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Die Bürde der Hoffnung: Wenn ein Wimpernschlag dein Leben verändert. Unsere Flucht aus dem Kosovo.
Die Bürde der Hoffnung: Wenn ein Wimpernschlag dein Leben verändert. Unsere Flucht aus dem Kosovo.
Die Bürde der Hoffnung: Wenn ein Wimpernschlag dein Leben verändert. Unsere Flucht aus dem Kosovo.
eBook345 Seiten4 Stunden

Die Bürde der Hoffnung: Wenn ein Wimpernschlag dein Leben verändert. Unsere Flucht aus dem Kosovo.

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Über dieses E-Book

Als ihr Sohn durch Starkstrom schwerste Verbrennungen erleidet, beschließt Shpresa aus dem Kosovo zu fliehen, um medizinische Hilfe für ihn zu erhalten. Nach aufreibender Flucht mit ihrem Mann, zwei Kindern und dem Sohn, der ständiger Pflege bedarf, erreichen sie zu Fuß Deutschland, wo man sie trotz des Krieges in Jugoslawien am liebsten wieder abschieben will. In Berlin begegnen sie jedoch Menschen, die sie unterstützen. Die Autorin erlernt die deutsche Sprache und erreicht, dass ein Spezialist aus Belgrad ihren Sohn in Deutschland behandeln darf. Trotzdem steht ihr ein jahrelanger bedrückender Kampf mit den deutschen Behörden bevor. Dabei hält Shpresa zwischen Krieg und neuer Heimat an ihren Träumen fest: Ihre Familie soll in Sicherheit leben und sie will als Dozentin arbeiten.

Dieser ergreifende persönliche Lebensbericht ist eine Wertschätzung und kritische Betrachtung der in Deutschland erhaltenen Hilfe. Ein tiefer Einblick in die Schicksale der Menschen, die hierherkommen und auch eine Betrachtung des eigenen Lebens. Aus dem Bericht über die Suche nach medizinischer Hilfe für den eigenen Sohn wird so das Porträt einer Familie und nicht zuletzt die Geschichte einer Frau, die den Schicksalsschlägen mit unglaublichem Lebensmut – und mit einem umwerfenden Humor – begegnet.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum19. Dez. 2023
ISBN9783758393853
Die Bürde der Hoffnung: Wenn ein Wimpernschlag dein Leben verändert. Unsere Flucht aus dem Kosovo.
Autor

Shpresa Macula

Shpresa Macula wurde im März 1961 in Mitrovica, Kosovo geboren. Nach ihrem Studium der Sprachwissenschaft, arbeitete sie als Übersetzerin und Dolmetscherin in dem Bezirksgericht in Mitrovica. Im September 1998 flüchtete sie zusammen mit ihrer Familie aus ihrer Heimat und kam nach Deutschland. Mit der Unterstützung der deutschen Behörden und dem Projekt "Demokratie und Integration" arbeitete sie ab 2002 als Dozentin für Albanisch. 2008 wurde sie in das ESF-Projekt "Bleiberecht durch Qualifizierung" aufgenommen und begann ihre Tätigkeit als Sozialarbeiterin in der Flüchtlingshilfe. 2012 setzte sie ihre humanitäre Arbeit bei der Arbeiterwohlfahrt / KV AWO-Mitte e.V. in Berlin fort. Heute ist sie in einer mobilen Beratung beschäftigt und unterstützt Geflüchtete aus Berlin in Notunterkünften.

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    Buchvorschau

    Die Bürde der Hoffnung - Shpresa Macula

    Inhaltsverzeichnis

    Kapitel I: Ein Wimpernschlag verändert mein Leben

    Unter Strom

    Die Entscheidung ist gefallen

    Kapitel II: Rückblick

    Die Hoffnung ist geboren – Das bin ich

    Zwei Melonen in einer Hand halten, ohne dass eine kaputtgeht

    Wenn aus Liebe Leben entsteht

    Omas Kind

    Wiederkehrende schwere Zeiten

    Kapitel III: Beginn einer ungeplanten Flucht quer durch den Balkan und weiter

    Unser erstes Ziel: Albanien

    Bulgarien – ein noch immer ungelöstes Rätsel

    Ungarn – Brot stehlen ist (k)eine Straftat?

