wenn der es nicht ohnehin schon herausgefunden hat. Man ist gläsern geworden, seit diese Partei am Ruder ist.

    Er schaut interessiert am dreistöckigen Gebäude hoch und entsinnt sich des vorherigen Hausherrn. Der jüdische Kolonialwarenhändler Rosenbaum, bei dem er seine Zigarren zu kaufen pflegte, hatte sich ihm eines Tages anvertraut. Die Nazis seien ihm zu nahe getreten, daher hätten er und seine Frau die Entscheidung getroffen, nach Holland auszuwandern. Ob Herr Radke nicht das Haus oder zumindest das Erdgeschoss übernehmen wolle? Er schätze ihn und seine Fähigkeiten seit Jahren. Dies ehrte August sehr, dennoch hatte er dankend abgelehnt. Hatte beteuert, er bedauere es zutiefst, dass die jüdischen Ladenbesitzer durch den Boykott im April einen derartig immensen Schaden erdulden mussten. Er habe es aus Rücksicht auf seine vielköpfige Familie nicht gewagt aufzufallen durch demonstrative Einkäufe in einem der jüdischen Läden. Die drohenden SS-Posten – von wegen Schutzstaffel! –, die so manche Kaufwillige verprügelten und verhafteten, hätten es verhindert. Unabhängig davon reichten die finanziellen Mittel bei weitem nicht für einen Immobilienerwerb aus. Herr Rosenbaum hatte Verständnis gezeigt. Er solle sich das in Ruhe überlegen. »Wagen Sie es«, hatte er ihn ermuntert. »Spezialisieren Sie sich. Wie wäre es mit Milchprodukten? Die Molkerei liegt nur einen Steinwurf entfernt.« Bald darauf war die Familie Rosenbaum von den Nazis zur Zwangsversteigerung gezwungen worden und trennte sich schweren Herzens von ihrem Wohneigentum. Glücklicherweise hatten sie die Billets für die Ausreise rechtzeitig erworben, nach langwierigen Verfahren und verbunden mit exorbitant hohen Kosten. So verarmten sie durch die Emigration.

    August runzelt die Stirn. Ein rühmliches Kapitel ist die Vorgeschichte wahrlich nicht, hat jedoch außer ihn niemand im Ort tangiert. Vor allem die freundliche Empfehlung des Geschäftsmannes übt Faszination auf ihn aus. Deshalb hat es ihn hergezogen. Rosenbaum hatte es abgesegnet. Das empfindet er als Legitimation. Wie oft hat er sich damit befasst, was er denn in einem ordentlichen Laden anbieten würde. Ob er das Wagnis eingehen sollte. Letztlich hat er die Entscheidung gemäß Rosenbaums Rat getroffen. Milch wird er zwar nicht vermarkten, die überall im Ort dargeboten wird, aber Butter. Seines Wissens gibt es keinen einzigen darauf spezialisierten Einzelhandel. Nächtelang haben ihn die Gedanken an eine Erweiterung des Vertriebs seiner überschaubaren landwirtschaftlichen Produkte verfolgt, er träumte mehrfach von ihn umgebenden kühlen Butterbergen, er in einem wehenden weißen Kittel mit einem überdimensional langen Messer, quadratische Stücke aus den vanillefarbenen Wänden schneidend, umringt von Leuten mit ausgestreckten Armen, lechzend nach dem kostbaren Fett. Wunderbare Fantasien. Doch auch vernünftig betrachtet – der Handel mit Butter wird die perfekte Lösung sein. Eine derartige Chance wird ihm definitiv kein zweites Mal geboten werden. Das ist ein absoluter Glücksfall, der ihn in die Lage versetzen wird, seine Familie ausreichend zu ernähren. Er wird sein Bestes geben, um die Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen. Nur nicht nervös werden. Neben der Ladentür bewegt sich etwas – die Türklinke des angrenzenden Eingangs. Albert Döhring tritt aus seinem Büro, das nur einen Schrittbreit rechts von dem zu vermietenden Geschäft liegt, einen ganzen Stoß Dokumente unter dem Arm. Das weiße Emailleschild der Partei mit schwarzen Großbuchstaben hängt unübersehbar in Augenhöhe an der Gebäudeaußenwand. Jetzt heißt es, strategisch klug zu argumentieren. August setzt eine abgeklärte Miene auf, stellt sich vor als ortsansässiger beliebter Lebensmittelkaufmann mit einer ruhigen Familie und umfangreicher Klientel. Döhring gibt sich ungerührt, bedeutet ihm mit leichtem Winken einzutreten.

