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Gezeiten der Erinnerung: Nach den Tagebüchern eines evangelischen Pfarrers
Gezeiten der Erinnerung: Nach den Tagebüchern eines evangelischen Pfarrers
Gezeiten der Erinnerung: Nach den Tagebüchern eines evangelischen Pfarrers
eBook762 Seiten10 Stunden

Gezeiten der Erinnerung: Nach den Tagebüchern eines evangelischen Pfarrers

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Über dieses E-Book

Was ich geschrieben habe, ist wohl der unmögliche Versuch, mein Leben so darzustellen, dass darin "alles" seinen Platz hat:
Liebe und Tod, Familie und Beruf, Irrtümer und Erfolge, Freude und Leid, Höhepunkte und Niederlagen, spannende Projekte und stressige Alltagssorgen, Erfüllungen und Enttäuschungen, Glaube und Zweifel und das Wagnis, einer erfahrenen Berufung durch alle Berufsphasen eines Pastors zu folgen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum27. Okt. 2022
ISBN9783384049285
Gezeiten der Erinnerung: Nach den Tagebüchern eines evangelischen Pfarrers
Autor

Helmuth Reske

Helmuth Reske wurde 1934 in Neumühl Kreis Deutsch-Krone in Westpreußen als Ältester von 4 Kindern des Müllermeisters Friedrich Reske und seiner Ehefrau Amanda geboren. Er erlebte 1945 mit seiner Mutter und den drei Geschwistern die Flucht aus Schlesien und sie fanden mit dem Vater ,der inzwischen aus russischer Gefangenschaft entlassen worden war, eine neue Heimat in Niedersachsen. Schon als 14-jähriger schrieb er kleine Abenteuergeschichten auf dem Papier von Düngemitteltüten. Nach dem Abitur studierte er zunächst Germanistik und Theologie, wobei allerdings die Berufung zum Pastor und zur Theologie das Hauptthema seines Lebens wurde. Im Ruhestand organisierte er mit einem Freund literarische Seminare- vor allem über russische Literatur z.B. über Boris Pasternak, Solschenizyn und Anna Achmatowa, aber auch über deutsche Autoren wie Johannes Bobrowski, Edzard Schaper und Peter Huchel. Er gehört seit Jahren einer Schreibgruppe mit 4 Frauen an - den Schreibweisen. . Neben unveröffentlichten Kindheitserinnerungen und der Herausgabe der Tagungsaufzeichungen eines verstorbenen Freundes über die Stille hat er ein "Büchlein" über den Dichter Jochen Klepper geschrieben: "In seinem Wort mein Glück."

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    Buchvorschau

    Gezeiten der Erinnerung - Helmuth Reske

    I. Kindheit und Jugend

    Wie ich wurde

    Mein Vater Friedrich Reske und meine Mutter Amanda, geborene Herrling, stammen beide aus Familien, die schon Mitte des 19. Jahrhunderts aus Deutschland nach Russland (Wolhynien) ausgewandert waren. Am 14.7.1933 haben sie in Neumühl, Kreis Deutsch-Krone (Grenzmark Posen-Westpreußen) geheiratet. In diesem winzigen Ort, der nur aus ein paar Häusern, einem Gut und einer Mühle bestand, war mein Vater als Müllergeselle tätig. Dort wurde ich am 21.5.1934 an einem Pfingstmontag geboren. Am 1. Juli 1935 kam mein Bruder Sieghard auf die Welt und wurde zum ständigen Begleiter meiner Kindheit. Im Herbst 1935 zogen wir nach Schertendorf, Kreis Grünberg (Schlesien), wo mein Vater eine Wassermühle erwarb und sich als Müller selbstständig machte.

    Wann begann ich bewusst zu leben? Als ich zum ersten Mal „ich" sagte oder als ich zum ersten Mal darüber staunte, dass ich ein eigenes Wesen war. Ich kann mich an einen bestimmten Tag erinnern. Es war an einem Septembermorgen 1939 in Schertendorf. Ein einmalig blauer Himmel leuchtete über mir. Ich stand neben dem Hauklotz auf unserem Hühnerhof und sah mich um, horchte und blickte erstaunt in die Welt, als wäre ich gerade erst geboren. Da war ich ganz allein, nur Hühner waren neben mir und scharrten gemütlich im Sand. Vögel tönten und zwitscherten über mir. Der Himmel noch immer strahlend hellblau. Eine lächelnde, freundliche Welt umgab mich von allen Seiten. Ich lebte und jubelte, war lebendig und voller Lebenslust, erwartungsvoll auf das, was noch kommen sollte, und das Leben war schön.

    Davor aber gab es nur winzige, verschwommene Erinnerungen. Ein Weg zum nahen Friedhof mit den Eltern. Plötzlich begann es zu regnen. Ich weinte. Das Wasser des Regens erschien mir bedrohlich fremd. Mein Patenonkel Karl nahm mich auf den Arm und lief mit mir nach Hause.

    Ein dunkler Keller mit kahlen Wänden, es war die Küche im alten Wohnhaus neben der Mühle; es wurde später zum Getreidesilo umgebaut. Ich ging tapsend auf eigenen Füßen und tastend an der Wand entlang. Oh weh! Ein heftiger Schmerz durchzuckte mich und warf mich um. Ich war an ein offenes Stromkabel geraten. Jemand hob mich auf. Es war vorbei.

    Gegenüber unserer Mühle wohnte eine andere Familie. Wir hatten einen gemeinsamen Hof. Mit der Tochter Christa, ja, diesen Namen weiß ich noch, konnte ich manchmal spielen. Aber sie kam nicht immer zu mir. Einmal rief ich mehrmals Christa, komm spielen!, aber Christa hatte keine Lust. Da wurde ich wütend und nahm einen Stein. Ich weiß nicht mehr, wie ich mich fühlte, aber ich muss wütend gewesen sein. Man hat es mir später erzählt. Der Stein flog wirklich auf das Küchenfenster zu und zerschlug die eine untere Scheibe über der Fensterbank. Später erschrak ich darüber, als man mir sagte, was ich getan hatte. Eine Scheibe war kaputt. War oder bin ich wirklich so jähzornig? Ich mag es nicht glauben. Einige Jahre später wohnten wir in diesem Haus und aßen in dieser Küche. Sieghard und ich saßen an diesem Fenster und hielten im Winter unsere Finger an das Fensterglas, wo zwei neu eingesetzte Scheiben kühle Luft hereinließen und mich an meine einmalige Tat erinnerten.

    Die Atmosphäre in meinem Elternhaus war christlich geprägt. Meine Eltern hatten eine Verbindung zur Landeskirchlichen Gemeinschaft und hatten sich im Jugendbund für entschiedenes Christentum (EC) kennengelernt. In unregelmäßigen Abständen kamen „Brüder aus der Landeskirchlichen Gemeinschaft in unser Haus und hielten eine Bibelstunde. Ich hätte mit meinen beiden jüngeren Brüdern (inzwischen war 1938 Bruder Edwin dazugekommen) still auf der Ofenbank gesessen und brav zugehört, obwohl es bestimmt für uns Kinder langweilig war. Einer dieser „Brüder, die aus Grünberg kamen, hieß Bertram. Ein anderer „Bruder mit Namen „Gärtner bekam erst später eine besondere Bedeutung für mich. Ich habe den Namen „Bertram" behalten, weil er mit Sieghard und mir ein Ritual praktizierte, das uns Spaß machte. Er hatte an einer Stelle der Küchenwand Bleistiftstriche angebracht, mit denen er unsere Größe markierte. Jedes Mal, wenn er wiederkam, mussten wir uns an die Wand stellen, und er stellte fest, wie viele Zentimeter wir größer geworden waren.

    Das Tischgebet war für uns selbstverständlich. Es war natürlich, für das Essen, das wir jeden Tag einnahmen, Gott zu danken, ganz egal, wie es uns schmeckte. Unsere Mutter brachte uns mit einem Gebet zu Bett. Zuerst war es wohl das kindliche Gebet: Ich bin klein. Mein Herz ist rein. Soll niemand drin wohnen als Jesus allein. Als ich älter wurde, habe ich manchmal gedacht, dass in meinem Herzen noch andere Menschen wohnen, wie meine Eltern und meine Geschwister.