    Polen – Die Fähre nach Schweden wird immer kleiner

    Mama, werden wir erschossen?

    Eisenhüttenstadt – Oje, unerwünschte „Gäste"

    Kapitel IV: Aufgeben ist keine Option

    Der Kampf ist noch lange nicht vorbei

    Tschüss, Heim – Hallo, Wohnung

    Nun muss medizinisch etwas unternommen werden

    Die notwendigen Operationen beginnen

    Eine Last weniger

    Kapitel VI: Freude und Leid liegen nah beieinander

    Das ist verboten, Baba

    Oma zu Besuch

    Mit einer Duldung reisen?

    Endlich dürfen wir arbeiten

    Der Kampf gegen die Gutscheine im Landkreis Oberhavel

    Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere

    Wenn die Seele schmerzt

    In Brandenburg unerwünscht – Umzugszwang nach Berlin

    Ein kleiner Einblick in mein heutiges Leben

    Professor Perovic ist tot

    Kapitel VI: Mein Geburtstagsgeschenk – eine Herausforderung

    Schreiben war meine Therapie

    Mama, was ist das für ein Deutsch?

    Schlusswort

    KAPITEL I

    Ein Wimpernschlag verändert mein Leben

    Unter Strom

    Samstag, der 05.04.1997, Aprilwetter. Es hatte tagelang geschneit und dann geregnet, draußen war es nass und matschig. Vor zwei Wochen hatten wir den Garten für den Frühling vorbereitet, die Hecke schön gerade geschnitten, den Rest der im Herbst gefallenen Blätter weggeräumt und freuten uns jetzt auf die ersten Blumen. Die Schneeglöckchen und ein paar Tulpen waren bereits durch den Schnee gewachsen und schenkten uns einen schönen Blick in den Garten. Die Sonne strahlte ab und zu durch die Fenster, mir kam es vor, als ob die Scheiben regelrecht nach einem Frühjahrsputz schrien. Ich hatte aber keine Lust dazu, ich würde sie vielleicht am nächsten Wochenende reinigen lassen, jetzt, da es ständig regnete, wäre es eh umsonst gewesen.

    Am Vormittag hatte ich den Einkauf auf dem Markt erledigt. Meine Schwiegermutter hatte gekocht und gab mir zu wissen, ich solle den Tisch decken. Wir warteten, bis mein Ehemann Besnik und unser Sohn Dion kamen. Ardora, unsere große Tochter, war bei ihrer Tante Neda zu Besuch. Mit unserer kleinen Unesa, die dreieinhalb Jahre jung war, spielten wir, während wir warteten, „Es fliegt, es fliegt, wobei wir Gegenstände und Tiere benannten, die fliegen oder nicht fliegen können. Wenn etwas fliegen konnte, musste die Hand gehoben werden. Unesa lachte, als ich sie reinlegte, und sagte: „Es fliegt, es fliegt, ein Eeeelefant! Sie wollte schnell sein und hob ihre Hand. Sie wollte immer gewinnen, ich hatte keine Ahnung, wie sie es schaffte, so schnell so viele Gegenstände und Tiere anzugeben. Am Ende sagte sie: „Es fliegt, es fliegt … die Oooommmaaaa."

    Die Oma kam aus der Küche. „Was hast du gesagt, Oma soll fliegen?"

    „Jaaaa, Oma, sag bitte, dass du fliegen kannst, dann hebt Mama die Hand hoch." Sie lachte dabei so laut und ansteckend, dass wir mitlachen mussten.

    Gegen 15 Uhr sollten Besnik und Dion kommen. Doch keiner von ihnen tauchte auf. Ich wollte gerade Besnik im Büro anrufen und fragen, wo er bleibe und ob Dion bei ihm sei, da hörte ich Kinder auf den Hof kommen, es waren Dions Freunde. Sie wirkten ängstlich und aufgeregt. Alle sprachen auf einmal, ich verstand sie kaum.