    Einen Raum nach dem anderen inspiziert er mit ihm, verwickelt ihn dabei ganz nebenbei in ein intensives persönliches Gespräch. Wohlwollend stellt er bald einige Parallelen fest. Beide hängen an ihrem Städtchen Schönlanke, in dem August sich 1919 nach Friedensschluss und Entlassung aus der Reichswehrpflicht niedergelassen hatte. Einst ein innerdeutscher Umzug, liegt seine Geburtsstadt Czarnikau heute in Polen.

    Beide Männer entsinnen sich genau der Erlebnisse im Großen Krieg. August hält sich zurück (zu leicht durchschaubar erkennt er zwischen den Zeilen die Kriegsbegeisterung seines Gegenübers), behält für sich, dass die Jahre mit der Waffe in den schlammigen Gräben für ihn ausnahmslos unliebsame Schreckgespenster sind. Er kramt in seinem Hirn nach Anekdoten, die sich vorteilhaft verkaufen lassen.

    Ein Kamerad habe ihn gelehrt, bei feindlichem Beschuss ein Schützenloch zu graben; einmal habe er sich mit dem Oberkörper vorschnell erhoben, so dass ein Franzose ihm einen Streifschuss an der Stirn verpassen konnte. Zwar hatte es für das Verwundetenabzeichen nicht gereicht – er streicht unbewusst an der Schläfe entlang –, nichtsdestotrotz erfülle ihn die Narbe mit Stolz. Seinem jüngeren Bruder Leonhard, kleiner und nicht so schlank wie er, hätten die Engländer den rechten Ellbogen zerschossen, wodurch er weitreichende Einschränkungen hinnehmen müsse, welche er mit Bravour bewerkstellige.

    Einzig und allein dem Deutschen Reich die Schuld zuzuweisen, den Krieg angezettelt zu haben, darin sind sich beide Männer einig, sei eine Unverschämtheit gewesen, die aufgebürdete Last der Reparationszahlungen absolut unfair. Der Verlust Posens und großer Teile Westpreußens habe die Kommunikation und überhaupt ein verträgliches Miteinander mit den Polen in der Grenzregion zunichte gemacht, und die Eingemeindung des Bezirks Netzekreis in die 1922 neu benannte Provinz Posen-Westpreußen bedeute eher eine Mahnung denn eine bloße Erinnerung.

    Auskunft über seine Eltern gibt August ebenfalls gern. Im höheren Alter habe sein Vater aus Czarnikau auswandern müssen, gemäß der durch den Versailler Vertrag bestimmten Grenzziehung mitten durch den Netzestrom, wodurch eine Menge Ortschaften den Polen zufielen. Ihm seien mit Hängen und Würgen zufrieden stellende staatliche Subventionen zugesprochen worden, bevor hunderttausende Deutsche folgten, woraufhin das Reich die Leistungen für die Grenzlandvertriebenen gekürzt habe.

    Den Söhnen sei mit Stolz von ihm vorgeschwärmt worden, dass die Preussen ihre geliebte Heimat gegen Ende des 18. Jahrhunderts aus polnischer Herrschaft zurückerobert hatten. Jetzt im Feindesland wohnen bleiben? Dessen Sprache erlernen, wo seine eigene Regierung von einem Saisonstaat sprach? Die polnische Wirtschaft erdulden, ordnungsliebender Preusse, der er war? Das habe ihn abgestoßen. Nie und nimmer wäre er polnischer Staatsbürger geworden. Wie Herrn Döhring mit Sicherheit bekannt sei, hätten die Polen äußerst zügig die Initiative ergriffen, der östliche Teil vom Netzekreis sei in Windeseile vereinnahmt worden. Mehr als tröstlich sei es, dass seine Mutter, die noch vor den Versailler Beschlüssen verstorben war, dies alles nicht durchmachen musste. Die drei Söhne an der Front wissend, die entbehrungsreiche Arbeit auf dem Bauernhof, das raffte sie dahin. Auch sein Vater sei nach der Umsiedlung dahingeschieden. Aus Gram. Und welche Ironie des Schicksals: die Söhne überlebten, seine ältere und einzige Schwester Angela hingegen, bewundert und geliebt, sei nach neunjähriger Ehe mit Konrad Lehmann, einem Bierbrauer aus der Schlossbrauerei, bei der Geburt ihrer Tochter Gertrud gestorben. Jedenfalls halte sich sein Bedürfnis, ungeachtet des lediglich 18 Kilometer südöstlich liegenden elterlichen Heimathofes, an Fahrten in Richtung des verlorenen Ortes in Grenzen.