    Wer dieser Jesus war und warum er in meinem Herzen wohnen sollte, erzählte uns meine Großmutter, die seit Beginn meines Lebens bei uns wohnte und zur Familie gehörte. Sie erzählte uns biblische Geschichten. Zuerst waren es Wundertaten aus dem Alten Testament, Geschichten von David, wie er den Riesen Goliath mit einer Steinschleuder besiegte, und dann die Geschichten von dem unbesiegbaren Simson, der mit dem Kinnknochen eines Esels 100 Philister – die ständigen Gegner der Israeliten – erschlagen konnte. Diese Moritaten gefielen mir am besten. Die Jesusgeschichten machten mich meistens traurig, weil er am Karfreitag von den „bösen Juden", wie ich sie erlebte, ans Kreuz geschlagen wurde. Dass es eigentlich die Römer waren, verstand ich noch nicht. Dass Jesus später auferstanden ist, bekam ich noch nicht mit. Dafür war aber die Geburt Jesu und die gesamte Weihnachtszeit für mich und uns alle die wichtigste und schönste Zeit des Jahres.

    Schon die Adventszeit war wunderbar, eine spannende Zeit der Erwartung und der Vorbereitung. Plätzchen wurden gebacken, doch vor Weihnachten durften sie noch nicht gegessen werden. Mein Bruder Sieghard und ich warteten immer darauf, die Teigschüssel auskratzen zu dürfen. Der Teig schmeckte schon vor dem Backen. Sieghard hatte eine besondere Gabe, schnell einen Finger in den Teig zu stecken, etwas Teig herauszuholen und rasch in den Mund zu stecken und hinterher ganz unschuldig zu gucken.

    Aufregend waren die Stunden am Heiligen Abend vor der Bescherung. Wir durften nicht in die gute Stube, wo der Weihnachtsbaum aufgebaut wurde. So warteten wir unruhig und liefen in der Küche aufgeregt hin und her, stellten dumme Fragen, bis unsere Oma uns einen Groschen versprach, wenn wir eine Stunde ruhig blieben. Das wollte ich auch und so gelang es mir schließlich, diesen Groschen zu bekommen.

    Wenn die Tür zum Weihnachtszimmer geöffnet wurde, sangen unsere Eltern „Ihr Kinderlein kommet und gingen mit uns hinein. Wir sangen viele Weihnachtslieder, begleitet von dem Geigenspiel meiner Mutter, das mich mit Stolz erfüllte. „Der Christbaum ist der schönste Baum, „Süßer die Glocken nie klingen, „Am Weihnachtsbaume die Lichter brennen und „Stille Nacht" gehörten unbedingt dazu. Als wir älter wurden, sollten wir Gedichte aufsagen. Das machte mir Freude. Nur einmal ist bei uns ein Weihnachtsmann aufgetreten, der die Geschenke brachte. Wir erkannten ihn an seinen Schuhen. Es war der Müllerlehrling meines Vaters. Sonst war es immer das Christkind, das auf geheimnisvolle Weise durch das Fenster geflogen kam und die Geschenke unter den Christbaum legte.

    Was mich am stärksten am Verhalten meines Vaters berührte, war sein Verhalten nach den Liedern und Gedichten. Er bat uns, mit ihm niederzuknien und für das Wunder der Geburt „unseres Heilands" zu danken. Dabei war unser sonst herber Vater fast zu Tränen gerührt und bat im Gebet um Vergebung für alles, was er im Jahr an Liebe gegenüber seiner Frau und seinen Kindern hatte fehlen lassen.

    Eines meiner ersten Fotos zeigt mich als stolzen Abc-Schützen, der eine riesige Schultüte trug, wie sie damals bei der Einschulung überreicht wurden.

    Ich ging meistens gern zur Schule. Fräulein Müller war nach meinem Empfinden keine besondere Pädagogin, aber sie unterrichtete uns mit Sorgfalt und einer herben Freundlichkeit, die sich gelegentlich in einem leichten Lächeln zeigte. Nicht geliebt wurde von uns das Kopfrechnen mit Kettenaufgaben, die dazu führten, dass alle aufstehen mussten und man sich erst setzen durfte, wenn man die Aufgabe gelöst hatte. Das Lesen fiel mir leicht. Deshalb war ich immer begierig, neuen Lesestoff zu entdecken.

    Meine Oma, die Mutter meiner Mutter, erzählte uns gern biblische Geschichten. Als ich schon lesen konnte, wollte ich von ihr wissen, ob diese Geschichten von ihr erfunden worden waren oder ob sie aus der Bibel stammten. Und so bat ich sie, mir die Stellen zu zeigen, wo ich sie finden konnte. Das tat sie gern. Und so fing ich mit sieben oder acht Jahren schon an, in der Bibel zu lesen, zuerst Geschichten von David und Simson, meinen großen Helden im AT, dann aber die Geschichten von Jesus und seinen Heilungen sowie von seinem schlimmen Weg ans Kreuz. Warum fand Gott keinen anderen Weg, uns zu erlösen? Erst später begann ich zu ahnen, dass in der Bibel für mich unbegreifliche Weisheiten und Wahrheiten verborgen lagen.

    Ich las aber nicht nur in der Bibel, sondern alles Lesbare, was in meine Hände oder vor meine Augen kam. Meine Mutter brachte aus einer Buchhandlung in Grünberg gelegentlich ein Kinderbuch mit. Zuerst war es ein nordisches Buch von Trollen und Bären und Rentieren, dann gab es eine Sammlung germanischer Götter- und Heldensagen. Die Höhepunkte meiner Lektüre in der Kinderzeit aber waren „Robinson Crusoe" und die Geschichte vom tapferen Steuermann Sigismund Rüstig, der beim Schiffbruch seinen Kapitän und dessen Familie rettet und später im Kampf gegen Kannibalen sein Leben verliert. Da konnte ich Tränen vergießen. Das war der Anfang meiner Faszination vom Lesen. Wer liest, der lebt vielfältig und weitet seine Welt.

    Schertendorf

    Die Kindheit endete für mich im Jahr 1944, als ich erkannte, dass die deutschen Truppen immer stärker von den Roten Armee zurückgedrängt wurden, bis schließlich die Grenze Deutschlands überschritten war. Mein Weltbild von einem starken unbesiegbaren Deutschland zerbrach. Mein Vater, der nur ein einfacher Gefreiter bei der Luftwaffe war, erklärte mir einmal die Weltkarte. Siehst du, wie klein Deutschland ist und wie groß die Länder sind, die gegen Deutschland kämpfen? Das kann doch gar nicht gutgehen. Wir werden den Krieg verlieren. Er musste nicht mehr sagen, dass ich so etwas nicht weitererzählen durfte. Das war für mich klar.

    Mit 10 Jahren ging ich zum Jungvolk und erlebte eine Hüttenund Jungen-Romantik mit Wanderliedern und Geländespielen, in denen ich auch rückblickend keine NS-Ideologie spürte. Wir trafen uns immer in einer kleinen Hütte auf dem Weinberg unseres Dorfes. Ein Geländespiel ist mir in besonderer Erinnerung geblieben. Wir kämpften in zwei Gruppen: die Blauen gegen die Roten. Ich war lange in einem Versteck geblieben und schlich mich erst spät zum vereinbarten Mal. Wenn ich dort anschlagen konnte, ohne dass ein Roter mein Lebensband zerriss, konnte ich zum Sieg der Blauen beitragen. Es gelang mir nach einer langen Kriecherei über Sand und durch Brombeergestrüpp, das meine Arme blutig kratzte. Ich war sehr stolz, weil der Fähnleinführer mich lobte.

    Nur die Aufmärsche vor unserer Schule ärgerten mich, weil wir oft stundenlang vor der Schule stehen mussten – mit erhobenen Händen, die allmählich müde wurden, sodass wir den rechten Arm mit dem linken Arm abstützten und langsam sinken ließen. Die Reden der Parteileute und die Aufmärsche von SA und Soldaten langweilten mich und wohl auch meine Mitschüler.

    Eine weitere Erschütterung meines Weltbildes war für mich die furchtbare Entdeckung auf meinem Schulweg nach Grünberg zum Gymnasium. Der Weg in die vier Kilometer entfernte Kreisstadt führte an unserem Friedhof vorbei, wo eines Tages im April 1944 der Wald gerodet, Baracken gebaut, Stacheldrahtzäune gezogen und Türme errichtet wurden. Nur wenig später sah ich auf meinem Weg, nur etwa 100 Meter entfernt, Soldaten, die mit Scheinwerfern und Maschinengewehren Frauen und Kinder bewachten, die einen erbärmlichen Eindruck auf mich machten. Erst später begriff ich: Das war das Außenlager eines KZ. Niemand im Dorf wusste das nicht. Aber man sprach nicht darüber. Es war gut für uns alle, nichts zu wissen.

    Als ich meine Mutter fragte, was wohl die Frauen und Kinder Schlimmes getan hätten, dass sie dort eingesperrt sein müssten, fing sie beinahe zu weinen an und sagte: Das werden wir noch büßen müssen.

