Eine seltsame Zeit des Wartens: Italienisches Tagebuch 1939/40
Von Iris Origo, Lucy Hughes-Hallett und Katia Lysy
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Über dieses E-Book
In der Rückschau ist es leicht, Anzeichen für drohendes Unheil auszumachen. Aber wer mittendrin in der Geschichte steckt, kann nur versuchen, sich aus Gehörtem, Gesehenem und Gelesenem ein Bild zusammenzusetzen. Im Sommer 1940 tritt Italien in den Zweiten Weltkrieg ein, ein gutes Jahr zuvor beginnt Iris Origo ihr Tagebuch. Die Britin lebt in der Toskana, ist aber auch in Rom bestens vernetzt. Und während die Nazis über halb Europa hinwegziehen, spricht sie mit Bauern und Politikern, hört Radio und liest Zeitungen – und hält alles fest. So bekommen wir nicht nur Einblick ins faschistische Italien, sondern auch ein Gefühl dafür, wie es ist, wenn die Welt am Wendepunkt steht.
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Buchvorschau
Eine seltsame Zeit des Wartens - Iris Origo
Iris Origo
Eine seltsame Zeit
des Wartens
Italienisches Tagebuch 1939/40
Übersetzt von
Anne Emmert
Mit einem Vorwort von
Lucy Hughes-Hallett
und einem Nachwort von Katia Lysy
Inhalt
Vorwort
1939
1940
Nachwort
Anmerkungen
Vorwort
Iris Origo war Ende sechzig, als sie ihre Memoiren schrieb. Im Rückblick auf ihr schriftstellerisches Werk widmete sie jeder ihrer Biografien mehrere Seiten (über Leopardi, Byrons Tochter Allegra, seine Geliebte Teresa Guiccioli, Bernardino von Siena), ihrem »kleinen Kriegstagebuch« dagegen nur einen Nebensatz. Dabei erhielt dieses »kleine« Tagebuch, das 1947 unter dem Titel War in Val d’Orcia (deutsch Toskanisches Tagebuch 1943/44: Kriegsjahre im Val d’Orcia) veröffentlicht wurde, von allen ihren Büchern die größte Anerkennung. Hier erscheint nun erstmals ein weiteres Tagebuch, aus dem eine völlig andere Origo spricht. Lebendig und anschaulich beschreibt sie die sonderbaren Monate vor dem Eintritt Italiens in den Zweiten Weltkrieg, in denen die Italiener in der Schwebe lebten, weil sie nicht wussten, ob sie in einem, wie Churchill es später formulierte, »unnötigen Krieg« an der Seite der verhassten Deutschen würden töten und sterben müssen.
War in Val d’Orcia war, als es 1947 erschien, auf Anhieb ein großer Erfolg. Origo wurde für ihre sparsame elegante Prosa und die Präzision ihrer Gedanken gelobt. Rezensenten wie Elizabeth Bowen und L. P. Hartley reihten sie in die oberste Schriftstellerriege ein. Das Buch wirkte sich sogar maßgeblich auf die anglo-italienischen Beziehungen aus. Während die Alliierten von Deutschen besetzte italienische Städte bombardiert hatten, hatten Origo, ihr italienischer Ehemann Antonio und die Bauern auf ihrem Gut Partisanen und flüchtigen britischen Soldaten Unterschlupf und Nahrung geboten und Letzteren auf ihrem Marsch nach Süden geholfen, wo sie sich den vorrückenden alliierten Streitkräften anschließen konnten. Damit riskierten sie eine standrechtliche Erschießung durch die deutschen Besatzer. Origos Biografin Caroline Moorehead schreibt: »Manchmal verwickelte Antonio vor dem Haus einen deutschen Spähtrupp in ein Gespräch, während Iris hinten im Garten Partisanen oder entflohene Kriegsgefangene mit Karten und Nahrung versorgte.«¹ Immer wieder brachte sich das Paar aus Anstand, Güte und dem Bewusstsein der Verantwortung, die mit ihrer privilegierten Stellung verbunden war, in Gefahr. Die italienischen Bauern, die auf ihrem Gut arbeiteten, taten es ihnen gleich, teilten ihre knappen Vorräte und setzten ihr Leben aufs Spiel. In der Welt wurde das durchaus beachtet. Das Tagebuch, schrieb ein Rezensent der Zeitung La Stampa, »hat mehr Gutes für uns bewirkt als ein Schlachtensieg«.
Der englischsprachigen Welt führte das Buch vor, wie selbstlos und mutig Italiener sein konnten. Und aus Iris Origo machte es eine berühmte Autorin, ja, eine Heldin. Als die Deutschen sie samt ihrer Familie und ihren vielen wehrlosen Schützlingen vom Gut vertrieben, führte sie die Schar aus Kindern, Frauen mit Babys und gebrechlichen Alten auf einem abenteuerlichen Marsch übers Land, das von Alliierten aus der Luft bombardiert wurde. Nach mehreren Stunden gelangten sie zum Fuß des Hügels von Montepulciano und machten kurz Rast, um Kräfte zu sammeln vor dem steilen Anstieg zur Stadt, in der sie Zuflucht zu finden hofften.