    Ein Seitenblick auf Döhring gibt keinen Aufschluss. Offenbar versteht er seine Aussage rein politisch, wohlwollend nickend; hat aber weiteren Informationsbedarf. Was denn sein ursprünglich erlernter Beruf sei. Als wenn der Goldfasan das nicht wüsste! Die Konversation entwickelt sich zum Verhör. August lässt sich seine Unsicherheit nicht anmerken und gibt ein passendes Histörchen zum Besten.

    Sein Vater sei nie müde geworden, den Söhnen das Handwerk des Zimmermanns schmackhaft zu machen – eine ehrenvolle Aufgabe, der sogar der Herrgott nachgegangen sei. Schade nur, dass dieser zwar erstrebenswerte Beruf, den die Brüder erlernt hatten, ebenso wie der des Vaters, Schmiedemeister, nach dem Krieg unzureichende Einnahmen für die wachsende Familie beschert habe. Zudem sei kaum neuer Wohnraum entstanden, die rapide ansteigende Zahl jung Verheirateter auf der Suche nach einer geeigneten Bleibe völlig außer Acht lassend. Vor niemandem habe die daniederliegende Wirtschaft Halt gemacht. Der jüngste Bruder Alois befinde sich seit einer halben Ewigkeit in Übersee; das Fernweh habe ihn wie so viele Anfang der Zwanzigerjahre gepackt und auf einen der riesigen Dampfer getrieben, die regelmäßig in Wilhelmshaven ablegten. Seither lebe er mit seiner angetrauten Blanche bestens integriert in den Vereinigten Staaten, denn er übersende regelmäßig Geldbeträge an Leonhard, mit dem es langsam materiell aufwärts gehe. Seit zwei Jahren pachte dieser einen 17 Hektar messenden Bauernhof in Krojanke, ehemals preussischer Herrschaftsbesitz. Wie ungemein wichtig es seinem Bruder bis heute ist, diesen Schritt vor dem Regierungswechsel vollzogen zu haben, enthält August dem Parteifunktionär natürlich vor.

    Die Brüder hätten nämlich Haus und Hof verwettet, beide Wähler des Zentrum, Partei der Katholiken, dass es den Nationalsozialisten nie und nimmer gelingen würde, eine Regierung zu bilden. Sie hatten sich gründlich getäuscht. Und die Nazis hatten nichts Besseres zu tun als nach Amtsantritt jüdische Selbständige zu boykottieren, wodurch die Auswanderungswelle, die auch Rosenbaum wegspülte, in Gang gesetzt wurde.

    Döhring räuspert sich ausgiebig. Der Bonze lässt ihn mit sichtlichem Vergnügen zappeln. Nach einer Schweigepause belehrt er ihn unmissverständlich, dass seine Gewerbelizenz nicht genüge. Es sei nicht nur vorbildlich und Ehrensache, sondern man schulde der Partei die Mitgliedschaft in einem so zentralen Bereich wie der Versorgung des Volkskörpers mit Nahrungsmitteln. Er streckt seinen Körper durch, stemmt die Ellbogen in die Hüften, durchdringt ihn mit Argusaugen und zitiert einen wirksamen Schlachtruf der Partei:

    »Genosse, dich muss ich hoffentlich nicht daran erinnern. Ernährung ist keine Privatsache. Arisch bist du, deine Frau Ottilie ebenso, das habe ich prüfen lassen.«

    Natürlich hatte August den Ariernachweis längst erbracht, bis anno 1800 rückdatiert. Vage hat er im Sinn, dass die Partei keine Mitglieder mehr aufnimmt. Wenn es sich im vorliegenden Fall um eine Pflichtmitgliedschaft handeln sollte, muss sein Beitritt noch möglich sein. So schnell gibt er nicht auf, sein Ehrgeiz ist längst geweckt.