    Mein Vater war bereits 1942 als Soldat eingezogen worden und gehörte in Holland zum Bodenpersonal einer Fliegerstaffel. Wir beteten täglich dafür, dass er bewahrt bleiben möchte. Weil wir als Getreidemühle ein kriegswichtiger Betrieb waren, bekamen wir als Ersatz für meinen Vater einen polnischen Kriegsgefangenen, der von Beruf Müller war. Er hielt unsere Mühle in Betrieb und produzierte Roggenmehl und Weizenmehl. Er hieß Josef Malkowski und war ein gläubiger Katholik. Erst später erfuhren wir, dass er im sogenannten Polenfeldzug beide Söhne verloren hatte. Er hasste deswegen aber nicht uns Deutsche, sondern erklärte einmal, dass die Zukunft der Menschheit nicht im ständigen Kriegführen und in Feindschaft bestehen solle, sondern wir alle lernen müssten, einander als Völker zu vergeben und uns zu versöhnen. Wenn wir Feinde bleiben wollten, dann müssten wir uns gegenseitig so lange töten, bis niemand mehr übrigbliebe. Dann gäbe es keine Zukunft für die Menschheit mehr. Das hat mich damals sehr beeindruckt.

    Josef war zu uns wie ein guter Onkel. Aber er war noch mehr. Das zeigte sich später nach dem Einzug der russischen Soldaten in unser Dorf.

    Ich weiß es noch genau, wie es war, als „die Russen kamen". Es war am 13. Februar 1945. Meine Oma wollte nicht fliehen. Sie kannte Russland seit ihrer Geburt in der Nähe von Schitomir in der Ukraine. Sie wollte alles, was auf uns zukam, auch den Angriff der russischen Truppen, in Gottes Hände legen, so wie sie es immer in ihrem Leben getan hatte. Wie das gehen sollte, war uns unvorstellbar.

    Meine Mutter aber war schwanger mit ihrem 5. Kind und hatte wie wir alle große Angst. Mein jüngster Bruder Manfred wurde am 21.1. geboren und starb zwei Tage später. Josef Malkowski hat ihn hinten im Garten beerdigt.

    Trotz unserer Ängste blieb unsere Oma gefasst und war voller Gottvertrauen. Hier muss ich noch ergänzen, dass seit Oktober 1944 eine entfernte Verwandte, nämlich Irmgard Arndt, bei uns hängengeblieben war. Sie hatte irgendwo bei Posen ihre Familie und ihren Treck aus dem Wolgagebiet verloren und war froh, bei uns unterkommen zu können. Sie warnte uns vor den Grausamkeiten der russischen Soldaten. Deshalb müssten wir jetzt unbedingt flüchten.

    So machten wir uns – die 18-jährige Irmgard und der 10-jährige Helmuth – mit Fahrrädern auf den Weg in die Kreisstadt, um zu erkunden, ob es noch einen Zug gäbe, mit dem wir vor den Russen fliehen könnten. Es war kalt, gut 5 Grad unter null, nur wenig Schnee. Es herrschte eine unheimliche Ruhe. Bei uns im Dorf waren seit ein paar Tagen keine deutschen Soldaten mehr zu sehen. Wir strampelten gegen den Wind. Als wir kurz vor der Bahnüberquerung an der Stadtgrenze von Grünberg waren, hörten wir die dumpfen Töne. Es klang wie Donner. War es ein Wintergewitter im Februar? Irmgard schüttelte im jähen Verstehen den Kopf. Diesen Donner kenne ich. Das sind russische Panzer. Jetzt kommen sie – die russischen Soldateska. Angst verzerrte ihr Gesicht. Schüchtern erhob ich einen Einwand: Wollen wir es nicht doch noch versuchen? Der Bahnhof ist nicht mehr weit.

    Ach, Helmuth! Sie seufzte tief auf. Tränen rannen über ihr Gesicht. Es hat keinen Zweck mehr. Wir müssen zurück.

    Ich weiß nicht mehr, wie wir zurückgekommen sind und wie unsere Nachricht aufgenommen worden ist. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass niemand mehr mit einem Davonkommen gerechnet hatte, dass wir alle unsere Hoffnungen aufgegeben hatten. Eine dumpfe Lethargie breitete sich wie ein unsichtbarer Nebel um uns aus. Mutti weinte, Oma hatte die Augen geschlossen und betete. Wir Kinder standen um sie herum und ahnten, dass etwas Unheimliches, etwas noch nie Dagewesenes auf uns zukommen würde, eine fremde Macht, die wir uns nicht vorstellen konnten, trotz aller Sondermeldungen, bösen Gerüchte und schlimmen Träume. Sollte man sich nicht aufhängen oder vergiften? Wäre das nicht das Beste in dieser Situation, als in die Hände der russischen Soldaten zu fallen, denen Stalin einen Freibrief ausgestellt hatte, die deutschen Frauen zu vergewaltigen und die Deutschen auszurauben. Viele haben es getan.

    Ich weiß nicht, wo Josef Malkowski in diesen Tagen war, unser polnischer Müller, der als Kriegsgefangener schon zwei Jahre bei uns war. Er war der einzige Mann, der uns noch helfen konnte. Wir hatten ihn als manchmal brummigen, aber doch liebenswürdigen Onkel kennengelernt, der uns Kinder ermahnte, wenn wir unserer Mutter nicht gleich folgten. Er war nicht geflohen. Wohin auch? Von den Russen hatte er auch nicht die beste Meinung. Aber er blieb. Wo schlief er bloß? Oben in der Lehrlingskammer? Ich weiß es nicht mehr.

    Was ich aber ganz deutlich weiß: Am nächsten Vormittag waren sie da. Drei russische Soldaten kamen langsam mit vorgehaltenen Maschinenpistolen über den Hof und blickten sichernd und lauernd um sich. Wir waren alle in der Küche versammelt, Oma und Mutti mit ihren vier Kindern, ein gedrängter Haufen voller Angst und stiller Verzweiflung, der sich in das Unvermeidliche schicken musste. Einer stieß mit dem Kolben die Küchentür auf, und dann standen sie vor uns in ihren schmutzig-grünen Pelzjacken und Fellmützen und schauten uns drohend an. Germanski Soldat? Germanski Soldat?, rief der Mittlere, ein Leutnant offensichtlich. Sie suchten deutsche Soldaten. Einer von uns oder wir alle riefen laut und ängstlich Nix Soldat. Er schaute seltsam ruhig über die ganze Szenerie, die sich ihm darbot. Dann nahm er in der warmen Stube seine Pelzmütze ab und enthüllte seinen blonden Haarschopf. Er beugte sich kurz nach vorn und berührte mit einem Zeigefinger Irmtrauds Kopf, die angstvoll zurückzuckte. Ein leises Lächeln fuhr über sein Gesicht. Nix Angst, murmelte er vor sich hin. Dann gab er seinen beiden Begleitern einen Wink, und sie liefen mit vorgehaltener Waffe, der eine durch Omas Zimmer und der andere durch unser Wohnzimmer, in unser Schlafzimmer. Wir hörten, wie Schubladen herausgerissen wurden und Stühle umfielen. Der Leutnant gab ein paar harsche Befehle, und seine zwei Soldaten kamen wieder heraus – mit Vaters Taschenuhr in der Hand und ein paar Kleinigkeiten, die ich nicht sehen konnte. Dann brummte der Blonde ein paar russische Worte in Richtung Oma, von denen ich nur „Babuschka" verstand und die Oma nachher so übersetzte, dass sie Rühreier haben wollten und für ein paar Tage im Schlafzimmer Quartier beziehen würden. Wir sollten uns nur ruhig verhalten. Sie würden uns nichts tun. Ich frage mich heute: War es wirklich so? Oder habe ich mir einige Einzelheiten lebhaft eingebildet?

    Wir atmeten hörbar auf. Wo Tante Hilde geblieben war, und Irmgard – das hatte ich in der Spannung ganz vergessen. Wahrscheinlich hatten sie sich auf Josefs Rat auf dem Boden über dem Holzschuppen versteckt. Aber wie lange noch? Sie konnten ja nicht wochenlang dort oben hocken bleiben und womöglich erfrieren!

    Als unsere Besatzung nach zwei oder drei Wochen verschwand – ich verlor alle Zeitbegriffe in jener Zeit – da hatte Josef einen guten Einfall, der Sieghard und mir zu einer anstrengenden Verpflichtung verhalf. Er brachte am Küchenfenster, wo Sieghard und ich immer bei den Mahlzeiten saßen, einen Spiegel an, einen kleinen Spion, mit dem wir ständig das Hoftor beobachten konnten. Wann immer russische Soldaten durch das Tor eindrangen – es kam nicht jeden Tag vor, aber immer wieder einmal –, da hallte unser Schrei durch das Haus „Sie kommen wieder". Und rasch flogen Tante Hilde und Irmgard davon, wie ein Wirbelwind rasten sie durch das offene Fenster der Speisekammer über den Hühnerhof, verschwanden im Holzschuppen und stiegen die schmale Leiter zum Boden empor. Dann zogen sie die Leiter hoch und warteten bebend auf das Kommende, bis wir Entwarnung gaben, und sie erleichtert und steif gefroren zu uns in die warme Küche zurückkehrten.

