Die Isenburger Parabeln
Von Pitt
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Pitt
Pitt ist ein fiktiver Autor, der seit Jahrzehnten von Armin Peter, geboren 1939 in Hannover, in Hamburg lebend, bewegt wird. Er veröffentlichte zuletzt den Roman "Der Schwanenvater" (2021) und den Essay "Die Heimsuchung des Lesers - Literaturgeschichten" (2020). Informationen über alle Publikationen von Pitt und Armin Peter auf der Webseite der Agentur am Aspersort.
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Buchvorschau
Die Isenburger Parabeln - Pitt
Inhalt
Zum Geleit
Die Unsichtbare von Isenburg
Das babylonische Ehepaar
Der Meisterfotograf
Der Polizist von Isenburg
Zibbel und Zibbelchen
Der unsterbliche Jonathan
Das Isenburger Testament
Der Gasthof „Zur Klasse 3 b"
Der Brudermörder
Der Glücksgroschen
Der Froschteich
Der Aufstieg der Brüder Dingeldein
Die Isenburger Scheidung
Knippels Toast
Eine peinliche Geschichte
Isenburger Spinnen
Der Glückskäfer
Anna Peter (1904-1986),
die Geschichten liebte,
an ihrem 111. Geburtstag gewidmet
Zum Geleit
Isenburg ist keine bedeutende Stadt, und der „Isenburger Kurier ist keine bedeutende Zeitung. Bedeutend sind nur die Isenburger, wie alle Menschen an allen Orten. Auch eine richtige Zeitung war der „Isenburger Kurier
nicht. Er war ein so genanntes Anzeigenblatt, das den Isenburger Haushalten wöchentlich kostenlos in die Briefkästen gesteckt wurde, wie in vielen Orten. Pitt war einer der Reporter des „Kurier, das heißt eigentlich war er kein richtiger Reporter, sondern ein Anzeigenwerber, der nur manchmal zur Feder greifen musste, um eine kleine Reportage für sein Blättchen zu schreiben. Diese halbjournalistische Arbeit war natürlich auch nicht so bedeutend wie das Einwerben von Anzeigen von den Isenburger Gewerbetreibenden, denn Anzeigenblätter leben nun mal von den Anzeigen und nicht von den Geschichten oder den Ankündigungen, die sie veröffentlichen, so spannend sie sein mögen. Pitt hat vieles in seinen Gesprächen mit den Isenburgern erlebt, was er zu seinem großen Bedauern nicht im „Kurier
berichten konnte, aus Gründen des beschränkten redaktionellen Raums und auch wegen der betrüblichen Tatsache, dass Pitt eben kein richtiger Reporter war, sondern nur ein Lückenberichterstatter. Er hat im Laufe seiner entsagungsvollen Tätigkeit für den „Isenburger Kurier" viele märchenhafte Geschichten erlebt und erfahren. Hier sind einige von ihnen. Pitt bittet alle Leserinnen und Leser, nicht alle Isenburger für fabelhafte Menschen und Isenburg nicht für eine märchenhafte Stadt zu halten. Was ist der Ort des Menschen anderes als ein großer Strom aus vielen Lebensläufen, ein buntes Gemälde aus vielen Lebensbildern.
Die Unsichtbare von Isenburg
Zu der Zeit, als Isenburg noch ein Städtchen von nur dreitausend Einwohnern war, brach dort eine Katastrophe aus, die nicht nur die Bürger von Isenburg in Verzweiflung stürzte, sondern das ganze Land verwirrte. Die Chroniken und amtlichen Protokolle, die Pitt im Stadtarchiv studiert hat, sagen nicht, wer als erster von dem Unglück betroffen wurde. Es war ein Ostersonntag, an dem der Isenburger Polizei vier Vermisste gemeldet wurden.
In einem vergilbten Zeitungsbericht, den Pitt in einem verstaubten Aktenbündel fand, war zu lesen, dass einige gemeint hatten, die Zahl der schon am ersten Tag Vermissten sei höher gewesen. Die Polizei habe jedoch das Problem verkleinert, um keine Unruhe unter den Isenburgern entstehen zu lassen. Vier Vermisste an einem Tag! Einmal waren an einem Tag zwei junge Männer von ihren Frauen als vermisst gemeldet worden: aber das war im Karneval gewesen, in dem schon mancher den Weg nach Hause vergessen hatte.