Doch als wir so dasaßen, kam eine kleine Gruppe von Bürgern der Stadt, gleich darauf noch eine. Sie hatten uns von der Stadtmauer aus gesehen und [kamen], um uns mit offenen Armen zu empfangen. […] Viele von ihnen waren Partisanen, andere waren selbst Flüchtlinge aus dem Süden, denen wir vorher geholfen hatten, wieder andere waren alte Freunde und unsere Arbeiter, die in Montepulciano wohnten. Sie nahmen die Kinder auf die Schultern, dazu unsere Bündel. Von soviel Herzlichkeit angespornt, marschierten wir im Triumphzug die Dorfstraße hinauf, vorneweg Antonio mit Donata [ihrer jüngsten Tochter] auf den Schultern.²
»Man kann sich kein rührenderes Willkommen vorstellen«, kommentierte sie.
Diese Geschichte ist wahr, und doch beleuchtet sie nur einen Aspekt des schillernden Lebens und der komplexen Persönlichkeit Iris Origos. In Kriegszeiten glich sie einer Mutter Courage, aber sie war auch eine feinsinnige und weltoffene Frau mit scharfem Intellekt. Die Tagebuchschreiberin Frances Partridge lernte sie einundzwanzigjährig als Braut kennen, »zart wie eine Flamme, fast schon wie ein Botticelli, mit sehr flotter Stimme und ebenso flottem Verstand, von einer Sache zur nächsten eilend, beunruhigend in ihrer Klugheit«. Als Origo einige Jahre später im Jahr 1935 mit ihrem damaligen Verehrer, dem Romancier Leo Myers, wieder in London war, lernte sie Virginia Woolf kennen. Woolf beschreibt sie so: »Sie ist jung, vibrierend, nervös – sehr – stottert ein wenig – aber mit ehrlichen Augen; sehr blauen Augen. […] Jedenfalls, sie ist sauber & setzt ihre Füße entschieden.« Der erste Eindruck veranlasste die Woolfs dazu, Origo noch einmal zum Dinner einzuladen, und Virginia notierte, Iris sei eine »echte Frau«, »ehrlich« und »intelligent«. Sie strahlte Tüchtigkeit aus und funkelte entsprechend. Gut gekleidet sei sie, die über beste Beziehungen verfügte: »[Da] ich ja ein Snob bin, gefällt mir auch ihr Paradiesvogelflug durch die vergnügungssüchtige Welt«, schrieb Woolf. »Inspiriert ist das Bild von einer langen grünen Feder an ihrem Hut«.³ Eine andere Freundin schrieb: »Es war unmöglich, von Iris nicht begeistert zu sein … Sie war praktisch ständig Feuer und Flamme.«
Dieser lebhafte Paradiesvogel führte das privilegierte Leben einer Weltbürgerin. Ihre Mutter Sybil war die Tochter des anglo-irischen Earl of Desart. Ihr Vater kam aus einer reichen amerikanischen Familie, die mit Eisenbahnen, Schifffahrt und Zuckerrüben ein Vermögen gemacht hatte. Man spendete das Geld für philanthropische Projekte wie die Gründung der New York Public Library und erwarb Häuser an der Madison Avenue und auf Long Island sowie eine Loge in der Metropolitan Opera. Iris, die als Kind von einem herrschaftlichen Familiensitz zum nächsten zog, wuchs in dem Bewusstsein auf, in vielerlei Hinsicht ungemein begünstigt zu sein.
Geld und gesellschaftliches Ansehen bewahrten sie jedoch nicht vor Verlust. Wenige Wochen nach ihrer Geburt erlitt ihr Vater Bayard Cutting seinen ersten Blutsturz. Als Kind reiste Iris mit ihren Eltern durch die Welt, immer auf der Suche nach einer Therapie für die Tuberkulose oder, da das nicht gelang, zumindest einem Klima, das sie lindern konnte. Sie versuchten es mit Kalifornien, sie versuchten es mit der Schweiz, sie versuchten es mit verschiedenen italienischen Kurorten am Meer und in den Bergen. Sie hielten sich in Ägypten auf, als er mit einunddreißig Jahren starb. Iris, die er liebevoll als »Kanonenkugeldickkopf« oder »Dickerchen« geneckt hatte, war damals sieben. Der Tod ihres Vaters sei eines der beiden schlimmsten Ereignisse ihres Lebens gewesen, schrieb sie sechzig Jahre später, denn »es gibt keinen größeren Schmerz als den der Trennung«.⁴
Vor seinem Tod hatte Bayard Pläne für seine Tochter gemacht. In seinem letzten Brief an Sybil erwähnt er die Einwände seiner Familie gegen die Heirat mit einer Engländerin und fährt fort, er wolle, dass Iris »frei sein soll von jeglichem Chauvinismus, der die Menschen so unglücklich macht. Erziehe sie in einem Land, wo sie keine Wurzeln hat, denn nur so lässt sich das verwirklichen.« Er denke zum Beispiel an Italien. Dort könne sie »in ihrem Wesen wirklich kosmopolitisch« werden, damit sie die Freiheit habe, später »einmal ohne Schwierigkeiten den Mann heiraten und lieben zu können, den sie sich aussucht, gleich aus welchem Land er stammt«.⁵
Sybil folgte seinem Wunsch. Bayard hatte ihr viel Geld hinterlassen. Sie mietete die Villa Medici in den Hügeln oberhalb von Florenz (die sie später kaufte), und in diesem Haus, das Michelozzo für Cosimo di Medici erbaut und Giorgio Vasari als »prachtvollen und edlen Palast« gepriesen hatte, wuchs Iris auf.