    Manchmal schimpften wir über diesen Frondienst, zu dem wir verdonnert waren, auch wenn wir irgendwie spürten, dass er notwendig war. Aber manchmal saßen wir nur da, guckten in den schneeigen März hinaus, in die diesige Luft, sahen die ersten Frühlingswolken, schauten und warteten.

    Als die russischen Truppen einmarschierten und nach Stalins Befehl die deutschen Frauen als Freiwild betrachten durften, stand Josef Malkowski auf unserer Seite und riskierte sein Leben, als er einen jungen russischen Soldaten hinderte, unsere Tante Hilde zu vergewaltigen. Als er mit deftigen russischen Flüchen den Russen beschimpfte, ging der Junge beschämt und verwundert davon, nachdem er in seiner ersten Wut über diese Abfuhr unseren tapferen Josef erschießen wollte.

    Es war Mitte November 1945. Unser Zug, ein russischer Reparationszug, der leer aus Russland in die sowjetische Zone fuhr, hatte uns in Rotenburg aufgenommen, als wir von dem Gut geflohen waren, das uns für drei Monate Zufluchtsstätte geworden war. Jetzt hielt er schon über eine Stunde auf dem Bahnhof in Crossen an der Oder. Schnee lag auf den Gleisen, und jenseits des Bahnhofs schimmerte dunkel-silbern die Oder im Mondlicht.

    Ich stand regungslos am Fenster unseres Waggons und fror. Um mich herum war Nacht und Einsamkeit. Nein, ich war nicht allein. Nebenan auf der Bank hockte mein Bruder Sieghard, zusammengekauert, etwas verkrümmt. Er hatte sich auf den Sack mit den Betten gelegt. Mein grauer Mantel, den meine Mutter für 20 Pfund Mehl von einer Frau aus Grünberg eingetauscht hatte, hing zerknautscht über ihm. Ich weiß nicht, warum ich ihn nicht anzog.

    Im Nachbarabteil saß Frau Semmler mit ihrer Tochter Marianne. Ich kannte sie nur flüchtig. Sie waren in letzter Minute auf den Zug aufgesprungen, der uns in die Freiheit bringen sollte, nachdem sich das Gerücht bestätigt hatte, dass „unser Gut an die Polen übergeben werden sollte. Es ging alles so schnell, obwohl wir schon tagelang auf einen plötzlichen „Abtransport gewartet hatten.

    Mutter und Tochter Semmler – ich kann mich nicht an ihren Vornamen erinnern – saßen dicht aneinander geschmiegt. Ich konnte nicht sehen, ob sie schliefen oder ob sie nur so wie ich darauf warteten, dass der Zug endlich weiterfuhr. Jetzt regte sich jemand, und ich hörte einen tiefen Seufzer. Ich schlich mich gebückt zum Fenster an der anderen Seite – an Sieghard vorbei, der seelenruhig schlief, und schaute auf den Bahnsteig. Im schwachen Licht einer Laterne war auf dem Stationsschild der Ortsname „Crossen" undeutlich zu erkennen. Ein Posten der polnischen Miliz kam mit einem geschulterten Karabiner langsam näher. Er schüttelte sich unwillkürlich, als er vier oder fünf Meter vor meinem Fenster stehen blieb. Vielleicht fror er so wie ich. Ich duckte mich, aus spontaner Angst, er könnte mich sehen und uns alle aus dem Zug herausholen, und wir müssten für immer in Schlesien bleiben, das nun zu Polen gehören sollte. Der russische Begleitoffizier dieses Reparationszuges hatte uns streng ermahnt, wir sollten uns möglichst ruhig, ja versteckt halten, damit es keine Scherereien gäbe. Das hatte er natürlich auf Russisch gesagt, und unsere Irmgard, die treue Dolmetscherin, hat alles übersetzt.

    Nur noch eine halbe Stunde Fahrt, so hoffte ich, dann könnten wir alle in Guben sein, jenseits der Oder-Neiße-Linie, wie wir später lernten, in der russischen Zone, wie sie jetzt schon hieß. Aus dem Nachbarwaggon, vor uns dicht hinter der Lok, drang jetzt stärker als zuvor das Geigenspiel meiner Mutter und das laute Gegröle der russischen Soldaten, die schon einige Liter Wodka intus hatten. Ich horchte mit einer gewissen Beklemmung auf die Töne, die ab und zu etwas verebbten, als würde ein Windstoß sie über die Oder wehen. Was war mit Mutti, mit Tante Hilde und Irmgard? Was hatten sie mit den russischen Soldaten ausgehandelt, die diesen Demontagezug nach Deutschland begleiteten? Welches Risiko war das russische Kommando eingegangen, als es zwei deutsche Familien illegal vor dem Rotenburger Bahnhof mitgenommen hatte!

    Der Zug fuhr noch immer nicht weiter. Ich war wie erstarrt. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Ich war mit mir ganz allein. Meine Gedanken schweiften hinaus in die Unendlichkeit des Himmels und in die unzählbare Sternenfülle. Und diese Nacht wollte kein Ende nehmen. Betete ich? Ich weiß es nicht. Alles war verschwommen und einmalig. Es war die seltsamste Nacht meines jungen Lebens.

    Meine Gedanken glitten noch einmal zurück zu den Erlebnissen in den letzten Wochen, die wir auf diesem Gut verbracht hatten. Den Namen des Besitzers habe ich nicht erfahren können. Da war der kleine Igor, der Sohn des Kommandanten, der wie ein kleiner Offizier in Uniform herumlief und uns spüren ließ, dass die Russen die Sieger waren. Germanski kaputt, erklärte er manchmal in einem triumphierenden Tonfall, um dann wie ein richtiges Kind mit uns durch die leeren Baracken zu toben, durch die halb ausgehobenen Schützengraben zu stöbern und Patronen aufzusammeln.

    Ich glaube, es war Jürgen, der Heidelberger Junge, der mit der Kinderlandverschickung nach Schertendorf gekommen war, der zuerst auf den Gedanken kam, die Patronenspitzen abzudrehen und das Pulver auf einen Haufen zu schütten. Er war der Einzige von uns, der Streichhölzer hatte – oder war es doch Igor, der schon rauchte und sich vor uns mit einer Zigarette in Positur warf? Es war ein erregender und doch Angst einflößender Augenblick, wie er das brennende Streichholz auf den Pulverhaufen warf und wir alle davonliefen und die Stichflamme bis zum Barackendach emporflammte. Was für ein Leichtsinn, aber es war niemand da, der uns Einhalt gebot.

    Einmal oder zweimal nahm uns Igor mit ins Gutshaus und führte uns durch alle Räume, stolz als sei er der Gutsherr. In der Bibliothek blieb ich stehen. Was hatte ich im Vorübereilen gesehen? Ein ganzes Regal voller Karl-May-Bände. Darf ich?

    Ich weiß nicht, ob ich fragte oder einfach nach vier oder fünf Bänden griff. Igor nickte fast gleichgültig. Deutsche Bücher interessierten ihn nicht. Ich lief davon, von einer unwahrscheinlichen Begeisterung erfüllt. Ich hatte etwas zu lesen. Und dann noch Karl May. „Der Schatz im Silbersee, „Unter Geiern, „Winnetou I und „Winnetou II, „Durch das wilde Kurdistan". Irgendwo fand ich eine stille Ecke und begann zu lesen. Alles um mich herum versank, und ich war bei Old Shatterhand und Sam Hawkens und bei Winnetou, dem Edelsten aller Indianer.

    War es am selben Tag oder einige Tage später? Ich war nicht dabei, aber ich muss irgendwo in der Nähe gewesen sein. Ein heftiger Knall erschütterte die Luft. Eine Explosion. Rauch stieg 100 Meter vor mir auf. Ein fürchterlicher Schrei ertönte und dann fortwährendes Weinen. Das war meine Schwester. Ich lief sofort los. Da sah ich sie.