Fünf Tage nach Ostern waren schon siebzehn Vermisste registriert. Und noch hatte man von den ersten nicht die kleinste Spur entdeckt. Die Wachstuben der Polizei hatten noch nie so viele Tränen gesehen, so viele schmerzliche Klagen vernommen, so viele Anklagen gegen die Unfähigkeit der Ämter gehört. Zwei Wochen später war die Zahl der Vermissten auf achtundzwanzig geklettert, und Pfingsten waren es schon dreiundvierzig, die verschwunden waren – auf rätselhafte, auf unerklärliche Weise wie alle anderen. Eben waren sie noch gesehen worden, und im nächsten Augenblick hatte sich ihre Spur im Nichts verloren. Familienväter kamen von der Arbeit nicht nach Hause, Frauen, die eben nur auf den Markt gehen wollten, kamen zum Mittagessen nicht heim und ließen ihre hungrigen Kinder allein. Der Schornsteinfeger schien in den Schornstein gefallen zu sein, der Bürgermeister, der nur seine Pantoffeln aus dem Schlafzimmer hatte holen wollen, kehrte nicht zu Pfeife und Apfelwein in die Stube zurück. Wer sich von Freunden verabschiedete, wurde von ihren sorgenvollen Blicken verfolgt. Natürlich gab es einige Witzbolde, die ihm dann lachend ein „Auf Nimmerwiedersehen" zuriefen. Ähnlich muss es im Mittelalter gewesen sein, wenn die Menschen in Sorge um sich und den Nächsten nach den ersten Anzeichen der Pest auf der Haut des Nächsten spähten.
Die Zahl der Vermissten erreichte schließlich sechsundsechzig. Die Polizei, die das Problem dieses massenhaften Verschwindens nicht lösen konnte, tat, was ratlose Behörden in solchen Fällen tun: sie veröffentlichte die Untersuchung eines Professors der Universität der nahegelegenen Metropole. Aus dem Bericht erfuhren die Isenburger, dass unter den Vermissten auffällig viele Männer und Frauen waren, die länger als sieben Jahre verheiratet waren, viele Unternehmer, die Arbeiter und Angestellte beschäftigten, auch höhere Beamte, auffällig viele ältere Menschen mit größerem oder kleinerem Vermögen. Kinder waren glücklicherweise nur in zwei Fällen verschwunden. Das beruhigte wenigstens die Mütter etwas, während die Witzbolde Wetten darüber abschlossen, wann wohl der vermögende Großbauer Schmoller, im Nebenberuf Vorsteher der Isenburger Bauernbank, seit acht Jahren mit einer jungen Frau verheiratet, verschwinden würde. Eine Häufung von Risikomerkmalen hatte der Professor in einem solchen Fall erkannt.
Auf dem Höhepunkt der Vermisstenkatastrophe, zur Weihnachtszeit, waren – um diese bestürzende, ganz Europa in angstvolle Erregung versetzende Zahl vorwegzunehmen – einhundertzwanzig Personen in Isenburg als vermisst gemeldet. Düsternis und Grauen lagen über dem Weihnachtsfest. Die Angst vor dem plötzlichen Verschwinden war ein Albtraum bei Tag geworden. Sogar die Witzbolde wagten es nicht mehr, auszurechnen, an welchem Tage Isenburg sich in eine Geisterstadt verwandelt hätte, wenn in diesem wachsenden, ja noch steigenden Tempo Menschen aus ihrer Mitte verschwänden. Isenburg, eine Stadt der Waisenkinder?
Während die Einwohnerzahl Isenburgs auf so bedrohliche Weise schrumpfte, machten sich Heerscharen von Wissenschaftlern, Experten, Detektiven und Scharlatanen auf den Weg nach Isenburg, um das Verschwinden seiner Bewohner zu ergründen. Mancher hat in dieser Zeit der allgemeinen Ratlosigkeit und Sorge ein gutes Stück Geld gemacht. Da alle Gasthöfe belegt waren, verdienten auch die Isenburger an ihren wissbegierigen Gästen, in dem sie diese in den Betten der Vermissten schlafen ließen. Es kamen eine Menge von Reportern, die verzweifelte Angehörige vor leeren Stühlen und Betten interviewten und fotografierten. Der „Isenburger Vermisstenanzeiger", der vom Bürgermeister täglich herausgeben wurde, war in jenen bösen Monaten die am weitesten verbreitete Zeitung in Deutschland und wurde von den Frankfurter Bankiers und den Hamburger Kaufleuten sogar noch vor den Börsenachrichten gelesen. Nach und nach wuchs die Befürchtung, die Isenburger Epidemie könnte auch auf andere Städte Deutschlands übergreifen.
Alle Theorien, Methoden und Erklärungsversuche verhalfen den Vermissten nicht zu ihrem Wiedererscheinen. Was gab es nicht für hochinteressante, vieldiskutierte Spekulationen! – kosmische Strahlen, denen eine die Körper auflösende Kraft zugeschrieben wurde, Menschenraub aus dem Weltall, plötzlich auftretende Erdrisse, seelische Störungen, die Schlafwandler auf eine ziellose Wanderschaft zwingen. Doch nirgendwo Spuren der Vermissten, außer in den Spintisierereien der Hellseher.