    „Es geht um Dion, er liegt auf dem Boden, hat die Augen geschlossen und antwortet nicht!"

    Ich folgte den Kindern schnell. Dion war ein sehr aufgeweckter und aktiver Junge, ich dachte, er sei wie immer irgendwo hinaufgeklettert, und fragte spontan, von welchem Baum oder Dach er gefallen sei.

    „Nein, von keinem Dach oder Baum, komm mit!", sagten die Kinder und rannten voran.

    Ich folgte ihnen und wusste nicht, wohin ich überhaupt musste. Die Stelle befand sich hinter dem Hof der Grundschule. Auf einmal stand ich allein da, die Kinder waren weg und von Dion war keine Spur zu sehen. Doch, eine Spur schon, auf dem Boden lag seine Jacke. Ich nahm sie in die Hand und wusste nicht, wohin damit. Ohne dass ich es wollte oder wusste, lief ich den Weg, den ich da gekommen war, zurück und versank dabei tief in Gedanken. Die Kinder hatten doch gesagt, dass Dion auf dem Boden liege und nicht antworte. Was war hier passiert, wo war Dion? Unterwegs traf ich eine Nachbarin. Aufgeregt erzählte sie, sie habe Dion gesehen, er sei auf der Straße zusammengebrochen und unser Nachbar habe ihn in die Notaufnahme gefahren. Mehr konnte sie mir nicht sagen. Wenigstens erfuhr ich, wo ich mein Kind jetzt suchen musste.

    Ich lief nach Hause zurück und versuchte, meinen Mann im Büro zu erreichen. Er sei losgefahren. Ich konnte nicht länger warten, rief ein Taxi und ließ mich zur Notaufnahme des Krankenhauses fahren.

    Als ich ankam, war Dion bei Bewusstsein. Die Ärzte waren bei ihm. Sein linker Unterarm und die Hand waren geschwollen, sie sahen wie ein aufgeblasener Ballon aus. Seine Hose war heruntergezogen, der Bauchbereich mit einem Laken bedeckt. Eine Ärztin und ein Arzt wollten mit mir reden. Er habe hochgradige Verbrennungen im Unterbauchbereich und im linken Unterarm, teilten sie mir mit. Als die Ärztin das Laken hochzog, wurde mir schwarz vor Augen. Sie meinte, hoffentlich gebe es keine weiteren Folgen des Stromschlags am Kopf, an den Nieren und in der Lunge. Es würden weitere Untersuchungen folgen.

    „Haben Sie Stromschlag gesagt?", fragte ich.

    „Ja, Stromschlag, Hochspannung, es ist ein Wunder, dass ihr Sohn lebt."

    Ich war sprachlos, mir fiel ein, stimmt, das Häuschen hinter dem Hof der Grundschule war eine Trafostation. Die hatte es schon immer gegeben, sie war aber immer verschlossen. Ich konnte nicht verstehen, wie Dion da hatte hineinschleichen können.

    „Er muss dringend nach Belgrad in eine Kinderchirurgie gebracht werden, die auf schwere Verbrennungen spezialisiert ist, wir können hier nichts für ihn tun, sagte die Ärztin und versuchte einen Krankenwagen zu organisieren, leider ohne Erfolg. Normalerweise hätte ihn ein Arzt nach Belgrad begleiten müssen. „Normalerweise, doch was war schon normal in diesem Land!

    In diesem Moment kam mein Mann. Als ich ihm von Dions Unfall berichtete, fing er an zu zittern und ihm wurde schlecht. Ich schloss die Tür des Behandlungsraums, in dem unser Sohn lag. Ich wollte nicht, dass er das alles mitbekam.