    Auf dem Kartoffelacker neben dem Gesindehaus, in dem wir wohnten, lag Edwin am Boden und Irmtraud neben ihm –blutüberströmt. Da kam schon Mutti angerannt. Sie hob Irmtraud auf und wischte ihr das Blut aus dem Gesicht. Es war aber gar keine Wunde zu sehen. Aber sie schrie immer noch und konnte kaum beruhigt werden. Jetzt sahen wir erst, dass aus Edwins Hals das Blut nur so herausströmte. Und auf seiner Stirn klaffte auch ein blutiger Riss. Zwei, drei Frauen rannten herbei und irgendjemand gelang es, den Blutfluss zu stillen. Hinterher erfuhren wir, was geschehen war. Edwin erzählte es, fast noch atemlos gehetzt, aber erfüllt von der eigenen Bedeutsamkeit, die er durch diesen Vorfall gewonnen hatte. Er war mit Irmtraud über das brache Feld gegangen, ohne etwas Bestimmtes zu suchen. Da fand er im Gras eine hellbraune Kugel, eine Eierhandgranate. Was für ein nettes Spielzeug, dachte er. Er betrachtete das gelbbraune Ding von allen Seiten. Was konnte man damit machen? Ach, so wichtig war es auch nicht. Er schüttelte die kleine eiförmige Kugel und warf sie mit einer leichten Handbewegung zur Seite. Da explodierte sie.

    Was für ein Glück in diesem Unglück, dass ihn nur zwei kleine Splitter trafen und Irmtraud unverletzt blieb. Wie lange haben wir wohl über diese Bewahrung nachgedacht!? Oma sprach mit zitternder Stimme ein Dankgebet.

    Ich war immer noch allein – in der längsten Nacht meines Lebens. Glasklar wach jetzt, im hellsten Bewusstsein ohne eine Minute Schlaf. Bilde ich mir jedenfalls ein. Die Zeit stand still. Im Morgengrauen ruckte es plötzlich. der Zug fuhr endlich langsam weiter, und wir standen morgens um 7:30 Uhr hilflos mit unseren Koffern, Rucksäcken, Betten und einem Zentnersack mit Roggenmehl auf dem Bahnsteig in Guben.

    Wohin ging es nun? Wie sollten wir jetzt nach Neuzelle zu unserer Tante Paula, einer Schwester meines Vaters, kommen? Sie war die einzige Adresse, die wir hatten. Eine andere Zuflucht kannten wir nicht. Wie würde sie uns aufnehmen? Was würde vor allem ihr Mann, der etwas grimmige und grämliche Vater Förster dazu sagen?

    Ich merke, wie sich die Zeiten verschieben und ineinander fließen. Manches, was jetzt lebendig hervorquillt, liegt viel weiter zurück als das, was ich mühsam aus der Vergangenheit hervorzerre.

    Schertendorf, die Erinnerungen an die frühe Kindheit, die Zeit im Krieg und alle Erlebnisse während der russischen Besatzung, die drei Monate in Rotenburg und dann die längste Nacht im Zug auf der Bahnstrecke nach Guben, die Nacht, mit der ein neues Leben beginnen sollte. Endlich sind wir in Guben angekommen. Ein anderes Leben fängt jetzt an. Wir sind nun Flüchtlinge in der Sowjetischen Zone Deutschlands.

    Als Großfamilie in Neuzelle

    Was muss das für eine böse Überraschung gewesen sein, als wir mit vier Kindern, einer Mutter, einer Oma, einer Tante und der entfernten Cousine Irmgard bei Tante Paula, der Schwester meines Vaters, in Neuzelle auftauchten und um Asyl baten. Wo sollten wir bloß schlafen? Federbetten hatten wir mitgebracht, aber keine Betten. Wo gab es noch Platz in diesem alten Haus, in dem der schon alt wirkende Onkel Förster mit seinen drei Jungen Siegfried, Heinz und Helmut, mit Tante Paula und mit Oma Reske, meiner Großmutter väterlicherseits lebte? Irgendwie müssen alle zusammengerückt sein und etwas Platz gemacht haben. Das war in diesen Monaten im kleiner gewordenen Deutschland schon fast zur Gewohnheit geworden. Ich weiß beim besten Willen nicht, wo und mit wem ich geschlafen habe. Vielleicht schliefen wir alle in einem Zimmer im ersten Stock auf dem Fußboden – auf den Unterbetten, die wir ja gerettet hatten.

    Oben im ersten Stock hatte Oma Reske ihr eigenes Zimmer. Sie wirkte auf uns zunächst fremd, distanziert und irgendwie auch streng mit ihren zusammengekniffenen Lippen. Sie machte auch kaum einen Versuch, zu ihren hereingeschneiten Enkeln, die sie gar nicht kannte, Kontakt aufzunehmen. Sie erwartete nur, dass wir kleine Besorgungen für sie erledigten und sie bedienten. Vielleicht war das ihre Art der Kontaktaufnahme. Auf mich machte sie immer einen abweisenden und zugleich auch leidenden Ausdruck. Sehr viel später erfuhr ich, dass sie ein Hüftleiden hatte, das ihr oft große Schmerzen bereitete und sie zu einer überwiegend sitzenden Lebensweise zwang. Wir sehen ja oft nur die Außenseite eines Menschen und wissen nicht, was sich dahinter verbirgt.

    Zu essen gab es immer etwas. Gehungert haben wir kaum. Manchmal aßen wir sogar Kaninchenbraten, denn Kaninchen hatte Onkel Förster mit Leidenschaft gefüttert und gepflegt.

    Unangenehm war im Winter der Gang zur Toilette, zum kleinen Häuschen auf dem Hof neben den Stallungen. Wenn es dunkel wurde, war der kleine Weg doppelt unangenehm. Sieghard hatte jedes Mal, wenn er musste, seine Ängste, über den dunklen Hof zu gehen. Helmuth soll mitgehen, forderte er schließlich. Ich protestierte. Warum? Ich gehe doch auch allein und überwinde meine Angst. Da kam Mutters Wort. Es ist dein Bruder. Lass ihn nicht allein. Und so kam es, dass ich manchen Abend frierend im Hof auf und ab ging und von Zeit zu Zeit, manchmal schon nach einer Minute, ärgerlich rief: Bist du noch nicht bald fertig?

    Wir mussten wieder zur Schule gehen. Das war nach den 11 Monate dauernden Ferien eine unangenehme, ungewohnte Pflicht. Es gab im November 1945 schon sozialistisch gesonnene Lehrer, die von einer neuen Zeit sprachen und davon, dass es jetzt eine Bodenreform geben müsse, damit die Großgrundbesitzer ihre unrecht erworbenen Güter an die armen Flüchtlinge abgeben sollten, die gar nichts mehr hätten. So ähnlich habe ich ihre Belehrungen verstanden, die nicht nur in dem neuen Fach „Gegenwartskunde vorkamen, sondern auch in anderen Fächern erteilt wurden. Ich hatte nichts dagegen und fand diesen „Lastenausgleich, wenn er denn irgendwann zustande kam, auch einleuchtend.

    Wir hatten aber etwas dagegen, dass uns eine Gruppe von Neuzeller Jungen von Norden aus dem Hochwald bedrohte und mit Steinschleudern zum Angriff überging. Sie hatten aber nicht damit gerechnet, dass die drei Försterjungen Verstärkung durch die drei Reskes bekommen hatten, die schließlich den Polen entkommen waren und nun nicht vor ein paar frechen Buben feige fliehen wollten. Die Steine flogen ziemlich heftig durch die Äste und schlugen Zweige herab. Wir bestaunten die riesigen Schleudern unserer Cousins, die sie als Abwehrwaffen aus Astgabeln der Eiche konstruiert hatten und waren bald mit ihrer Technik vertraut. Zum Glück wurde niemand getroffen, und bald machte ein Nachbar unserem kämpferischen Treiben ein Ende.

    Eines Tages am Anfang des neuen Jahres 1946 gab es ein lautes Hurra, ein Halleluja, ein kräftiges Danken und Jubeln. Unser Vater hatte geschrieben. Es war nur eine Karte. Und wir wussten: Er lebt. Er ist aus englischer Gefangenschaft in Schleswig-Holstein entlassen worden und arbeitet jetzt auf einem Bauernhof in Niedersachsen. Wir konnten es kaum fassen. Nun konnten wir als Familie wieder zusammenkommen. Mutti flossen die Tränen nur so herab, und Oma konnte gar nicht aufhören, Gott zu danken. Wir waren seltsam aufgerührt, ja aufgeregt. Was würde nun werden? Wohin würden wir kommen? Wie ist es, wieder mit einem Vater zusammenzuleben, den wir fast nur als Soldat auf Urlaub in Erinnerung hatten. Die Hochspannung überwog bei mir. Nur weg aus dieser Enge, die fast allen auf die Nerven ging, weg von Onkel Förster in ein neues unbekanntes Land, das unsere Heimat werden sollte.