    »Selbstverständlich stelle ich umgehend meinen Antrag.«

    »Perfekt, ich sehe, du bist bereit, Nägel mit Köpfen zu machen. Ich bin geneigt, dir den Zuschlag hier vor Ort zu erteilen. Begleite mich in mein Büro, du kannst die Papiere gleich mitnehmen.«

    August hat Mühe, seine Überraschung zu verbergen, er kann sein Glück kaum fassen. Irgendetwas muss er richtig gemacht haben. Den Vertrag in der Faust, die ausgehändigten Schlüssel klappernd in seiner Hosentasche, macht er sich bestens gelaunt auf den Weg, um seinen Lieben die spannende Neuigkeit mitzuteilen. Es ist ihm tatsächlich geglückt! Stolz und unbändige Freude steigen in ihm auf, und er beginnt augenblicklich, von einem erfolgreichen Dasein als Kaufmann zu träumen. Wirtschaftlicher Aufschwung in naher Zukunft, das sind fantastische Aussichten. Ein halbes Leben harte Arbeit für wenig Brot ist genug. Ein Geschäft, das seinen Namen trägt! Er kann es kaum erwarten. Der Transfer wird nicht allzu aufwändig werden. Sie werden im Prinzip nur das Mobiliar und die Umzugskisten auf die Pferdekutsche laden und die Wilhelmstraße hinunterfahren müssen, um nach einer Rechtskurve automatisch in der Moltkestraße zu landen.

    Kurz darauf meldet sich das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft mit der schriftlichen Zusage, artverwandte Nahrungsmittel neben dem bereits bestehenden Sortiment registrieren zu dürfen, worüber August hocherfreut ist. Das wird die Attraktivität seines Ladens erhöhen. Die Butter wird trotzdem den Schwerpunkt bilden, denn zweifellos gibt es kein vergleichbares Fachgeschäft in der Umgebung. Das ist ein perfektes Konzept, von dem er absolut überzeugt ist, unabhängig davon, dass der Siegeszug der Margarine stetig zunahm, denn für dieses Fett musste man nur ein Viertel des Butterpreises bezahlen, bis kürzlich eine Einschränkung der Margarineproduktion erfolgte, verbunden mit extrem hoher Besteuerung. Der Grund dafür war die Verärgerung der Partei, es handele sich um ein zu einem hohen Prozentsatz importiertes Produkt im Reich, wo es doch realisierbar sein müsse, die leidige Fettlücke mit eigenen Mitteln zu schließen. Der Selbstversorgungsgrad innerhalb des Reiches mit Lebensmitteln liegt mittlerweile bei enormen 80 Prozent.

    Mit wachsendem Interesse hat August seit Februar die Verabschiedung einer Verordnung nach der anderen zur Verwendung von Ölen und Fetten mitverfolgt. Teuer ist die Butter geblieben: der Preis für ½ Pfund übersteigt einen durchschnittlichen Stundenlohn. Dennoch wird sie geschätzt; wäre sie nicht so kostspielig, striche man sie fingerdick auf. Wie auch immer, jetzt kann er die Möblierung und das Warenangebot in dem 20 Quadratmeter bietenden Ladenraum in Angriff nehmen, was gründlich durchdacht sein will. Er nimmt Ottilie mit vor Ort. Rundherum wird die verglaste Ladentafel entstehen, rechts neben der Ladentür hochklappbar. Dort wollen sie das Fleisch und die Eier in Regalen anbieten. Ottilie schlägt vor, gesunde Nahrung in das Portfolio einzubauen, die problemlos zu organisieren, heranzuschaffen sowie gut zu lagern und zudem begehrt sei: Früchte und Gemüse. August ist vollauf begeistert, zumindest einige Obst- und Gemüsearten sind bei artgerechter Lagerung wochenlang haltbar. Der Großmarkt im 16 Kilometer nordöstlich gelegenen Schneidemühl, der Bezirkshauptstadt, wird ihn ausrüsten mit den beliebten Südfrüchten, Bananen aus Kamerun, Apfelsinen aus Palästina. Lebhaft diskutieren sie, ob der gestiegene Druck des Reichsverbandes für Deutschen Gartenbau demnächst zu Einschränkungen bei der Einfuhr von exotischen Früchten führen könnte; sie entscheiden sich optimistisch gestimmt zugunsten der ausländischen Ware, insbesondere in Hinblick auf die langen Wintermonate. Bei etwaiger Verteuerung könnten sie den prozentualen Anteil des hiesigen Obstes oder Gemüses erhöhen, und sollten sich entsprechende Verordnungen bis hin zu einem Veräußerungsverbot ausländischer Erzeugnisse ausweiten, werde sich garantiert eine Alternative bieten, denn die Bezugsquellen sind problemlos gleich um die Ecke zu erreichen. Geflügel und Eier – das ursprüngliche Warensortiment – werden sie weiterhin beim Förster beziehungsweise verschiedenen Bauern erwerben, womit auch seine damalige Kundschaft am Ball bleibt und gern die geringfügig weitere Strecke in den neuen Laden auf sich nehmen wird.