    Die formalen Vorbereitungen liefen, jede Menge Papierkram war zu erledigen. Inzwischen ging es meinem Mann besser. Die Ärzte sagten, es könnte bei unserem Sohn unterwegs zu Komplikationen kommen wie hohes Fieber oder Bewusstlosigkeit, dann sollten wir sofort das nächste Krankenhaus aufsuchen. Ich hatte Angst wie nie zuvor in meinem Leben.

    Wir mussten los, erst nach Pristina, um eine spezielle Überweisung zu holen und wo man uns eventuell einen Krankenwagen zur Verfügung stellen würde. Mein großer Bruder und mein Cousin würden Dion und mich dort hinfahren. Mein Mann würde zu Hause bleiben, um alles andere telefonisch zu organisieren. Er informierte seinen Bruder, der Arzt war – ein Neuropsychiater –, und ließ Dions Aufnahme in Belgrad durch seinen besten Freund Nebojsa vorbereiten.

    Bei meinem Sohn wurde vor der Fahrt noch einmal der Verband gewechselt. Die Ärzte waren geschockt, so einen Fall hatten sie noch nie gehabt. Uns war kein Krankentransport angeboten worden, weil es keinen gab. Also kein Krankentransport, kein Arzt und auch keine Krankenschwester konnte uns begleiten. Dion wurde an eine Infusionsflasche angeschlossen, die ich an der Autotür am Handgriff festband. Unterwegs hielt ich sie zeitweise mit der Hand hoch. Mein Sohn lag hinten, seine Füße lagen auf meinem Schoß. Als ich seine Beine bequemer ausrichten wollte, merkte ich, dass seine Schuhe und Socken klitschnass waren.

    „Ist dir kalt?", fragte ich ihn.

    „Ja, Mama."

    Ich zog ihm Schuhe und Socken aus, leider hatte ich nichts zum Wechseln dabei, aber dafür eine kleine Decke. Als ich seine linke Socke auszog, fiel mein Blick auf den großen Zeh. Das sah nicht wir eine Wunde aus, eher wie eine im Backofen geplatzte Kartoffel, wie in einem Animations-Kinderfilm, nachdem eine Bombe geplatzt oder ein Vulkan ausgebrochen war. Es blutete jedoch nicht. Mein Sohn war ansprechbar, so konnte ich ein bisschen mit ihm reden. Das sollte ich auch tun und ihn beobachten, er sollte wach bleiben, hatte der Arzt gesagt. Ich fing mit leichten Fragen an: „Wie fühlst du dich? Hast du Kopfschmerzen?" Fieber hatte er nicht. Seine Infusion lief, die Flasche war fast zur Hälfte leer.

    Er fing an zu erzählen: „Wir haben Fußball im Schulhof gespielt, siehst du, Mama, ich habe die alten Sportschuhe angezogen, weil du immer schimpfst, wenn die Schuhe ein Loch an der Spitze bekommen." Dabei lachte er.

    Es war schön, ihn in diesem Zustand lachen zu sehen. Ich konnte mich unterwegs zusammenreißen und versuchte, meine Gefühle zu unterdrücken und nicht zu weinen. Andererseits hatte ich Angst, dass sich der Zustand meines Sohnes verschlechtern könnte.

    Er erzählte weiter: „Uns war kalt, die Füße waren nass und wir sind in dieses Häuschen hinter der Schule gegangen. Wir wollten uns in der Anlage wärmen, weißt du, Mama, da ist die Zentralheizung unserer Schule, es ist schön warm, wir haben uns da öfter mal gewärmt, wenn uns kalt war. Wir haben Witze erzählt und gelacht. Ich musste dringend pinkeln, habe mich umgedreht und an die Geräte gepinkelt. Auf einmal begann mein Körper zu zittern. Mehr weiß ich nicht. Als ich wach wurde, lag ich ganz allein auf der Erde. Ich weiß nicht, wie ich da gelandet bin. Meine Freunde waren weg. Ich nahm meinen Ball unter den Arm und lief die Straße entlang bis vor das Haus von Armend, unserem Nachbarn. Er rief mir vom Fenster aus etwas zu, mehr weiß ich nicht. Als ich wieder wach wurde, lag ich schon im Krankenhaus."