    Zwischen Ost und West lag aber die Zonengrenze. Ohne Zuzugsgenehmigung gab es keine Einreise in den Westen, in die englische Besatzungszone, zu der Brümmerloh gehörte, jenes kleine Dorf, wo unser Vater als Landarbeiter „gelandet" war. Die Genehmigung musste unser Vater besorgen. Dann konnten wir endlich zu ihm fahren. Die Zeit bis zur Ausreise dauerte für uns Kinder viel zu lange. Vor dem großen Umzug mussten wir zunächst einmal in ein Quarantänelager nach Cottbus.

    Etwa Mitte März landeten wir in dem Cottbuser Lager, das damals wohl als Schleuse für alle Umsiedler in den Westen diente. Bereits einen Monat nach unserer Ankunft in Neuzelle hatten Tante Hilde und Irmgard in Cottbus eine kleine Wohnung und sogar Arbeit gefunden und nahmen unsere Oma dorthin mit. Das war für uns der einzige Lichtblick in Cottbus, dass die drei in unserer Nähe wohnten. Abgesehen von der Entlausungsprozedur weiß ich nicht, warum wir drei Wochen, abgeschottet von anderen Menschen, wie in einem Gefängnis zubringen mussten. Das Lager war ziemlich primitiv. Wir schliefen mindestens zu 20 Personen in einem Saal auf Stroh. Abends hörte man meistens noch ein oder zwei Stunden ein Gemurmel, ein Flüstern und Geraschel, bis endlich alle eingeschlafen waren. Morgens und abends gab es nur eine Scheibe Brot mit etwas Margarine oder Sirup. Mittags erhielten wir nur einen Teller mit einer wässerigen Suppe. Wir hatten immer Hunger. Zum ersten Mal spürten wir richtigen Hunger, der in unseren Därmen zwickte und uns unruhig hin und her trieb. Mutti wusste auch nicht, wie sie uns helfen konnte. Eine Kochgelegenheit gab es nicht. Aber es gab eine Lösung. Andere Kinder waren auch schon auf die Idee gekommen. Im Saal gab es zwei Fenster zur Straße hin, die der Wachposten vor der Eingangstür nicht einsehen konnte. Sieghard und ich fassten uns ein Herz und schlüpften hinaus. Wir mussten uns erst orientieren, in welcher Straße wir waren und wo es zur Münzstraße ging, wo unsere Oma schon lange auf uns wartete. Was für ein Glück war es für uns, wenn sie uns in die Arme schloss und uns mit einem vollen Teller ihrer leckeren Mehlsuppe erfreute. Das waren unsere Lichtblicke im düsteren und langweiligen Lageralltag.

    Aber wir mussten noch drei Wochen warten. Das war auf die Dauer einfach langweilig. Es gab nichts zu spielen und zu lesen. Wir konnten uns nur gegenseitig auf die Nerven gehen, und ständig tönten auf den Fluren und in den Sälen die Rufe von Müttern und Großmüttern, die ihre Kinder oder Enkel vergeblich zur Ruhe mahnten. Väter waren kaum zu sehen.

    Endlich startete unser Transport, ein langer Zug mit alten Personenwagen, der sich ziemlich langsam nach Westen wälzte. Unsere immer stärker werdende Erwartung und Sehnsucht wurde noch auf eine harte Probe gestellt, als wir in Rottlieberode im Harz alle aussteigen und mit unserem umfangreichen Gepäck in ein großes Lager kamen. Es gab zwar im Unterschied zum Lager in Cottbus hölzerne Etagenbetten, doch ohne Matratzen. Mit unseren eigenen Betten konnten wir uns wenigstens zudecken.

    Endlich nach drei Tagen startete unser Zug zur Weiterfahrt nach Göttingen in den Westen.

    Brümmerloh

    Unser Zielbahnhof war Wehrbleck, ein kleiner Bahnhof in der Nähe von Brümmerloh. Wir Jungen standen fast die letzte halbe Stunde, schauten hinaus und warteten auf den Augenblick, wo wir unseren Vater sehen würden. Ob wir ihn sicher erkannten? Endlich bremste unser Zug. Ich las das Schild „Wehrbleck". Ich öffnete die Abteiltür und stürzte hinaus. Ja, da stand er wirklich, aufrecht in eine Joppe gekleidet, mit einer Schildmütze. Er wirkte aber irgendwie fremd auf mich, jünger und froher, als ich ihn in Erinnerung hatte – wohl auch auf meine Geschwister. Irmtraud versteckte sich hinter Mutti, die leise weinte, als unser Papa auf sie zuging und sie umarmte. Er drückte uns kurz an sich und half dann, unser umfangreiches Gepäck mit den Bettensäcken auf den kleinen Wagen zu laden, der mit einem braunen Pferd neben dem Bahnhofsgebäude stand. Als wir hinten aufstiegen, drehte es aufmerksam seinen Kopf zu uns herum und betrachtete die neuen Gäste, die nach Brümmerloh fahren wollten.

    Und jetzt waren wir in Brümmerloh angekommen, in diesem Dörfchen mit fünf Großbauern, acht Häuslingen und acht Flüchtlingsfamilien, insgesamt kaum 100 Einwohner. Für sieben Jahre sollte dieses Dorf unsere Heimat werden.

    Was war mein erster Eindruck? Ein Riesengehöft unter hoch aufragenden Eichen, die schon frisches Laub trugen, ein altes Fachwerkhaus mit einem Strohdach und gekreuzten Pferdeköpfen auf dem Giebel, ein quadratischer Innenhof, blank gefegt, eingerahmt von einem langgestreckten Kuhstall, einer riesigen Scheune, dessen Tor einladend offen stand. Die Remise folgte mit drei Durchfahrten, der Schweinestall an der Gartenseite und das bereits wahrgenommene alte Bauernhaus, dessen grüne Dielentür weit geöffnet war. Wir traten zögernd in die weite, dunkle Diele. Da kam uns die rundliche Oma Renzelmann mit einem freundlichen Lächeln und glänzend-roten Backen entgegen und begrüßte die „Frau und die Kinder von Friedrich". Sie hieß uns freundlich willkommen. Sie sprach plattdeutsch, und wir verstanden nur die Hälfte. Wir standen irgendwie hilflos herum und wussten nicht, wohin wir gehen sollten. Auch unser Vater schien noch unschlüssig zu sein, was jetzt geschehen sollte. Da erschien aus dem Hintergrund eine aparte Frau mit einem schmalen Gesicht im dunklen Kleid mit einem weißen Kragen, kaum älter als unsere Mutter, schaute uns einen Augenblick wortlos an und sagte dann mit einem verhaltenen Leuchten ihrer Augen: Ich bin Anni Renzelmann. Schön, dass ihr da seid! Kommt erst mal in die Küche. Ihr habt bestimmt Hunger.

    Wir traten durch die Abwaschküche in die große Wohnküche und setzten uns an den langen Tisch an der linken Seite. Was da alles auf den Tisch kam: Butter und selbstgebackenes Schwarzbrot, Leberwurst, Blutwurst und Schinken. Wir trauten unseren Augen kaum. Ein Schlaraffenland hatte sich für uns geöffnet. Ungeahnte, lang entbehrte Köstlichkeiten wurden vor uns ausgebreitet. Oma Renzelmann schnitt immer noch eine Schnitte von dem Riesenbrot ab und freute sich über unseren Hunger. Plötzlich beugte sich ein Wuschelkopf durch die offene Tür. Sie lachte uns an. Das ist Anneliese, meine Enkelin, sagte Oma R. Komm mal rein und sag guten Tag. Sie kam etwas zögernd näher, schaute uns prüfend an und gab jedem von uns die Hand. Heinz und Hilde sind auch noch da, sagte sie und verschwand wieder. Ich hätte sie gern noch länger angeschaut. Ihr Gesicht strahlte eine kindliche Unbekümmertheit aus. Sie war vielleicht so alt wie Edwin, acht oder neun Jahre. Später sahen wir Heinz hereinkommen, er war mit Opa auf dem Feld gewesen, das war seine Leidenschaft. Man spürte, dass er schon dabei war, sich in seine künftige Aufgabe als Großbauer einzufühlen, der einmal den Hof übernehmen würde. Wo war eigentlich sein Vater? Da verdüsterte sich sein Blick und er murmelte: In russischer Gefangenschaft!

    Unser Vater war verschwunden. Ich muss noch nach den Pferden sehen, hatte er gesagt. Sieghard war hinter ihm her gegangen und befand sich plötzlich im Gang zwischen den Pferdeställen auf der linken Seite und der Kammer mit zwei Futterbuchten für Stroh links und für Heu auf der rechten Seite des Zimmers. Das ist meine Behausung, sagte Papa. Da werden auch Mutti und Irmtraud schlafen.