    Den Stempel gibt Ottilie entsprechend per Brief in Auftrag: Butter, Käse & Eier, Wild & Geflügel. Obst & Südfrüchte. Inhaber A. Radke. Anziehend sollen die Produkte präsentiert werden, daher entscheiden sie sich für geflochtene Weidenkörbe in drei Größen, welche beim Korbmacher Mikolajczak zu beauftragen sind. Ein unmerkliches Stöhnen lenkt Augusts Blick auf den stark gewölbten Bauch seiner Frau. Sie ist ruhebedürftig, verdrängt aber nach acht vorangegangenen Schwangerschaften ihr Unwohlsein, besteht darauf, die Anordnung der Lebensmittel zu vervollständigen, beginnt auf einem leeren Blatt zu skizzieren. An der dem Eingang gegenüberliegenden Seite werden sie die Fette anbieten, aufgelockert durch einen mittig angebrachten rechteckigen Wandspiegel mit Goldrand, ein Erbstück Ottilies Großmutter von 50 Zentimetern in der Höhe und 100 in der Breite. Rechts daneben befindet sich eine Verbindungstür zum Wohnungsflur. Die linke Raumhälfte wird für Obst, Gemüse und für die Kasse benötigt. Nicht sichtbar auf den ersten Blick im unteren Bereich sind die weniger farbenfrohen unverderblicheren Gemüsesorten wie Rüben, Kartoffeln, Möhren und Weißkohl vorgesehen. Die saisonalen Früchte wie Erdbeeren, Kirschen, Pflaumen sowie die besonders begehrten Apfelsinen und Bananen werden sie auf jeden Fall in den hellen Körben auf dem Ladentisch präsentieren, in Augenhöhe. August ist euphorisch. Auf keinen Fall soll ein Nullachtfünfzehn-Laden mit dichtgedrängt und lieblos durcheinander angehäuften Waren entstehen.

    Der Abend ist vorgerückt, sie sitzen müde am Tisch, bis ihm plötzlich seine ausführliche Unterredung mit Albert Döhring einfällt, und er vertraut sich Ottilie an. Sie schaut betroffen aus, gibt ihm zu bedenken, diese Nazi-Partei, ob sie die Wahlen gewonnen habe oder nicht, agiere gegen Christen, und ihre Minister, einer unausstehlicher als der andere, seien ihr zuwider. Sie gehe davon aus, dass die Familie in Gefahr geraten könne. August beschwichtigt seine Frau. »Tillchen, ich bin nur ein Kirchgänger und kein Bischof. Den Laden betreiben zu dürfen ist eine einmalige Chance. Es gibt keine Alternative! Sei nicht bekümmert, wir lassen uns nichts zuschulden kommen; so wird es uns weiterhin wohl ergehen. Ich verspreche dir hoch und heilig, wir werden niemals aus der Kirche austreten. Unseren Glauben verraten wir nicht, wir sind seit Generationen Katholiken, daran wird sich auch für uns nichts ändern.« Er küsst sie auf die Stirn, dreht sich auf die Seite und schläft augenblicklich ein.

    Nach unruhigen Träumen, es ist Sonntag, hält August es für richtig, den Einwänden seiner Frau nachzugeben, konsultiert den Pfarrer nach der Messe, umreißt die Problematik sowie seine Unsicherheit angesichts des jüngst unterzeichneten Mietvertrages. Der Geistliche redet beschwichtigend auf ihn ein, verweist auf Hitlers Zugeständnisse in der Regierungserklärung Ende März. »Wir haben die Erlaubnis, unseren Glauben auszuüben, bewahren unsere Befugnisse«, betont er. »Das Verbot unsererseits, der NSDAP beizutreten, ist kürzlich aufgehoben worden. Außerdem sollen wir Christen die staatliche Obrigkeit anerkennen.« Das zerstreut Augusts Bedenken vollends. Die Gemeinde würde ihn nicht ächten, und so zögert er nicht beizutreten. Dank Ottilies Denkanstoß ist er sich seiner Entscheidung für den Mietvertrag nun sicherer, hat er sie doch mit dem Segen der katholischen Kirche untermauert.