    Eine Heizungsanlage? Ich konnte nicht glauben, was ich da gerade hörte. Das war keine Heizungsanlage direkt hinter dem Schulhof, sondern eine Trafostation. „Erzähl mir bitte, wie du da reingekommen bist. „Durch die Tür, Mama, sagte er und wunderte sich, warum ich das gefragt habe, so etwa, wieso sollte die Tür verschlossen sein. Ich konnte nicht klar denken, aber eines wusste ich genau, dass es, wie die Ärztin gesagt hatte, ein Wunder war, dass mein Sohn lebte.

    Die Fahrt nach Belgrad dauerte fast fünf Stunden. Ich bat meinen Cousin Naim und meinen Bruder Shemi ein paarmal, langsamer zu fahren. Dions Blase drückte. Er versuchte zu urinieren, aber es ging nicht. Am Ende kamen ein paar Tröpfchen, später noch ein bisschen. Das war eine Erleichterung für ihn, für mich aber nur eine kleine Hoffnung. Unterwegs wurden wir an einer Straßensperre von Verkehrsmilizen angehalten. Als sie meinen Sohn mit dem Verband und der Infusionsflasche sahen, machten sie uns den Weg frei.

    Das Krankenhaus mit der Abteilung für plastische Chirurgie bei Verbrennungen in Belgrad war von meinem Schwager und seinem besten Freund Nebojsa informiert worden. Wir wurden dort schon erwartet. Nebojsa empfing uns unten und Dion wurde nach oben gebracht. Sie untersuchten ihn noch einmal, die Verbände wurden gewechselt und eine neue Infusionsflasche angeschlossen. Dann wurde er mit dem Krankenwagen in die Kinderchirurgie transportiert. Wir fuhren hinterher.

    Der dort tätige Professor Zamaklar war auf schwere Verbrennungen spezialisiert und zum Glück gerade im Dienst. Die Untersuchung dauerte sehr lange. Während ich wartete, trafen mein Mann und mein Doktor-Schwager ein. Wir warteten, unterhielten uns dabei aber nur mit den Augen. Jeder schaute immer wieder auf die Uhr, warf den anderen einen Blick zu und versank wieder in Gedanken.

    Endlich kam Professor Zamaklar aus dem Untersuchungsraum. Er sagte, unser Sohn habe einen Schutzengel gehabt. Einen Hochspannungsstromschlag würden nur wenige Menschen überleben. Wenn Strom in den Körper hineinfließt, sucht er einen feuchten Weg, um einen Kreislauf zu bilden, also über Kopf, Lunge oder meistens das Herz. Wie es aussah, waren Dions Füße sehr nass gewesen, so dass der Strom durch das ganze Bein und die Zehen wieder aus ihm herausgeflossen sei. Das war seine Rettung. Mir fiel sofort Dions Zeh ein, den ich unterwegs gesehen hatte, als ich ihm die nassen Schuhe und Socken auszog. Dion müsse weiter überwacht werden. Die Verbrennungen seien hochgradig bis karbonisierend. Im linken Unterarm und an der Hand, im Bauchbereich und besonders im Genitalbereich sei es sehr kritisch. Er könne nicht urinieren, weswegen ein Katheter vom Bauch in die Blase eingesetzt werden müsse.

    Unser Sohn kam auf die Intensivstation. Der Professor sagte uns deutlich, es sei sehr kritisch, sein Zustand könne sich schnell verändern. Aus Erfahrung wolle er uns keine falsche Hoffnung machen. Wir sollten Geduld haben und warten. Was den Genitalbereich betraf, wollte er erst die Meinung des Urologen Professor Perovic hören. Dieser sei viel unterwegs und würde am nächsten Tag aus Amerika zurückkommen.