    Ob es wirklich so war? Ich zweifle. Vielleicht war es ganz anders.

    Als wir alle in das kleine Zimmer traten, wies unser Vater stolz auf sein Bett. Das habe ich selbst gebaut, aus den Resten eines Flugzeugwracks, das ich hier im Moor gefunden habe. Er hob den Strohsack am Ende hoch und zeigte uns den Aluminiumrahmen, den er zusammengenietet und mit Holzfüßen versehen hatte. Irmtraud klammerte sich an Mutti und fragte mit ängstlichem Aufblicken zum fremden Vater: Hier sollen wir schlafen!? Mutti nickte unsicher und schaute Papa an: Und wo soll Irmtraud liegen? Wir blickten uns alle verlegen in der kleinen Kammer um, die durch die aufgestapelten Koffer und Säcke mit unseren Betten noch kleiner wirkte. Wo war hier noch Platz? Papa wirkte unschlüssig und kratzte sich an der Stirn. Opa Renzelmann meinte, irgendwo läge noch eine Matratze. Die muss ich jetzt holen! Er verschwand. Ich weiß nicht mehr, wie wir zu unseren Schlafplätzen gekommen sind. Hat Anni diese Einteilung vorgenommen? Der Not gehorchend oder ganz aus dem Antrieb ihres Herzens? Wenn ich jetzt nach fast 60 Jahren darüber nachdenke, kommt es mir noch immer unwahrscheinlich vor.

    Ich erwachte am ersten Morgen in Brümmerloh im Eheschlafzimmer von Anni und Gustav Renzelmann. Neben mir im Bett lag Heinz. Seine Mutter hatte das rechte Bett verlassen und war längst aufgestanden. Sieghard und Edwin hatten ein Bett im Kinderzimmer bekommen, das an das Wohnzimmer angrenzte und über drei Stufen zu erreichen war. Nun teilten sie das Zimmer mit den beiden Töchtern Hilde und Anneliese, die offensichtlich diese Einteilung ohne Murren hingenommen hatten. Wer weiß? Vielleicht haben sie auch ohne unser Wissen gegen die Anordnung der Mutter gemeutert oder gedacht, das sei nur eine Notlösung für die nächsten Tage.

    Es dauerte eine ganze Weile, bis wir uns in diesem verwirrenden Gebilde von Ställen, Kammern, Türen und Fluren zurechtfanden. Aber dann wurden wir immer stärker in die alltäglichen Rituale eines Bauernhofes einbezogen, in die Fütterungszeiten am Morgen und am Abend im Schweine– und im Kuhstall. Wir verfolgten das Füttern der Mastkälber in den Extrabuchten auf der rechten Seite des Kuhstalls, wir halfen mit beim Putzen und Häckseln der Runkelrüben, die anschließend in die Futterkrippen der Kühe verteilt wurden. Fast spüre ich jetzt noch die leibhaftige Wärme des Stalles, ich höre das leichte Schnauben und Prusten der Kühe, das Klirren der Ketten. Zuletzt klettern wir auf den Boden über dem Stall und werfen Stroh zum Streuen für die Kühe durch die Bodenluke. Inzwischen hat Günther Zoranski, der Knecht aus dem Ruhrgebiet, die hinteren Trittstellen der Kühe vom Mist gereinigt und verteilt das Stroh, dass die Kühe wieder sauber liegen und wiederkäuen können.

    Heinz erklärt uns bereitwillig, was zu tun ist. Mit einem wissenden Lächeln sagt er Sieghard und mir, was er schon alles weiß, was für ihn als Bauernsohn selbstverständlich ist. Er zeigt auf die schwarzen Tafeln, die über den Kühen hängen, auf denen mit Kreide ihre Namen stehen, die Milchleistung des vergangenen Jahres, der Fettgehalt und sogar die Milchleistungen der Vorfahren. Es sind alles eingetragene Herdbuchkühe, sagt er uns, auch wenn wir gar nicht wissen, was das zu bedeuten hat.

    Wir erleben in den ersten Jahren ganz bewusst den Wechsel der Jahreszeiten auf Brümmerloh mit der steten Abfolge von Saat und Ernte, von harten Arbeitszeiten und ruhigeren Phasen. Wie selbstverständlich erwartet unser Vater unsere Mitarbeit auf dem Bauernhof von Renzelmanns. Wir sind dazu auch bereit, doch manchmal stört uns die Beflissenheit und die Strenge, mit der er uns aufs Feld befiehlt, ohne danach zu fragen, ob wir unsere Schularbeiten erledigt haben oder nicht. Er ist der Meinung, dass wir das Gute, was wir von Renzelmanns erfahren haben, nur durch tüchtige Mitarbeit ausgleichen könnten. Er selber arbeitet mit allen seinen Kräften und Fähigkeiten so, als wäre es sein eigener Hof. So genießt er auch das Vertrauen von Opa Renzelmann und Anni. Nach dem Mittagessen steht er meistens noch mit Anni im Flur, spricht über zu erledigende Arbeiten, während Mutti Oma Renzelmann beim Abwasch hilft. Wir fühlen uns in diesen ersten Monaten manchmal etwas verloren, weil wir nicht wissen, wohin wir gehen dürfen. Wir haben ja keine eigene Wohnung, wir sind nur Mitbewohner in diesem alten Bauernhaus. Unsere Familie ist auf drei verschiedene Zimmer verteilt, die weit voneinander entfernt liegen. Wir können zwar in Renzelmanns Wohnzimmer gehen, aber wenn niemand dort ist, trauen wir uns nicht hinein. Erst am Abend sitzen wir dort manchmal zusammen, spielen mit Anneliese und Heinz „Elfer raus oder „Mensch ärgere dich nicht. Das dauert aber nicht lange, denn Heinz und Anneliese werden viel schneller müde als Sieghard, Edwin und ich. Sie wollen bald schlafen gehen. Dass Sieghard und Edwin mit Anneliese und Hilde in einem Zimmer schlafen, scheint niemand zu beunruhigen. Es ist wohl so, dass sie wie Geschwister angesehen werden, bei denen es natürlich ist, dass Bruder und Schwester in einem Zimmer schlafen. Ob das immer so von allen empfunden worden ist? Ich weiß es nicht.

    Ich weiß nicht, woran es lag, dass sich die Kinder von Brümmerloh zum großen Teil auf Renzelmanns Hof trafen. Nach einer verhaltenen Anfangsphase, in der wir uns alle gegenseitig beschnupperten, die Einheimischen, die für uns anfangs ein etwas unverständliches Plattdeutsch sprachen, und die zugereisten Flüchtlinge, aber auch die vielen Flüchtlingskinder untereinander. Nach dieser Anfangszeit, entwickelte sich ein gutes Miteinander.

    Mit welcher Begeisterung spielten wir auf Renzelmanns Wiese auf der anderen Seite der Dorfstraße Fußball, zuerst sogar mit einem alten Tennisball. Es war schon ein Kunststück, diesen kleinen Ball mit dem Fuß zu treffen und Luftschläge waren an der Tagesordnung, doch allmählich entwickelten wir eine gewisse Routine, diesen kleinen Ball zu treffen und manchmal sogar bei Torschüssen zu halten. Später war es ein etwas größerer Schaumgummiball, den jemand aufgetrieben hatte, der unsere Spiellust noch steigerte. Nicht immer war Opa Renzelmann begeistert, wenn das Gras auf der Wiese schon hoch gewachsen war und von unseren Tritten und wilden Zweikämpfen niedergetreten wurde. Wir freuten uns natürlich, wenn der Rasen gemäht war, weil der Ball dann viel besser lief und nicht jeder Pass im hohen Gras stecken blieb. Aber wir hatten nicht immer die Geduld, so lange zu warten, bis es so weit war.

    Einmal gab es einen richtigen Ortsteilkampf zwischen Brümmerloh und Dorrieloh. Ich glaube, da haben zwei Siebener-Mannschaften gegeneinander gespielt. Wir haben uns tapfer geschlagen und am Ende ein gerechtes 2:2 erzielt. Und das alles ohne Schiedsrichter. Das sollte man heute einmal nachmachen. Natürlich gab es kleine Kabbeleien und Streitigkeiten, ob dieser oder jener Ball wirklich im „Aus" oder sogar im Tor gelandet war, aber wir haben uns nach längeren Diskussionen immer wieder geeinigt.

    Ich stieg als Verteidiger oft ziemlich heftig ein. Wer gegen mich spielen musste, hatte einen schweren Stand. Wenn ich im Zweikampf mit einem Gegner zusammenstieß, fiel fast immer der Andere um, und ich blieb auf den Füßen. Wir alle konnten schlecht verlieren und kämpften bis zum Umfallen für einen Sieg. Aber schließlich spielten wir unter uns immer in wechselnden Mannschaften, sodass sich Siege und Niederlagen ausglichen und niemand von uns total frustriert sein musste.