    Während der sonntäglichen Kutschfahrt am Nachmittag zu seinen Schwiegereltern bedauert August, dass der Gaul, ein Ostfriese, Dauerleihgabe des Bruders, mangels Stellplatz bedauerlicherweise nach dem bevorstehenden Umzug zurückzugeben sein wird. Wie üblich haben sie ihre sechs Sprösslinge am Nachmittag in den Einspänner gesetzt und sich auf den Weg gemacht. Die wertvollen Momente der Entspannung genießt er zusammen mit seiner Frau auf dem Kutschbock. Stolz ist er auf seine Familie. Nach all den Jahren bewundert er noch immer Ottilies wunderschönes Profil. Hoffentlich wird nicht zu viel Arbeit an ihr hängen bleiben, will er ihr doch als Kaufmann unbedingt eine gesicherte Zukunft bieten. Die erneute Schwangerschaft scheint sie gut zu verkraften. Wie war es zu Beginn? Seine erste Begegnung mit dieser wundervollen Frau?

    Die Familien kannten sich flüchtig, die vier Töchter wurden sorgfältig beschirmt; der einzige Bruder Michael lebte mit Frau wie seine Eltern in Straduhn. Die natürliche Vornehmheit der Ältesten reizte ihn. Es gelang ihm meist, sich in die Kirchenbank hinter Ottilie zu setzen und ihren zarten Hals unter den hochgesteckten Haaren anzuschmachten. Unglaublich lange hatte er sich mit höflichen Floskeln begnügen müssen, in seltenen Glücksfällen war er von seiner Angebeteten aus dem Augenwinkel beobachtet worden.

    Es bedurfte einer endlosen Reihe von Sonntagen, bis sich eine Chance geboten hatte, mit ihr in die Konditorei zu schlendern, mit größter Selbstverständlichkeit begleitet von seinen beiden Brüdern und Ottilies drei Schwestern, durchaus in eigenem Interesse, wie sich später herausstellen sollte.

    Mit Mitte zwanzig hatte er noch keine nennenswerte Erfahrung mit dem weiblichen Geschlecht erworben. Bordellbesuche, die sich im Krieg reger Beliebtheit erfreuten, hatte er strikt abgelehnt. Eines war ihm auf jeden Fall klar: noch nie hatte er für ein Mädchen ein so heftiges Gefühl empfunden. Gott sei Dank erwiderte sie seine Liebe. Fatal nur: der Einberufungsbefehl erreichte ihn im Sommer 1916, bevor er sein Tillchen richtig kennenlernen konnte. Sein 27. Geburtstag nahte, und er hatte wie alle anderen niemals daran gedacht, dass die Schlachten nicht enden wollten und die Kaiserliche Armee damit beginnen würde, ältere Jahrgänge einzuberufen. Der Weltkrieg, das gefräßige Monster, verschlang die Männer millionenfach; daher war für ihn eine eilige Verlobung anberaumt worden. Dreizehn Monate später, mitten im Sommer, hatten sie Hochzeit gefeiert, er in grauer Uniform, genau 48 Stunden Fronturlaub im Gepäck. Ottilie hatte bei ihren Eltern auf dem Hof in Straduhn ein bescheidenes Fest organisiert. In mehreren mit bunten Bändern geschmückten Karren, deren vorgespannte Gäule, darunter für den ersten Wagen zwei von Tierliebhaber Leonhard organisierte Schimmel, waren die Familien zur kirchlichen Trauung kutschiert worden. Mit Tränen in den Augen hatte er Ottilie in dem schlichten schwarzen Kleid ihrer Mutter am Altar empfangen. Die Ärmel hatte sie sich gekürzt und eine ovale Perlmuttbrosche mit Goldrand vorn an den Stehkragen geheftet. Er liebte das Bescheidene und zugleich Würdevolle an ihr. Dieser Tag hatte ganz allein ihr gegolten. Sie wird wie er die damals ständig präsente, durchaus realistische Angst verdrängt haben, es gäbe keine Zukunft für sie. Darin hatten sie sich allerdings gründlich geirrt.

    Vom Wiehern des Pferdes wird August in die Gegenwart versetzt, sieht sich auf dem Kutschbock um. Die drei Buben und drei Mädchen im Alter von drei

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