Als einziges Kind einer exzentrischen und hypochondrischen Mutter verlebte Iris nicht gerade eine einfache Jugend, konnte aber ihren geistigen Horizont erweitern. Ihre Mutter las ihr, im Teekleid von Fortuny auf dem Sofa liegend, laut Gedichte vor, und wenn es ihr besser ging, schleppte sie ihre Tochter kreuz und quer durch Italien und platzte ungeladen bei Fremden herein, während sich die halbwüchsige Iris in Grund und Boden schämte. Zu Hause in Fiesole pflegte die damals große englische Kolonie ein umtriebiges Gesellschaftsleben: Bernard und Mary Berenson zählten zu den Nachbarn, mit denen Sybil conoshing spielte, ein Quiz, in dem die Mitspieler ihr kunsthistorisches Wissen unter Beweis stellten. Iris Origo schrieb später, dass der Krieg zu diesen Menschen »nur als fernes Donnergrollen drang, ein störender, lästiger Lärm hinter den Kulissen«. Auch Sybil nahm ihn nicht zur Kenntnis, sondern kümmerte sich um die Gestaltung des Gartens und zog unermüdlich durch die antiquari von Florenz. Für einen Hausball zu Iris’ Ehren war die »Gartenterrasse, wo das Abendessen an kleinen Tischen serviert wurde, […] von Lampions erleuchtet. Glühwürmchen huschten drunten im Weizenfeld des Guts umher. Der schwere Duft von Jasmin und Rosen erfüllte die Luft. Um Mitternacht stieg ein Feuerwerk wie Fontänen aus Edelsteinen von der Westterrasse über dem Arno-Tal hoch in die Lüfte.«⁶
Die junge Frau, die aus dieser exklusiven Atmosphäre, dieser merkwürdigen Mischung aus höchstem Anspruch und Frivolität hervorging, konnte es kaum erwarten, ihr zu entkommen. Sie wollte nach Oxford (denn sie hatte, ungewöhnlich für ein Mädchen, eine klassische Erziehung genossen), ließ sich aber dazu überreden, sich stattdessen dreimal in Folge als Debütantin in die Gesellschaft einführen zu lassen. Auf Florenz folgte England, wo sie sich am Ende eines Jagdballs beim »wilden Galopp« vergnügte, sich jedoch fühlte »wie ein Pekinese in einer Meute von Jagdhunden«.⁷ In New York war sie entsetzt von der stag-line, dem Spalier der ledigen Collegejungs, die (es waren die Jahre der Prohibition) »schieres Gift« aus dem Flachmann hinunterkippten und sich entsprechend ungehobelt aufführten. Da war es kein Wunder, dass sich Iris, als sie nach Florenz zurückkehrte, in Antonio Origo verliebte. Ihre Mutter fand ihn zu erwachsen (er war zehn Jahre älter als Iris) und zu attraktiv. Wiederholt schob Sybil die Hochzeit hinaus, indem sie sich mit mysteriösen Beschwerden ins Bett legte, bis der Hausarzt »frank und frei« riet, keine Rücksicht mehr auf sie zu nehmen: »Wenn wir jetzt nicht gleich heirateten, würden wir es nie mehr schaffen«.⁸ So ließen sie sich 1924 in der Kapelle der Villa Medici trauen.
Antonios Vater war Bildhauer und ein guter Freund des Dichters Gabriele D’Annunzio, doch Antonio war zum Geschäftsmann ausgebildet worden, ehe der Krieg seine Laufbahn jäh unterbrach. Gemeinsam mit Iris entschied er sich indes für einen anderen Weg. Beide besaßen Geld; Iris’ Vater hatte ihr so viel hinterlassen, dass sie finanziell unabhängig war. Die jungen Leute rebellierten gegen die Pläne ihrer Familien und kauften das Gut La Foce in der Südtoskana, das sie sich entgegen allen Warnungen genau deshalb