    Es gab jemand in unserer Nachbarschaft, einen zwei Jahre älteren Jungen namens Fritz Barg, den Sohn des Tischlers, der gegenüber der Weide wohnte. Er beobachtete oft unser Spiel von seinem Grundstück aus und gab manchmal bissige Kommentare über unser blödes Spiel ab. Wenn er uns in kleiner Gruppe antraf, pöbelte er uns an und schüchterte die Jüngeren so ein, dass sie einen Bogen um ihn machten. Vielleicht war er nur ärgerlich, weil er nicht mitspielen konnte oder keine Jungen seines Alters im Dorf hatte, höchstens Heinrich Schröder, der stotterte, und sowieso ein Außenseiter war.

    Als wir wieder einmal zu viert oder zu fünft auf die Weide gingen, um Fußball zu spielen, kam er langsam herüber geschlendert und griente uns herausfordernd an. Haut ab und verpisst euch! So ertönte es ziemlich großmäulig, und er schaute jeden von uns im Bewusstsein seiner altersmäßigen Überlegenheit an. Er stieß Sieghard, der ihm am nächsten stand mit dem rechten Ellenbogen in die Brust. Das war für uns das Signal. Wir hatten uns nämlich verabredet. Wir hatten genug von ihm! Sollte er uns noch einmal stören, so wollten wir ihm einen Denkzettel verpassen. Wenn er einen von uns angreift, dann stürze ich mich zuerst auf ihn und die anderen folgen mir. Ich sprang mit voller Wucht gegen seine rechte Schulter und riss ihn um. Sieghard und Manfred warfen sich auf ihn und hielten ihn gemeinsam fest, bis er fast weinend um Befreiung bat. Lasst mich endlich los! Drei gegen einen – das ist doch feige. Wir erwiderten nur: Wenn du uns in Zukunft in Ruhe lässt! Das versprach er auch. Da ließen wir ihn los. Er hat uns später nie mehr belästigt.

    Der Schaumgummiball schien unverwüstlich zu sein. Wir kriegten ihn nicht kaputt. Doch die Sehnsucht nach einem richtigen Lederball wuchs. Wer von uns hatte so viel Geld, um einen zu kaufen? Von unseren Eltern konnten wir solch ein Geschenk nicht erwarten. Das war zu teuer. Ja, 15 oder 16 DM waren damals viel für uns. Aber wenn wir alle unser Taschengeld zusammenlegten … Das Erstaunliche geschah, das Geld kam tatsächlich zusammen. Es waren 15,50 DM. Man vertraute mir das Geld an. Ich sollte den Ball in Diepholz kaufen. Es war für mich ein erhebender Augenblick, als ich in dem Geschäft auf den gelben Lederball zeigte, der mit 15 DM ausgezeichnet war. Es war der erste große Einkauf meines Lebens. Mit zitternden Händen zählte ich die einzelnen Markstücke und Fünfziger auf den Verkaufstresen und nahm den Ball mit kaum verborgenem Stolz an meine Brust.

    Als ich an jenem Dienstagnachmittag aus der Schule kam, warteten fast alle schon auf der Weide. Jeder wollte den Ball in seinen Händen halten, besah sich die sauberen Nähte und roch an dem frischen Leder. Ein Strom der Freude ergriff uns alle. Plötzlich fiel der Ball aus Erhards Händen, und Sieghard gab ihm den ersten Kick. Jetzt stürzte sich die ganze Meute auf den neuen Ball, und es begann eine wüste Balgerei darum, bis ich die entfesselten Geister endlich zu einem vernünftigen, richtigen Spiel vereinen konnte. Das war schon ein ganz anderes Ballgefühl. Wenn man ihn richtig traf, dann flog er mit Wucht und Genauigkeit durch die Luft. Herrlich! Jetzt konnten wir so richtig loslegen.

    Mein Schulweg nach Diepholz

    Da meine Eltern mich bei der Mittelschule in der Kreisstadt Diepholz angemeldet hatten, musste ich nach den Osterferien meinen langen Schulweg antreten, und zwar zu Fuß. Wenn Mutti zum Melken ging – so gegen 5:30 Uhr – weckte sie mich. Vorher hatte sie schon meine Schulbrote fertig gemacht. Tschüss – ein leichter Kuss auf die Backe oder ein verhaltenes Streicheln meiner Schulter, und dann war sie im Kuhstall verschwunden. Papa war schon längst bei den Pferden. Ihn sah ich kaum am Morgen.

    Ich gehe durch die Dielentür quer über den Hof an der Scheune vorbei und verlasse das Gehöft durch das östliche Tor neben den Kartoffelkuhlen. Es ist noch ziemlich dunkel. Mich fröstelt. Als ich den schmalen Feldweg zwischen den Weiden- und Brombeerbüschen erreiche, sehe ich am östlichen Himmel einen rosa Schimmer, der sich rasch ausbreitet und immer kräftiger wird. Plötzlich stutze ich und bleibe stehen. Ist dort an der nächsten Krümmung des Weges nicht ein Mann mit einem Rucksack, etwas nach vorn gebeugt, als warte er auf jemand? Ich erschrecke und starre in die Dämmerung, ohne Genaues zu erkennen. Die Gestalt bewegt sich nicht. Mein Atem geht schneller. Jetzt lache ich auf. Es ist nur der Umriss eines Gebüsches, das diesen Eindruck bei mir hervorrief. Was für ein Angsthase bist du doch! Das war doch nichts. Aber unter dem Eindruck dieses Schreckens, der noch in mir steckt, laufe ich die nächsten 200 Meter fast im Dauerlauf weiter, bis ich die Einmündung des Feldweges auf die Teerstraße nach Wehrbleck erreiche. Dort steht ein kleines Bauernhaus mit einem windschiefen Schuppen und einem halb verfallenen Zaun. In den Fenstern leuchtet noch kein Licht. Es sind nur noch ein paar Hundert Meter, und ich habe die ersten Gehöfte von Wehrbleck erreicht.

    In einigen Ställen ist es hell geworden. Das Füttern und Melken ist längst im Gang. Nach dem Durchqueren der Ortsmitte gehe ich über die Landesstraße, die von Sulingen nach Diepholz führt, auf den Bahnhof zu. Ich merke, dass ich wieder einmal zu schnell gelaufen bin. Ich schwitze in meiner Jacke. Schnell ist sie ausgezogen, und ich setze mich in den kleinen Wartesaal. Es ist 6:54 Uhr. Ich bin der Erste. Allmählich trudeln die anderen Schüler ein. Einige kommen mit ihren Fahrrädern, die sie hastig und ungeordnet auf der anderen Seite des Bahnhofs abstellen. Um 7:05 Uhr kommt unser Bummelzug herangezuckelt. Fast alle Schüler – nur wenige Arbeiter steigen in diesen Zug – eilen zu ihren Stammplätzen, die allerdings manchmal von den Sulinger Schülern besetzt worden sind. Dann gibt es ein Gerangel und Geschimpfe, bis man durch den nahenden Schaffner zur Ruhe gezwungen wird und sich irgendwo hinsetzt. Jetzt werden Hefte herausgeholt und Hausaufgaben verglichen oder schnell noch abgeschrieben. Einige ältere Schüler spielen Skat. Ich treffe in unserem alten Abteil „meine Quizgruppe", die sich seit einigen Wochen zusammengefunden hat. Zwei kommen wohl aus Sulingen, sodass mein Platz meistens frei gehalten wird. Horst Bladauski kommt aus Wehrbleck und Erich-Wilhelm Rey aus Dörrieloh.

    Irgendwann fing die Quizbegeisterung bei uns an. Ich fand immer mehr Freude daran, Wissensfragen aus Erdkunde, Geschichte, Literatur und Sport zusammenzustellen und weiterzugeben. Kürzlich habe ich noch das alte Notizbuch gefunden und es flüchtig durchgeblättert. Was steht da geschrieben?

    Der längste Fluss in Europa? Der höchste Berg in Südamerika? Die größte Wüste der Erde? Wer fand den Seeweg nach Ostindien? Wer erfand das Telefon? Wer war zuerst am Südpol?

    Ich ging zuerst in die Mittelschule. Später habe ich festgestellt, dass das eine Fehlentscheidung war, da ich gleich zur Graf-Friedrich-Schule, einem Aufbaugymnasium hätte gehen können. So habe ich ein Jahr verloren. Die Erinnerungen an die Mittelschule sind dürftig. Was war so unangenehm, dass ich es vergessen wollte? Der Unterricht wirkte auf mich manchmal improvisiert, aus dem Stegreif

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