    Eines wollte der Professor dann noch wissen: Wie ein Kind in eine Trafostation gelangen und dort mit Hochspannungsstrom in Berührung kommen konnte. Das sollten doch abgeschlossene Sicherheitsbereiche sein! – Ja, das war tatsächlich die Frage. Wir lebten im Kosovo und „Sicherheit" sei da ein Fremdwort, antwortete ich. Der Arzt wendete den Kopf nachdenklich hin und her. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, ich war gleichzeitig wütend und traurig. Wir sollten gehen, sagte der Arzt. Er würde sich melden, wenn Veränderungen aufträten.

    Mein Mann und ich verbrachten diese Nacht in Belgrad bei Nebojsa. Am nächsten Tag waren wir noch mal im Krankenhaus. Keine Veränderung. Am späten Nachmittag fuhren wir nach Hause. Die ganze Stadt wusste schon, was mit meinem Jungen passiert war. Am Montag musste ich arbeiten. Die Kollegen und Kolleginnen hatten auch bereits davon gehört. Ich redete mit dem Chef, dem Präsidenten des Bezirksgerichts. Er sagte, falls ich wieder nach Belgrad müsste, bräuchte ich nur Bescheid zu sagen.

    Am Abend rief mein Schwager an und teilte uns mit, unser Sohn sei notoperiert worden. Der Zeigefinger der linken Hand musste zur Hälfte amputiert werden. Das sei nicht so tragisch, sagte er, „dir und deinem Mann fehlt auch ein Stück Finger und ihr lebt". So versuchte er mich zu beruhigen. Ich war sehr traurig, aber mit der Amputation eines halben Fingers konnte ich leben. Ich betete, dass keine weiteren schlechten Nachrichten kämen.

    Nach zwei Tagen rief der Arzt an, wir müssten dringend nach Belgrad fahren. Dions Zustands habe sich verschlechtert, das Gewebe sterbe ab, er müsse operiert werden. Die lange Fahrt mit dem Auto – dazu waren mein Mann und ich nicht in der Lage. Um den Bus zu nehmen, müssten wir bis zum nächsten Tag warten. So stiegen wir noch am selben Abend in den Zug. Ich hatte einen Koffer für mich gepackt, weil ich damit rechnete, eine Weile in Belgrad bleiben zu müssen.

    Am nächsten Tag kam mein Schwager nach Belgrad. Ich vertraute ihm als Mediziner sehr. Als der Arzt ihm und meinem Mann den geplanten OP-Verlauf erklärte, wurde meinem Mann schlecht. Er war dermaßen überfordert, dass er den Ärzten Geld anbot, damit sie Dion retteten. Der Professor verstand zum Glück die Sorge meines Mannes und nahm es nicht persönlich, er versicherte ihm, dass er und sein Ärzteteam alles tun würden, um Dion zu helfen. Meinem Schwager war das Verhalten meines Mannes gegenüber dem Arzt sehr unangenehm und er versuchte ihn davon zu überzeugen, dass der Professor die besten Spezialisten des Landes ins Team geholt habe, um Dion zu operieren. Er beschrieb mir den geplanten Verlauf der Operation, die am nächsten Tag stattfinden sollte. Als ich es mir anhörte, wurde mir schlecht. In diesem Moment konnte an nichts anderes denken, außer dass mein Sohn am Leben bleiben sollte.

    Am nächsten Morgen wollten wir ihm vor der OP alles Gute wünschen, doch mein Mann hatte keine Kraft mitzukommen. Er wollte lieber zuhause bei Nebojsa warten. Ich musste einfach stark sein oder besser gesagt die starke Mama spielen und das auch zeigen. Ich schaffte es, meinem Sohn viel Glück zu wünschen, ohne dass ich schwach wurde.

    „Es wird alles gut, Mama", sagte er, bevor er in den OP-Saal geschoben wurde, und gab mir einen Fern-Kuss. Es vergingen Stunden, ohne dass ein Arzt zu uns kam.