Natürlich lief die Fahndung nach den Vermissten im ganzen Land, und auch im Ausland wurde gesucht, da organisierter Menschen- und Sklavenhandel nicht ausgeschlossen werden konnte. „Unauffindbar wie ein Isenburger", sagte man damals über Leute, die man aus welchen Gründen auch immer nicht erreichen konnte. Niemand hatte den scharfen Verstand, auch keiner der Spürhunde, die in Rudeln über Wiesen und Felder schnupperten, hatte die feine Nase, die nötig war, um nur einen einzigen Vermissten der großen Epidemie des Verschwindens zu entreißen. Es war hoffnungslos.
In jeder Stadt gibt es auch außerhalb ihres Magistrats kluge Köpfe, so auch in Isenburg. In Isenburg gehörte der Dompfarrer Blasius dazu. Der verstand sich auf die Menschen. Er kannte viele Isenburger, ging in ihren Häusern ein und aus, wusste in den Familien Bescheid. Und auch in seinem Beichtstuhl mochte er manches hören, was ein Kind nicht seiner Mutter, ein Mann nicht seiner Frau anvertraut. Auch er hatte den „Isenburger Vermisstenanzeiger" jeden Tag gründlich studiert, und jeder Name, der dort auftauchte, hatte sich vor seinen Augen in einen Menschen aus Fleisch und Blut, mit einem Gesicht und einer Geschichte, verwandelt.
Pfarrer Blasius war kein Hellseher, nur ein hellsichtiger Mann. Ihm saßen die Augen im Herzen, und er hatte das Ohr an der Brust der Menschen. Es war nicht nur Anteilnahme am Schicksal der Menschen, es war nicht nur berufliche Neugier, es war die Klugheit des Menschenverstehers, die ihn trieb, mit den Isenburgern, die ihre Lieben vermissten, zu reden. Das hatten auch die Kriminalisten getan: natürlich hatten sie sich nach den Lebensgewohnheiten und Eigenarten der bedauernswerten Opfer erkundigt, wie das bei jedem aufzuklärenden Verbrechen geschieht. War das Gespräch des Hirten mit seinen Schafen etwa auch ein Verhör? Nein, es war nur ein Gespräch, in dem einer durch kluge, einfühlsame Fragen Dinge erfährt, die dem Befragten verborgen sind.
Es war der Heilige Abend, an dem der Pfarrer Blasius die Ursache der großen Not erkannt hatte, die unumstößliche, die endgültige Wahrheit. Da seine Erkenntnis ihn selbst erschreckt hatte, wartete er noch eine Woche, um den Isenburgern die Wahrheit zu sagen. Am Neujahrsmorgen stand Pfarrer Blasius in seinem Dom, der noch nie so voll gewesen war, vor seiner Gemeinde und sprach:
„Im neuen Jahr, ihr Unglücklichen, wird keiner mehr aus unserer Mitte verschwinden. Fragt nicht mehr, warum eure Nächsten und Nachbarn verschwanden, und fragt nicht mehr, wer morgen verschwunden sein wird. Schaut nur in eure Herzen." Pfarrer Blasius genoss ein wenig die Spannung seiner Gemeinde und holte erst einmal sein Taschentuch aus dem Rock, in das er schnäuzte, als riefe eine Posaune zum Gericht. „Findet den Grund des Elends in euren Herzen, wenn ihr eins habt. Dort liegt die Lösung des Rätsels, das euch alle quält. Hört die Wahrheit, die euch beschämen soll. Die Vermissten sind die Menschen, die euch im Wege stehen. Von denen ihr in euren Herzen wünschtet, dass sie aus euren Augen, ja aus eurem Leben verschwänden. Sie sind nicht fort, sie sind unter uns, doch sie haben sich unsichtbar gemacht, um euch nicht mehr im Wege zu stehen. Denn wenn ich weiß, dass ich von einem Menschen abgelehnt werde, gehe ich ihm aus dem Wege. Sie alle, die Vermissten, gehorchten eurer Lieblosigkeit. Glücklich ist der Mensch, der niemand im Wege steht und von dem niemand sagt: ach, wäre er, wo der Kuckuck ist, ach, wäre er nie geboren, und der nie das schlimmste Wort, das einer denken und sagen kann, hören muss: du bist für mich gestorben. Ihr seid die Glücklichen, die niemand im Wege stehen, denn ihr seid da. Keiner hat über euch gedacht: wäre er doch, wo der Pfeffer wächst. Aber das ist nicht euer Verdienst. Ihr habt das Glück, dass die Menschen in eurer Nähe euch ertragen. Ihr