    Erst nach vollen acht Stunden kam Professor Zamaklar aus dem OP-Saal. Seine erste Frage war, wo denn mein Mann sei und warum ich allein warte. Ich erklärte ihm, dass es ihm nicht gut gehe und Nebojsa mich begleite. Er fing sehr vorsichtig an zu berichten. Um den linken Unterarm und die Hand gründlich zu säubern, hätten die Beugemuskeln am Unterarm, der Nervus medianus, der Mittelarmnerv und der größte Teil der Muskeln entfernt werden müssen. Der Daumen sowie der Zeige- und der Mittelfinger seien ebenfalls komplett amputiert worden. Der Oberbauchbereich musste nur gesäubert und die verbrannte Haut entfernt und zusammengenäht werden. Dann kam er auf den nächsten Bereich zu sprechen – den Genitalbereich. Der Penis war komplett verbrannt, leider konnten sie ihn nicht retten, er musste amputiert werden. Das war der Moment, in dem mir der Atem stehen blieb, weil ich gehofft hatte, dieser Bereich könnte vielleicht gerettet werden. Professor Zamaklar reichte mir ein Glas Wasser. Mir liefen einfach die Tränen herunter. Am liebsten hätte ich vor Schmerz laut geschrien. Ich musste aber an meinen Sohn denken und riss mich zusammen.

    Der Arzt sagte, dass mein Sohn gleich in die Intensivstation gebracht werde und ich ihn sehen könne. Ich wollte das nicht. „Ich möchte nicht, dass mein Sohn mich so sieht", sagte ich leise. Der Professor sagte nichts, nahm mich nur ganz fest in den Arm und ging dann. Ich sah meinen Sohn im Krankenhausbett liegen, als die Krankenpfleger ihn in sein Zimmer brachten. Er sah sehr müde aus. Ich stand im Ärzteraum am Fenster, er konnte mich nicht sehen. Ich war tieftraurig und hörte mein Herz laut und schnell schlagen.

    Auf dem Rückweg holte Nebojsa Beruhigungstabletten für mich. Ich nahm sofort eine. Ich war nicht in der Lage, meinem Mann alles zu erzählen. Das übernahm Nebojsa.

    Abends ging ich noch einmal ins Krankenhaus, wo ich meinen Sohn kurz sehen konnte. Er lag auf dem Bett und war mit einem weißen Laken bedeckt. Sein linker Arm war komplett verbunden und an der Seite fixiert. Ich trug wegen des Infektionsschutzes einen grünen Kittel, OP-Haube, Mundschutz und Handschuhe. Dion war ansprechbar, sah aber sehr müde aus.

    Am nächsten Tag ging ich ihn wieder besuchen. Er guckte mich traurig und sehr besorgt an, hob das Laken und sagte: „Schau, Mama, sag mir bitte, wie ich so leben kann."

    „Du lebst und das ist wichtig, die Wunden werden mit der Zeit heilen", sagte ich. Ich sagte das, wusste aber selber nicht, ob das überhaupt möglich war.

    Dion schaute mich traurig an, ihm liefen die Tränen herunter. „Ich bin kein kleines Kind mehr, Mama, sag bitte nicht, es wächst alles wieder nach."

    „Ja, das stimmt, es wächst nichts nach, aber die Ärzte werden alles versuchen, um dir ein normales Leben zu ermöglichen, außerdem, wenn sie behaupten, du könntest irgendwo in dieser endlos weiten Welt geheilt werden, da werde ich dich hinbringen, mein Kind, darauf kannst du dich verlassen."

    Er fragte leise, ob das eine Besa sei.

    „Ja, sagte ich, „das ist eine Besa.

    BESA ist ein Begriff, ein Ehrenkodex, der sich schwer ins Deutsche und auch in andere Sprachen übersetzen lässt, der in Albanisch für Ehre, Sicherheitsgarantie, Treue, Ehrenwort und vieles mehr steht.

    Im 15. Jahrhundert wurde eine Gesetzsammlung namens Kanun, von Leke (Aleksander) Dukagjini, ein Zeitgenosse von Skanderbeg ( Gjergj Kastrioti), verfasst. Dieses regelte die Bereiche wie Schuldrecht, Ehe, Strafrecht, Kirchen und noch vieles mehr. Andere Gesetze gab es nicht. Kanun im Vergleich mit nachkommenden und modernen Gesetzen beinhaltete negative, aber auch positive Aspekte. Die positiven, wie Gastrecht und Besa hat das albanische Volk behalten und an die nächsten Generationen weitergegeben.

    Im Namen der Besa fanden über 2000 Juden auf der Flucht vor Nationalsozialisten in Albanien Schutz. Die Albaner weigerten sich, Namenlisten der Juden an die Nazis auszuhändigen. Sie brachten die Familien bei sich unter und besorgten ihnen auch gefälschte Papiere. In Berlin wurde als Anerkennung eine Schule nach „Refik Veseli" genannt. Er war einer von vielen Albanern, der mit seiner Familie während der Zeit der deutschen Besatzung Albaniens jüdische Familien bei sich versteckt hatte. Sie haben den Familien versprochen, ein Besa gegeben, sie mit ihren Leben zu beschützen.

    Nun zu meinem Sohn.

    Er guckte seinen Arm an und fragte, was dort gemacht worden sei. Ich fing mit dem Zeigefinger an, weil er schon wusste, was mit diesem geschehen war. „Dein Zeigefinger musste bis ganz unten amputiert werden."

    „Ja, Mama, das war auch abzusehen."

    „Dein Mittelfinger leider auch."

    „Okay, sagte er, „dann fehlen mir zwei Finger, oder, Mama?

    „Ja, und der Daumen, der musste auch amputiert werden."

    Da war er erst einmal sprachlos und schloss die Augen, Tränen liefen über sein Gesicht.

    Ich musste mich in diesem Moment zusammenreißen. Im ersten Moment wollte ich „Willkommen im Fingerlosen-Club" sagen, um ihn ein kleines bisschen aufzumuntern, aber ich brachte es nicht über meine Lippen, weil es verdammt weh tat.

    Nach ein paar Minuten Schweigen sagte Dion: „Ah, Mama, ich kann doch das Lenkrad im Auto mit meiner halben Hand halten und mit der rechten den Gang wechseln. Ich werde wieder Auto fahren können."

    „Ja, mein Kind, das wirst du."

    Ich weiß nicht, was geschah, aber statt dass ich ihm Mut gab, war es genau umgekehrt. Er gab mir Mut und ganz viel Kraft. Mir war klar, er will leben, er will es schaffen und meine Aufgabe ist, mein Versprechen zu halten und ihm zu helfen.

    Am nächsten Tag kam mein Mann mit auf die Intensivstation. Die Stationsschwester benachrichtigte den Arzt, dass wir zu unserem Sohn wollten. Wir durften ihn nur durch eine Glasscheibe sehen und keinen direkten Kontakt haben, weil schon eine minimale Infektion lebensgefährlich für ihn sein konnte. Ich bekam eine Sondergenehmigung vom Arzt und konnte ihn besuchen, aber nur unter der Bedingung, ich solle täglich für ihn frisch kochen und selbstgepressten Obstsaft mitbringen. Die Hygienemaßnahmen gehörten ebenfalls täglich dazu.

    Das hieß für mich, ich musste weiterhin in Belgrad bleiben. Mein Schwager und mein Mann versuchten, mir in der Nähe des Krankenhauses ein Zimmer mit Küche zu mieten. Nebojsa ließ das nicht zu, ich solle besser bei ihm im Haus wohnen. So blieb ich weitere drei Monate dort. In dieser Zeit besuchte ich meinen Sohn zweimal täglich und brachte ihm das Mittag- und Abendessen sowie selbstgepressten Fruchtsaft. Jedes Mal, wenn ich die Intensivstation betrat, musste ich mich von Kopf bis Fuß mit einem Schutzanzug, Mundschutz und Handschuhen bedecken. Das Essen servierte ich ihm auf seinem Betttisch, dann entfernte ich mich und hielt Abstand. Berühren durfte ich ihn nicht. Ich hielt mich streng an diese Regeln. Auch wenn es mir schwerfiel, riss ich mich

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